rasieren

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Vollständige und unvollständige Anhebungen
im Deutschen
Per Bærentzen
1
Einleitung
Als Anhebungen werden Transformationen bezeichnet, die einen verbabhängigen Ausdruck einer tieferen Strukturebene in eine höhere bewegen. Es gibt
vollständige und unvollständige Anhebungen sowie solche, bei denen sich nicht
entscheiden lässt, ob sie als vollständig oder als unvollständig zu interpretieren
sind. Zur Beschreibung dieser Phänomene werden die folgenden Siglen benutzt:
V1 = das maximal übergeordnete Verb
V2 = das von V1 unmittelbar abhängige Verb
Ny = grammatisches (und zugleich logisches) Subjekt des Verbs Vy
ny = logisches (nicht aber grammatisches) Subjekt des Verbs Vy
Ay = grammatisches (und zugleich logisches) Akkusativobjekt des Verbs Vy
ay = logisches (nicht aber grammatisches) Akkusativobjekt des Verbs Vy
Dy = grammatisches (und zugleich logisches) Dativobjekt des Verbs Vy
UOy = unspezifiziertes grammatisches Objekt des Verbs Vy
AP = präpositional regierte akkusativische Größe
DP = präpositional regierte dativische Größe
Außerdem soll die folgende zweiteilige Reflexivregel gelten: Ein Reflexivum,
das als Objekt funktioniert, ist Objekt desjenigen Verbs, (a) auf dessen logisches
(evtl. zugleich grammatisches) Subjekt sein pronominaler Hinweis gerichtet ist
und (b) von dem das Reflexivum seinen Kasus zugewiesen bekommt.
Der vor der Anhebung bestehende Satz wird als der Ausgangssatz, der durch
die Transformation geschaffene Satz als der transformierte Satz bezeichnet.
Als vollständig lassen sich die Subjekt-zu-Subjekt-, Objekt-zu-Subjekt- und
Subjekt-zu-Objekt-Anhebungen bezeichnen. Bei einer vollständigen Anhebung
wird V1 des Ausgangssatzes zu V2 des transformierten Satzes verschoben und es
kommt im transformierten Satz ein neues V1 hinzu. Zugleich wird ein abhängiges Element grammatisch vom ursprünglichen V1 losgelöst und vom neuen V1
beschlagnahmt (vgl. Abschnitt 2).
Als unvollständig sind gewisse Objekt-zu-Objekt-Anhebungen zu bezeichnen, bei denen das betroffene Objekt grammatisch nicht voll vom ursprüngli-
24
Per Bærentzen
chen V1 losgelöst und auch nicht voll vom neuen V1 beschlagnahmt wird, sondern im transformierten Satz grammatisches Objekt sowohl von V1 als auch von
V2 ist und sich somit als janusköpfiges Objekt bezeichnen lässt. Außerdem
kommt in einigen Fällen bei der Transformation kein neues Verb hinzu, sondern
die Anhebung besteht allein in der grammatischen Verschiebung der Elemente
um zwei schon im Ausgangssatz vorhandene Verben V1 und V2 herum (vgl. Abschnitt 3).
Schließlich gibt es gewisse Objekt-zu-Objekt-Anhebungen, bei denen sich
nicht entscheiden lässt, ob sie als vollständig oder als unvollständig zu interpretieren sind (vgl. Abschnitt 4).
2
Vollständige Anhebungen
Als vollständig ist eine Anhebung zu bezeichnen, wenn der transformierte Satz
ein Element enthält, das vom ursprünglichen V1 losgelöst worden und allein
vom neuen V1 grammatisch abhängig ist.
2.1
Subjekt-zu-Subjekt-Anhebung N1  N1+n2
Bei der Anhebung in (1) wird das Subjekt Der WirtN1 des ursprünglichen Verbs
schliefV1 zum Subjekt des neu hinzukommenden Anhebungsverbs schienV1 verschoben und gleichzeitig wird das ursprüngliche V1 in eine tiefere Strukturebene
bewegt und erscheint als V2. Im transformierten Satz ist Der Wirt zwar logisches
Subjekt von zu schlafenV2, grammatisch aber von diesem Verb losgelöst, da ein
Infinitiv kein Subjekt selektiert.
(1)
Der WirtN1 schliefV1  Der WirtN1+n2 schienV1 zu schlafenV2
Als Anhebungsverben einer Subjekt-zu-Subjekt-Anhebung lassen sich zahlreiche Verben betrachten, die, wenn sie einen Infinitiv regieren, nicht zugleich eine
Kasusgröße regieren können. Der Infinitiv kann ein Ø-Infinitiv (2) oder ein zuInfinitiv (3) sein. Als Anhebungsverb einer Subjekt-zu-Subjekt-Anhebung lässt
sich auch kommen betrachten, wenn es ein Partizip Perfekt (4) oder einen zu-Infinitiv (5) regiert. In (5) enthält der Ausgangssatz das statische Adverbialglied
neben den Kindern, das beim Hinzukommen des dynamischen Anhebungsverbs
kommen im transformierten Satz durch das dynamische Adverbialglied neben
die Kinder ersetzt wird. Das Adverbialglied dürfte dann von beiden Verben abhängig sein, da die Wahl der Präposition neben von sitzenV2, die Akkusativrektion der Präposition von kamV1 herrührt (vgl. Bech 1955: 128 f.).
(2)
Das KindN1 schläftV1  Das KindN1+n2 mussV1 schlafenV2
(3)
Die MutterN1 schläftV1  Die MutterN1+n2 versuchtV1 zu schlafenV2
Vollständige und unvollständige Anhebungen im Deutschen
2.2
25
(4)
Der VaterN1 fuhrV1 um die Ecke  Der VaterN1+n2 kamV1 um die Ecke gefahrenV2
(5)
Der VaterN1 saßV1 neben den Kindern  Der VaterN1+n2 kamV1 neben die Kinder zu sitzenV2
Objekt-zu-Subjekt-Anhebung A1  N1+a2
Aus dieser Anhebung resultieren u. a. Passivkonstruktionen wie das Handlungspassiv (6), das Zustandspassiv (7) und das modale Passiv (8) mit den Anhebungsverben werden und sein sowie die gehören-Konstruktion (9). Bei der Anhebung wird das Akkusativobjekt des ursprünglichen V1 zum Subjekt des neu
hinzukommenden Anhebungsverbs V1 verschoben und gleichzeitig wird das ursprüngliche V1 in eine tiefere Strukturebene bewegt und erscheint als V2. Im
transformierten Satz ist das grammatische Subjekt zwar logisches Akkusativobjekt des V2, grammatisch aber von diesem Verb losgelöst, da eine infinite
Verbform kein Subjekt selektiert.
2.3
(6)
Der StudentN1 übersetztV1 den TextA1 ins Deutsche  Der TextN1+a2 wirdV1
vom StudentenDP+n2 ins Deutsche übersetztV2
(7)
Der StudentN1 übersetzteV1 den TextA1 ins Deutsche  Der TextN1+a2 istV1 ins
Deutsche übersetztV2
(8)
Der StudentN1 übersetztV1 den TextA1 sofort ins Deutsche  Der TextN1+a2
istV1 sofort ins Deutsche zu übersetzenV2
(9)
ManN1 sperrtV1 den VerbrecherA1 ein  Der VerbrecherN1+a2 gehörtV1 eingesperrtV2
Subjekt-zu-Objekt-Anhebung N1  A1+n2
Aus dieser Anhebung resultieren u. a. die sogenannte AcI-Konstruktion mit einem Verbum sentiendi als Anhebungsverb (10, 11) und die Konstruktion mit
lassen als Anhebungsverb, die eine kausative (12) bzw. permissive (13) Lesart
aufweist. Das Verb, das in der AcI-Konstruktion als V2 erscheint, kann ein
Intransitivum wie in (10), (12) und (13) oder ein Transitivum wie in (11) und
(14) sein. Bei der Anhebung wird das Subjekt des ursprünglichen V1 zum Akkusativobjekt des neu hinzukommenden Anhebungsverbs V1 verschoben und
gleichzeitig wird das ursprüngliche V1 in eine tiefere Strukturebene bewegt und
erscheint als V2. Im transformierten Satz ist ein neues grammatisches Subjekt
hinzugekommen, das keine grammatische oder logische Beziehung zu V 2 hat.
Im transformierten Satz ist das zu A1 verschobene Element zwar logisches Subjekt des V2, grammatisch aber von diesem Verb losgelöst, da V2 entweder ein
Intransitivum ist, wie in (10), (12) und (13), und sich deshalb nicht mit einem
Akkusativobjekt verbindet, oder ein Transitivum, das ein anderes im Satz vor-
26
Per Bærentzen
handenes Akkusativobjekt regiert, wie es in (11) und (14) der Fall ist, wo aufhebenV2 das Objekt das GeldstückA2 und abräumenV2 das Objekt den TischA2 regiert.
(10)
Der NachbarN1 kamV1 nach Hause  IchN1 hörteV1 den NachbarnA1+n2 nach
Hause kommenV2
(11)
Der BettlerN1 hobV1 das GeldstückA1 vom Boden auf  WirN1 sahenV1 den
BettlerA1+n2 das GeldstückA2 vom Boden aufhebenV2
(12)
Der SteinN1 fielV1 ins Wasser  ErN1 ließV1 den SteinA1+n2 ins Wasser fallenV2
(13)
Der SohnN1 schliefV1 bis Mittag  Die MutterN1 ließV1 den SohnA1+n2 bis Mittag schlafenV2
(14)
Der KellnerN1 räumteV1 den TischA1 ab  Der WirtN1 ließV1 den KellnerA1+n2
den TischA2 abräumenV2
Die AcI-Konstruktion mit lassen als Anhebungsverb kann als Grundlage für
zwei weitere Anhebungen dienen.
Wenn V2 ein Intransitivum ist, lässt sich die lassen-Konstruktion durch eine
Objekt-zu-Subjekt-Anhebung (vgl. Abschnitt 2.2) in eine Passivkonstruktion
transformieren, wie in (15).
(15)
ErN1 ließV1 den BriefA1+n2 auf dem Tisch liegenV2  Der BriefN1+a2+n3 wurdeV1
auf dem Tisch liegenV3 gelassenV2
Wenn V2 ein Transitivum ist, lässt sich die lassen-Konstruktion, ohne dass ein
weiteres Verb hinzukommt, mittels einer Objekt-zu-Objekt-Anhebung in eine
Konstruktion mit passivischem V2 transformieren. Da sich nicht entscheiden
lässt, ob die Objekt-zu-Objekt-Anhebung in diesem Fall als vollständig oder unvollständig zu interpretieren ist, wird sie in Abschnitt 4 beschrieben.
3
Unvollständige Anhebungen
Als unvollständig ist eine Anhebung zu bezeichnen, wenn der transformierte
Satz ein Element enthält, das nachweisbar von zwei Verben grammatisch abhängig ist. Diese Interpretation ergibt sich zwangsläufig in Fällen, in denen bei
der Transformation ein Personalpronomen durch ein Reflexivum ersetzt wird, da
für die Verwendung eines Reflexivums als Objekt die in der Einleitung formulierte Reflexivregel gilt. Es handelt sich um Fälle, in denen im transformierten
Satz ein von V2 regiertes Dativobjekt in Gestalt eines Reflexivums vorhanden
ist, das zugleich als unspezifiziertes grammatisches Objekt des V1 interpretiert
werden muss. Es werden im Folgenden zwei Varianten beschrieben.
Vollständige und unvollständige Anhebungen im Deutschen
3.1
27
Unvollständige Objekt-zu-Objekt-Anhebung D1  UO1+D2 neben
vollständiger Subjekt-zu-Objekt-Anhebung N1  A1+n2
In dieser Variante finden mit lassen als Anhebungsverb eine vollständige Subjekt-zu-Objekt-Anhebung (vgl. Abschnitt 2.3) und eine unvollständige Objektzu-Objekt-Anhebung statt. In (16) wird neben der vollständigen Subjekt-zuObjekt-Anhebung Der KussN1 zu den KussA1+n2 die unvollständige Objekt-zuObjekt-Anhebung ihmD1 zu sichUO1+D2 realisiert. Wie das Personalpronomen im
Ausgangssatz steht das Reflexivum im transformierten Satz im Dativ, wie der
Parallelsatz (16) zeigt. Das Reflexivum bekommt also seinen Kasus von gefallenV2 zugewiesen und ist somit gemäß Teil (a) der Reflexivregel Objekt des
Verbs V2. Gleichzeitig ist der pronominale Hinweis des Reflexivums auf das
grammatische Subjekt ErN1 des Verbs ließV1 gerichtet, und somit ist das Reflexivum gemäß Teil (b) der Reflexivregel Objekt des Verbs V1. Die Siglen
UO1+D2 geben die grammatische Doppelfunktion des Reflexivums als janusköpfiges Objekt an, einerseits als unspezifiziertes grammatisches Objekt des
Verbs ließV1, andererseits als grammatisches Dativobjekt des Verbs gefallenV2.
3.2
(16)
Der KussN1 gefielV1 ihmD1  ErN1 ließV1 sichUO1+D2 den KussA1+n2 gefallenV2
(16)
Der KussN1 gefielV1 mirD1  IchN1 ließV1 mirUO1+D2 den KussA1+n2 gefallenV2
Unvollständige Objekt-zu-Objekt-Anhebung D2  UO1+D2 in der lassenKonstruktion mit passivierbarem V2
Die mit lassen als Anhebungsverb gebildete AcI-Konstruktion kann, wenn das
von lassen abhängige Verb ein Intransitivum ist und ein Dativobjekt regiert, als
Grundlage für eine weitere Anhebung dienen, und zwar kann sie, ohne dass ein
weiteres Verb hinzukommt, mittels einer unvollständigen Objekt-zu-ObjektAnhebung in eine Konstruktion mit passivischem V2 transformiert werden, wie
aus (17) zu ersehen ist.
(17)
Der WirtN1 ließV1 die FrauA1+n2 ihmD2 bei der Arbeit helfenV2  Der WirtN1
ließV1 sichUO1+D2 bei der Arbeit (von der FrauDP+a1+n2) helfenV2
(17)
IchN1 ließV1 die FrauA1+n2 mirD2 bei der Arbeit helfenV2  IchN1 ließV1
mirUO1+D2 bei der Arbeit (von der FrauDP+a1+n2) helfenV2
(18)
Die FrauN1 halfV1 ihmD1 bei der Arbeit  IhmD2 wurdeV1 bei der Arbeit von
der FrauDP+n2 geholfenV2
Die Analyse der Transformation in (17) ist aus den Siglen ersichtlich. Vor und
nach der Transformation ist ließ V1 und helfen V2, und somit bleibt der hierarchische Status der Verben unverändert. Das gleiche gilt für das grammatische
Subjekt Der WirtN1. Dagegen werden beide Objekte des Ausgangssatzes verschoben.
28
Per Bærentzen
Zum einen wird die FrauA1+n2, das logisches Subjekt des Infinitivs helfenV2
ist, zu von der FrauDP+a1+n2 verschoben. Diese Verschiebung ist eine Parallele zu
der Verschiebung des ursprünglichen Subjekts beim Übergang vom Aktivsatz
zum Handlungspassiv in (18) und somit ein Indiz für die passivische Lesart des
Infinitivs im transformierten Satz. Da helfen ein Intransitivum ist, liegt hier ein
unpersönliches Passiv vor.
Zum anderen findet in (17) die unvollständige Objekt-zu-Objekt-Anhebung
D2
ihm zu sichUO1+D2 statt. Wie das Personalpronomen im Ausgangssatz steht das
Reflexivum im transformierten Satz im Dativ, wie der Parallelsatz (17) zeigt.
Das Reflexivum bekommt also seinen Kasus von helfenV2 zugewiesen und ist
somit gemäß Teil (a) der Reflexivregel Objekt des Verbs V2. Gleichzeitig ist der
pronominale Hinweis des Reflexivums auf das grammatische Subjekt Der
WirtN1 des Verbs ließV1 gerichtet, und somit ist das Reflexivum gemäß Teil (b)
der Reflexivregel Objekt des Verbs V1. Die Siglen UO1+D2 geben die Doppelfunktion des Reflexivums als janusköpfiges Objekt an, einerseits als unspezifiziertes grammatisches Objekt des Verbs ließV1, andererseits als grammatisches
Dativobjekt des Verbs helfenV2.
Nur in Fällen wie (17) mit Reflexivum als Dativobjekt im transformierten
Satz kommt die unvollständige Anhebung in der sprachlichen Oberfläche zum
Vorschein, aber nichts spricht gegen die Generalisierung, dass auch in Fällen
wie (19) und (20), wo die äußere Gestalt des Dativobjekts unverändert bleibt,
eine unvollständige Objekt-zu-Objekt-Anhebung und somit ein janusköpfiges
Objekt vorliegt.
4
(19)
Der ChefN1 ließV1 die BüroleiterinA1+n2 den beiden ArbeiternD2 kündigenV2 
Der ChefN1 ließV1 durch die BüroleiterinAP+a1+n2 den beiden ArbeiternUO1+D2
kündigenV2
(20)
Der ChefN1 ließV1 die BüroleiterinA1+n2 ihnenD2 kündigenV2  Der ChefN1
ließV1 ihnenUO1+D2 durch die BüroleiterinAP+a1+n2 kündigenV2
Vollständige oder unvollständige Anhebungen
Wie in Abschnitt 2.3 erwähnt wurde, kann die mit lassen als Anhebungsverb
gebildete AcI-Konstruktion mit transitivem V2 mittels einer Objekt-zu-ObjektAnhebung und ohne dass ein weiteres Verb hinzukommt, in eine Konstruktion
mit passivischem V2 transformiert werden, wie in (21).
(21)
Der Vater lässt den Sohn ihn rasieren (= der Sohn rasiert den Vater)  Der
Vater lässt sich (von dem Sohn) rasieren (= der Vater wird von dem Sohn
rasiert)
In diesem Fall lässt sich aber nicht entscheiden, ob die Objekt-zu-Objekt-Anhebung als vollständig (A2  A1+a2) oder als unvollständig (A2  UO1+A2) zu
Vollständige und unvollständige Anhebungen im Deutschen
29
interpretieren ist. Die beiden Interpretationsmöglichkeiten werden in Abschnitt
4.1 bzw. 4.2 näher ausgeführt.
4.1
Interpretation als vollständige Objekt-zu-Objekt-Anhebung A2  A1+a2
(21a)
Der VaterN1 lässtV1 den SohnA1+n2 ihnA2 rasierenV2 (= der Sohn rasiert den Vater)  Der VaterN1 lässtV1 sichA1+a2 (von dem SohnDP+a1+n2) rasierenV2 (= der
Vater wird von dem Sohn rasiert)
Die Interpretation als vollständige Objekt-zu-Objekt-Anhebung A2  A1+a2 ist
aus den Siglen in (21a) ersichtlich. Vor und nach der Transformation ist lässt V1
und rasieren V2, und somit bleibt der hierarchische Status der Verben unverändert. Das Gleiche gilt für das grammatische Subjekt Der VaterN1. Dagegen werden beide Akkusativobjekte des Ausgangssatzes verschoben.
Zum einen wird den SohnA1+n2, das logisches Subjekt des Infinitivs rasierenV2 ist, zu von dem SohnDP+a1+n2 verschoben, was ein Indiz für die passivische
Lesart des Infinitivs im transformierten Satz ist. Diese Verschiebung ist eine Parallele zu der Verschiebung des ursprünglichen Subjekts beim Übergang vom
Aktivsatz zum Handlungspassiv, wie aus Beispiel (6) in Abschnitt 2.2 zu ersehen ist.
Zum anderen wird ihnA2 zu sichA1+a2 angehoben. Die Siglen geben an, dass
bei der Interpretation als vollständige Objekt-zu-Objekt-Anhebung das Personalpronomen ihnA2 im Ausgangssatz seinen Kasus von rasierenV2 zugewiesen
bekommt, während das Reflexivum sichA1+a2 im transformierten Satz seinen Kasus von lässtV1 zugewiesen bekommt. Da dieses Element vor und nach der
Transformation im Akkusativ steht, ist seine Verschiebung nicht am Kasus zu
erkennen. Für beide Pronomina gilt aber, dass ihr pronominaler Hinweis auf Der
VaterN1 gerichtet ist, und der Wechsel vom Personalpronomen zum Reflexivum
lässt sich dadurch erklären, dass das Pronomen im transformierten Satz zum
grammatischen Objekt von lässtV1 angehoben worden ist. Diese Interpretation
stimmt mit beiden Teilen der Reflexivregel überein. Das Reflexivum ist
zugleich logisches Akkusativobjekt des V2.
Der Wechsel vom Personalpronomen zum Reflexivum setzt voraus, dass das
Pronomen ihnA2 des Ausgangssatzes sich auf das Subjekt Der VaterN1 bezieht.
Falls gemeint ist, dass der Sohn nicht den Vater, sondern eine dritte Person, z. B.
den Nachbarn, rasiert, tritt bei der Transformation der Wechsel zum Reflexivum
nicht ein, weil der pronominale Hinweis dann nicht auf das grammatische Subjekt Der VaterN1 gerichtet ist, wie in (22) gezeigt wird. Falls gemeint ist, dass
der Sohn nicht den Vater, sondern sich selbst rasiert, muss gemäß der Reflexivregel als A2 von vornherein das Reflexivum stehen, da sein pronominaler Hin-
30
Per Bærentzen
weis auf das logische Subjekt von rasierenV2, also auf den SohnA1+n2 gerichtet
ist, wie es in (23) der Fall ist; dieser Satz lässt sich dann nicht transformieren.
4.2
(22)
Der VaterN1 lässtV1 den SohnA1+n2 ihnA2 rasierenV2 (= der Sohn rasiert den
Nachbarn)  Der VaterN1 lässtV1 ihnA1+a2 (von dem SohnDP+a1+n2) rasierenV2
(= der Nachbar wird von dem Sohn rasiert)
(23)
Der VaterN1 lässtV1 den SohnA1+n2 sichA2 rasierenV2 (= der Sohn rasiert sich
selbst)
Interpretation als unvollständige Objekt-zu-Objekt-Anhebung
A2  UO1+A2
(21b)
Der VaterN1 lässtV1 den SohnA1+n2 ihnA2 rasierenV2 (= der Sohn rasiert den Vater)  Der VaterN1 lässtV1 sichUO1+A2 (von dem SohnDP+a1+n2) rasierenV2 (= der
Vater wird von dem Sohn rasiert)
Die Interpretation als unvollständige Objekt-zu-Objekt-Anhebung A2 
UO1+A2 ist aus den Siglen in (21b) ersichtlich.
Der einzige Unterschied zu der in 4.1 gegebenen Interpretation besteht in
der Angabe, dass ihnA2 zu sichUO1+A2 angehoben wird. Die Siglen geben an, dass
bei der Interpretation als unvollständige Objekt-zu-Objekt-Anhebung nicht nur
das Personalpronomen ihnA2 im Ausgangssatz, sondern auch das Reflexivum
sichUO1+A2 im transformierten Satz seinen Kasus von rasierenV2 zugewiesen bekommt und beide Pronomina somit gemäß Teil (b) der Reflexivregel als grammatisches Akkusativobjekt des V2 zu interpretieren sind. Zugleich aber ist der
Wechsel vom Personalpronomen zum Reflexivum ein Indiz dafür, dass der pronominale Hinweis auf Der VaterN1 gerichtet ist und das Reflexivum somit gemäß Teil (a) der Reflexivregel als ein unspezifiziertes grammatisches Objekt
von lässtV1 zu interpretieren ist. Die Siglen UO1+A2 geben die Doppelfunktion
des Reflexivums als janusköpfiges Objekt an, einerseits als unspezifiziertes
grammatisches Objekt des Verbs lässtV1, andererseits als grammatisches Akkusativobjekt des Verbs rasierenV2.
Zwischen der Annahme, dass der Infinitiv rasierenV2 im transformierten
Satz passivisch ist, und der Annahme, dass das akkusativische Reflexivum seinen Kasus von eben diesem Transitivum zugewiesen bekommt, scheint ein Widerspruch zu bestehen. Die passivische Interpretation des Infinitivs wird jedoch
dadurch unterstützt, dass den SohnA1+n2, das logisches Subjekt des Infinitivs rasierenV2 ist, zu von dem SohnDP+a1+n2 verschoben wird. Auch ist das Reflexivum
nur zur Hälfte Objekt des Infinitivs, da es zugleich (unspezifiziertes) Objekt von
lässtV1 ist.
Vollständige und unvollständige Anhebungen im Deutschen
4.3
31
Generalisierung der Doppelinterpretation der akkusativischen Objekt-zuObjekt-Anhebung
Nur in Fällen wie (21) mit Reflexivum als Akkusativobjekt im transformierten
Satz kommt die doppelt interpretierbare Anhebung in der sprachlichen Oberfläche zum Vorschein, aber nichts spricht gegen die Generalisierung, dass auch in
Fällen wie (24), wo die äußere Gestalt des Akkusativobjekts unverändert bleibt,
die Objekt-zu-Objekt-Anhebung sich als vollständig (24a) und als unvollständig
(24b) interpretieren lässt.
5
(24)
Der Wirt ließ den Kellner den Tisch abräumen  Der Wirt ließ den Tisch
(von dem Kellner) abräumen
(24a)
Der WirtN1 ließV1 den KellnerA1+n2 den TischA2 abräumenV2  Der WirtN1
ließV1 den TischA1+a2 (von dem KellnerDP+a1+n2) abräumenV2
(24b)
Der WirtN1 ließV1 den KellnerA1+n2 den TischA2 abräumenV2  Der WirtN1
ließV1 den TischUO1+A2 (von dem KellnerDP+a1+n2) abräumenV2
Das Anhebungsverb lassen mit unvollständiger Objekt-zuObjekt-Anhebung als amalgamierter Verbalkomplex
In den in den Abschnitten 3 und 4 beschriebenen Konstruktionen mit dem Anhebungsverb lassen und unvollständiger Objekt-zu-Objekt-Anhebung wurde das
unvollständig angehobene Element als janusköpfiges Objekt bezeichnet. Es
bietet sich jedoch auch eine andere Beschreibung an, nach der die Verben V1
und V2 einen amalgamierten Verbalkomplex bilden. Damit ist gemeint, dass das
Anhebungsverb und der davon abhängige Infinitiv so eng miteinander verbunden sind, dass sie zusammen als ein Einzelverb zu betrachten sind. Die übrigen
Satzelemente lassen sich dann als vom amalgamierten Verbalkomplex abhängige Elemente beschreiben und der Begriff des janusköpfigen Objekts entfällt.
Demgemäß lassen sich die transformierten Sätze (25) aus Abschnitt 3.1, (26) aus
Abschnitt 3.2 und (27) aus Abschnitt 4, wenn wir von der Wortstellung abstrahieren, wie in (25), (26) und (27) beschreiben.
(25)
ErN1 ließV1 sichUO1+D2 den KussA1+n2 gefallenV2
(26)
Der WirtN1 ließV1 sichUO1+D2 bei der Arbeit (von der FrauDP+a1+n2) helfenV2
(27)
Der VaterN1 lässtV1 sichUO1+A2 (von dem SohnDP+a1+n2) rasierenV2
(25)
ErN1 ließgefallenV1 sichD1 den KussA1
(26)
Der WirtN1 ließhelfenV1 sichD1 bei der Arbeit (von der FrauDP)
(27)
Der VaterN1 lässtrasierenV1 sichA1 (von dem SohnDP)
Nicht selten begegnen Fälle mit dem Anhebungsverb lassen, in denen die in Abschnitt 3 beschriebene unvollständige dativische Objekt-zu-Objekt-Anhebung
32
Per Bærentzen
und die in Abschnitt 4 beschriebene doppelt interpretierbare akkusativische Objekt-zu-Objekt-Anhebung nebeneinander vorkommen, wie in (28) und (29). In
diesen Fällen ist V2 ein passivischer Infinitiv. Unter dem Gesichtspunkt des
amalgamierten Verbalkomplexes und ohne Berücksichtigung der Wortstellung
sind die Sätze wie in (28) und (29) zu beschreiben.
6
(28)
HollatzN1 […] ließV1 sichUO1+D2 immer wieder von MamaDP+a1+n2 meinen
SturzA1+a2/UO1+A2 von der Kellertreppe erzählenV2 und beruhigte sie, wenn sie
Matzerath, der die Falltür offen gelassen hatte, hemmungslos beschimpfte und
für alle Zeiten schuldig sprach (Grass 1962: 55)
(29)
Einige Sätze des Buches haben schon vor seinem Erscheinen die Runde gemacht, Dokumente der seelischen Kälte eines nur mit der Politik verheirateten
Vaters, derN1 dem SohnUO1+D2 den TodA1+a2/UO1+A2 der Mutter durch die BüroleiterinAP+a1+n2 mitteilenV2 lässtV1 und seine erneute HeiratA1+a2/UO1+A2 per Telegramm (Die ZEIT 03.02.2011: 45)
(28)
HollatzN1 […] [ließerzählen]V1 sichD1 immer wieder von MamaDP meinen
SturzA1 von der Kellertreppe und beruhigte sie ...
(29)
Einige Sätze des Buches haben schon vor seinem Erscheinen die Runde gemacht, Dokumente der seelischen Kälte eines nur mit der Politik verheirateten
Vaters, derN1 dem SohnD1 den TodA1 der Mutter durch die BüroleiterinAP
[mitteilenlässt]V1 und seine erneute HeiratA1 per Telegramm
Ausblick
Die hier beschriebenen Phänomene des janusköpfigen Objekts bzw. des amalgamierten Verbalkomplexes kommen nicht nur bei der lassen-Konstruktion vor.
Ich habe an anderer Stelle (Bærentzen 2002) gezeigt, dass das sogenannte bekommen-Passiv (30) und die Konstruktion mit bekommen + zu-Infinitiv (31) sowie die Konstruktion mit geben + zu-Infinitiv (32) sich als Konstruktionen mit
janusköpfigem Objekt (bzw. amalgamiertem Verbalkomplex) interpretieren lassen.
(30)
ErN1 bekamV1 den BriefA1+A2 zugeschicktV2
(31)
ErN1 bekamV1 ihren ZornA1+A2 zu spürenV2
(32)
ErN1 gabV1 dem KindD1+a2 einen KuchenA1+A2 zu essenV2
Die Begriffe des janusköpfigen Objekts bzw. des amalgamierten Verbalkomplexes sind gewissermaßen terminologische Paradoxe, aber sie ermöglichen die
adäquate Beschreibung einiger Konstruktionen, deren Analyse seit langem umstritten ist.
Vollständige und unvollständige Anhebungen im Deutschen
33
Literatur
Bærentzen, Per (2002): Das janusköpfige Objekt zweier Verben. In: Wiesinger, Peter (Hrsg.):
Akten des X. Internationalen Germanistenkongresses Wien 2000. „Zeitenwende – Die
Germanistik auf dem Weg vom 20. ins 21. Jahrhundert“. Band 2. Bern: Lang, 95–100.
Bech, Gunnar (1955): Studien über das deutsche Verbum infinitum. København: Ejnar
Munksgaard.
Grass, Günter (1962): Die Blechtrommel. Frankfurt am Main: Fischer Verlag.
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