Wissenswert

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Hessischer Rundfunk
hr2-kultur
Redaktion: Volker Bernius
Wissenswert
Singen - Alltagskultur und Leidenschaft
(4) „Der Deutsche streitet und singt“.
Von der Jugendbewegung bis zum 2. Weltkrieg
Von Niels Kaiser
Sendung:
07.06.2008, 09.25 Uhr, hr2
Sprecherin:
Sprecher:
Zitator:
< mögliche Kürzungzeichen>
08-090
COPYRIGHT:
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Seite 2
Musik: Männergesang um 1900 vaterländisches Lied
drüber:
KAISER Singen 4 01 O-Ton Wilhelm II.
Um Sein oder Nichtsein unseres Reiches handelt es sich, das unsere Väter sich neu gründeten. Um
Sein oder Nichtsein deutscher Macht und deutschen Wesens.
KAISER Singen 4 02 O-Ton Noll:
Und in diesem Umfeld hatte das Singen eine ganz bestimmte Bedeutung.
Musik kurz hoch, dann drüber:
KAISER Singen 4 03 O-Ton Wilhelm II.:
Seit der Reichsgründung ist es durch 43 Jahre meiner und meiner Vorfahren heißes Benehmen
gewesen, der Welt den Frieden zu erhalten und in Frieden unsere kraftvolle Entwicklung zu fördern.
Musik kurz hoch, endet
SPRECHERIN:
In seiner Rede zum Kriegseintritt Deutschlands im Jahr 1914 heuchelt
Kaiser Wilhelm II. Friedfertigkeit. Aber die deutschen Sänger sprechen
dem bereits seit langem Hohn mit ihren nationalen Liedern. In
Wirklichkeit geht es um Sein oder Nichtsein deutscher Großmacht.
SPRECHER:
Für dieses Ziel wird alles vereinnahmt. Auch das Gesangswesen. Die
Gleichschaltung durch chorisches Singen, wie sie später die
Nationalsozialisten perfektionieren, wird bereits im Kaiserreich mit aller
Konsequenz betrieben. Schon 1893 macht Reichskanzler Otto von
Bismarck vor deutschen Sängern die politische Bedeutung des Singens
deutlich.
Seite 3
ZITATOR:
„Des deutschen Liedes Klang hat die Herzen gewonnen; ich zähle es zu den
Imponderabilien, die den Erfolg unserer Einheitsbestrebungen vorbereitet und
erleichtert haben. Und so möchte ich das deutsche Lied als Kriegsverbündeten
für die Zukunft nicht unterschätzt wissen, Ihnen aber meinen Dank aussprechen
für den Beistand, den die Sänger mir geleistet haben, indem sie den nationalen
Gedanken erhalten und über die Grenzen des Reiches hinaus getragen haben.“
MUSIK: Männergesang: Deutsches Volkslied
SPRECHERIN:
Günther Noll ist emeritierter Direktor am Seminar für Musik und Ihre
Didaktik der Kölner Universität.
KAISER Singen 4 04 O-Ton Noll:
Die Männergesangvereine, die sangen auf der einen Seite das tradierte typische deutsche Volkslied im
vierstimmigen Satz, zum Teil auch Sätze von Schubert und Zelter, also mehr volkstümliche Melodien.
Und natürlich auch militärisches Gut. Aus den Befreiungskriegen 1812/13 war ein ganz bestimmtes
Repertoire fest verankert, und wurde später aber dann als patriotisches Liedgut gepflegt.
Musik Männergesang: Was ist des Deutschen Vaterland
über Musik:
KAISER Singen 4 05 O-Ton Noll:
Dann spielten diese öffentlichen Feiern eine große Rolle. Die Sedanfeier, dann Kaisers Geburtstag.
Alle diese Dinge, die einen patrotischen Hintergrund hatten, wurden gefeiert und wurden gesungen.
SPRECHER:
Das deutsche Gesangswesen wird gezielt von oben gesteuert. Wilhelm II.
schätzt die Funktion des Gesangs für die emotionale Verankerung seiner
Herrschaft hoch ein. Wichtig sind ihm einfache Chorsätze und
patriotische Texte. Jährlich findet ein kaiserlicher Sängerwettkampf statt.
1903 spricht der Kaiser zu den versammelten Chordirigenten .
ZITATOR:
„Unzweifelhaft ist, dass ein hoher Grad von musikalischer Begabung in der
Bevölkerung steckt, der aber in einfachen, schönen Harmonien sich zu zeigen
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Gelegenheit haben muss. Sie werden mit dem Volksliede den Patriotismus
stärken und damit das allgemeine Band, das alle umschließen soll.“
SPRECHERIN:
Der Kaiser bildet eine Volksliedkommission, die bis 1915 eine zweibändige
Chorliedersammlung erstellt. Als „Kaiserliederbuch“ geht sie in die Geschichte
ein und ist bis weit über das Ende des Kaiserreiches hinaus in Gebrauch.
MUSIK: gemischter Chor: „Ich habe mich ergeben“
KAISER Singen 4 06 (wenn vorhanden O-Ton singendes Kind):
zur Sicherheit bitte mit Zitator aufnehmen
ZITATOR:
Wenn ich groß bin, wenn ich groß bin,
dann werd ich General
mit dem Helm auf dem Kopfe,
mit dem Säbel aus Stahl.
SPRECHER:
Die Gesinnungserziehung durchs Singen beginnt bereits in der Schule, wie das
umgetextete Kinderlied „Kommt ein Vogel geflogen“ aus einem Schulliederbuch
von 1914 zeigt.
SPRECHERIN:
Die Schule und mit ihr das Singen dienen der Erziehung zum Militarismus. <Auf
der Schulkonferenz von 1890 erteilt der Kaiser klare Anweisungen.
ZITATOR:
„Ich suche Soldaten; wir wollen eine kräftige Generation haben, die auch
als geistige Führer und Beamte dem Vaterland dienen.“
SPRECHER:
In des Kaisers Schulen kann von einer musikalischen Erziehung keine Rede
sein.> Gegen den Protest führender Musikerzieher werden die vaterländischen
Lieder im mechanischen Drill durch einfaches Vor- und Nachsingen eingeübt.
Seite 5
SPRECHERIN:
Das mechanische Auswendiglernen beim gemeinschaftlichen Singen fördert die
unkritische Aneignung von Texten. Dass das Konzept funktioniert, zeigt sich
daran, wie sehr die einmal eingepaukten Texte und Melodien in den Köpfen
haften bleiben. Musikdidaktiker Günther Noll:
KAISER Singen 4 07 O-Ton Noll:
Ich habe vor einigen Jahren einmal eine ältere Dame interviewt, und die konnte mir, da sie in Prag
aufgewachsen ist, aus der Zeit der österreichischen Monarchie noch das damalige Kaiserlied singen
mit allen Strophen. Das heißt also, die Gedächtnisspur trägt über ein ganzes Leben hinweg. Sogar bei
Alzheimerpatienten beobachtet man, wenn sie die Sprachfähigkeit verloren haben, dass sie noch diese
Lieder singen können.
Musik Wandervogel
SPRECHER:
So oder ähnlich muss es geklungen haben, als um die Wende zum 20.
Jahrhundert zum ersten Mal abenteuerlich gekleidete Schüler und Studenten
singend über deutsche Landstraßen zogen. Mit den offiziellen PseudoVolksliedern des 19. Jahrhunderts können sie nichts mehr anfangen.
SPRECHERIN:
Die Jugendbewegung, die mit der Gründung des Wandervogels im Jahr 1900
beginnt, entwickelt ein eigenes Singrepertoire aus Volksliedern. Sie sind
wesentlich älter als die an den Schulen gesungenen Lieder. Das Singen dient als
gemeinschaftliches Element und wird zur eigentlichen Ausdrucksform der
Bewegung.
SPRECHER:
Karl Oelbermann, Stammvater des 1921 gegründeten Nerother Wandervogels,
erinnerte sich später.
KAISER Singen 4 08 O-Ton Oelbermann
Wir waren ja von der Romantik eingefangen. Wir wollten ja auch keine Politik, wir wollten ja auch
keine großen Gedanken produzieren, sondern wir wollten lediglich ein junges frisches Leben
gestalten. Wir wollen wieder leben als freie junge Menschen, wollen uns unserer eigenen Jugend
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erfreuen, wollen auf Fahrt gehen und wandern, wollen singen und hatten im Herzen natürlich immer
noch die Liebe zu unserer deutschen Heimat. Das ist nach meiner Ansicht die blaue Blume des
Wandervogels, jawohl.
Musik: Jugendgruppe: Die blaue Blume
SPRECHERIN:
Der Wandervogel tritt für das Einfache und Unverkünstelte ein. Später
ändert sich das.
KAISER Singen 4 09 O-Ton Schepping:
Die haben viel Musik gemacht.
SPRECHERIN:
...sagt der Neusser Volksmusikforscher Professor Wilhelm Schepping.
KAISER Singen 4 10 O-Ton Schepping:
Und dann hat sich daraus herausgebildet eine Gruppierung, die diese bündischen Lieder und das
etwas Zackige und Markige oder auch nicht schöne, nicht künstlerische, schlecht begleitete Singen
nicht gut fand und die es künstlerisch erhöhen wollte. Und das wurde dann die Jugendkunst- und
Jugendmusikbewegung, die dann kultiviertes Singen pflegen wollten und die dann auch stark in die
Pädagogik gingen, also in die Schulen. Das ist etwas anderes als die eigentliche Jugendbewegung. Bei
denen ging’s nicht um Schönheit oder musikalische Qualität, sondern um Inhalte, die man verbreiten
wollte.
SPRECHER:
Die Jugendmusikbewegung ist eine ganz eigene Ausprägung im Rahmen
der Jugendbewegung. Ihr erster markanter Vertreter Fritz Jöde will das
Musikleben demokratisieren. Das Singen und Musizieren soll allen
sozialen Schichten ohne besondere Vorkenntnisse möglich sein.
KAISER Singen 4 11 O-Ton Schepping:
Da wurden eigene Jugendsingwochen gehalten. Da haben große Komponisten – Hindemith war da
sehr aktiv – mitgetan, haben allmählich ein Repertoire geschaffen, das eben auch nicht nur das
Singen, sondern auch das Instrumentalspiel mit Literatur versorgte bis hin zur Barockmusik.
Musik: Hindemith. „Wir bauen eine Stadt“
SPRECHERIN:
Die von Jöde gegründete Musikantengilde gibt die Liederhefte Der
Musikant heraus. Die Gesamtausgabe von 1924 wird rasch zum
verbreitetsten Musizier- und Liederbuch. Und das auch an den Schulen,
wo die ideologischen Lieder des 19. Jahrhunderts allmählich
verschwinden. Der Musikant bietet neben Volks- und Kinderliedern vor
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allem polyphone Sätze des 16. bis 18. Jahrhunderts. Zweck dieser
Sammlung ist es:
ZITATOR:
„...ein wirkliches Kulturgut zu vermitteln, das über die Schulmauern hinaus
Einfluss auf Haus und Leben gewinnt.“
SPRECHER:
<Ein ähnliches Ziel verfolgt das Liederbuch des von Walther Hensel gegründeten
Finkensteiner Bundes.
ZITATOR:
„Das Singen als solches muss ins Volk getragen werden, muss
allgemeines Gut werden. Dazu sollen diese Blätter beitragen.“>
KAISER Singen 4 12 O-Ton Schepping:
Das war eben eine kulturelle Jugendbewegung, die auch die kulturelle Verbesserung des Volkes, d.h.
des Volksingens, erheben wollte, die dafür sorgen wollte, dass nicht so primitive Lieder gesungen
wurden. Sie haben sich gegen die Schlager der Zeit gewandt. Sie wollten eben ein Singen, das die
alten Volkslieder nicht vergessen hatte, das stimmliche und musikalische Qualität besaß.
SPRECHERIN:
Gesungen wird nach dem ersten Weltkrieg aber auch woanders. Der
Musikdidaktiker Günther Noll fasst zusammen.
KAISER Singen 4 13 O-Ton Noll:
Es ist wohl kaum noch bekannt, dass etwa in den 20er Jahren rund sechs Millionen Jugendliche in
Organisationen und Verbänden organisiert waren. Das waren sozialistische Verbände, das waren
religiöse Verbände, das waren kommunistische Verbände. Die haben ihr eigenes Liedgut gepflegt.
MUSIK: Arbeiterchor: „Brüder, zu Sonne, zur Freiheit“
SPRECHER:
Im Gegensatz zur Jugendmusikbewegung haben die klassenkämpferischen
Arbeitergesangsvereine ein klares politisch-gesellschaftliches Ziel vor Augen.
Entsprechend agitatorisch ist ihr Liedrepertoire geprägt. Geleitet werden sie
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unter anderem von Musikerpersönlichkeiten wie dem Komponisten Anton
Webern oder dem Dirigenten Hermann Scherchen.
SPRECHERIN:
Während der Weimarer Republik werden die politischen Straßenkämpfe
zwischen Links und Rechts auch mit der Waffe des Gesangs ausgetragen.
<Ein SA-Mann beschreibt einen Sonntag im Jahr 1930, als die SA-Truppen
bei einem Propagandamarsch durch den roten Berliner Norden die so
genannte "Hitlernationale" anstimmen, eine Umtextierung der
Internationale.
ZITATOR:
„Kaum schallten die ersten Töne die Häuserreihen hinauf, als sich im Nu
die Fenster öffneten und die Hausbewohner sich anschickten, ihre Leute
mit Jubel und Beifall zu empfangen. Wer beschreibt aber die langen
Gesichter, die da unten statt der ihrigen einen Zug Braunhemden
marschieren sahen. Von oben und auf der Straße fiel man sofort kräftig in
unser Lied mit ein: ‚Völker, hört die Signale!‘ Wir aber schmetterten mit
aller Kraft dagegen: ‚Der nationale Sozialismus wird Deutschlands
Zukunft sein!‘ Es war uns eine Genugtuung, unsere Gegner zu einem so
eigenartigen Gesangswettstreit herausgefordert zu haben.“>
SPRECHERIN:
Ab 1933 gibt es keinen Wettstreit mehr. Ab jetzt wird marschiert.
Musik: Nationalsozialistisches Marschlied
KAISER Singen 4 14 O-TON RENATE WIRTH:
Also, ab – ungelogen – 7 Uhr morgens, wenn man noch im Bett lag, hörte man ein Marschlied nach
dem andern, von der SA, von der NS-Frauenschaft, von der Hitlerjugend, vom BDM, vom Jungvolk. Da
wurden nicht nur politische Lieder gesungen, sondern da wurden Wanderlieder gesungen. Aber ein
Lied nach dem anderen. Aber das wusste jeder: dass eine Familie an einem Sonntag überhaupt nicht
mehr zuhause war, sondern man war organisiert und musste marschieren.
Seite 9
SPRECHER:
Und dabei hatte man zu singen, wie aus der Schilderung einer
Frankfurter Zeitzeugin hervorgeht. Vor allem das Singen im Chor wird ab
1933 von den nationalsozialistischen Machthabern systematisch als
Propagandainstrument eingesetzt.
KAISER Singen 4 15 O-Ton Noll:
Die entscheidende ideologische Erziehung durch das Singen kam in den Organisationen, im Jungvolk,
in der Hitlerjugend und im BDM. Das waren Lieder zum Führerkult, Lieder für den Militarismus,
Soldatenlieder. Und überall spielte die Fahne als Symbol eine Rolle. Und von vornherein wurde die
Opferbereitschaft, die Hingabe, die absolute Hingabe an den Führer von Anfang an propagiert und
dadurch auch systematisch entwickelt. Natürlich nicht nur durch Lied und Singen, aber eben auch,
und besonders wirksam.
MUSIK: Wir folgen der Fahne
SPRECHERIN:
Die deutsche Jugend wird von den Nationalsozialisten singend auf
Vordermann gebracht. Das Erziehungsideal ist der selbstlose Mensch.
Seine wichtigsten Tugenden sind Disziplin und Gefolgschaftstreue.
KAISER Singen 4 16 <O-Ton Hitler bei Kundgebung:
Wir stehen jetzt hier, nicht durch Zufall gefügt, nicht weil jeder einzelne tat, was er wollte, sondern
weil euch der Befehl eueres Reichsjugendführers hierher gerufen hat. Nichts ist möglich, wenn nicht
ein Wille befiehlt und immer die anderen zu gehorchen haben. Von oben beginnend und ganz unten
erst endend.>
KAISER Singen 4 17 O-Ton Schepping
Und natürlich ist auch da die Gefahr des Singens,...
SPRECHER:
...sagt Volksmusikforscher Wilhelm Schepping, ...
KAISER Singen 4 18 O-Ton Schepping
... dass man nicht so genau auf die Inhalte hört, sondern das genießt, dass man miteinander nun so
plötzlich stark ist und in diesem Fall pro Hitler die Welt erobern will mit Liedern auf den Lippen, dass
man in den Krieg zieht mit Liedern auf den Lippen, dass man auch die Toten begräbt mit Liedern auf
den Lippen.
KAISER Singen 4 19 <O-Ton Wochenschau:
Die Erziehung zur Wehrfreudigkeit ist ein Lebensgesetz der Hitlerjugend schlechthin. Wie soll der
Hitlerjunge beschaffen sein, wenn er mit 18 Jahren die Hitlerjugend verlässt und welche Fertigkeiten
soll er besitzen? Jeder Hitlerjunge soll erstens schießen können, zweitens geländegängig sein.>
Seite 10
SPRECHERIN:
Beim Singen müssen alle mitmachen. Neue Erbauungs- und
Gesinnungslieder entstehen. Besonders beliebt sind die Kompositionen
von Hans Baumann. So etwa das Nazi-Weihnachtslied „Hohe Nacht der
klaren Sterne“.
MUSIK: „Hohe Nacht der klaren Sterne“
KAISER Singen 4 20 O-Ton Schepping
Hohe Nacht der klaren Sterne“, das habe ich noch als einziges Lied, was ich in HJ gelernt habe, in
Erinnerung. Das braucht man nur irgendwo anzustimmen in meiner Generation. Dann singen viele mit
und wissen gar nicht, dass das ein von den Nazi geordertes, gefördertes Liedgut war, dass praktisch
das christliche Liedgut verdrängen sollte.
SPRECHER:
Die Nationalsozialisten vereinnahmen aber auch das Repertoire ihrer
Gegner. Christliche Lieder, Arbeiterlieder oder Lieder der
Jugendbewegung werden durch Textänderungen nazifiziert.
KAISER Singen 4 21 <O-Ton Schepping
„Wildgänse rauschen durch die Nacht“, da heißt es dann in der letzten Strophe „in Kaisers Namen“.
Da hat man dann sogar „in Führers Namen“ draus gemacht. Man hat in Volkes Namen, man hat in
Deutschlands Namen draus gemacht.
MUSIK: „Wildgänse rauschen durch die Nacht“ (Nazi-Fassung)
SPRECHER:
Diesem Lied, das bereits 1918 entstanden ist, hört man seine politische
Funktion kaum an. Aber Begriffe wie der vom „grauen Heer“, das „nach
Norden zieht“, passen nur all zu gut ins nationalsozialistische Vokabular.
Es gehört zu jenen Liedern, die unterschwellig beeinflussen sollen. Sie
sind in den Liederbüchern in großer Zahl vorhanden. Als Volkslied oder
volkstümliches Lied getarnt sollen sie ihre Wirkung ausüben.>
SPRECHERIN:
Die von der Reichsjugendführung herausgegebene Zeitschrift „Die
Spielschar“ schreibt zum nationalsozialistischen Liederfundus:
Seite 11
ZITATOR:
„Das ist das erste Mal, dass es Lieder gibt, die das ganze Reich
zusammenfassen. Unsere neuen Lieder der Jugend gehen von Ost nach
West, von Nord nach Süd. Sie rufen Alt und Jung auf und schmieden ein
ganzes Volk in der neuen Einheit des großen Reiches zusammen.“
SPRECHER:
Aber nicht das ganze Volk. Dem deutschen Widerstand dient das Singen
gleichfalls als Kampfmittel gegen die faschistischen Machthaber.
Kritische Verballhornungen von Nazi-Liedern sind im ganzen Reich
verbreitet oder erklingen in den Sendungen des deutschen Dienstes der
BBC. Beliebtestes Opfer ist das Horst-Wessel-Lied. Bertolt Brecht singt
1943 im Exil den von ihm getexteten Kälbermarsch, mit dem er den
Widerstand unterstützen will
MUSIK: Bertolt Brecht: „Kälbermarsch“
SPRECHERIN:
Auch in den Konzentrationslagern werden oppositionelle Lieder
gesungen, die die Kraft und das Durchhaltevermögen der Häftlinge
stärken sollen. Das bekannteste von ihnen ist das Lied Die Moorsoldaten,
das 1933 im Lager Papenburg im Börgermoor entsteht. In der
Bearbeitung von Hanns Eisler wird es zu einem der bekanntesten
Zeugnisse des antifaschistischen Widerstands in Deutschland.
MUSIK: Eva Busch: „Die Moorsoldaten“
KAISER Singen 4 22 O-Ton Schepping:
Im KZ, sogar in Sachsenhausen, da sang man miteinander, da summte man miteinander, und das ist
zusammengetragen worden zu einem KZ-Liederbuch als Zeugnis dessen, wie wichtig das Singen für
sie war.
Musik hoch bis Schluss
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