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JUGENDKULTUR, RELIGION UND DEMOKRATIE
POLITISCHE BILDUNG MIT JUNGEN MUSLIMEN
Nr. 17/Mai 2010
EDITORIAL
Liebe Leserinnen und Leser,
die Einbürgerung des Islam in Deutschland ist längst nicht abgeschlossen – allerdings hat sich in den vergangenen Jahren
einiges getan. Deutsche islamische Medien oder die Gründung
muslimischer Arbeitsgruppen in den politischen Parteien sind
Beispiele dafür, dass der Islam in Deutschland mehr und mehr
aus den Hinterhöfen in den öffentlichen Raum tritt. Junge Muslime haben an dieser neuen Sichtbarkeit des Islam in Politik und
Alltag einen großen Anteil. Mit zahlreichen Initiativen und Vereinen wenden sich Jugendliche und junge Erwachsene an die
Öffentlichkeit.
Eine dieser religiösen Initiativen, deren Arbeit teilweise sehr kontrovers diskutiert wird, ist dieMuslimischeJugendinDeutschland. Sie spielt in einigen Städten eine wichtige Rolle in der
muslimischen Jugendarbeit und beschreibt sich als jung, hip,
deutsch und muslimisch. Mit den Worten ihres Vorsitzenden
Hisham Abul Ola: „Der Islam ist unsere Religion, Deutschland
unsere Heimat“ (siehe Seite 7). Häufig wird der Begriff des
„Pop-Islam“ zur Beschreibung der jungen Muslime herangezogen – aber er gibt die Vielfalt der religiösen Jugendszene(n)
nur unvollständig wieder. Denn auf die Frage nach ihrer Zugehörigkeit geben Jugendliche sehr unterschiedliche Antworten.
Deutsch, muslimisch, türkisch, arabisch oder aus Kreuzberg zu
sein, schließt sich für viele von ihnen keineswegs aus. Oft entscheidet die konkrete Lebens- oder Alltagssituation, ob sie sich
gerade mit dem „Deutschen“, „Türkischen“ oder „Muslimischen“
identifizieren (siehe Seite 4).
Umso wichtiger ist es, dass Ansprechpartner an die sich junge
Muslime mit Fragen und Problemen wenden können mit der Lebenswirklichkeit dieser Jugendlichen vertraut sind. Bei den etwa
2.000 Imamen in Deutschland ist das jedoch meist nicht der Fall.
Die große Mehrheit ist nicht in Deutschland sozialisiert und kennt
sich daher weder mit Behörden noch mit zivilgesellschaftlichen
Einrichtungen aus. Hier besteht großer Nachholbedarf. Noch ist
allerdings offen, ob und wie sich in nächster Zeit etwas daran
ändern wird (siehe Seite 2).
Wir hoffen, dass Ihnen diese Ausgabe des Newsletters, die sich
vor allem mit religiösen jungen Muslimen beschäftigt, Erkenntnisse für die pädagogische Arbeit liefert und Anstoß zu – gerne
auch kontroversen – Diskussionen gibt.
JUNGE RELIGIöSE MUSLIME IN DEUTSCHLAND
Kopftuch, Kapuzenpulli und religiöse Botschaften: Junge religiöse
Muslime leben ihre Religion häufig anders als ihre Eltern (Seite 4)
INHALT
RELIGION UND IDENTITÄT
· Der Imam in der muslimischen Gemeinde
· Junge religiöse Muslime in Deutschland
· Interview: „Der Islam ist unsere Religion, Deutschland
unsere Heimat“
7
JUGENDKULTUR UND MEDIEN
· Das deutschtürkische Internet-Portal Vaybee!
· Online-Foren für junge Erwachsene marokkanischer Herkunft
· Workshop: „Die wollen den Islam schlecht machen“
9
11
12
PUBLIKATIONEN
· KanakCultures
· Unsere Geschichten – eure Geschichte?
14
15
SERvICE
· Informationen und Materialien für Pädagogen
16
In diesem Sinne wünschen wir eine interessante Lektüre,
die Redaktion
2
4
Eine Publikation von:
ufuq.de
ufuq.de
Nr. 17/Mai 2010
RELIGION UND IDENTITÄT
Zwischen Religion und Alltag
DER IMAM IN DER MUSLIMISCHEN GEMEINDE
Wie lassen sich in Deutschland islamische Speisevorschriften einhalten? Was ist im Todesfall zu tun? Wie erziehe ich meine Kinder im Glauben? Die fehlende gesellschaftliche verankerung des Islam in Deutschland macht den Imam in muslimischen Gemeinden zum wichtigen
Ansprechpartner. Aber wie weit sind Imame in der Lage, ihre vielfältigen
Aufgaben zu erfüllen? Wie werden sie ausgebildet? Und welche Rolle
sollen sie künftig spielen? Die Islamwissenschaftlerin Marfa Heimbach
gibt Antworten.
von Marfa Heimbach
Mit dem Aufgang der Sonne beginnt
der Arbeitstag des Imams einer islamischen Gemeinde – mit dem Untergang
der Sonne endet er. Die zentrale Aufgabe
des Imams, des Vorbeters, ist die Leitung
der täglich fünf islamischen Pflichtgebete,
eine der fünf Säulen des Islam: Das erste rituelle Gebet im Morgengrauen, das
letzte bei Sonnenuntergang. Dazwischen
noch je eines am Mittag, am Nachmittag
und am Abend. Der Imam muss die rituellen Abläufe kennen, den Koran in Arabisch und „er sollte wenn möglich eine
schöne Stimme haben, denn das Gebet
nach dem Koran ist Rezitation, Ästhetik
der Stimme, Musik, Klang, Atmosphäre.“
So beschreibt es Erol Pürlü, Imam und
Dialogbeauftragter des Verbands der IslamischenKulturzentren(VIKZ).
Weitere Aufgaben des Imams sind das
Hauptgebet am Freitag und vor allem die
Freitagspredigt. Letztere erfordert allerdings die Zusatzqualifikation als Hatib, als
Prediger, die nicht jeder Imam hat. Deshalb laden viele Gemeinden in islamischen
Ländern und auch in Deutschland besonders an wichtigen religiösen Feiertagen,
zum Beispiel im Fastenmonat Ramadan,
häufig einen Prediger von auswärts ein.
Eine dritte zentrale Aufgabe des Imams
besteht in der religiösen Unterweisung
von Kindern und Jugendlichen, wozu in
erster Linie der Unterricht des Arabischen
als Sprache des Korans sowie dessen
klangvolle Rezitation gehört. Weder die
Kenntnis des Konversationsarabisch noch
Koraninterpretation sind Ziel dieses Unterrichts, sondern vor allem die Aussprache
und Phonetik. Diese ist notwendig, „um
den Koran zum Klingen zu bringen“, so
Erol Pürlü. „Imam kann theoretisch jeder
männliche Muslim werden, der die not-
wendigen Qualifikationen vorweist, der also
die rituellen Waschungen genau kennt, die
rituellen Gebete und den Koran“, so Pürlü. „Der Imam muss dieser Aufgabe nicht
notwendigerweise hauptberuflich nachgehen, sondern er kann diese Tätigkeit auch
neben seinem Beruf als Handwerker oder
Kaufmann ausüben, mit dem er sich seinen Lebensunterhalt verdient.“
rend des Ramadans, ist. Die Heirat selbst
ist ein juristischer Akt und „für die rituellen
Totenwaschungen, Krankenhausfürsorge
oder seelische Betreuung zum Beispiel in
Gefängnissen sind traditionell in den islamischen Ländern die Familien zuständig, nicht
der Imam“, erläutert der marokkanische
Imam Abdelmalik Hibaoui. Er ist Leiter des
Projekts „Interkulturelle Öffnung und Qualifizierung islamischer Gemeinden“ der Stabsstelle für Integrationspolitik in Stuttgart.
Die Geschichte islamischer Gemeinden in
Deutschland ist vergleichsweise jung. Die
Mehrheit der in Deutschland lebenden
Muslime ist im Rahmen der Gastarbeiteranwerbungen Anfang der 1960er-Jahre
eingewandert. Die ersten Moscheevereine wurden in den 1970er-Jahren gegründet, die großen islamischen Verbände
Traditionell sind Imame primär Vorbeter – in Deutschland sind sie jedoch auch als Ratgeber,
Lehrer und Seelsorger gefragt.
Aus dem Blickwinkel der überwiegend
christlich geprägten Mehrheit in Deutschland wird die Rolle des Imams oft mit der
eines christlichen Pfarrers verglichen. Dies
trifft allerdings nur in Teilbereichen zu. Vor
allem gibt es für Imame keine Weihe, das
heißt keinen Amtsauftrag im Sinne der
kirchlichen Ordination. Hochzeiten, Beerdigungen, Kranken- oder Gefängnisbesuche und viele weitere Aufgaben, die
zum Arbeitsfeld eines christlichen Pfarrers
gehören, fallen traditionell nicht unter die
Aufgaben eines Imams – auch wenn der
Imam gern gesehener Gast bei Hochzeiten,
Beschneidungsfeiern oder dem Iftar-Essen,
dem traditionellen Fastenbrechen wäh-
erst Ende der 1970er. Die Gemeinden
sind also gerade 30 bis 40 Jahre alt. Und
ihre Mitglieder befinden sich in einer Minderheitensituation in Deutschland. Gerade die kurze Geschichte islamischer
Gemeinden in Deutschland, das fehlende
islamisch-soziale Alltagsumfeld, der fortschreitende Verlust traditioneller Kenntnisse religiöser und ritueller Grundlagen in
den Familien stellt den Imam in Deutschland vor Fragen, die ihm in den Herkunftsländern nie gestellt wurden: Wer vermag
dem „Kleingedruckten“ auf deutschen
Lebensmittelverpackungen heute schon
zu entnehmen, was z.B. „bio“ oder was
Kunstprodukt ist, geschweige denn, was
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Nr. 17/Mai 2010
RELIGION UND IDENTITÄT: Der Imam in der muslimischen Gemeinde
„halal“, was „haram“ ist? Wie lassen sich
also hier die Speisevorschriften einhalten?
Was ist im Todesfall zu tun? Wie erziehe
ich meine Kinder im Glauben? Wie ist mit
interreligiösen Ehen umzugehen?
„Familien fragen um Rat bei Konflikten in
der Ehe oder Problemen mit Jugendlichen; der Imam wird zu Totenwaschungen gerufen, weil die Familien die rituellen
Waschungen nicht mehr kennen. Er muss
heute erklären können, wie religiöses islamisches Leben in einem mehrheitlich
nicht-islamischen Umfeld möglich ist: Er
wird zum Berater in allen Lebenslagen,
zum Psychologen, Lehrer und Seelsorger“, meint Abdelmalik Hibaoui. Mehr
noch, der Imam ist auch im Dialog gefordert, denn Krankenhäuser, Unfallnotärzte,
Gefängnisse, Kindergärten und viele andere Institutionen in Deutschland suchen
Rat, wie sie mit muslimischen Bürgern
umgehen sollen. Kurz, der Super-Imam ist
gefragt.
MEHR ZUM THEMA
Islam-Lexikon: Imam
www.bpb.de/popup/popup_lemmata.html?guid=TCCGGQ
Kompromisslose Lehre, junge
Fans: Der Prediger Pierre vogel
www.bpb.de/themen/DY4AIX,17
Newsletter-Archiv unter:
www.bpb.de/jugendkultur-islamdemokratie
In diesem Zusammenhang steht die Debatte um die Aus- und Fortbildung der
Imame: Auch wenn Form und Inhalte einer Imamausbildung in Deutschland noch
kontrovers diskutiert werden, herrscht
doch Konsens bezüglich einer generellen
Notwendigkeit. Die meisten freien, arabischen Moscheegemeinden „importieren“
ihre Imame nach wie vor aus den Heimatländern. Auch der große türkische Verband
DITIB (Türkisch Islamische Union der Anstalt für Religion) bekommt die Imame für
seine rund 800 Gemeinden in Deutschland als Beamte des türkischen Staates
vom Amt für religiöse Angelegenheiten in
der Türkei (Diyanet) gestellt – und bezahlt.
Doch die Sprachprobleme und die fehlen-
de Kenntnis des soziokulturellen Umfelds
in Deutschland erweisen sich hier als problematisch. Der Großteil der etwa 2.000
Imame in Deutschland verfügt weder über
ausreichend Informationen noch über Verbindungen zu Behörden oder zivilgesellschaftlichen Einrichtungen. Sie sind daher
oft nicht in der Lage, Ratsuchende – etwa
bei Problemen mit Kindern und Jugendlichen – an Stellen zu verweisen, wo sie
professionelle Unterstützung bekommen
können und wo eventuell auch Mitarbeiter
mit dem jeweiligen Migrationshintergrund
bestehende Schwellenängste abbauen
helfen.
Sprach- und Landeskunde-Kurse, wie sie
das Goethe-Institut in Ankara oder seit
kurzem auch die Regierung in Marokko für
die Auslandsimame durchführt, erweisen
sich als hilfreich aber längst nicht ausreichend, um die fehlende Sozialisation zu
kompensieren. Projekte wie BerlinKompetenz und MünchenKompetenz stellen
hier Fortbildungsangebote auf landeskundlicher Ebene dar (siehe Newsletter
Nr. 15). Eher interreligiös-interkulturell,
an praxisorientierten Fragestellungen des
Gemeindealltags orientiert, ist das bundesweite Projekt „Religionen im säkularen Staat – Dialogseminare für christliche
PfarrerInnen, Imame, christliche und muslimische Gemeindeverantwortliche und kommunale Multiplikatoren“, das die BundeszentralefürpolitischeBildung seit 2004 in
Kooperation mit den Kirchen und islamischen Verbänden durchführt.
Vor allem aber hat sich bislang kein fundierter theologischer Diskurs in Deutschland entwickeln können, der die religiöse
Lehre und religiöse Fragestellungen im
Kontext des hiesigen Lebens- und Sozialraums wissenschaftlich reflektiert bzw.
analysiert, formuliert und weitervermittelt.
Die Folge ist, dass Imame in den Gemeinden viele Antworten schuldig bleiben
– oder sie greifen zu normativen Aussagen,
um sich als Respektpersonen keine Blöße
zu geben. Diese gehen allerdings häufig
an der Lebensrealität der Gläubigen in
Deutschland schlicht vorbei.
Einen großen Schritt auf dem Weg zur
Imamausbildung in Deutschland bildet
der im Herbst 2010 an der Universität
Osnabrück – zunächst als Fortbildungsprogramm – beginnende Aufbaustudiengang für Imame. Er soll den gewachsenen
Anforderungen für Imame auf wissenschaftlich-universitärer Ebene Rechnung
tragen. Inwiefern sich die Imamausbildung
mit einem geplanten Studiengang Islamische Theologie an drei deutschen Hochschulstandorten in Zukunft verbinden lässt,
wird gegenwärtig noch diskutiert.
Doch für die Zukunft universitär aus- und
fortgebildeter Imame wird auch der Fortschritt des innermuslimischen Dialogs in
Deutschland eine wichtige Rolle spielen.
Die zentrale Frage ist, ob die islamischen
Verbände künftig bereit sind, einen Teil
ihrer bisher ausgeübten Dominanz abzubauen und die Konkurrenz untereinander
einzuschränken. Bisher reagieren sie eher
DerVerbandderIslamischenKulturzentren skeptisch und fürchten um ihren Einfluss.
(VIKZ) oder die Islamische Gemeinschaft An der Basis müssten die neuen Imame
MilliGörüş (IGMG) bilden bereits seit den zudem die Anerkennung der Gemeinde
1980er-Jahren einen Großteil ihrer Imame gewinnen. Denn hier erfüllt der Imam seine
in Deutschland aus. Allerdings berücksich- primären Aufgaben.
tigen diese Ausbildungen bislang nur geringfügig die neuen Herausforderungen für In der nächsten Ausgabe setzen wir das
den Islam in Deutschland, da sie überwie- Thema mit einem Beitrag über die Jugend an den traditionellen Aufgaben des gendarbeit von Imamen und islamischen
Imams orientiert sind. Auch die Imame der Verbändenfort.
Islamischen Gemeinschaft der Bosniaken
in Deutschland (IGBD) studieren bislang
in Sarajewo Theologie und erhalten dort
Marfa Heimbach M.A. ist Islamwisauch ihre Ausbildung zum Imam. Das Türsenschaftlerin und freie Autorin des
kische Amt für religiöse Angelegenheiten
Westdeutschen Rundfunks Köln. Sie
in Ankara hat 2006 ein Stipendienproleitet im Auftrag der Bundeszentrale für
gramm aufgelegt: Deutsche Abiturienten
politische Bildung das Dialogprojekt
können in Ankara Theologie studieren, um
für Pfarrer und Imame, „Religionen im
anschließend in Deutschland wieder zum
säkularen Staat“.
Einsatz zu kommen.
Seite 3
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Nr. 17/Mai 2010
RELIGION UND IDENTITÄT
Religiosität und Zugehörigkeit
JUNGE RELIGIöSE MUSLIME IN DEUTSCHLAND
Junge religiöse Muslime leben ihre Religion häufig anders als ihre Eltern. Ihr Festhalten an Ritualen gilt als demonstrative Bestätigung der
Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Muslime. Gleichwohl sehen sich
muslimische Jugendliche und junge Erwachsene oft ausdrücklich als
Teil der deutschen Gesellschaft, auch weil sie sich mit der Heimat ihrer
Eltern wenig verbunden fühlen.
von Götz Nordbruch/ufuq.de
Moderner Lifestyle und die bewusste Selbstdarstellung als Muslimin: Mode des islamischen
Labels Style-Islam
Der Name ist Programm: Muslim – The
Next Generation. Das Online-Projekt,
das im Januar von einer Gruppe junger
deutscher Muslime gestartet wurde,
steht unter dem Motto „Wann, wenn
nicht jetzt? Wer, wenn nicht wir? Jetzt
sprechen wir!“ (muslim-generation.de).
In den vergangenen Jahren sind eine
ganze Reihe ähnlicher Initiativen von
zumeist sehr religiösen muslimischen
Jugendlichen und jungen Erwachsenen
gestartet worden. Die Online-Community
myumma.de oder das Online-Forum
misawa.de sind vergleichbare deutschsprachige Angebote, in denen sich eine
wachsende Zahl junger religiöser Muslime austauscht.
Die Popularität dieser Angebote beschränkt sich nicht auf das Internet. Im
Verständnis der Initiatoren sind sie auch
Anregung für gemeinsame Aktivitäten außerhalb des World Wide Web. Online- und
Offline-Realitäten gehen hier ineinander
über, wobei die Organisation gemeinsamer Veranstaltungen, der Austausch von
Informationen oder Absprachen für die
gemeinsame Teilnahme an Seminaren im
Mittelpunkt stehen. Schließlich gehört die
Dawa – die „Einladung zum Islam“ – ebenso zum Selbstverständnis vieler Jugendlicher wie die Ausrichtung des eigenen
Alltags an den Regeln des Islam.
Junge Muslime, die sich explizit und
selbstbewusst zu ihrer Religion bekennen, haben an der neuen Sichtbarkeit des
Islam in Deutschland einen großen Anteil.
Ob beim „Tag der offenen Moschee“, auf
Diskussionsveranstaltungen zu den Themen Islam und Migration, oder in den neuen Medien – oft sind es gerade junge Muslime, die den Kontakt zur Öffentlichkeit
suchen. Im Mittelpunkt steht dabei der
Wunsch, den Islam als selbstverständlichen Teil der Gesellschaft zu etablieren.
Vereine wie die Muslimische Jugend in
Deutschland (MJD) (siehe Seite 7), die Lifemakers oder die Lichtjugend, die in vielen
Städten auch mit nicht-islamischen Akteuren zusammenarbeiten, haben sich in
vielen Orten als Alternativen zu den traditionellen Moscheevereinen und den großen
Islam-Verbänden etabliert. Es sind nicht die
Mitgliederzahlen, die die Bedeutung dieser
Initiativen ausmachen. Von den 3,8 bis 4,3
Millionen in Deutschland lebenden Muslimen beteiligt sich nur eine kleine Minderheit an den Aktivitäten dieser Vereine. Nur
selten sind es mehr als einige Dutzend Personen, die formal als Mitglieder registriert
sind. Mit ihrer Öffentlichkeitsarbeit, die sich
an Muslime wie an Nicht-Muslime richtet,
erreichen sie allerdings ein Publikum, das
weit über den Mitgliederkreis hinausgeht.
Dies haben auch die traditionellen islamischen Organisationen erkannt: Verbände
wie der ZentralratderMuslimeinDeutschland (ZMD) oder die Islamische Gemeinschaft Milli Görüş (IGMG) haben sich in
den vergangenen Jahren verstärkt um einen modernen Auftritt bemüht, mit dem sie
auch junge Muslime der zweiten und dritten Generation ansprechen wollen. So gehören das Multimedia-Portal waymo.deund
das Online-TV-Angebot sogesehen.tv zu
den Projekten, mit denen der ZMD gezielt
auf jüngere Muslime zugeht. Dabei geht es
den Verbänden auch darum, ihren Einfluss
auf die Auslegung der islamischen Lehre und religiöser Praktiken zu bewahren.
Denn die neuen Initiativen junger religiöser
Muslime akzeptieren nicht mehr unhinterfragt die Deutungshoheit etablierter religiöser Autoritäten und deren Vertretungsanspruch gegenüber der nicht-islamischen
Öffentlichkeit.
RüCKKEHR ZUM ISLAM – ODER NEUE
RELIGIOSITÄT?
Die große Bedeutung des Islam für junge Muslime wird von vielen Studien bestätigt, die in den vergangenen Jahren
unter Muslimen in Deutschland durchgeführt wurden. Laut einer Untersuchung
der Bertelsmann-Stiftung von 2008 findet
sich unter den 18- bis 29-Jährigen ein
besonders großer Anteil „hochreligiöser“
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ufuq.de
Nr. 17/Mai 2010
RELIGION UND IDENTITÄT: Junge religiöse Muslime in Deutschland
Muslime. Mit 43% ist ihr Anteil in dieser
Altersgruppe am größten (BertelsmannStiftung, Religionsmonitor 2008. Muslimische Religiosität in Deutschland).
Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt eine
Umfrage des Zentrums für Türkeistudien,
die Ende 2008 unter türkischstämmigen
Muslimen durchgeführt wurde. Knapp
75% der 18-bis 29-Jährigen beschreiben
sich hier als „eher“ oder „sehr religiös“,
während sich nur knapp 60% der 45- bis
59-Jährigen entsprechend äußern (Zentrum für Türkeistudien, Türkeistämmige
Migranten in Nordrhein-Westfalen und
in Deutschland).
Jung, modern und vor allem islamisch: Das
Online-Projekt Muslim–TheNextGeneration
Dabei gibt es durchaus generationsbedingte Unterschiede, wie religiöse Muslime ihre
Religion leben. Junge Muslime, die etwa in
Duisburg oder Berlin aufgewachsen sind,
teilen nicht zwangsläufig die Vorstellungen
und Traditionen, mit denen ihre Eltern oder
Großeltern in der Türkei oder dem Libanon
groß geworden sind. Anders als in den Herkunftsländern der Eltern- und Großelterngeneration, in denen die Zugehörigkeit zur
islamischen Gemeinschaft als selbstverständlich galt, haben junge Muslime in der
nicht-islamischen deutschen Umwelt oft das
Bedürfnis, ihre religiöse Identität und ihre Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Muslime
herauszustellen – und demonstrativ durch
Rituale und Symboliken zu bekunden.
Rituale wie das Fasten, das Einhalten der Gebete oder das Tragen des
Kopftuchs gewinnen damit auch eine
identitätspolitische Bedeutung: Gerade
die nach außen demonstrierte Orientierung an Speisegesetzen und die strenge Unterscheidung zwischen islamisch
Zulässigem („halal“) oder Unzulässigem
(„haram“) dient der Identifikation mit der
Gemeinschaft – und der Abgrenzung
gegenüber Nicht-Muslimen. Das zeigt
sich zum Beispiel in der Einhaltung des
Verbots von Alkohol und Schweinefleisch,
das viele junge Muslime sehr ernst nehmen
(Religionsmonitor).
In diesem Zusammenhang steht auch das
Phänomen der „Neo-Muslimas“ oder der
„New-born-Muslims“. Dabei handelt es
sich um Jugendliche, die von ihren Eltern
nicht religiös erzogen wurden und in deren Leben Religion lange keine Rolle spielte. Im jungen Erwachsenenalter wenden
sich diese „wiedergeborenen Muslime“
umso entschiedener dem Islam zu. Die
betonte Orientierung an religiösen Werten und Geboten markiert für sie einen
biografischen Bruch, mit dem eine neue
Lebensphase eingeleitet wird. Für einige
dieser Muslime steht die wiederentdeckte
Religiosität auch für die Abwendung von
einem Lebensstil, der geprägt war von Alkohol- und Drogenkonsum, sexueller Freizügigkeit oder auch von Kriminalität.
Auch der Wunsch nach Abgrenzung vom
Elternhaus ist für viele ein Grund, sich der
Religion zuzuwenden. Die Glaubenspraxis
der Eltern, die oft mit sehr traditionellen Rollenvorstellungen einhergeht, erscheint vielen jungen Muslimen in Deutschland nicht
mehr angemessen. Gerade für junge religiöse Musliminnen bietet das demonstrative
Bekenntnis zum Islam die Möglichkeit, sich
gegen patriarchalische Traditionen in der
Familie zur Wehr zu setzen. Der Islam, so
argumentieren sie gegenüber ihren Eltern,
gebe ihnen zum Beispiel das Recht auf eine
Ausbildung und ein Studium. Das gewissenhafte Tragen des Kopftuchs und die betonte
Orientierung an religiösen Regeln kann für
sie somit ein Mittel sein, Rechte und Freiheiten gegenüber den Eltern und Brüdern
einzufordern. Als überzeugte muslimische
Frau entwickeln sie ein standing, das ihnen
„nur“ als Frau mitunter verwehrt bleibt.
Auch gegenüber der nicht-islamischen Gesellschaft bestehen junge Muslime häufig
auf ihrem Recht, ihre Religion nach eigenen Vorstellungen zu leben. Dabei birgt der
betonte Bezug auf die eigene religiöse Gemeinschaft auch Konflikte. So dokumentiert
die im Sommer 2007 veröffentlichte Studie
„Muslime in Deutschland“ die Verbreitung
von Vorbehalten unter jungen Muslimen
gegenüber der nicht-islamischen Gesellschaft. Bei 11,6% der befragten muslimi-
schen Jugendlichen beobachten die Autoren eine hohe Distanz zur demokratischen
und rechtsstaatlichen Gesellschaftsform.
11,1% der Jugendlichen bringen politischreligiös motivierter Gewalt Verständnis
entgegen (Bundesministerium des Innern,
Muslime in Deutschland).
Problematisch ist auch das Festhalten an
rigiden Vorstellungen über Unterschiede zwischen den Geschlechtern sowie
die Ablehnung von sexuellen Orientierungen, die mit traditionellen Vorstellungen des Islam nicht im Einklang stehen.
Die Diffamierung von Homosexualität als
unislamisch oder das Beharren auf einer
Trennung der Geschlechter in Schule und
Freizeit sind Beispiele für entsprechende
Einstellungen, die von vielen jungen Muslimen geteilt werden (Zum Verhältnis vom
Religiosität und Homophobie unter Schülern mit türkischem Migrationshintergrund
siehe Simon-Studie 2007).
DEUTSCH UND MUSLIM – RELIGION UND
ZUGEHöRIGKEIT
In der meist konservativen Auslegung und
der konsequenten Einhaltung religiöser
Gebote und Rituale spiegeln sich nicht nur
individuelle Entscheidungen. So deuten
Studien auch auf den gesellschaftlichen
Kontext hin, durch den die individuelle religiöse Praxis beeinflusst wird. Eine 2009 in
drei europäischen Ländern durchgeführte
Gallup-Studie kommt zu dem Ergebnis,
dass die Bedeutung der Religion im Alltag
der Muslime in Deutschland im Vergleich
mit Großbritannien und Frankreich am
größten ist: 82% der befragten deutschen
Muslime beschreiben den Islam als wichtigen Teil ihres Alltages, während die Werte
in Großbritannien (70%) und Frankreich
(69%) deutlich niedriger ausfallen (Gallup
Coexist Index 2009: Weltweite Studie
interkonfessioneller Beziehungen).
Eindeutige Aussagen zum Zugehörigkeitsgefühl von Muslimen lassen sich nur
schwer treffen. So geben zwar 59% der
deutschen Muslime in der Gallup-Umfrage
an, sich ihrer Glaubensgemeinschaft „äußerst“ oder „sehr stark“ verbunden zu fühlen, während nur 40% eine ähnliche Verbundenheit mit Deutschland empfinden.
Im Vergleich zur Gesamtbevölkerung ist
diese Zahl allerdings beachtlich. Hier sind
es lediglich 32%, die sich ebenso deutlich
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RELIGION UND IDENTITÄT: Junge religiöse Muslime in Deutschland
mit Deutschland identifizieren. Das heißt,
die Identifikation mit Deutschland ist unter
Muslimen stärker ausgeprägt als in der Gesamtbevölkerung. Dies spiegelt sich auch
in dem Vertrauen, das den staatlichen Institutionen entgegengebracht wird. Während 73% der deutschen Muslime den Gerichten vertrauen, liegt die Zustimmung in
der Gesamtbevölkerung mit 49% deutlich
niedriger. 61% der Muslime bringen der
deutschen Regierung Vertrauen entgegen
– in der Gesamtbevölkerung sind dies nur
36% (Gallup Coexist Index 2009).
Das Engagement von Vereinen wie der
MuslimischenJugendinDeutschland oder
von Initiativen wie dem ArbeitskreisGrüne
MuslimInnen von Bündnis90/Die Grünen
in Nordrhein-Westfalen sind Hinweise darauf, dass diese Identifikation mit Deutschland zunehmend auch mit dem Interesse
einhergeht, sich als deutsche Muslime in
Politik und Gesellschaft einzubringen. Das
spiegelte sich zuletzt im Vorfeld der Europa- und Bundestagswahlen, als islamische
Vereine unter Muslimen dafür warben, sich
aktiv an politischen Entscheidungsprozessen zu beteiligen (siehe Sonderausgabe des Newsletters zur Bundestagswahl
2009, Wählen ist eine „Muslimpflicht“).
Gerade junge Muslime übernehmen dabei
eine Vorreiterrolle. So sind Initiativen wie die
Lifemakers schon seit Längerem auch im
ehrenamtlichen Bereich engagiert. Mit Aktionen zur Unterstützung von Obdachlosen
oder im Gesundheitsbereich profilieren sie
sich als gesellschaftliche Akteure, die auch
in die nicht-islamische Gesellschaft hineinwirken. In mancher Hinsicht zeigt sich darin
eine Parallele zu christlichen Strömungen.
Nicht zufällig sehen sich diese Initiativen
oft selbst als Pendant zu den Pfadfindern
oder christlichen Organisationen, die einen
religiösen Lebensstil mit dem Dienst an der
Gesellschaft verbinden.
Die Selbstverständlichkeit, mit der diese
jungen Muslime ihre Religiosität mit der Zugehörigkeit zur modernen Gesellschaft verbinden, ist auch ein Beispiel für die wachsende Normalität des Islam in Deutschland
– wobei Normalität nicht gleichbedeutend
ist mit Harmonie und Konfliktfreiheit. Konflikte sind Teil dieses Prozesses, dafür
sorgt schon die strenge Auslegung religiöser Normen, die von vielen dieser Jugendlichen verfochten wird. Dennoch: Junge
Muslime haben sich zunehmend als gleichberechtigte Akteure in politischen und sozialen Diskussionen etabliert. Ihr Drang in die
Öffentlichkeit bietet ihnen auch die Chance,
mittels offener Kritik und Widerspruch ei-
nen Beitrag zu mehr Transparenz zu leisten
und das muslimische Selbstverständnis
kritisch zu reflektieren.
Dr. Götz Nordbruch ist Mitherausgeber
des Newsletters „Jugendkultur, Religion
und Demokratie. Politische Bildung mit
jungen Muslimen“ und Mitbegründer
des Vereinsufuq.de. Der Islamwissenschaftler arbeitet an der Süddänischen
Universität in Odense.
MEHR ZUM THEMA
„Coole Zeltlager“: Ferienfreizeiten für junge Muslime
www.bpb.de/themen/5ZGTL4
„Heimat ist...“ – Ein Gespräch
mit türkischen Jugendlichen
über Kurden, Graue Wölfe, Islam
und Deutschland
www.bpb.de/themen/4QGI5A
Newsletter-Archiv unter:
www.bpb.de/jugendkultur-islamdemokratie
POP-ISLAM – RELIGION LIGHT?
„Der Begriff Pop-Islam steht für den
Remix der Lebensstile. Die Jugendlichen greifen westliche Mode, Musik
und TV-Kultur auf und versehen sie mit
islamischem Vorzeichen“, schreibt Julia Gerlach. Mit ihrem Buch „Zwischen
Pop und Dschihad. Muslimische Jugendliche in Deutschland“ prägte die
Islamwissenschaftlerin und Journalistin
den Begriff Pop-Islam, der sich seither in den Diskussionen um den Islam
in Deutschland eingebürgert hat. Er
beschreibt junge Muslime, die sich zugleich als deutsch und als muslimisch
definieren. Sie haben ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland, sehen sich als
aktiver Teil der Gesellschaft – orientieren sich aber an den Werten und Glaubensvorstellungen des Islam.
Diese Haltung markiert einen Bruch mit
der Kultur der Hinterhofmoscheen, die
den Islam in Deutschland noch vor wenigen Jahren bestimmte. Den „Pop-Muslimen“ ist es wichtig, ihren Glauben auch in
der Öffentlichkeit zu praktizieren. Spricht
man mit Aktivisten dieser Strömung, trifft
man auf die Hoffung, dass sich dahinter
mehr verbirgt als eine Mode. So verbindet Fatma Camur mit dem Phänomen
des Pop-Islam auch eine neue Offenheit
der Muslime, die „Religion und Alltag verbinden und sich zudem für die deutsche
Gesellschaft engagieren wollen.“ Camur
ist 20 Jahre alt, Studentin und Betreiberin
des Blogs Habse(e)ligkeit. Sie schreibt
auch als Autorin für das Webzine Muslim – the next Generation, das jungen
Muslimen eine Stimme geben will. Mit der
neuen Offenheit der Muslime hänge auch
zusammen, dass sich viele Moscheen
und islamische Verbände in den vergangenen Jahren um mehr Transparenz
bemühten. Junge Muslime, so vermutet
Camur, hätten an dieser Öffnung einen
großen Anteil.
Dennoch stößt der Begriff des Pop-Islam
bei manchen Muslimen auch auf Vorbehalte: Neben der Assoziation von Religion
und Kommerz ist es vor allem das Lockere und Unverbindliche, das ihnen suspekt
ist. Den „Pop-Muslimen“ allerdings geht
es mitnichten um einen „Islam light“. Sie
sehen sich als vollwertige Muslime und
wollen als solche ernst genommen werden.
vonGötzNordbruch/ufuq.de
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Nr. 17/Mai 2010
RELIGION UND IDENTITÄT
„Der Islam ist unsere Religion,
Deutschland unsere Heimat“
EIN GESPRÄCH MIT HISCHAM ABUL OLA,
vORSITZENDER DER MusliMischen Jugend in deutschland, üBER DIE JUGENDARBEIT DER MJD
HerrAbulOla,dieMuslimischeJugendin
Deutschland veranstaltet regelmäßig Jugendcamps. In den Sommerferien kommen dort bis zu tausend junge deutsche
Muslime zusammen. Was passiert in diesenCamps?
An diesen Freizeiten nehmen religiöse
Jugendliche mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen aus ganz Deutschland teil. Sie verbringen hier gemeinsam
Freizeit und tauschen sich aus – es geht
um Themen wie Freundschaft, Eltern oder
Schule und insbesondere auch um ihre
Religion. Oder um „Integration und Partizipation aus muslimischer Sicht“: Hier diskutieren wir anhand islamischer Quellen
ein modernes Verständnis von der Pflicht,
sich in der Gesellschaft zu engagieren.
Worumgehtesdabeigenau?
Zum einen um Glaubensinhalte, wir haben ja hauptsächlich mit religiösen jungen
Leuten zu tun. Wir möchten sie in die Lage
versetzen, sich in einem kritischen Diskurs
selbst eine Meinung zu islamischen Themen zu bilden. Dann geht es um Themen,
die insbesondere Muslime im Westen
betreffen, also um Demokratie, den interreligiösen Dialog, Bildung und Identität
sowie um Zwangsheirat, Terrorismus und
Extremismus. Meistens steht allerdings
das Jugendliche im Vordergrund, also
Workshops, in denen kreative Fähigkeiten
gefördert werden – etwa Schreibwerkstätten, Video Workshops, Folklore, Rap
oder Theater. Außerdem haben wir in den
letzten Jahren AGs mit Vertretern unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen
angeboten. Zuletzt hatten wir Leute von
Greenpeace, der Polizei und jüdischen
Organisationen hier. Wir möchten auf diesem Weg zur Entwicklung einer deutschmuslimischen Identität beitragen und die
Jugendlichen zur gesellschaftlichen Partizipation motivieren.
Deutsche, sondern vor allem als Türken,
Araber oder Bosnier. Aber die meisten
von ihnen stehen irgendwann vor den
Fragen: Wie weit bestimmt mich die Herkunft meiner Eltern in meinem Leben und
in meinem Handeln? Welche Sitten und
Hischam Abul Ola ist Diplom-Informatiker. In den vergangenen 15 Jahren hat
sich der 29-Jährige in der muslimischen
Jugendarbeit engagiert und dabei
zahlreiche Dialogprojekte mit nicht-muslimischen Partnerorganisationen durchgeführt. Seit 2001 ist er Mitglied im Bundesvorstand und seit 2008 Vorsitzender der
MuslimischenJugendinDeutschland.
Normen der Mehrheitsgesellschaft habe
ich mir angeeignet und wie sind sie mit
meinem Islamverständnis zu vereinbaren? Eine deutsch-muslimische Identität
hilft, diese Fragen zu beantworten: Sie
trägt dazu bei, scheinbare Widersprüche aufzulösen und sich eine individuelle
Identität aus den verschiedenen Elementen zusammenbasteln. Dabei verstehen
wir unter einer deutsch-muslimischen
Identität, sich bewusst als deutscher
Muslim zu sehen. Der Islam ist unsere
Religion, Deutschland unsere Heimat,
der wir uns verbunden und verpflichtet
fühlen. Das ist das Land, in dem wir geWas ist das für Sie, eine „deutsch- boren sind, dessen Werte, Bräuche und
muslimische Identität“, und warum halten Sprache wir kennen, wie keine anderen.
Wir machen deutlich, dass es für uns keiSiediesefürwichtig?
Sehr viele Jugendliche muslimischer Her- ne Alternative hierzu gibt, weil wir genau
kunft sehen sich zunächst gar nicht als das sind: Deutsche Muslime.
UndaufwelcheWeiseversuchenSie,den
Jugendlichendaszuvermitteln?
Zunächst versuchen wir, den Ursachen für
die generelle Haltung vieler Jugendlicher
nachzugehen, die sich den Heimatländern
ihrer Eltern zumindest verbal verbundener
fühlen. Ausgrenzungs- und Diskriminierungserfahrungen spielen hier eine entscheidende Rolle. Wir versuchen diese
Erfahrungen zu kompensieren – vor allem
durch Reflexion und Diskussion, aber auch
durch positive Vorbilder, die zeigen, wie
sich Integration und Religiosität vereinen
lassen. Eine weitere Ursache dafür, dass
junge Muslime sich nicht mit Deutschland
identifizieren wollen, ist die Behauptung,
dass Islam und europäische Lebensweise
nicht mit einander vereinbar seien. Das erklären ja Radikale auf muslimischer ebenso wie auf nicht-muslimischer Seite. Einer
solchen Radikalisierung wirken wir entgegen, indem den Jugendlichen ein authentischer Islam und ein ausgewogenes
Religionsverständnis vermittelt wird, das
in keinem Widerspruch zur europäischen
Lebensweise steht.
Wasgenaumeinensiemiteinem„ausgewogenenReligionsverständnis“?
Wenn Jugendliche zu uns kommen, die
meinen, religiöse Gebote wie das Beten
spielten für sie überhaupt keine Rolle;
oder solche mit einem sehr einengenden, wortwörtlichen Islamverständnis, in
dem auch die kleinsten Punkte wie die
Länge des Bartes oder der Hosen zu
essentiellen Fragen stilisiert werden....
Also Leute, die diesen beiden Extremen
folgen, werden sich bei uns nicht wohl
fühlen. Für uns ist wichtig, dass der Islam
ja die Flexibilität mitbringt, sich an örtliche und zeitliche Gegebenheiten anzupassen. Als verbindliches Wertesystem
lässt er nicht nur genug Freiraum zur
Integration in andere politische Systeme,
sondern stimmt mit der demokratischen
Ordnung im Wesentlichen überein – zum
Beispiel bei den Grundrechten wie Religionsfreiheit, Meinungsfreiheit, der Unantastbarkeit der Würde. Sie sind dem
Islam immanent.
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ufuq.de
Nr. 17/Mai 2010
RELIGION UND IDENTITÄT: „Der Islam ist unsere Religion, Deutschland unsere Heimat“
Ein Grundsatz der Jugendarbeit ist, dass
sie nicht „moralisch überwältigen“ und
dem Prinzip der Kontroversität verpflichtet sein sollte. Demnach wäre es gerade
wichtig,Konfliktezuthematisieren,mitdenen religiöse Jugendliche in ihrem Alltag
konfrontiert sind. Solche Konflikte – um
dasKopftuchoderdieSexualität–finden
sich aber auf der MJD Website sowie in
Ihren Publikationen nicht wieder. Daraus
entsteht der Eindruck, dass die MJD ein
islamisches Ideal in Form einer religiös
„korrekten“Lebensweisevorgibt.
Sicher vertreten wir eindeutige Position zu
verschiedenen religiösen Fragen, wir setzen uns aber gleichzeitig auch mit Gegenansichten auseinander. Und hier kommt es
durchaus zu kontroversen Diskussionen.
Dabei versuchen wir, Meinungen nicht vorzugeben, sondern den Jugendlichen das
nötige Handwerkszeug zu vermitteln, um
sich anhand religiöser Quellen ein selbstständiges Urteil zu bilden.
Wiesiehtdaskonkretaus?
Sie haben das Kopftuch angesprochen.
Wir behandeln da den generellen Rahmen
der Kleidervorschriften im Islam und tragen
die entsprechenden Zitate aus Koran und
Sunna zusammen, denn das sind unsere
Ideengeber. In der Diskussion würden wir
mögliche Extreme wie Burka, Niqab oder
sehr kurze und eng anliegende Kleidung
thematisieren. Dann würden wir sowohl
die Meinung islamischer Rechtsgelehrter
wiedergeben, die der Ansicht sind, dass
das Kopftuch eine religiöse Pflicht ist. Wir
würden aber auch auf andere Positionen
und Argumente eingehen und beispielsweise Referentinnen einladen, die eine
konträre Ansicht vertreten. Es ist auch
nicht ungewöhnlich, dass Mädchen jahrelang in der MJD aktiv sind, die außer zum
Gebet kein Kopftuch tragen. Prinzipiell
würden wir bei jedem Thema so vorgehen,
zu dem es unterschiedliche religiöse Auslegungen gibt. Das ist aber nicht immer
der Fall. Zur Frage vorehelicher Sexualität
zum Beispiel herrscht, soweit mir bekannt
ist, ein eindeutiger religiöser Konsens. Es
mag Vertreter geben, die das aus persönlicher Überzeugung anders handhaben,
uns ist allerdings kein Referent bekannt,
der diese Ansicht auch religiös begründet.
ne Entscheidungen zu sanktionieren oder
unter Druck zu setzen.
NunwirdderMJDvomVerfassungsschutz
vorgeworfen, in Verbindung zu islamistischen Netzwerken zu stehen. Genannt
werden der Europäische Fatwa-Rat oder
dieMuslimbruderschaft.Damitverbunden
istauchderVerdacht,dieMJDwürdeJugendarbeitmitdempolitischenZielbetreiben,dieGesellschaftzuislamisieren.Was
sagenSiezusolchenVorwürfen?
Die MJD ist eine unabhängige und transparente Organisation, die sich für die
freiheitlich demokratische Grundordnung
engagiert. Die Vorwürfe basieren auf einer selektiven, verzerrten und willkürlichen
Auseinandersetzung mit unserer Arbeit. So
heißt es, dass die MJD ihren Mitgliedern
Demnach dürfte aber zum Beispiel empfehle, sich in Fragen des islamischen
eine muslimische Frau keinen nicht- Rechts an die Aussagen des angeblich
muslimischenMannheiraten...
mit der Muslimbruderschaft verbundenen
Ja, auch hier gibt es keinen anerkannten EuropeanCouncilforFatwaandResearch
religiösen Gelehrten, der dies theologisch (ECFR) zu halten. Diese Behauptung ist
legitimieren würde. Trotzdem sind wir na- falsch. Lediglich einmal haben wir vor Jahtürlich der Meinung, dass jede den heira- ren in einem MJD-Newsletter geschrieben,
ten kann, der ihm gefällt – also auch eine dass der Vorstand zur Frage, ob VersicheMuslima einen Nichtmuslim. Allerdings rungen islamisch erlaubt sind, eine Anfrabegeht sie damit aus religiöser Sicht eine ge an den ECFR geschickt hat. Die MJD
Verfehlung. Entscheidung und Verantwor- hat nie den Rat gegeben, sich generell am
tung liegen aber bei jedem selbst. Schließ- ECFR zu orientieren. Dies würde auch unlich gibt es keinen Zwang im Glauben und serem Selbstverständnis widersprechen.
keinen Zwang zur Befolgung religiöser Wir schätzen Verhaltens- und MeinungsGebote, sei es beim Genuss von Alkohol vielfalt und es liegt uns fern, durch den
oder bei der Wahl des Ehepartners. Dar- Verweis auf eine verbindliche Rechtsmeiaus folgt für uns auch, niemanden für sei- nung Uniformität zu schaffen. Gerade weil
es islamische Gelehrte mit zweifelhaften
Ansichten gibt und sie ja häufig aus dem
arabischen oder türkischen Kontext kommen, bemühen wir uns um eine kritische
Auseinandersetzung mit ihnen. Ob wir
dann Meinungen annehmen oder ablehnen, hängt von ihrer Vereinbarkeit mit unserem deutschen Islamverständnis ab.
Muslimas mit Mumm – Werbung für das MuslimischeMädchenMeeting 2010 der MJD
DieführendeFigurimECFRistderGelehrte
YusufAl-Qaradawi.Ervertrittteilssehrradikale Positionen: Außerehelicher SexualverkehrundHomosexualitätzumBeispielsind
fürihnschwereSünden,dieauchmitdrastischenKörperstrafenbishinzurTodesstrafe geahndet werden sollen. Auch SelbstmordattentateinIsraelhatergerechtfertigt.
WiestehtdieMJDzusolchenPositionen?
IstQaradawifürdieMJDeinedervonIhnen
genanntenanerkanntenAutoritäten?
Gleich wie man zum ECFR stehen mag
und wie man ihn ideologisch zuordnet –
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Nr. 17/Mai 2010
RELIGION UND IDENTITÄT: „Der Islam ist unsere Religion, Deutschland unsere Heimat“
unbestreitbar ist, dass er zu den Wenigen
gehört, die, zumindest in Teilbereichen,
zufrieden stellende Antworten für religiöse
Muslime in Europa liefert. Dennoch haben
wir Qaradawi nie als für uns wichtige Autorität bezeichnet. Wir haben uns lediglich in
einzelnen Fragen auf den ECFR bezogen
– etwa zu Fragen des Reisens, der Musik
und der Teilnahme an Wahlen. In Fragen,
bei denen wir uns nicht auf ihn beziehen,
haben wir eine erkennbar eigene Position.
In einigen Fällen betreffen uns seine Ansichten als deutsche Jugendorganisation
nicht. Das ist vor allem bei außenpolitischen Themen der Fall. Es wundert uns
eher, wie schnell wir in eine Schublade
gesteckt werden und ein Zusammenhang
konstruiert wird, weil man Mal eine Meinung übernimmt oder eine Schrift übersetzt. Die MJD ist jedenfalls nicht Pressesprecher dieser Gelehrten. Schließlich
fordert man vom Bund der Deutschen
Katholischen Jugend auch nicht, zu den
Prügelvorwürfen gegen Bischof Mixa oder
zu den Missbrauchsfällen in katholischen
Einrichtungen Position zu beziehen.
HerrAbulOla,vielenDankfürdasGespräch!
MEHR ZUM THEMA
„Jung & Muslim“: Ein Buch bietet
Einblick ins Islamverständnis der
MJD
www.bpb.de/themen/YNMI8O
Die muslimische Jugendszene
www.bpb.de/themen/ZOEWPE
Newsletter-Archiv unter:
www.bpb.de/jugendkultur-islamdemokratie
Eine ungekürzte Fassung des Interviews
ist auf der Website der bpb erschienen.
DIE MUSLIMISCHE JUGEND IN DEUTSCHLAND (MJD)
Die Muslimische Jugend in Deutschland wurde 1994 gegründet und gewann in den vergangenen Jahren vor allem unter sehr religiösen muslimischen
Jugendlichen und jungen Erwachsenen
an Popularität. In zahlreichen Städten
unterhält sie sogenannte Lokalkreise.
Zu ihren etwa 900 registrierten Mitgliedern gehören überwiegend bildungsnahe junge Muslime zwischen 13 und
30 Jahren. Der Verein wendet sich aber
ausdrücklich an alle Muslime – unabhängig von Nationalität und Herkunft.
Sich selbst beschreibt die MJD auf ihrer
Vereinshomepage mit den Schlagworten „multikulturell“, „islamisch“, „mittendrin“ und „hip“.
Im Jahr 2008 nahmen über 1.000 Jugendliche am Jahrestreffen der MJD teil.
Das Programm war weit gefächert: Neben Rap-Workshops, Origami-Kursen
und Koranlektüre fanden auch Diskussionen mit Greenpeace-Vertretern statt.
Beim Jahrestreffen 2009 referierte ein
Vorstandsmitglied des Zentralrates der
Juden in Deutschland und ein Vertreter
der Polizei informierte über das Thema
häusliche Gewalt.
Die MJD steht unter Beobachtung von
Verfassungsschutzbehörden, die ihr
unter anderem personelle und organisatorische Verbindungen zum Netzwerk
der islamistischen Muslimbruderschaft
in Deutschland und Europa vorwerfen.
2003 beendete das Bundesfamilienministerium die finanzielle Förderung der
MJD. In den letzten Jahren hat sich die
Jugendorganisation bemüht, Vertrauen
zurückzugewinnen und nicht-islamische zivilgesellschaftliche Akteure für
Kooperationen zu gewinnen – etwa im
interreligiösen Dialog.
Die Diskussion über die MJD und die
Förderung ihrer Jugendarbeit geht
allerdings weiter: Zwar erreicht die
MJD ein junges und religiöses Publikum, das sich von den Angeboten der
herkömmlichen Jugendarbeit ebenso
wenig angesprochen fühlt wie von
den „klassischen“ Moscheegemeinden.
Doch ihre Positionen reichen bis in
das moderat-islamistische Spektrum
hinein: Bei vielen Veranstaltungen
herrscht Geschlechtertrennung und
religiöse Gebote werden meist im engen Rahmen der Positionen traditioneller islamischer Religionsgelehrter
ausgelegt. Kritiker werfen der MJD
daher Uniformität vor und fragen, ob
die Organisation die Integration muslimischer Jugendlicher in Deutschland
fördert oder eher behindert.
JUGENDKULTUR UND MEDIEN
Pop, Politik und Boulevard
DAS DEUTSCHTüRKISCHE INTERNET PORTAL Vaybee!
Crossover statt Parallelwelt: Im populärsten deutschtürkischen
Internet- Portal Vaybee! schaffen sich die jugendlichen Nutzer einen
deutschtürkischen Kommunikationsort und verbinden hier ihre unterschiedlichen Lebenswelten.
Nach eigenen Angaben ist Vaybee!(deutsch
etwa: „Wow“ oder „Klasse“) mit 400.000
Mitgliedern die populärste deutschtürkische
Online-Community. Die Vaybee!-Plattform
bietet ihren Nutzern sowohl Beiträge aus der
eigenen Redaktion als auch Foren, in denen
die Mitglieder selbst Beiträge verfassen und
sich miteinander vernetzen können.
Mit einer Mischung aus Politik und Boulevard spricht Vaybee! vor allem Jugendliche und Erwachsene „zwischen 14 und
40 Jahren“ der zweiten und dritten Generation an. Ihnen versucht die Vaybee!-
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ufuq.de
Nr. 17/Mai 2010
JUGENDKULTUR UND MEDIEN: Das deutschtürkische Internet-Portal vaybee!
Redaktion mit Nachrichten aus Politik und
Gesellschaft sowie einem hohen Anteil an
Lifestyle-Themen, Musik, Sport und viel
nackter Haut eine, wie es heißt, „virtuelle
Heimat“ zu geben. So ist der Besuch von
Bundeskanzlerin Merkel beim türkischen
Ministerpräsidenten Erdoğan ebenso ein
Thema für Vaybee! wie die türkischsprachige Beratung von Rentnern durch die
DeutscheRentenversicherung oder freizügig ins Bild gesetzte Sexpositionen.
Mit dieser deutschtürkischen Mischung
aus Boulevard und Politik dürfte Vaybee!
konservative und streng religiöse User
eher abschrecken. Neben der Freizügigkeit tragen dazu auch Berichte über sexuelle Aufklärung oder homosexuelle
türkische Männer bei. Die Redaktion
greift hier Themen auf, die sowohl in der
Türkei als auch unter vielen Migranten türkischer Herkunft in Deutschland häufig tabuisiert werden.
In den diversen Foren schaffen sich die
Nutzer ihre Inhalte hingegen selbst. Dabei wechseln sie in ihren Beiträgen häufig
zwischen Deutsch und Türkisch hin und
her. Hier fällt auf, dass religiöse Themen
und persönliche Fragen besonders häufig gelesen und kommentiert werden. So
haben fast 4.000 Leser den Thread zur
Frage von H.* angeklickt, ob denn Ehepartner aus der Türkei „anständiger“ seien als solche, die bereits in Deutschland
aufgewachsen sind. Dazu meint D., dass
dies nicht pauschal zu beantworten sei:
„Die 3. heranwachsende Generation“, erklärt sie, „ist viel bunter, als meine 2., in der
die Eltern zumeist strenger und religiöser
gewesen sind, und ihren Lebensstil ihren
Kindern auferlegen wollten...“. Der User T.
ist hingegen der Überzeugung, dass sich
„die türkischen weibs in deutschenland
verhalten, reden wie männer. kein respekt,
keine manieren“ – woraufhin andere Teilnehmer nach einem Teppichklopfer rufen,
um T. mal „übers Knie zu legen“.
Der Bezug auf das Herkunftsland spielt oft
eine wichtige Rolle in den Diskussionen.
In der konkreten Frage findet D. den Vergleich mit der Türkei aber unpassend, „weil
Politik und Kultur, Lifestyle-Themen und viel nackte Haut: Vaybee! ist die populärste
deutschtürkische Online-Community.
wir hier unter völlig anderen Umständen
aufgewachsen sind“. Auch die Menschen
in der Türkei hätten ihre Macken – aber
diese „haben nichts gemein mit unseren
Konflikten, die uns während der Erziehung
in einem deutschen Umfeld mit türkischen
Eltern beigebracht wurden.“ Sie kommt
zu dem Schluss, dass man sich dennoch
nicht allein oder „exotisch“ fühlen müsse,
„wenn nur das Verständnis von Mensch
zu Mensch zählt und nicht Nationalität zu
Nationalität“.
Mit dieser Haltung steht D. stellvertretend
für viele Nutzer in derVaybee!-Community: Mal locker und flapsig, mal aggressiv
und in chauvinistischem Ton oder aber
mit ausführlichen Argumenten diskutieren
hier deutschtürkische Jugendliche und
junge Erwachsene über politische, kulturelle, moralische und religiöse Fragen.
Die Vaybee!-Foren zeigen, wie sie dabei
Sprache, Themen und kulturelle Codes
aus dem türkischen und dem deutschen
Kontext in spezifischer Weise miteinander
verbinden. Und sie geben Auskunft über
den Lebensalltag vieler junger Deutschtürken, die sich weder religiös, noch
national oder kulturell festlegen (lassen)
wollen.
*NamenderCommunity-Mitgliederanonymisiert
MEHR ZUM THEMA
„Was guckst Du?“ – Zur Mediennutzung von Jugendlichen mit arabischem, türkischem und muslimischem Familienhintergrund
www.bpb.de/themen/QvCSG9
Glossar: Türkisches Tv
www.bpb.de/themen/DY4AIX,21
Newsletter-Archiv unter:
www.bpb.de/jugendkultur-islamdemokratie
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Nr. 17/Mai 2010
JUGENDKULTUR UND MEDIEN
Kollektive Suche nach der Identität
ONLINE -FOREN FüR JUNGE ERWACHSENE MAROKKANISCHER HERKUNFT
MarocZone und dimadima sind Internet-Portale für Jugendliche und
junge Erwachsene marokkanischer Herkunft. Diese Herkunft spielt für
die Nutzer der Foren eine zentrale Rolle bei der Bewertung ihrer „deutschen“ Umwelt. In den Diskussionen wird deutlich, dass die Identitätsbildung der jungen Deutsch- Marokkaner in der ständigen Auseinandersetzung mit beiden Lebenswelten stattfindet.
Schwitzen ohne Männer – und ohne Kopftuch: MarocZone hat nach eigenen Angaben 45.000
Mitglieder.
„Eine Community rund um Marokko. Mit
der Möglichkeit, eigene Artikel zu verfassen und im Forum zu diskutieren. Mit Chat,
Music und Bildergalerie.“ So beschreibt
sich das Online-Forum dimadima, das wie
die MarocZone-Community vornehmlich Jugendliche und junge Erwachsene
marokkanischer Herkunft in Deutschland
anspricht (siehe Kasten). Bei dimadima
sind nach eigenen Angaben etwa 20.000
Mitglieder aktiv, MarocZone spricht von
45.000 Mitgliedern und 11.000 aktiven
Nutzern.
Wie beim deutschtürkischen Forum
Vaybee! (siehe Seite 9) sind auch hier die
Themen, über die sich die Nutzer austauschen, vielfältig: Von alltäglichen Fragen
wie Bewerbungsschreiben, Schmink-,
Flirt- und Küchentipps reicht das Spektrum über „marokkanische Hochzeiten“
bis zu aktueller Politik, Sport und religiösen Themen. Der Thread mit den meisten
Beiträgen auf MarocZone (nahezu 28.000)
findet sich in der Rubrik „Unterhaltung und
Fun“ und ist an alle „Büromäuse“ gerichtet, die sich in ihrem Arbeitsalltag gerade
genauso langweilen wie M.*, die mit ihrer
Nachricht aus dem Büro die Diskussion
eröffnet hat.
Andere Themen haben hingegen mehr mit
der Herkunft der Teilnehmer zu tun: Etwa
wenn auf dimadima Heirat und Partnerschaft zwischen einer muslimischen Frau
und ihrem nicht-muslimischen Freund in
den meisten Postings abgelehnt wird (siehe Newsletter 16). Es wird deutlich, dass
ein meist konservatives Verständnis von
Religion und Tradition für viele User den
gemeinsamen Nenner darstellt. Kritische
Stimmen sind dabei selten. So erklärt S.
zwar, dass die in Deutschland aufgewachsenen Marokkaner „sowas von hinterm
Mond in Sachen Fortschritt“ seien. Dass
eine muslimische Frau einen Nicht-Muslim
heiraten könnte, lehnt aber auch er ab.
Ablehnend steht die Mehrheit der Nutzer auch Homosexuellen gegenüber. Für
die meisten gilt es als Widerspruch und
Sünde, muslimisch und schwul zu sein. In
vielen Postings äußern sie sich verächtlich
gegenüber Homosexualität. Ein Großteil
der Teilnehmer von MarocZone ist zudem
sehr empört wegen der von B. geposteten Nachricht, dass demnächst ein von
marokkanischen Homosexuellen herausgegebenes Online-Magazin erscheinen
soll: Als „Anfang vom Untergang“ bezeichnet ein Nutzer Homosexualität, und
D. erklärt: „Ich verlange Todesstrafe für
solche Ungläubigen ohne Stolz und Ehre.“
Homosexuelle seien „abnormal“ meint A.
und auch der Vorwurf der Pädophilie gehört zum hier vorgetragenen Repertoire
typischer homophober Stereotypen. Deutlich wird in diesen Reaktionen der jungen
Deutsch-Marokkaner ein Bedürfnis nach
Abgrenzung, das gegenüber Homosexualität besonders stark zu sein scheint.
Nur wenige Stimmen rufen zur Mäßigung
auf. So wendet sich F. gegen die Gleichsetzung von Pädophilie und Homosexualität und L. sorgt sich um die Reputation
des Forums: Die „Außenwirkung“ solcher
Diskussionen werde unterschätzt. „Echt
schädigend“ sei es daher, dass die Moderatorin des Forums die beleidigenden
Äußerungen noch unterstützt habe, statt
mäßigend einzugreifen.
Gleichzeitig schätzen viele der Nutzer
dieser Foren Freiheit, Rechtsstaatlichkeit,
materielle Sicherheit und soziale Absicherung in Deutschland. Das geht aus dem
Thread auf dimadima unter dem Titel
„Was ist der krasseste Unterschied zwischen dem Leben in Marokko zu Deutschland?“ hervor. Dort beschreibt etwa T. die
„Angstfreiheit“ als größten Unterschied: In
Marokko habe er immer Angst vor Armut,
Kriminalität und staatlicher Willkür gehabt.
Emotional sind viele allerdings stärker mit
der Heimat der Eltern und Großeltern verbunden. So schreibt G. über Marokko:
„Die Menschen sind freundlich, das Wetter
ist traumhaft (...) man hört wirklich selten
mal jmd. meckern. Hier (in Deutschland; d.
Red.) haben die Menschen fast alles (Auto,
Arbeit ein warmes Zuhause) und trotzdem
beklagen sie sich (...). Ich muss gestehen,
dass ich jene bewundere, die hier aufgewachsen sind und in ihr Land zurückSeite 11
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Nr. 17/Mai 2010
JUGENDKULTUR UND MEDIEN: Online-Foren für junge Erwachsene marokkanischer Herkunft
kehren, mithelfen es aufzubauen. Das ist
jmd., der das Wort ‚Heimat’ internalisiert
hat und dementsprechend handelt.“ Die
„Rückkehr“, das geht aus vielen Threads
in beiden Foren hervor, ist für viele junge
Deutsch-Marokkaner immer eine Option
– auch wenn sie meist sehr theoretisch
bleibt.
Die Vielfalt der lebensweltlichen und politischen Themen, mit denen sich Jugendliche und junge Erwachsene in den beiden
Online-Foren beschäftigen, zeigt, dass es
sich hier keinesfalls um mediale Parallelwelten handelt. Vielmehr sind die Online-
Communities für ihre aktiven Nutzer wichtige Orte des Ringens um Integration: In
der schwierigen Auseinandersetzung mit
Fragen der kulturellen Heimat und dem
Leben in Deutschland finden zentrale Prozesse kollektiver und individueller Identitätsfindung statt. Dabei ist der teils ganz
selbstverständliche Umgang der jungen
Deutsch-Marokkaner mit ihrer „deutschen“
Umwelt ebenso Teil solcher Prozesse wie
die mitunter drastische und aggressive
Abgrenzung von den „Anderen“.
*NamenderCommunity-Mitgliederanonymisiert
MEHR ZUM THEMA
„Unsterblich verliebt“. Im InternetForum Dimadima.de diskutieren
Jugendliche ihre Fragen und Konflikte
www.bpb.de/themen/FIUNHM
Online-Forum Al-Hiwar: Dialog
über die Ehe
www.bpb.de/themen/F8I97N
Newsletter-Archiv unter:
www.bpb.de/jugendkultur-islamdemokratie
MAROKKANER IN DEUTSCHLAND
In der EU leben insgesamt über drei Millionen Menschen marokkanischer Herkunft. Nach den Migranten türkischer
Herkunft stellen sie europaweit die zweitgrößte Migrantengruppe. Anders als
etwa in Frankreich, wo über eine Million
Marokkaner leben, finden sie in Deutschland meist weniger öffentliche Beachtung – hier leben nur etwa 100.000.
Die marokkanische Zuwanderung nach
Deutschland begann in den 1960er Jahren. Bis heute hat etwa ein Drittel dieser
Einwanderer die deutsche Staatsangehörigkeit angenommen. Knapp die
Hälfte der marokkanischen Migranten
in Deutschland ist unter 35 Jahren alt.
2005 waren bereits etwa 20 Prozent
von ihnen in Deutschland geboren. Die
Mehrheit lebt im Raum Frankfurt und
Düsseldorf.
Während viele Marokkaner zunächst in
Industrie und Bergbau arbeiteten, ist
heute die Mehrzahl im Dienstleistungssektor beschäftigt. Deutlich gestiegen
ist zuletzt der Anteil berufstätiger Frauen: Lag dieser 1986 noch lediglich bei 7
Prozent, sind heute rund ein Drittel der
Frauen berufstätig.
Über 70 Prozent der marokkanischen
Gemeinschaft in Deutschland stammen
aus dem Rifgebirge, bis heute eine der
ärmsten und konservativsten Regionen
des Landes. Die Region ist auch bei
den Nutzern der Online-Foren immer
wieder Gesprächsthema. Die soziale
Ordnung der dort mehrheitlich lebenden nicht-arabischen Berber ist meist
traditionell geprägt. Die Muttersprache
der ersten und zweiten Generation marokkanischer Einwanderer ist meist nicht
Arabisch, sondern eine Variante des Berberischen (Tarifit), das allerdings kaum als
Schriftsprache verwendet wird. Mit dem
Hocharabischen, der offiziellen Sprache in Marokko, kommen viele ihrer in
Deutschland geborenen Kinder nur wenig in Berührung.
JUGENDKULTUR UND MEDIEN
„Die wollen den Islam schlecht machen“
EIN WORKSHOP MIT JUNGEN MIGRANTEN ZUM ISLAMBILD IN DEN MEDIEN
Terrorismus, das Kopftuch oder der Nahostkonflikt: In einem Workshop
mit einer Oberstufenklasse in Berlin -Kreuzberg geht es um die Darstellung des Islam und von Muslimen in den deutschen Medien. Die fünfzehn Schüler sind zwischen 16 und 18 Jahre alt und türkischer sowie
arabischer Herkunft.
von Jochen Müller/ufuq.de
„Reporter haben doch gar keine Ahnung“,
meint Fatme. Mit dieser Meinung über
Journalisten steht sie nicht allein: „Die schreiben doch nur ihre Meinung und interessieren sich gar nicht dafür, was wir denken“, erklärt Ahmed. Auch Muhammad
pflichtet bei: „Die Journalisten sollten sich
lieber ausgewogen informieren und nicht
in aller Eile was runterschreiben. Was machen denn die meisten: Artikel schreiben,
Geld bekommen, fertig! Aber wer denkt an
die Muslime und ihre Gefühle?“
Auch Beispiele für die, wie sie meinen, „verantwortungslose“ Medienberichterstattung
zählen die Schüler auf: Es fallen Stichworte
wie Islam und Terrorismus, kriminelle Jugendliche, das Kopftuch oder der Nahostkonflikt. Bei diesen Themen konzentriere
sich die Berichterstattung deutscher Medien auf negative Nachrichten über den Islam.
Außerdem sei sie einseitig und politisch „gesteuert“ – so sehen es die Jugendlichen. Die
Medien trügen damit die Hauptschuld dafür,
dass der Islam und die Muslime in Deutschland so „schlecht angesehen“ seien. Dabei
verweisen die Schüler auf einzelne Medien,
Seite 12
ufuq.de
Nr. 17/Mai 2010
JUGENDKULTUR UND MEDIEN: „Die wollen den Islam schlecht machen“
Den Workshop-Teilnehmern nicht bewusst: Die Beteiligung des Springer-Konzerns an der auflagenstarken türkischen Boulevardzeitung HÜRRIYET
Verlage und Titel: der Springer Verlag, die
BILD-Zeitung und eine Reihe von SPIEGELAufmachern dienen ihnen als Beleg.
Mit großer Selbstverständlichkeit verbinden einige der Schüler ihre Vorbehalte zudem mit antisemitischen Stereotypen: Die
Medien seien fast alle in „jüdischer Hand“,
heißt es. Hinter dem SPIEGEL stehe ein
„jüdisches Netzwerk“ und auch das Symbol des Magazins STERN – davon ist ein
Schüler fest überzeugt – verweise auf dessen jüdischen Hintergrund. „Jüdischer Einfluss“ präge nicht nur die Berichterstattung
der Medien über den Nahostkonflikt. Er
ziele auch darauf, ein insgesamt schlechtes Bild des Islam und von Muslimen zu
verbreiten, so die Haltung einzelner Jugendlicher.
Auf Grundlage dieser undifferenzierten
Überzeugungen und Vorbehalte stilisieren
die Jugendlichen „die Medien“ zu einem
Feindbild. Auf Nachfragen des Moderators
zeigt sich allerdings, dass die Gymnasiasten sehr wenig darüber wissen, wie Journalisten arbeiten, wie eine Zeitung bzw. eine
Sendung entsteht oder wie die Verlagshäuser wirtschaften. Auch mit der politischen
Vielfältigkeit der Medienlandschaft haben
sie offenbar kaum eigene Erfahrungen
gemacht – so lässt sich die überraschte
Reaktion auf den Nachweis deuten, dass
in einer Zeitschrift gelegentlich sehr unterschiedliche Positionen etwa zum Nahostkonflikt oder zur Rolle des Islam publiziert
werden.
Der Workshop macht deutlich, dass
Unkenntnis über die Vielfalt der Medienlandschaft und die Arbeitsweise von
Journalisten Vorurteile begünstigen und
Verschwörungstheorien fördern können.
Die Vermittlung kritischer Medienkompetenz sollte daher mit der Vermittlung von
Wissen und grundlegenden Informationen
über journalistische Techniken beginnen:
Anhand von Beispielen lässt sich zeigen,
was die Reportage vom Kommentar unterscheidet. Zudem kann darauf aufmerksam gemacht werden, wie TV-Programme, Zeitungen und Magazine mit Bildern,
Titeln oder Bildunterschriften bestimmte
Lesarten nahelegen oder Stimmung machen und Klischees verbreiten können.
Dazu empfehlen sich auch Verweise auf
ausländische Medien, die den Jugendlichen bekannt sind: Im Workshop zeigten
sie großes Interesse an Produkten und
Verflechtungen türkischer und arabischer
Medienkonzerne. Neu war den Schülern
zum Beispiel, dass der deutsche Springer-Konzern an der einflussreichen türkischen Dogan-Gruppe beteiligt ist, die
unter anderem die auflagenstarke Boulevardzeitung HÜRRIYETherausbringt.
Am Ende des Workshops waren die Schüler sowohl für die Vielfalt der Medien als
auch für eine differenziertere Wahrnehmung sensibilisiert. Hieß es anfangs noch:
„Die Journalisten wissen gar nicht, worüber sie berichten und wollen nur den Islam schlecht machen!“, intervenierten jetzt
einzelne Schüler gegen pauschale Urteile
sowie prinzipielle Medien- und Journalistenkritik: „Du weißt doch gar nicht, was die
denken! Wir sollten nicht alle Journalisten in
eine Schublade stecken. Sonst machen wir
ja das gleiche, was wir ihnen vorwerfen!“
MEHR ZUM THEMA
Anerkennen und Abgrenzen.
überlegungen zur Pädagogik gegen Antisemitismus und Israelhass unter jungen Muslimen
www.bpb.de/themen/NNW3X7
YouTube-videos: Pädagogik mit
dem Teufel
www.bpb.de/themen/LEJFW4
Das Islambild von ARD und ZDF
www.bpb.de/publikationen/BSF019
Newsletter-Archiv unter:
www.bpb.de/jugendkultur-islamdemokratie
Seite 13
ufuq.de
Nr. 17/Mai 2010
PUBLIKATIONEN
KanakCultures
MIGRATIONSHINTERGRUND ALS QUALIFIKATION
„Ich bin stolz, ’ne Kanake zu sein“: In dem Buch „KanakCultures“ kommen jugendliche Migranten unterschiedlicher Jugendkulturen zu Wort.
Für sie ist das Attribut „mit Migrationshintergrund“ kein Makel, sondern
eine Kompetenz, die es zu nutzen gilt.
„Kanak Attak ist eine Haltung und keine
Gruppe“, erklärt Cevat. Der 33-Jährige ist
Geschäftsführer eines IT-Unternehmens
und Mitgründer des Tübinger Ablegers
von Kanak Attak, einem bereits seit über
zehn Jahren bestehenden Netzwerk junger Migranten. Cevat ist einer jener jungen
Deutschen „mit Migrationshintergrund“,
über die man in der Öffentlichkeit wenig
Es ist das Schubladendenken – hier Migrant, da Deutscher –, gegen das sich das
Netzwerk Kanak Attak wendet: Das Denken in Kategorien und die damit verbundene Bevormundung. „Wir haben es satt,
auf irgendwelchen Straßenfesten für das
Kulinarische zu sorgen. Wir haben auch
inhaltlich was zu melden und unsere Wünsche können wir besser formulieren als ihr.
den 29-Jährigen auf dem Jahrestreffen der
MuslimischenJugendinDeutschland(siehe Seite 7). Als Mitorganisator der Veranstaltung erklärt der Politikwissenschaftler,
was es mit islamischer Jugendkultur auf
sich hat – wobei ihm der Begriff „islamische
Jugendkultur“ nicht behagt. Schließlich
gehe es ja um deutsche Jugendliche, die
zwar muslimisch, aber auch deutsch sind.
Dennoch gibt es Besonderheiten, die für
ihn das Islamische ausmachen. Beispielsweise, dass er statt eines Hemdes von Nike
ein T-Shirt von Style-Islam trägt – einem
islamischen Modelabel, das Kleidung mit
islamischen Botschaften anbietet: „I love
Mekka“ statt „I love New York“. Ein solches
T-Shirt trägt er am Freitag in der Moschee:
„Weil das passt einfach.“
Religion steht allerdings für die meisten
der im Buch dargestellten Jugendlichen
nicht im Mittelpunkt ihres Alltags. Die Herkunft der Eltern schon eher. So ärgert sich
Elif, die sich als Fußballspielerin einen Ruf
als „weiblicher Ronaldinho“ erworben hat,
immer wieder über die selektive Wahrnehmung ihrer Person. Ihre deutschen Freundinnen betonten, dass sie ja wie „eine
Deutsche sei“, beklagt sie. Für sie ist das
kein Kompliment, denn sie versteht dies vor
allem als Kritik an „den Türken“. „Ich bin einfach eine Türkin und nicht alle Türken sind
Scheiße“, antwortet sie ihren Freundinnen
in Situationen, wenn diese wieder einmal
versuchen, ihren Erfolg einzudeutschen.
Projektgruppe JugendArt: KanakCultures.KulturundKreativitätjungerMigrantInnen,Berlin:
Archiv der Jugendkulturen Verlag, 2010, 204 S.
hört. Dabei haben sie etwas zu sagen –
und zwar nicht nur im Hip-Hop. Das Buch
„KanakCultures. Kultur und Kreativität
junger MigrantInnen“ porträtiert neben
Cevat weitere Jugendliche und junge
Erwachsene, die in Kultur, Medien, Politik oder Sport aktiv sind. Studenten der
Hochschule Esslingen haben diesen Jugendlichen in Interviews das „Sprachrohr
gereicht“, damit sie ihre Perspektive darlegen: Was bedeutet ihnen die Herkunft der
Eltern, wie definieren sie ihren Platz in der
Gesellschaft und wie versuchen sie, ihre
von der Mehrheit zugeschriebenen Rollen
zu verändern?
Warum soll ich da zur AWO?“, fragt Cevat.
Selbst das Wort ergreifen, eigene Foren
schaffen – im Alltag, in der Politik oder der
Kultur – das sind einige Ziele, für die sich
KanakAttak einsetzt.
„Ich bin stolz, ’ne Kanake zu sein“, betont Adalla, eine 13-jährige Schülerin und
Hauptdarstellerin eines Musicals. Sie sehe
vielleicht deutsch aus, fühle sich aber „eher
arabisch“. Die Schauspielerei und der Tanz
auf der Bühne sind für sie Möglichkeiten, um
sich gegenüber anderen zu beweisen. Für
Hakan ist es hingegen keine Frage, dass er
sich als Deutscher sieht. Die Autoren treffen
Diese Erfahrungen sind typisch für viele
der Gesprächspartner, die in dem Buch zu
Wort kommen. Selma, die Architektin, oder
Büsra, die Jugendrätin aus Stuttgart-Degerloch: Sie alle erzählen von ihrem Alltag
in Deutschland und von dem, was sie bewegt. Die Autoren des Buches versuchen
dabei, das „Normale“ ihrer Gesprächspartner herauszustellen. Damit vermeiden sie
Fehler, die man mit einem solchen Projekt
leicht begehen kann: Denn nicht alles was
Migranten tun, lässt sich eben mit dem
Migrant-Sein erklären. Oder, wie es Razi,
die Lehramtsstudentin und Fotografin, formuliert: Sie glaube nicht, dass ihr Interesse
an der Fotografie mit ihrem Migrationshintergrund zu tun habe. „Ich fotografiere einfach, weil es mir Spaß macht.“
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ufuq.de
Nr. 17/Mai 2010
PUBLIKATIONEN
Unsere Geschichten – eure Geschichte?
NEUKöLLNER „STADTTEILMüTTER“ UND DIE BEDEUTUNG DES
NATIONALSOZIALISMUS IN DER EINWANDERUNGSGESELLSCHAFT
Mehr als 160 Frauen mit Migrationshintergrund wurden in den vergangenen Jahren in dem Stadtteilmütter -Projekt des Diakonischen
Werkes Neukölln- Oberspree dazu ausgebildet, anderen Müttern in verschiedenen Lebenslagen Hilfe anzubieten. Zu ihrer Ausbildung gehören
mittlerweile auch veranstaltungen, in denen es um die Geschichte des
Nationalsozialismus geht. Für die Migrantinnen ein Anlass, sich die Frage nach ihrer Identifikation mit Deutschland und seiner Geschichte zu
stellen. Die Broschüre „Unsere Geschichten – Eure Geschichte?“ stellt
die Erfahrungen mit diesem Projekt vor.
In kurzen Beiträgen geben 14 Stadtteilmütter mit türkischem, irakischem, kosovarischem, tamilischem, eritreischem und
polnischem Migrationshintergrund darüber Auskunft, was sie dazu bewog, sich
mit der Geschichte des Nationalsozialismus zu beschäftigen. „Für manche Frauen
bot die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus einen Anknüpfungspunkt
für die Beschäftigung mit dem selbst erfahrenen Leid und eigenen traumatischen
Kriegs- und Gewalterfahrungen“, schreibt
Jutta Weduwen, die für Aktion Sühnezeichen Friedensdienste in der Ausbildung
der Stadtteilmütter aktiv ist. „Beeindruckend war für mich, dass es den Frauen
oft gelang, diese Gewalterfahrungen zueinander in Beziehung zu setzen, ohne sie
gleichzusetzen oder zu vereinnahmen.“
Informationen über die nationalsozialistische Verfolgungs- und Vernichtungspolitik und die Begegnung mit Überlebenden
des Holocaust sind aber nicht nur Anlass,
sich der eigenen Geschichte und Verfolgungserfahrung bewusst zu werden. Sie
dienen auch dazu, sich des persönlichen
Verhältnisses zur deutschen Gesellschaft
bewusst zu werden.
Zugehörigkeit und Verbundenheit mit einem Land bedeuten nicht, „dass ich alles
wunderbar finde und mich mit allem identifiziere“, erklärt Astrid Messerschmidt, die
sich als Professorin für interkulturelle Pädagogik mit Fragen der Geschichtspolitik in
der Einwanderungsgesellschaft beschäftigt:
„Zugehörigkeit kann kritisch sein, kann gebrochen sein, kann mit Verunsicherungen
leben.“ Dies gelte nicht zuletzt angesichts
der Geschichte des Nationalsozialismus:
„Auf dem Hintergrund der NS-Verbre-
hatte ich einen sehr guten Geschichtsunterricht. Über den Zweiten Weltkrieg haben wir viel gelernt, nicht aber über den
Nationalsozialismus und die Vernichtung
der Juden.“ Auch für die Kurdin Perwin
Rasoul Ahmad, die aus dem Irak nach
Deutschland flüchtete, ist die Geschichte
des Nationalsozialismus wichtig. „Ich interessiere mich für die deutsche Geschichte
und für die Zeit des Nationalsozialismus,
weil ich hier lebe“, sagt sie. Dabei erinnert
sie auch an die lange Nachbarschaft, die
Juden und Kurden im Irak verband.
Die in der Broschüre zusammengetragenen Geschichten der Stadtteilmütter in
Berlin-Neukölln sind ein Beispiel dafür, wie
eine kritische Annäherung an die deutsche
Geschichte möglich ist, die durch alternative Perspektiven ergänzt wird. Dabei werfen die Stadtteilmütter Fragen nach der
Bedeutung auf, die der Erinnerung an den
Nationalsozialismus auch heute noch im
deutschen Selbstverständnis zukommen.
Einem Schlussstrich unter die Vergangenheit mag dabei niemand das Wort reden.
Im Gegenteil: Die Auseinandersetzung mit
der deutschen Geschichte scheint für sie
hochaktuell.
Aktion Sühnezeichen Friedensdienste (ASF):
UnsereGeschichten–EureGeschichte?
NeuköllnerStadtteilmütterundihreAuseinandersetzungmitderGeschichtedes
Nationalsozialismus, Berlin, 2010, 72 S.,
download auf www.asfev.de.
chensgeschichte kann es keine ungebrochene Identifikation mit der deutschen Gesellschaft geben. Dies gilt nicht nur für
Migrationsdeutsche, sondern auch für die
Nachkommen der Tätergeneration“, gibt
Messerschmidt zu bedenken. Umso wichtiger sei es, multiperspektivische Ansätze
der Erinnerungsarbeit zu verfolgen, die unterschiedliche Standpunkte einbeziehen.
„Ich wollte einfach mehr über dieses Thema wissen“, sagt Makfirete Bakalli, eine
der 14 Stadtteilmütter, die während des
Kosovo-Krieges nach Deutschland floh.
„Während meiner Schulzeit im Kosovo
MEHR ZUM THEMA
Schüler mit Migrationshintergrund
und der Holocaust
www.bpb.de/themen/2U78WH
Junge Migranten und die Geschichte des Nationalsozialismus
www.bpb.de/publikationen/HYPRN9
„Zukunftsforum Islam: Muslime
im demokratischen verfassungsstaat“
www.bpb.de/veranstaltungen/S7LIQX
Newsletter-Archiv unter:
www.bpb.de/jugendkultur-islamdemokratie
Seite 15
ufuq.de
Nr. 17/Mai 2010
SERvICE
CROSSOvER GESCHICHTE
Mit multiperspektivischen Ansätzen der Erinnerungspolitik beschäftigt sich das aktuelle Buch „Crossover Geschichte“, das sich
mit Fragen der Geschichte in der Einwanderungsgesellschaft auseinandersetzt. Dabei geht es vornehmlich um die Bedeutung
von Geschichtsbewusstsein und Fragen
der Zugehörigkeit und Identität, mit denen
sich insbesondere junge Migranten konfrontiert sehen. Im Mittelpunkt steht der Nationalsozialismus. Aber auch andere historische Ereignisse wie der Mauerfall und die
Wiedervereinigung werden mit Blick auf die
integrationspolitischen Folgen diskutiert.
Nicht weniger wichtig sind die historischen
Erfahrungen und Erinnerungen, die den Jugendlichen von ihren Eltern und Großeltern
vermittelt werden. Mit Hintergrundartikeln
und Berichten aus der pädagogischen Praxis zeigt der Sammelband Perspektiven
auf, wie ein „Crossover“ unterschiedlicher
Erinnerungen aussehen könnte.
Viola B. Georgi/Rainer Ohliger (Hrsg.): CrossoverGeschichte.HistorischesBewusstseinJugendlicherinderEinwanderungsgesellschaft,
Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung,
2009, zu bestellen unter www.bpb.de.
Informationen und Materialien für Pädagogen
FACHBRIEFE FüR PÄDAGOGEN
Informationen und praktische Hinweise
für Pädagogen stellt die Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und
Forschung regelmäßig auf ihrer Website in
Form von Fachbriefen zur Verfügung. Diese erscheinen in unterschiedlichen Reihen,
unter anderem zu den Themen „Interkulturelle Bildung und Erziehung“, „Sprachförderung/Deutsch als Zweitsprache“ sowie
„Kooperation von Schule und Eltern mit
Migrationshintergrund“. In den einzelnen
Ausgaben greifen Beiträge aktuelle Fragen
aus dem Bereich Schule und interkulturelle
Bildung auf oder stellen Best-Practice-Beispiele aus der pädagogischen Arbeit vor.
Die Ausgaben enthalten überdies Materialien und Informationen für Lehrkräfte.
So geht es im Fachbrief Nr. 5 (März 2010)
aus der Reihe „Kooperation von Schulen
und Eltern mit Migrationshintergrund“ um
die Zusammenarbeit mit Eltern. Beispielhaft werden der Aufbau von Elternklassen,
Elternseminaren und die Erfahrungen mit
Elternlotsen an verschiedenen Schulen
vorgestellt.
Um das Thema „Schule in der Einwanderungsgesellschaft“ kreist auch der einleitende Beitrag des Fachbriefs Nr. 8 aus der
Reihe „Interkulturelle Bildung und Erziehung“ (12/2009). Im Mittelpunkt steht hier
der Umgang mit (kultureller) Identität und
Differenz im Schulalltag. Der Fachbrief verweist ferner auf Materialien für den Unterricht zum Thema Einbürgerung sowie auf
eine Medienbox mit 80 Unterrichtseinheiten
für Grundschüler.
monatlich Arbeitsblätter für den Unterricht zu einem aktuellen Thema des Zeitgeschehens zum Download zur Verfügung
– darunter auch zum Themenbereich Islam
und Muslime in Deutschland. Die vor allem
für die Oberstufe geeigneten Arbeitsblätter
bestehen zumeist aus Zeitungsartikeln, zu
denen bereits Fragestellungen und Lernziele
für den Unterricht formuliert sind. Angefügt
sind jeweils Hinweise auf Quellen im Internet und weitere Beiträge zum Thema. Das
Angebot ist kostenlos, lediglich eine Anmeldung auf zeit.de ist erforderlich. Folgende
Arbeitsblätter sind erhältlich:
· Geteilte Erinnerung – Deutschtürken
und der Holocaust (02/2010)
· Angst vor dem Islam (01/2010)
· Terrorismus und Sicherheitsgesetze
(10/2007)
· Diskriminierung von Randgruppen
ARBEITSBLÄTTER FüR
(5/2007)
DEN UNTERRICHT
· 5 Jahre 11. September (9/2006)
Die Wochenzeitung DIE ZEIT stellt in Zu- · Einbürgerungstest (4/2006)
sammenarbeit mit dem Cornelsen Verlag · Ghettokids (12/2005)
Die bisher erschienenen Fachbriefe können
auf der Website der Berliner Senatsverwaltung heruntergeladen werden.
Herausgeber Bundeszentrale für politische Bildung/bpb, Bonn © 2010
Redaktion ufuq e.v. Dr. Götz Nordbruch, Dr. Jochen Müller
Der Newsletter wird im Auftrag der bpb erstellt durch ufuq.de - Jugendkultur, Medien und politische Bildung in der Einwanderungsgesellschaft,
Lohmühlenstr. 65, 12435 Berlin, E-Mail [email protected]
Redaktion bpb Martin Hetterich, Sebastian Kauer (verantwortlich), Christoph Müller-Hofstede
Wissenschaftliche Beratung Dr. Michael Kiefer
Redaktion 3pc Berke Tataroglu, Sonia Binder, Alexandra Lau
Layout 3pc – www.3pc.de
Bildnachweise S. 7: privat; S. 1, 2, 4, 13: AP
Urheberrecht Alle Beiträge sind, soweit nicht anders angegeben, unter der Creative Commons-Lizenz by-nc-nd/3.0/de lizenziert.
Seite 16
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