Leitbild Gewalt

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Stadt Bern
Direktion für
Soziale Sicherheit
Jugendamt
Bereich Stationäre Jugendhilfe
Predigergasse 5
Postfach 3000 Bern 7
[email protected]
Leitbild Gewalt
der Stationären Jugendhilfe der Stadt Bern
Mai 2004
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Inhalt
Einleitung
Gewaltdefinitionen
Gewaltformen
Zweck des Leitbilds
Grundhaltung
Gewaltbegriff
Gewalt und Macht
3
weite Gewaltdefinition
enge Gewaltdefinition
Definition der Gewaltformen
4
physische Gewalt
sexuelle Gewalt
psychische Gewalt
strukturelle Gewalt
personale Gewalt
institutionelle Gewalt
latente Gewalt
Aggression, Macht, Konflikt Aggression
Macht
Konflikt
Ursachen von Gewalt
Leitlinien
Strategische Ziele
Operative Ziele
5
6
7
individuelle Ursachen
soziale Ursachen
kulturelle Ursachen
8
Gewalt und Macht gehören zusammen
Gewalt kann die Form wechseln
strukturelle Gewalt beachten
alle sind gemeint
echt sein
9
Präventionsebenen
Ziele der Primärprävention
Ziele der Sekundärprävention
Ziele der Tertiärprävention
10
Umsetzung
Rechenschaft
11
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Einleitung
Zweck
Grundhaltung
Gewaltbegriff
Gewalt
und
Macht
Das Leitbild Gewalt stützt die sozialpädagogische und psychosoziale Praxis der
Stationären Jugendhilfe auf fachliche Erkenntnisse, definiert Begriffe und legt strategische Ziele zur Gewaltverminderung fest.
Die Auseinandersetzung mit dem Thema Gewalt verunsichert und polarisiert, weckt
aber in erster Linie auch Hoffnung auf weniger Gewalt und damit auch auf weniger
Angst vor Gewalt.
Als Fazit von wissenschaftlichen Forschungen, ethischen und philosophischen Erwägungen und politischen Forderungen ist unbestritten:
ƒ
Gewalt wird zu häufig als Mittel zur Durchsetzung unterdrückender und ausbeutender Machtverhältnisse eingesetzt,
ƒ
zu selten zur Sicherung von Menschenrechten, zur gerechten Verteilung von
Macht und ökonomischen Ressourcen.
Die Grundhaltung des Leitbilds Gewalt nimmt dieses Ungleichgewicht zum Ausgangspunkt:
ƒ
Die Stationäre Jugendhilfe setzt sich für die Verminderung von Gewalt als Mittel
der Manipulation und Einschüchterung sowie zur Durchsetzung von Ausbeutung und Unterdrückung ein.
ƒ
Sie akzeptiert Gewalt als Mittel des Schutzes vor Willkür und als Ausdruck
des Widerstandes gegen Ausbeutung und Unterdrückung.
Gewalt wird in der Forschung unterschiedlich definiert. Der Begriff bewegt sich
zwischen den zwei Polen einer sehr engen und einer sehr weiten Definition.
Eine enge Definition schränkt Gewalt auf physische Gewalt ein, zum Teil wird auch die
sexuelle Gewalt einbezogen.
Ein solcher Gewaltbegriff schliesst andere Gewaltformen aus und ist damit unvollständig.
Bei einer weiten Definition liegt Gewalt dann vor, wenn Menschen so beeinflusst werden, dass sie ihre körperlichen, seelischen und geistigen Potentiale nicht verwirklichen
können. Dieser erweiterte Gewaltbegriff berücksichtigt primär die gesellschaftlichen
Bedingungen und versteht jede Behinderung in der Selbstentfaltung bereits als Gewalteinwirkung.
Nach einem solchen umfassenden Gewaltbegriff kann in fast jeder Situation Gewalt
gefunden werden, was seine Anwendbarkeit und Nützlichkeit sehr einschränkt.
Gewalt kann nicht begriffen werden, ohne den Aspekt der Macht einzubeziehen. Gewalttätige Handlungen und Strukturen können einerseits das Mittel sein, Dominanz- und
Herrschaftsansprüche gegenüber anderen Menschen durchzusetzen. Anderseits kann
Gewalt aber auch den Versuch darstellen, sich gegen übermächtige Fremdbestimmung
und Benachteiligung zu wehren.
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Gewaltdefinitionen
weite
Gewaltdefinition
enge
Gewaltdefinition
Definition
der
verschiedenen
Gewaltformen
Die weite Definition beschreibt Gewalt als jeglichen Akt, der einen anderen Menschen in
seiner Entfaltung behindert und ihm dadurch schadet. Neben körperlichen Angriffen
schliesst diese Definition auch "die Androhung körperlicher Angriffe, Aggression und
Missbrauch auf psychischer und seelischer Ebene, sexuelle Übergriffe oder die Androhung sexueller Übergriffe, Vernachlässigung sowie Verhaltensweisen mit ein, die darauf
abzielen, das Gegenüber zu beherrschen".1
Nach dieser weiten Definition wird unter Gewalt jeder "Angriff auf die körperliche und
seelische Integrität eines Menschen unter Ausnützung einer gesellschaftlich vorgeprägten relativen Machtposition"2 verstanden.
Enge Definitionen beschränken sich auf einzelne Aspekte von Gewalt und vernachlässigen soziale und gesellschaftliche Einflüsse. Eine so definierte Gewalt hat den Vorteil, dass sie direkt beobachtbar und auch quantifizierbar ist. Untersuchungen und
Aktionsprogramme zur Häuslichen Gewalt stützen sich meist auf eine solche Gewaltdefinition.
Das Leitbild Gewalt verzichtet angesichts dieser Uneinheitlichkeit darauf, eine eigene
umfassende Gewaltdefinition vorzuschlagen. Im Hinblick auf die Anwendbarkeit des
Leitbildes Gewalt im sozialpädagogischen Alltag erweist es sich als sinnvoller und effektiver, die einzelnen Gewaltformen zu definieren.
Die Unterscheidung und Definition von verschiedenen Formen der Gewalt stellt
eine gute Grundlage dar, das professionelle Handeln an den konkret fassbaren unterschiedlichen Erscheinungsweisen von Gewalt zu orientieren.
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Gewaltformen
Im Folgenden werden die verschiedenen Gewaltformen beschrieben. Trotz des Vorteils,
den die Orientierung an voneinander abgegrenzten Gewaltformen für die professionelle
Umsetzbarkeit bietet, darf jedoch nicht vergessen werden, dass Gewalt ein höchst
komplexes Phänomen ist und eine einzelne Gewalthandlung immer verschiedene Aspekte von Gewalt in sich trägt.
physische
Gewalt
sexuelle
Gewalt
Physische oder körperliche Gewalt bezeichnet Handlungen gegen die körperliche
Integrität eines Menschen und beinhaltet folgende Handlungen einer Person gegenüber
einer anderen Person3:
ƒ
einen Gegenstand gezielt auf eine Person werfen
ƒ
stossen, packen, schütteln, ohrfeigen, einen Fusstritt/Faustschlag geben, beissen
ƒ
mit einem Gegenstand schlagen oder versuchen zu schlagen
ƒ
verprügeln oder würgen
ƒ
mit einem Messer oder einer Schusswaffe bedrohen (oder mit anderen Gegenständen wie einer brennenden Zigarette oder einer Eisenstange)
ƒ
mit einem Messer zustossen oder einer Schusswaffe schiessen
Als sexuelle Gewalt gelten sexuelle Handlungen, die unter Einsatz von Drohungen
und/oder körperlicher Gewalt oder unter Ausnützung einer Abhängigkeits- und/oder
Vertrauensbeziehung aufgezwungen werden:
ƒ
gegen den Willen an den Geschlechtsorganen berühren
ƒ
dazu zwingen, Geschlechtsorgane zu berühren
ƒ
vergewaltigen, mit Gegenständen eindringen
ƒ
die Zustimmung zu oder die Duldung von sexuellen Handlungen erzwingen
ƒ
dazu zwingen oder überreden, Gerede über Sexualität anzuhören, Pornografie
anzusehen oder Geschlechtsorgane und sexuelle Handlungen anzusehen
ƒ
Menschen, die unter Drogeneinfluss stehen, zu sexuellen Handlungen zwingen
oder überreden
Insbesondere bei Kindern und Jugendlichen ist der Übergang zwischen angemessenen
(auch zärtlichen) Körperkontakten einerseits und anderseits sexuellen Handlungen
fliessend. Sexuelle Gewalt beinhaltet Handlungen, bei denen das Bedürfnis von Kindern
und Jugendlichen nach Nähe, Zärtlichkeit, Geborgenheit und Schutz missbraucht wird.
Sie äusserst sich auch in Handlungen, bei denen die Abhängigkeit, die Unwissenheit
und das Bedürfnis nach Anerkennung von Kindern und Jugendlichen ausgenützt wird:
ƒ
bei alltäglichen Körperkontakten (halten, umarmen, balgen usw.) Nähe und Berührungen aufzwingen
ƒ
Gelegenheiten ausnützen, schaffen oder erzwingen, den nackten Körper anderer
anschauen zu können
ƒ
bei körperlicher Pflege (zum Beispiel auch Massage), (medizinischen) Untersuchungen oder Anleiten bei Sport und Freizeitaktivitäten sexuell motivierte Handlungen machen (entblössen, berühren, aber auch sich entblössen)
ƒ
mit sexualisierter Sprache abwerten und demütigen
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psychische
Gewalt
strukturelle
Gewalt
personale
Gewalt
institutionelle
Gewalt
latente
Gewalt
Psychische Gewalt beinhaltet folgende Handlungen einer Person gegenüber einer
anderen Person:
ƒ
jemanden beschimpfen oder beleidigen, jemanden abwerten oder verunglimpfen
ƒ
einen Gegenstand werfen, zerschlagen, zerdrücken oder dagegen treten
ƒ
drohen, jemanden zu schlagen oder jemandem einen Gegenstand anzuwerfen
ƒ
jemanden ein- oder aussperren
Psychische Gewalt zeigt sich auch in Handlungen, bei denen Manipulation und Beeinflussung die Handlungen und Interaktionen kennzeichnen
ƒ
die Beziehung abbrechen oder damit drohen
ƒ
wesentliche Informationen oder Wissen vorenthalten
ƒ
Abhängigkeit zum eigenen Vorteil nutzen (Abhängigkeit auf Grund des Alters, der
ökonomischen Verhältnisse, der sozialen Stellung, der Berufsfunktion)
ƒ
jemanden blossstellen oder innerhalb einer Gruppe isolieren, gegen jemanden
Mobbing betreiben
Die Grenze zwischen konflikthafter verbaler Auseinandersetzung und psychischer Gewalt kann nicht klar gezogen werden.
Strukturelle Gewalt umfasst allgemeine Bedingungen oder Strukturen, die Menschen
daran hindern, ihr Entwicklungs- und Realisierungspotential in freier Entscheidung zu
entfalten. Die Gewalt ist in jedes Gesellschaftssystem eingebaut, in kulturellen
Werten und Normen festgeschrieben und äussert sich in ungleichen Machtverhältnissen und folglich in ungleichen Lebenschancen4. Strukturelle Gewalt wird oft nicht als
Gewalt wahrgenommen, sondern als selbstverständliche und manchmal sogar natürliche Norm unhinterfragt akzeptiert. So beruhen die asymmetrischen Beziehungen zwischen den Geschlechtern auf den patriarchalen Machtverhältnissen und verursachen
die strukturelle Diskriminierung der Frauen.
Gewalt, die von einer Person bzw. einem konkreten Individuum ausgeht, wird als personale Gewalt bezeichnet. Die Person handelt als Einzelperson und nicht in einer
Berufsfunktion (zum Beispiel als PolizistIn).
Personale Gewalt steht im Wechselspiel mit struktureller Gewalt. Sie kann einerseits
Ausdruck von struktureller Gewalt sein, wenn beispielsweise kulturelle Normen die
Gewalt von Männern gegen ihre Frauen innerhalb der Ehe legitimieren. Anderseits kann
personale Gewalt eine Reaktion auf strukturelle Gewalt sein, wenn sich von struktureller
Gewalt geschädigte Menschen durch Gewalthandlungen gegen Diskriminierungen zu
wehren versuchen.
Gewalt, die von Institutionen aus geht, wird institutionelle Gewalt genannt. Ihre Ausübung ist an Gesetze und Regeln gebunden, die festlegen, welche Personen wann,
auf welche Weise und zu welchem Zweck Gewalt anwenden dürfen. In Institutionen wie
einem Heim oder einer Schule äussert sich die institutionelle Gewalt in den Strukturen,
Regeln, Hausordnung und Konzepten.
Gewalt, die zwar nicht (explizit) angedroht oder ausgeübt wird, jedoch auf Grund von
Äusserungen und Verhaltensweisen nicht ausgeschlossen werden kann, wird als
latente Gewalt bzw. Gewaltbereitschaft bezeichnet. Situativ auslösende Faktoren
können die latente Gewalt zur manifesten Gewalt werden lassen. Der Schritt von
latenter zu manifester Gewalt geschieht häufig durch die Eskalation eines Konflikts.
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Aggression, Macht und Konflikt
Aggression und Macht sind Begriffe, die untrennbar mit Gewalt verbunden sind und
deshalb im Leitbild Gewalt geklärt werden. Weil die Eskalation von Konflikten häufig zu
Gewalt führt, muss auch die Dynamik von Konflikten berücksichtigt werden.
Aggression
Macht
Konflikt
Was für den Begriff der Gewalt festgestellt wurde, gilt auch für denjenigen der Aggression: Die Definitionen in der Fachliteratur weichen voneinander ab und wenden unterschiedliche Kriterien an. Die Umgangssprache verbindet Aggression mit körperlicher
oder psychischer Verletzung. Davon ausgehend kann Aggression definiert werden als
Verhalten, das mit der Absicht ausgeführt wird, jemanden zu schädigen5.
Diesem Verständnis kann jedoch ein konstruktiver Aggressionsbegriff entgegen gesetzt werden. Aggression wäre demzufolge ein Verhalten, das wie folgt charakterisiert
werden kann: aktiv auf jemanden zugehen, den eigenen Standpunkt aktiv einbringen,
sich durchsetzen wollen (Selbstbehauptung).
Auch der Begriff der Macht weist zwei Aspekte auf.
Zum Einen weist Macht auf eine asymmetrische Beziehung zwischen zwei Menschen
(oder Parteien) hin. Macht bedeutet die Möglichkeit, "innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen", und zwar unabhängig davon, worauf diese Möglichkeit beruht6. Quelle von Macht kann Geld, physische oder psychische Kraft, Wissen usw. sein, oder auch eine institutionalisierte oder
gesellschaftlich legitimierte Stellung.
Macht kann ausgeübt werden, um sich einseitige und ausbeutende Kontrolle von
ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapital zu sichern. Machtstrukturen gewährleisten jedoch auch die Durchsetzung kollektiver Übereinkünfte wie zum Beispiel der
Menschenrechte.
Im anderen Verständnis bezeichnet Macht zwar auch die Fähigkeit, selbstbestimmt zu
handeln, betont jedoch als Grundlage von Macht nicht primär die Überlegenheit gegenüber den potentiellen GegnerInnen, sondern die eigenen Fähigkeiten. Mächtig ist, wer
auf der Grundlage von Kompetenz und Stärke entscheidet und handelt (und nicht auf
der Grundlage von Ausbeutung und Diskriminierung). Empowerment orientiert sich an
diesem Verständnis von Macht. Akzeptanz durch eine Mehrheit der Betroffenen kennzeichnet diesen Machtbegriff, ebenso das Anstreben von konstruktiven Lösungen.
Ein sozialer Konflikt ist eine Interaktion zwischen zwei Personen (oder Parteien), wobei
mindestens eine Person Unvereinbarkeiten in den Interessen, Zielen, Rollen und/oder
Auffassungen erlebt. Im Realisieren der Interessen, Ziele, Rollen und/oder Auffassungen beeinträchtigen sich die beiden Personen (oder Parteien).
In sozialen Konflikten wirken Eskalationsmechanismen, welche im Lauf des fortschreitenden Konflikts den ursprünglichen Inhalt in den Hintergrund treten lassen. An
die Stelle der Auseinandersetzungen über Sachinhalte treten fixierte negative und
feindselige Einstellungen und destruktive Verhaltensweisen der Konfliktparteien7.
Wie die Begriffe Aggression und Macht hat auch der Konfliktbegriff einen zweiten Aspekt. Dieser bezeichnet einen zwar kontroversen, jedoch grundsätzlich konstruktiven
Aushandlungsprozess. Eine so verstandene Streitkultur negiert in einer Auseinandersetzung weder Eigeninteressen noch emotionale Betroffenheit, bekennt sich aber zu
gegenseitigem Respekt, Sachlichkeit und Kompromissbereitschaft.
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Ursachen von Gewalt
Auch die Ursachen von Gewalt werden in der Fachliteratur unterschiedlich und kontrovers diskutiert. Das Leitbild Gewalt reduziert die vielfältigen Erklärungsansätze auf drei
zentrale Aspekte.
individuelle
Ursachen
soziale
Ursachen
kulturelle und
strukturelle
Ursachen
Angeborene und im Lauf des Lebens erworbene Eigenschaften können dazu führen,
dass ein Mensch gewalttätiges Verhalten einsetzt, um schwierige Lebenssituationen zu
bewältigen. Belastende, verletzende oder traumatische Erfahrungen in der Kind- und
Jugendzeit können die Bereitschaft erhöhen, Gewalt als Bewältigungsversuch in Stresssituationen anzuwenden (dysfunktionale Copingstrategie).
Psychologische und lerntheoretische Erklärungsmodelle für Gewalt setzen auf dieser
individuellen Ebene an (Mikrosystem).
Die sozialen Verhältnisse, die Beziehungen, die Familie und die Lebensräume
beeinflussen das Individuum. Familie, Schule, Arbeitsplatz, Gleichaltrigengruppen, Freizeitgruppen und – bezogen auf das Arbeitsfeld der Stationären Jugendhilfe – das Heim,
die Wohngemeinschaft und die Tagesstruktur sind wesentliche Teile des sozialen Umfelds.
Armut, fehlender Zugang zu sozialen Ressourcen und Bildung, Diskriminierung, ein
gefährdeter und unsicherer sozialer Status, fehlende soziale Kontrolle sowie in den
massgebenden sozialen Gruppen vermittelte Werte können die Bereitschaft erhöhen,
Gewalt zur Lösung von sozialen Konflikten (Mikro- und Mesosystem) anzuwenden.
Kulturelle Normen und Werte können direkt deklarieren oder indirekt implizieren, dass
Gewalt akzeptiert oder sogar erwünscht ist, um die gegebene Ordnung zu erhalten
(Makrosystem). Sexismus und Rassismus sind zwei wesentliche strukturelle Ursachen
von Gewalt.
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Leitlinien der Stationären Jugendhilfe
Gewalt und
Macht
gehören
zusammen
Gewalt kann
die Form
wechseln
strukturelle
Gewalt
beachten
alle sind
gemeint
echt
sein
Weil Gewalt Ausdruck von Macht-/Ohnmachtsverhältnissen ist, müssen Gewalt und
Macht immer zusammen betrachtet werden. Auch die Entstehungsbedingungen von
Gewalt müssen einbezogen werden.
Die Anwendung von Gewalt kann legitim sein. Deshalb ist Gewaltlosigkeit an sich kein
Ziel. Nulltoleranz (von Gewalt) als Motto bezieht sich immer nur auf einzelne Gewaltformen, bestimmte Situationen und ausbeutende Machtstrukturen.
Leitsatz: Gewalt wird in ihrem Zusammenhang mit Machtstrukturen betrachtet.
Werden gewisse Gewaltformen unterdrückt (zum Beispiel physische Gewalt), können sich die Macht- und Konfliktproblematiken auf anderen Gewaltebenen äussern
(zum Beispiel psychische Gewalt), solange nicht die Ursache der Gewalt bzw. des Konfliktes behoben ist.
Leitsatz: Die Unterdrückung einzelner Gewaltformen bedeutet nicht automatisch weniger Gewalt.
Die strukturelle Gewalt und die Folgen struktureller Gewalt liegen ausserhalb des
Einflusses von Einzelpersonen (MitarbeiterInnen, KlientInnen, Angehörige) und auch
der Institution. Strukturelle Gewalt wird jedoch meist als personale Gewalt sichtbar, die
Wurzeln liegen gleichwohl auf kultureller und gesellschaftlicher Ebene.
Leitsatz: Der Einfluss der strukturellen Gewalt- und Machtstrukturen auf personale Gewalthandlungen wird berücksichtigt.
Eigenes gewalttätiges Verhalten wird oft negiert oder zumindest bagatellisiert und
als Reaktion auf Provokationen erklärt. Das gilt nicht nur für personale Gewalt, sondern auch für die Gewalt, die Institutionen bzw. deren VertreterInnen ausüben. So kann
die Verantwortung für Gewalthandlungen zurückgewiesen werden.
Die Aussagen des Leitbilds Gewalt beziehen sich nicht nur auf die KlientInnen, sondern
ebenso auf die MitarbeiterInnen, die Zusammenarbeit der MitarbeiterInnen auf allen
Funktionsebenen und den Bereich der Stationären Jugendhilfe als Ganzes.
Leitsatz: Gewalt können alle ausüben. Die eigenen Gewalthandlungen werden
wahrgenommen und reflektiert.
Die sorgfältige Auseinandersetzung mit Gewalt und Macht (im professionellen Rahmen) ist Vorbedingung, damit sich ein konstruktiver Weg zur Verminderung von Gewalt
öffnet.
Die eigene Betroffenheit durch die Themen Gewalt und Macht muss immer berücksichtigt werden. Verunsicherung kann die Folge sein. Die Betroffenheit kann sich in
Abwehr und Verharmlosung äussern, aber ebenso in übersteigerten Idealen oder
unbedingten Forderungen. Die Vielschichtigkeit der Gewaltfrage kann dazu führen, der
drohenden Überforderung durch Komplexitätsreduktion, durch starre und absolute
Positionen oder Resignation entgehen zu wollen.
Persönliche Anstrengungen und ethische Ideale können im Widerspruch zu eigenen
gewalttätigen Impulsen oder Handlungen stehen.
Leitsatz: Durch authentische Auseinandersetzung mit Gewalt kann die Diskrepanz zwischen dem Bewusstsein des eigenen Ungenügens und dem Ziel/Ideal
der Gewaltverminderung ausgehalten oder sogar überwunden werden.
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Strategische Ziele der Stationären Jugendhilfe
Das Leitbild Gewalt formuliert strategische Ziele und gliedert sie in die drei Ebenen der
primären, sekundären und tertiären Prävention.
Primäre Prävention befasst sich mit der Veränderung der strukturellen Verhältnisse. Ziel ist es insbesondere, ungünstige oder schädigende Bedingungen so zu verändern, dass weniger Gewalthandlungen begangen werden. Primäre Prävention richtet
die Aufmerksamkeit nicht auf spezifische Personen, sondern auf die allgemeinen
Verhältnisse.
Sekundäre Prävention versucht, zu einem möglichst frühen Zeitpunkt in die Dynamik
der Gewalthandlung einzugreifen. Ziel ist es, auf die handelnden und betroffenen
Personen einzuwirken, die akute Situation zu entschärfen und die unmittelbar anschliessende Zeit zu bewältigen.
Tertiäre Prävention wendet sich sowohl an Menschen, die Gewalt ausgeübt haben, als
auch an diejenigen, denen Gewalt angetan wurde. Ziel ist es, mit Nachbehandlungen
(Nachsorge, Therapie) weitere Gewalt zu verhindern und bereits erlittene Schäden
auszugleichen bzw. verarbeiten zu helfen.
Die strategischen Ziele betreffen nicht nur das Verhalten der KlientInnen, sondern
auch die Beziehungen der KlientInnen unter sich oder innerhalb ihres Systems.
Sie werden zudem auf die Beziehung zwischen MitarbeiterInnen und KlientInnen
und der MitarbeiterInnen untereinander, auf die Strukturen der Einrichtung und die
Fachstandards angewendet.
Primärprävention
Sekundärprävention
Tertiärprävention
Auf der Ebene der Primärprävention werden folgende Ziele angestrebt:
ƒ
Das Wissen über die verschiedenen Gewaltformen und ihre Ursachen ist vorhanden. Bei der Auseinandersetzung mit Gewalt wird immer zwischen den verschiedenen Gewaltformen unterschieden.
ƒ
Die Mechanismen der Konflikteskalation sind bekannt.
ƒ
Die Machtverhältnisse sind transparent.
Die folgenden Ziele betreffen nur die MitarbeiterInnen der Stationären Jugendhilfe:
ƒ
Die Konzepte der Betriebe der Stationären Jugendhilfe, insbesondere die Sanktionen bei Verstössen gegen Regeln, sind gewaltvermeidend und deeskalierend
gestaltet.
ƒ
Die Vorgehensweisen in Gewaltsituationen sind festgelegt.
Auf der Ebene der Sekundärprävention werden folgende Ziele angestrebt:
ƒ
Gewalthandlungen werden erkannt und benannt.
ƒ
Gewalthandlungen werden nicht bagatellisiert.
ƒ
In Konflikten wird deeskalierend gehandelt.
ƒ
Alternative Handlungsweisen werden entwickelt.
Die folgenden Ziele betreffen nur die MitarbeiterInnen der Stationären Jugendhilfe:
ƒ
Konzepte (Regeln) werden flexibel und mit dem Ziel der Deeskalation umgesetzt.
ƒ
Die festgelegten Vorgehensweisen in Gewaltsituationen werden umgesetzt.
Auf der Ebene der Tertiärprävention werden folgende Ziele angestrebt:
ƒ Gewaltopfer erhalten Hilfe und Unterstützung.
ƒ Täter und Täterinnen werden als Täter und Täterinnen und in der begangenen Tat
ernst genommen und damit konfrontiert.
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Operative Ziele der Betriebe der Stationären Jugendhilfe
Umsetzung
Rechenschaft
Die operativen Ziele der Betriebe der Stationären Jugendhilfe setzen die strategischen
Ziele des Leitbilds Gewalt um. Sie werden einerseits auf Bereichsebene verbindlich für
alle Betriebe und anderseits – angepasst auf den spezifischen Auftrag – auf Betriebsebene definiert. Kriterien für die Zielerreichung werden nur für die operativen Ziele festgelegt.
Die Betriebe erstatten periodisch Rechenschaft an die Bereichsleitung über die Zielerreichung der operativen Ziele.
1
Gelles Richard: Gewalt in der Familie. In: Heitmeyer Wilhelm und Hagan John (Hrsg.): Internationales Handbuch der
Gewaltforschung. 2002.
2
nach Hagemann-White. 1981.
3
Diese und die folgenden Aufzählungen sind nicht abschliessend. Zweck der Aufzählungen ist, gewalttätige Handlungen konkret zu benennen und nicht bloss allgemein zu umreissen. Die Aufzählung von physischer und psychischer
Gewalt orientiert sich an den Conflict Tactics Scales, u.a. in: Schweizerische Konferenz der Gleichstellungsbeauftragten: Beziehung mit Schlagseite. 1997.
4
Johan Galtung: Strukturelle Gewalt. 1975.
5
Alberto Godenzi: Gewalt im sozialen Nahraum. 1994.
6
Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Zitiert in: Günter Endruweit und Gisela Trommsdorff (Hrsg.): Wörterbuch der
Soziologie. 2002.
7
Friedrich Glasl: Konfliktmanagement. 1980.
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