Geschichte der Weltpolitik und –wirtschaft: Vom Wiener Kongress bis 1918 das „lange 19. Jahrhundert“ (eigentlich ab 1789) Prof. Dr. Ulrich Brand • • • methodische Anmerkung: das „Prinzip Nationalstaat“ Problem der Periodisierung historische Entwicklung: – Pax Britannica – historischer Imperialismus – Zeitalter der Katastrophen (1. Teil) – Pax Americana – Krise der 1970er Jahre – aktuelle Entwicklungen • nicht IOs, Lateinamerika, EU Æ Text • Café-Haus; nächste Woche Teil 2 • Textgrundlage U. Brand 1 Zugang zu komplexem Feld • breites Verständnis von internationaler Politik: nicht Steuerungszentrum; nicht Summe von Außenpolitik • kapitalistische, sozio-ökonomische Entwicklungsweisen und sie tragende sozialen und politischen Machtverhältnisse • damit einhergehend: Weltordnungen • aber nicht nur Absicherung sozio-ökonomischer Verhältnisse; auch andere Probleme / Konflikte, v.a. Krieg und Frieden • Ideologische Absicherung: „Fortschritt“, „Entwicklung“, NationNationalismus • keine Ereignisgeschichte oder Geschichte „großer Männer“ sondern Strukturen, aber auch Umschlagpunkte • Zusammenhang von politischen und gesellschaftlichen Akteuren; aber auch Opposition, Widerstand (oft ausgeblendet) • Probleme in der Perspektive (Vollständigkeit, Eurozentrismus) statt „multizentrische Interaktionsgeschichte“ (Sieder/Langthaler)2 Prinzip Nationalstaat • 1648 völkerrechtlich anerkannte Souveränität (Westfälischer Friede v.a. zwischen Deutschland bzw. Kaiser, Frankreich, Schweden), de facto aber Re-Etablierung von Dynastien • auch nach 1815 Dynastien: Habsburger Reich, Osmanisches Reiche, Russisches Reich, China, britisches Empire • Deutsches Reich: Einigung als N-staat erst 1871 • Kolonien; Kolonialismus dynamisch ab Berliner Kongokonferenz von 1884/1885 • offenbar: Nationalstaat als Territorialstaat gut in der Lage, ökonomisch, politische und ideologische Ressourcen zu mobilisieren (Standort); Klassen- und Eigentumsverhältnisse abzusichern 3 Æ Nationalstaaten ab Erstem Weltkrieg und Entkolonialisierung weltweit; also 20. Jahrhundert Æ Wiener Kongress war Restauration der Alten Ordnung, die von der Französischen Revolution und den Revolutionskriegen gefährdet war 4 Versuche der Periodisierung • Eric Hobsbawm: – das Lange 19. Jahrhundert von 1789 bis 1914 • Europäische Revolutionen 1789-1848 • Blütezeit des Kapitalismus 1848-1875 Demografischer Wandel, Industrialisierung • Das imperiale Zeitalter 1875-1914 – das kurze 20. Jahrhundert ab 1914/1917 bis 1989 • Zeitalter der Katastrophen • anderer Zugang – – – – Freihandel des 19. Jahrhunderts Klassischer Imperialismus Fordismus ~ ab 1930erÆ Nächste Einheit Postfordismus 5 ODER: Historische Hegemoniezyklen •Portugal / Spanien: 1500-1580 • Holland: 1580-1688 --- der große Bruch also nicht 1648: Territorialstaat, Souveränität, Völkerrecht --- „Mythos“? • Großbritannien: a) 1688-1792; b) 1815-1914 •USA: --- in 1. Phase: Pax Sovjetica a) 1945-1973; b) 1980 bis heute •China? multizentrisch? 6 liberal-kapitalistische Entwicklungsweise: Aufstieg Großbritanniens bereits im 18. Jhdt. • Industrielle Revolution vor allem dort: technische Voraussetzungen (vom Webstuhl bis zur Dampfmaschine), • merkantilistischer Modernisierungsprozess und Herausbildung eines großen Marktes • Kommerzialisierung der Sozialbeziehungen: Ende des Zunftwesens, Einfriedungspolitik, agrarkulturelle Revolution, entstehendes Bürgertum (eng mit Adel verbunden) • unregulierter Arbeitsmarkt (Abschaffung Speenhamland Laws 1834) • monarchistischer und zentralisierter (Steuer-)Staat – Einkommenssteuer - und konstitutionelle Monarchie 7 Europa nach dem Wiener Kongress 1814/1815 8 Pax Britannica (international) • nach 1815 war GB politisch und ökonomisch führende Kraft: enorme Industrieproduktion • Kontrolle der internationalen Handelswege (durch die britische Flotte): Kolonialismus • Übergang zur liberalen Außenwirtschaftspolitik seit den 1830er Jahren: Freihandel • Verallgemeinerung und Erzwingung des Wirtschaftsliberalismus • ausführlich im Text: umfassende internationale Wirtschaftskooperation; IPR, Freihandelsabkommen --auch in Wirtschaftskrise ab 1873! (wie in 1970er Jahren) • Diplomatie: balance of power auf Kontinent • 100 Jahre keine größeren Kriege in Europa (Ausnahmen: 185356 Krimkrieg Osman.Reich/GB/Frkr gegen Russland, 1859 FrankreichÖsterreich, 1865 Preußen-Österreich, 1870 Frankreich-Preußen) 9 Krise von 1873- 1896 • erste „moderne“ Krise: Great Depression (sinkende Preise und Profite trotz steigender Produktion), aufkommender Protektionismus ab 1870 • Vormachtstellung GB infrage gestellt • aufholende Mächte wollen auch Kolonien (u.a. zur Krisenlösung) 10 Krisenbearbeitung Æ „Lösung“ der Krise: Kolonialismus, rassistisch konnotierter Nationalismus Æ imperiale Expansion Æ Berliner Kongo-Konferenz 1884/85 Æ GB förderte im Aufstieg multilaterale Politik 11 Kongo-Konferenz/Berliner Konferenz • Ausgangspunkt „Wettlauf um Afrika“ • Aufteilung Afrikas um „den Frieden zwischen den Europäern“ zu wahren • Unternehmensinteressen setzten sich durch – Handelsfreiheit in weiten Regionen Afrikas – Freigabe wichtiger Flüsse für die Schifffahrt • Ursprünge der Kartografie des heutigen Afrikas 12 Aufteilung Afrikas nach der Kongokonferenz (Stand 1914) Weitere Karten finden sie im Internet, sehen Sie sich ein bisschen um! Bildquelle: http://history.howstuffworks.com/african-history/history-of-africa4.htm 13 Das Zeitalter des Imperialismus • • • • • • • Konkurrenz um billige Rohstofflieferanten (imperialistische Konkurrenz) Erschließung neuer Absatzmärkte (Kolonien) ökonomische Innovationen in den USA und Deutschland neue Leitsektoren: Chemieindustrie, Elektroenergie, Automobilindustrie Aufschwung der Arbeiterbewegung (Cecil Rhodes) Expansion der Staatstätigkeit Militärische Aufrüstung Erosion der britischen Hegemonie Imperiale Konkurrenz mündet in Ersten Weltkrieg Æ Zeitalter der Katastrophen 14 Der Große Krieg 1914-1918 • Auslöser: 28.6.1914 - Ermordung des österr.-ungar. Thronfolgers Franz-Ferdinand, Sophie in Sarajewo; Kriegserklärung an Serbien • Grund: Aufkündigung des Mächtegleichgewichts durch Deutschland; imperialistische Spannungen, Kampf um Kolonien, Absatzmärkte, Einfluss --- Rüstungswettlauf • ab 1871 Reichsgründung – Industrialisierungsschub in Deutschland; überflügelte UK --- „Platz an der Sonne“ • Nationalismus als starke Ideologie; einschneidende Erfahrung: Zustimmung der SPD zu Kriegskrediten • Mobilmachung / Krieg ab August Deutschland und ÖsterreichUngarn (mit Osmanischem Reich und Bulgarien) gegen Frankreich, UK, Russland (mit Serbien u.a.); aber auch auf den Meeren, in Kolonien, im Nahen Osten – Mobilisierung der Gesellschaft Æ zermürbender Stellungskrieg im Westen; neue Techniken (MG, Gas) Æ entscheidend: Kriegseintritt USA im April 1917 Æ Russland schloss mit Deutschland im März 1918 Frieden von BrestLitowsk 15 Opfer (genaue Zahlen schwierig wegen Spätfolgen durch Gas) • 9 Mio. tote Soldaten, ca. 20 Mio. Verwundete • Bei Kriegsende in Deutschland 2,7 Mio. psychisch oder physisch geschädigte • Zwischen 6,6 und 8 Mio. Soldaten gerieten während des Ersten Weltkriegs in Gefangenschaft; 2,5 Millionen Menschen aus 13 Staaten gerieten in deutsche Kriegsgefangenschaft Deutsches Historisches Museum 16 Zweites einschneidendes Ereignis: Oktoberrevolution • • • • • • • Liberale Februarrevolution 1917; Abdankung des Zaren; blieb schwach, da sie Krieg nicht beendete, soziale und politische Probleme nicht anging starke Arbeiter- und Soldatenräte als Parallelregierung Bolschewistische Fraktion der Sozialdemokratischen Partei unter Lenin als einzige für Frieden; Politisierung der Arbeiter- und Soldatenräte (in Peterburg, Moskau u.a.) unter Führung der Bolschewiki (inzwischen eigene Partei; Bewaffnung); 25. Okt: Einnahme des Winterpalais, Sitz der Regierung in Petrograd November 1918: Wahl zur Verfassungsgebenden Versammlung; wurde aufgelöst, da Bolschewiki nur 25% der Stimmen Forderung der Bolschewiki : „Brot und Frieden“ (und Boden, ArbeiterInnen-Kontrolle); Demonstrationen im Jänner/Februar 1918 führten zum nachteiligen Frieden von Brest-Litowsk; wurde später zurückgenommen in Versailler Friedensverträgen 1918-1920: Bürgerkrieg, den rote Armee und Bolschewiki gewannen und festigten Macht in Russland (ab 1922: Sowjetunion) 17 Kampf um die Nachkriegsordnung dreifache Verunsicherung: 1. Friedensordnung: Pariser Verträge (Streitpunkt Reparationszahlungen) 2. Kampf um die Gesellschaftsordnung, Demokratisierung, starke ArbeiterInnenbewegung, sozialistisch – faschistisch; mit Russland/Sowjetunion reale Alternative 3. allmähliche wirtschaftliche Belebung, aber krisenhaft; keine Planbarkeit und Vertrauen 18 Kaffeehaus-Fragen • Beschreiben Sie den Aufstieg Großbritanniens zur Weltmacht? Was sind die Charakteristika der liberalkapitalistischen Entwicklungsweise? • Beschreiben Sie geopolitische Auswirkungen der KongoKonferenz • Was sind wichtige Merkmale des klassischen Imperialismus? 19 Fragen? 20 Literaturhinweise • Tscheke, Benno (2007): Mythos 1648. Klassen, Geopolitik und die Entstehung des europäischen Staatensystems; Münster: Westfälisches Dampfboot. • Hobsbawm, Eric (2009): Das Zeitalter der Extreme: Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts; München: Carl Hanser Verlag. • Bieling, Hans-Jürgen (2007): Internationale Politische Ökonomie. Eine Einführung; Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissenschaften. S. 55-82 21 Fortsetzung kommende Woche lesen Brand, Ulrich (2010): Internationale Politik; in: Sieder, Reinhard/Langthaler, Ernst (Hg.): Globalgeschichte 1800-2000. Wien: Böhlau Eine schönes Wochenende Ihnen allen! 22