Eifle kurze Reise durch 100 Jahre Ballettgeschichte

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Eine kurze Reise durch 100 Jahre Ballettgeschichte
Eine kurze Reise durch 100 Jahre Ballettgeschichte
Balanchine, Nurejew, Forsythe und Ek an der Pariser Oper
Veröffentlicht am 01.05.2008, von Julia Bührle
Paris - Wenige Ballettkompanien weltweit haben die Mittel, zwei große Theater gleichzeitig mit einem unterschiedlichen
Repertoire zu bespielen – zu diesen gehört das Ballett der Pariser Oper mit seinen derzeit 150 Tänzern, die regelmäßig in zwei
verschiedenen Programmen auf die beiden Pariser Opernhäuser Palais Garnier und Opéra Bastille verteilt werden. Oft bietet
diese simultane Bespielung Möglichkeiten zu interessanten Vergleichen – wie auch in diesem April, in dem sich die Kompanie
einigen Klassikern des 20. Jahrhunderts widmet.
„Balanchine/ Nurejew/ Forsythe“ lautet der Titel des ersten Abends in der Opéra Bastille – dieser verschweigt allerdings den
Namen eines weiteren Mannes, der hinter und in allen gezeigten Choreographien steckt: Marius Petipa. Die Tradition des
gebürtigen Marseillers, der in St. Petersburg in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Ballettgeschichte schrieb, wurde durch
einige Ausschnitte aus dem ersten und dritten Akt von Rudolf Nurejews 1983 für das Ballett der Pariser Oper geschaffenen
Fassung von Petipas 1898 uraufgeführter letzter Großproduktion „Raymonda“ repräsentiert. Wie bei vielen seiner Neufassungen
von Petipa-Klassikern stärkte Nurejew die männlichen Parts und schuf Variationen, die ihren Interpreten höchste technische
Virtuosität abverlangen – dies wurde selbst in dieser verkürzten Version deutlich, etwa in der Variation der Henriette, dem Pas de
Quatre für vier Männer oder dem von Nurejew hinzugefügten Duo von Bernard und Béranger. Die Tänzer des Balletts der Pariser
Oper meisterten die technischen Schwierigkeiten der Choreografie größtenteils souverän, vor allem die elegante Delphine
Moussin und Dorothée Gilbert in ihren mit endlosen Serien von relevés gespickten Variationen der Raymonda und der Henriette.
Dennoch wirkten die Ausschnitte vor dem auf einige Kronleuchter reduzierten Bühnenbild etwas verloren, zumal sie ohne Pause auf
Balanchines in sich geschlossene „Vier Temperamente“ folgten. Wunderbar klingt hingegen die von Vello Pähn hingebungsvoll
dirigierte Musik von Alexandre Glazunov.
George Balanchines „Die vier Temperamente“ zu Musik von Paul Hindemith zeigte, wie man ganz anders als Rudolf Nurejew mit
dem klassischen Erbe umgehen kann, wenn auch beide den reinen Tanz stärker in den Vordergrund rücken als Petipa – eine
Parallele, die durch den Wegfall des narrativen Kontexts von „Raymonda“ noch unterstrichen wurde. Bühnenbild und Kostüme
reduzierte Balanchine einige Jahre nach der Uraufführung auf ein Minimum, das zugleich maximale Sichtbarkeit garantiert, so
dass jede Bewegung der Köpfe, Füße oder Fingerspitzen wie durch ein Vergrößerungsglas wahrgenommen wird. Zwar hat man
das Stück in dieser Kompanie schon glanzvoller getanzt gesehen, doch gab es einige interessante Rollendebüts (wie das von
Mathieu Ganio, subtil und präzise in „phlegmatisch“), und auch Alessio Carbone überzeugte in „sanguinisch“ durch ein
erfrischendes Solo. Der Abend endete mit „Artifact Suite“, einer von William Forsythe 2005 geschaffenen Kurzfassung seines
1984 geschaffenen Stückes „Artifact“. In diesem Werk, in dem eine Art Ballettmeisterin einer homogenen Schar von Tänzern
einfache Grundbewegungen vorgibt und sie diese ad infinitum wiederholen lässt, werden die Mittel des klassischen Tanzes sowie
das Erbe Petipas und auch Balanchines weiterentwickelt, ins Extrem getrieben und in Frage gestellt. Die sehr spärliche
Beleuchtung, der im ersten Teil immer wieder guillotinenähnlich fallende Vorhang, die dumpf-bedrohliche Klavierkomposition von
Eva Crossmann-Hecht im zweiten Teil sowie das plötzliche spurlose Verschwinden von zwei der vier Tänzer, die als einzige aus
der immer dichter werdenden Masse des Corps de Ballet ausbrechen, schaffen eine beunruhigende Atmosphäre und rufen düstere
Assoziationen hervor. Forsythe lenkt hier die Gruppen mit atemberaubender Präzision und formiert die Tänzer zu immer neuen
lebenden bewegten Bildern, die trotz des nahezu brutalen Gesamteindrucks – am Ende scheint die Ballettmeisterin beinahe dem
Wahnsinn zu verfallen, und das Menschenkorps rollt roboterähnlich unter hämmernder Musik auf die Zuschauer zu – oft von
bestechender Schönheit sind. Die Hingabe der Tänzer ist spür- und sichtbar, und so bezwingt nicht nur das Corps die
Schwierigkeiten von Timing und Positionierung, sondern auch die beiden Solistenpaare (Eleonora Abbagnato und Benjamin Pech
sowie Myriam Ould-Braham und Christophe Duquenne) tanzen, als hinge ihr Leben davon ab.
Der zweite Ballettabend im Palais Garnier ist dem schwedischen Choreographen Mats Ek gewidmet und besteht aus zwei
Neuzugängen zum Pariser Repertoire, dem 1978 kreierten Werk „Bernarda Albas Haus“ – eine choreografische Umsetzung von
Federico Garcia Lorcas gleichnamigem Theaterstück aus dem Jahr 1936 –, sowie dem abstrakten, 1994 entstandenen „A Sort
of…“. Ähnlich wie William Forsythe oder Georges Balanchine hat Mats Ek ein ganz eigenes Bewegungsvokabular geschaffen;
wie Nurejew oder Balanchine hat er Petipa-Klassiker wie „Dornröschen“ oder „Schwanensee“ adaptiert. Doch anders als bei
diesen scheinen sich bei Mats Ek die Figuren in einer surrealistischen Ausbruchstimmung oft nicht nur von den Zwängen ihrer
Umgebung, sondern auch von den rigorosen Formen der klassischen Technik befreien zu wollen, beispielsweise seine mit
angezogenen Knien barfuss hüpfende und wild mit den Armen fuchtelnde Giselle.
Dies gilt auch für die – wie Giselle an diesem Versuch scheiternde – jüngste Schwester in „Bernarda Albas Haus“, deren
Lebenswille von ihren vier harpyienähnlichen Schwestern sowie ihrer verhärmten, tyrannischen Mutter (brillant zweideutig
interpretiert von Manuel Legris) vernichtet wird. Nichts bleibt hier mehr von der aufrechten Haltung und den gestreckten Gliedern
des klassischen Tanzes, wenn Stéphane Bullion als junger Mann beim Anblick seiner Geliebten wie von Elektroschocks geschüttelt
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wird, diese bei seinem Verlust gekrümmt wie ein Frosch davonhüpft oder die Schwestern sich beim Zorn Bernardas in einem
Knäuel unter dem Tisch zusammenkauern. Mats Ek fängt die erstickende Atmosphäre des Stückes sowie die innere Vertrocknung
und Zerrissenheit der Protagonisten gekonnt ein – gewiss gibt es einige Längen in den zermürbenden Familienszenen und den
frustrierten Soli der brüllenden und fluchenden Frauen, doch erzählt der Choreograph Lorcas Eifersuchtsdrama verständlich und mit
psychologischer Einsicht. Dabei wird er von engagierten Interpreten unterstützt, vor allem Laetitia Pujol als ältester Schwester,
Charlotte Ranson als jüngster Schwester und der strahlenden Marie-Agnès Gillot als Dienerin, die vergeblich versucht, letzte
Funken der Humanität in Bernarda zu entfachen.
Viel bunter und leichtfüßiger geht es im zweiten Stück des Abends zu: „A Sort of…“ kreiert seine eigene surrealistische Welt
zwischen Traum, Täuschung und Realität, in der nicht nur die Melone eines eigenwilligen Passanten an Magritte erinnert. Wie
häufig bei Mats Ek schreien, reden und grimassieren die Tänzer, folgen ihren Impulsen entgegen gesellschaftlicher Codes,
tauschen Rollen und Accessoires und verstricken sich durch immer neue Formen der Annäherung in innige oder problematische
Paarungen. Besonders die Männerrollen waren an diesem Abend stark besetzt mit Nicolas Le Riche, Benjamin Pech und einem im
Corps de Ballet herausragenden Josua Hoffalt, doch sorgte auch die wundervolle Miteki Kudo in ihrem Pas de Deux mit Benjamin
Pech für poetische Momente. Angesichts des Elans, mit dem sich die Pariser Tänzer in die Choreografien Mats Eks stürzen, freut
man sich schon auf die hoffentlich baldige Wiederaufnahme der anderen Repertoirestücke „Giselle“ und „Apartment“.
Besuchte Vorstellungen: 21.4.08 und 26.4.08 www.operadeparis.fr
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