Die naturalistische Matrix* 1 Einleitung Im Jahr 1922 veröffentlichte Roy Wood Sellars das heute größtenteils vergessene Buch Evolutionary Naturalism. Auf der ersten Seite sagt Sellars: „[W]e are all naturalists now.“1. 2013 veröffentlichten David Bourget und David Chalmers – die Gründer der philosophischen Datenbank „philpapers“ – eine umfangreiche soziologische Studie, in der sie 1,972 professionelle Philosophen2 zu zentralen Streitpunkten in zeitgenössischen philosophischen Debatten gefragt haben. Die Frage „Naturalism or non-naturalism?“ haben die Philosophen in folgender Verteilung beantwortet: Für den Naturalismus haben sich 49,8 % und für den Nicht-Naturalismus 25,9 % ausgesprochen (Rest: 24,3 %)3. Sellars’ Behauptung – würde man sie in die heutige Zeit setzen – kann man nun vor dem Hintergrund dieser Ergebnisse einfach für falsch erklären, andererseits jedoch ist keineswegs klar, ob Sellars mit „Naturalismus“ dasselbe gemeint hat wie die Antwortenden. Wenn Sellars’ Behauptung heutzutage wahr ist, dann liegt es wohl daran, dass der in dieser Behauptung verwendete Naturalismusbegriff eine so breite Extension aufweist, dass die Verwendung und Analyse desselben nichts überraschendes oder interessantes ans Licht bringt. Ich glaube jedoch, dass die Auskunft einer Philosophin, sie verfolge ein naturalistisches Programm bzw. sie sei eine Naturalistin keineswegs trivial oder witzlos ist. Ich glaube weiterhin, dass den philosophischen Debatten, in denen der Naturalismus mitzureden hat oder in denen man über ihn redet, ein Verständnis von „Naturalismus“ (und den Verwandten Verwendungen wie „naturalistisch“, „Naturalisierung“ usw.) zugrunde liegt. Ich gehe davon aus, dass die Explikation dieser Grundlage ein besseres Verständnis generieren kann, von dem, was der zeitgenössische philosophische Naturalismus ist. Durch die eingangs gemachten Überlegungen wird nun sichtbar, dass solch eine Charakterisierung mindestens zwei wenig verblüffende Desiderata erfüllen sollte: Zum einen sollte sie der offensichtlichen und durch Chalmers’ und Bourgets Studie gestützten Tatsache Rechnung tragen, dass Philosophen – kontra Sellars – im heutigen philosophischen Diskurs als Naturalisten und als Nicht-Naturalisten behandelt werden. Sie sollte also eng genug sein, um einen Erkenntnisgewinn zu generieren. Andererseits sollte sie diejenigen, die in diesem Diskurs als Naturalisten oder als Nicht-Naturalisten behandelt werden auch als solche behandeln. M.a.W.: Sie sollte extensional angemessen sein. Ein Verständnis des zeitgenössischen Naturalismus als Ganzes zu explizieren, das beide Desiderata berücksichtigt, ist Ziel dieser Arbeit4. * Unveröffentlichtes Manuskript – Nicht ohne eine ausdrückliche Erlaubnis des Autors zitieren oder kopieren! 1 Sellars 1922, i – zitiert nach: Koppelberg 2000, 68. 2 Die weibliche Form im Singular sowie die männliche im Plural stehen je repräsentativ für beide Geschlechter. 3 Vgl. Chalmers/Bourget 2013. 4 Ich werde die Diskussion aus systematischer Perspektive führen. Damit soll nicht gesagt sein, dass die systematische Philosophie sinnvoll und die Philosophiegeschichte sinnlos ist und keineswegs soll damit auch nur suggeriert werden, dass ich die Philosophiegeschichte vollkommen isolieren will von der systematischen Arbeit. Worum es mir hier geht, ist bloß, dass ich mich nicht auf einen Längsschnitt der naturalistischen Bewegung konzentriere. Zur Geschichte des Naturalismus innerhalb einer kritischen und systematischen Darstellung: Vgl. Keil 1993, 22171. V.a. der zweite Teil gibt einen guten Überblick. 1 In der heutigen Bildungssprache gehört es anscheinend zum guten Ton, jede Denkweise, jedes Weltbild und jede wissenschaftliche Bewegung zu einem Paradigma zu ernennen. So war es wahrscheinlich nur eine Frage der Zeit, bis diese in höchstem Maß inflationären Redeweisen jemanden auf die Idee brachten, den philosophischen „Naturalismus als Paradigma“5 zu postulieren. Soll dieser Slogan nicht bloß eine unreflektierte Plattitüde sein, muss zusätzlich zur Explikation von „Naturalismus“ auch erläutert werden, was man unter „Paradigma“ verstanden wissen will – der alleinige Verweis auf Thomas Kuhns Wissenschaftstheorie wird dabei, wie es sich gleich zeigen wird, nicht ausreichen. Zu meinem Vorgehen: Im zweiten Teil dieses Textes werde ich eine zweistufige Charakterisierung des Naturalismus vorstellen, die von meiner Warte aus gesehen das etablierte Naturalismusverständnis innerhalb der philosophischen Debatten darstellt. In diesem ersten Schritt möchte ich auch erste Zweifel an dieses Verständnis herantragen, letztlich aufgeben werde ich es jedoch erst im vierten Teil. Die Entwicklung des Paradigmenbegriffs seit dem Postskriptum Kuhns in der zweiten Auflage seiner Monographie The Structure of The Scientific Revolutions (im Folgenden: „SSR“) und die damit einhergehende Klärung der „umherwuchernden“ Verwendungsweisen wird Aufgabe im dritten Teil dieser Arbeit sein. Den Naturalismus als Paradigma zu bezeichnen ist v.a. im akademischen Umfeld verführerisch. Dabei sucht man aber vergeblich nach einem Bezug auf Kuhn’sche Kategorien. Andrew Melnyk hat sich meines Wissens als einziger explizit mit dieser Idee auseinandergesetzt. Seinen Ansatz stelle ich im vierten Teil vor. Melnyk setzt sich aber nicht in gleicher Weise mit dem Paradigmenbegriff auseinander wie ich es vorhabe. Deswegen macht es Sinn, seinen Vorschlag im Lichte der im zweiten Teil erarbeiteten Begriffsentwicklung zu prüfen. Im Anschluss daran möchte ich einen Probesprung wagen – aber auch nicht mehr – und so die naturalistische Bewegung im Rückgriff auf Kuhn’sches Vokabular zu charakterisieren versuchen. Folgendes muss bedacht werden: Wenn es sich zeigen sollte, dass die naturalistische Bewegung sich der hier in Frage stehenden Charakterisierung entzieht, heißt es nicht, dass man von dem Versuch einer adäquaten Charakterisierung ablassen sollte. Es gibt weitere Gelegenheiten, solch einen Anspruch zu erfüllen, eine werde ich am Schluss dieser Arbeit ansprechen. 2 Das etablierte Naturalismusverständnis Wenn also eine Antwort auf die Frage, ob x eine Naturalistin ist, nicht trivial ist, liegt es nahe, nach einer Präzisierung der Position zu fragen. Hierbei eröffnet sich ein unüberschaubares Gebiet an etablierten Redeweisen sowie an Neologismen. Die folgenden vier Aufstellungen, die weit entfernt von einer erschöpfenden Darstellung sind, machen dieses Überangebot an Bezeichnungen deutlich: 1. Allein was die adjektivisch gebildeten Namen angeht, findet man in der Forschungsliteratur einen ganzen Ozean von Bezeichnungen, hier nur eine sehr kleine Auswahl6: Methodologischer 5 6 Honnefelder/Schmidt 2007. Vgl. Niquet 1991, Haack 1993, Koppelberg 2000, Papineau 2007, Keil 2007, Sinclair 2010 – „Ontologischer Naturalismus“ wird synonym mit „Metaphysischer Naturalismus“ verwendet. Für Methodologischen Naturalismus benutzt Geert Keil im Anschluss an Wilfried Sellars den Namen „Sciencia Mensura–Naturalis– mus“. 2 Naturalismus, Ontologischer N., Analytischer N., Epistemologischer N., Kooperativer N., Chauvinistischer N., Anthropozentrischer N., Sanfter N., Expansionistischer N., Reformistischer N., Aposteriorischer N., Szientistischer N., Revolutionärer N. 2. Viele Bezeichnungen aus der ersten Gruppe gehören einer bestimmten philosophischen Disziplin an. Ganz allgemein kann man wohl sagen, dass es die philosophisch–naturalistische Bewegung nicht gibt. Der Naturalismus überrollte die Philosophie nicht wie etwa der linguistic turn. Vielmehr haben sich in verschiedenen philosophischen Disziplinen naturalistische Projekte etabliert. Deswegen muss man zur Übersicht auch die Disziplinen wie Ontologie, Sprachphilosophie, Epistemologie, Ethik, Ästhetik, Philosophie des Sozialen usw. berücksichtigen. 3. Dass „Naturalismus“ ein sinnvoller Ausdruck zu sein scheint, wird auch dadurch deutlich, dass er ein semantisches Feld aufmacht, in dem v.a verschiedene Ismen zu finden sind, hier wieder nur eine kleine Auswahl: Physikalismus, Materialismus, Szientismus, Eliminativismus, Nicht-reduktiver Physikalismus, Naturalisierte Erkenntnistheorie, Behaviorismus, Empirismus. 4. Schließlich muss man annehmen, dass Positionen, die durch die Bezeichnungen aus der ersten und dritten Gruppe bezeichnet werden, mehr oder weniger bestimmte Untersuchungsgegenstände aufweisen. Zur Zeit sind folgende sehr gefragt: Normativität, Wissen, Moral, das Schöne, das Soziale usw.7 Das Unternehmen, eine Ordnung in diese unüberschaubare Namensvielfalt zu bringen, ist keineswegs hoffnungslos – das wird sich auch im Laufe dieser Arbeit zeigen. Schaut man sich die metatheoretischen Beiträge zur Naturalismusdebatte an, sieht man, dass v.a. der Methodologische und der Ontologische Naturalismus angesprochen werden, um einen Versuch zu unternehmen, die Gesamtbewegung zu charakterisieren8 9. Hier ist nicht der Platz, um alle Definitionen dieser zwei Formen aufzuführen oder zu besprechen10. Deswegen seien hier zwei – sozusagen zusammenfas7 Vielleicht ist es an dieser Stelle wichtig zu erwähnen, dass es zumindest keine 1–zu–1–Zuordnung zwischen den Elementen der einzelnen Gruppen gibt. Mag man bei Wissen noch dafür argumentieren, dass es Gegenstand der Erkenntnistheorie und der naturalisierten Erkenntnistheorie ist, weiß man nicht genau wie man beispielsweise die Normativität zuordnen kann. Denn nicht nur die Ethik oder Metaethik hat sie als Untersuchungsgegenstand, sondern auch die Erkenntnistheorie, die Semantik und womöglich viele andere Subdisziplinen. 8 Vgl. z.B. Vollmer 1994, Papineau 2007, Schmitt 2009, Schulte 2012 – Vollmer spricht von „inhaltlichen“ und „methodologischen Thesen“. Vielleicht ist mit „inhaltlichen Thesen“ der Ontologische Naturalismus gemeint, mir scheint aber, dass diese Wahl weniger hergeben wird als die Bezeichnung „Ontologischer Naturalismus“, deren genaue Bedeutung gleich zur Sprache kommt. 9 Manchmal findet man auch neben dem Ontologischen und Methodologischen Naturalismus auch den erkenntnistheoretischen als eine eigenständig auftretende Form vor – vgl. z.B. Smith/Sulliven 2011. Ich glaube allerdings, dass die Autoren diesen Naturalismus als eigenständige Form aufführen, da es ihnen um das epistemologische Verhältnis der Naturalismusbewegung zur Transzendentalphilosophie geht. Daher wird sie hier nicht als eine Form erachtet, die dafür gebraucht wird, den Naturalismus metatheoretisch zu charakterisieren. Größtenteils unerwähnt, aber dennoch vorhanden, ist der analytische Naturalismus als eine These über das zu verwendende Vokabular bzw. über Begriffsanalyse - vgl. Reuter 2003, 18-27, Keil 2007, 17-26, Koppelberg 2000, Schulte 2012. Der Status des Analytischen Naturalismus innerhalb der allgemeinen Charakterisierung der naturalistischen Bewegung ist aber alles andere als klar: Während z.B. Keil den Analytischen Naturalismus als Präzisierung des Methodologischen begreift und diesen als Ausarbeitung des Ontologischen – vgl. Keil 2007, 25f. –, ordnet Schulte den analytischen ausschließlich und explizit dem Ontologischen zu, wobei Schulte den analytischen nicht als Hauptform, sondern als eine Variante des Ontologischen ansieht – vgl. Schulte 2012, 25. Ich werde mich hier an Keil orientieren und den Analytischen als eine Unterkategorie des Methodologischen behandeln, sodass der erstere bei der Erwähnung des letzteren immer mitgemeint ist. 10 Für eine Übersicht: Vgl. Keil/Schnädelbach 2000. 3 sende – Definitionen aufgeführt, die aus meiner Sicht jedoch mit den in der Fachliteratur angetroffenen allesamt vereinbar sind. ONTOLOGISCHER NATURALISMUS Alle Ereignisse, Sachverhalte oder Entitäten haben ihren Ursprung in einer Natur – m.a.W. alles ist (eine) Natur METHODOLOGISCHER NATURALISMUS Der beste Weg zur Erklärung der Natur ist der Weg der Naturwissenschaften. Ich werde diesen Bestimmungsversuch fortan als „zweistufiges Verständnis“ bezeichnen. Offensichtlich ist, dass eine zu liberale Lesart von „Natur“ die erste These uninteressant macht. Noch schlimmer dabei ist jedoch, dass die These dann der Forderung nach extensionaler Angemessenheit nicht mehr genügen wird. Wenn etwa „Natur“ mit „Realität“ übersetzt wird, so fallen darunter auch diejenigen, gegen die sich die Naturalisten abwenden, denn auch Platon, Descartes und Kant haben in gewisser Weise eine Realität untersucht, selbst wenn die Annahme solcher Realitäten schwer begründbar ist. Daher ist „[d]er Naturalismus in der heutigen Bedeutung des Wortes [..] weniger ein Ismus der Natur als ein Ismus der Naturwissenschaften“11. Wenn man nun aber in den oberen Definitionen „Natur“ durch „Naturwissenschaften“ ersetzt, bleibt folgendes stehen: ONTOLOGISCHER NATURALISMUS Alle Ereignisse, Sachverhalte oder Entitäten haben ihren Ursprung in dem, worüber die Naturwissenschaften reden. METHODOLOGISCHER NATURALISMUS Der beste Weg zur Erklärung dessen, was die Naturwissenschaften sagen, ist der Weg der Naturwissenschaften. Kann man sich bei der ersten Definition noch vor der Trivialität bewahren, so ist die einzige Möglichkeit, sich bei der zweiten die, in Frage zu stellen, ob der Untersuchungsgegenstand der Naturwissenschaften am besten nicht durch naturwissenschaftliche Methoden untersucht oder durch naturwissenschaftliches Vokabular behandelt wird. Damit erwägt man eine Möglichkeit, die unsere wissenschaftliche Praxis untergräbt und mir fällt jetzt auch nicht ein, wie man überzeugend zeigen kann, dass etwa die Kultur- oder Sozialwissenschaften primär gegenüber den Naturwissenschaften sein können, wenn es um den epistemischen oder explanativen Zugang zu den Gegenständen naturwissenschaftlicher Forschung geht. Gegen die aufgeworfene Schwierigkeit lässt sich einwenden, sie tauche nur dadurch auf, dass die letztere Form derivativ zum Ontologischen Naturalismus charakterisiert wurde. Die Philosophin, die bestrebt ist, ihre naturalistische Position zu präzisieren, ist aber darauf keineswegs festgelegt. Sie kann zunächst bloß zu zeigen versuchen, dass sie eine methodologische Naturalistin ist. Setzt man einen sehr basalen Naturbegriff voraus, der nichts weiter besagt als dass es eine Welt gibt, die wir mit unseren Fähigkeiten untersuchen können, so wird dieser Begriff – obwohl für eine ontologische Charakterisierung zu schwach – gerade angemessen sein, um den methodo11 Keil/Schnädelbach 2000, 12 (Hervorhebungen im Original). Vgl. auch Keil 1993, 70. 4 logischen Naturalismus in seiner ursprünglichen (ersten, auf Seite 4) aufgeführten Form zu bestimmen.12 Nun kann aber der Ontologische Naturalismus nicht isoliert behandelt werden. Wie gesagt, kann der investierte basale Naturbegriff keine substantielle metaphysische These mit sich führen, denn der ontologische Anspruch besteht gerade in der Aufklärung über die Kategorien derjenigen Welt, die wir zu untersuchen beabsichtigen. Wenn die Philosophin also als ontologische Naturalistin metaphysische Thesen aufstellen will, dann werden sich diese vor dem Hintergrund der gezeigten Charakterisierung des methodologischen Naturalismus in Listen von Ergebnissen naturwissenschaftlicher Arbeit erschöpfen. Das ist prinzipiell keine unannehmbare Konsequenz, allein was aufgegeben werden muss, ist der Begriff des ontologischen Naturalismus als philosophischer Begriff, mit dem der Zweck erfüllt werden soll, die Naturalismusbewegung zu charakterisieren. Die Aufgabe von „Ontologischer Naturalismus“ als Mittel zur Bestimmung der Naturalismusbewegung lässt bereits jetzt vermuten, dass das in der heutigen Debatte etablierte zweistufige Verständnis unangemessen ist, denn nicht alle philosophischen Naturalismusprojekte erschöpfen sich in methodologischen. Doch selbst wenn man sich an dem zweistufigen Verständnis festbeißt, gibt es ein m.E. noch stärkeres Argument gegen solch eine Bestimmung: Dieses Argument hat mit dem zentralen Begriff der Naturwissenschaften zu tun. Wenn man die Charakterisierung wörtlich nimmt, dann wird sie extensional unangemessen. Das zeigt folgendes Beispiel aus der Epistemologie: Ausgehend von einer Analyse der in der Philosophie als naturalistisch anerkannten Erkenntnistheorie Quines entwickelt Susan Haack in ihrem Text ‚Naturalism Disambiguated‘ einen eigenen Ansatz, der viele Bausteine, die die Erkenntnistheorie Quines ausmachen, übernimmt. Haack beginnt damit, dass sie fünf in der Debatte der Epistemologie als naturalistisch behandelten Positionierungsmöglichkeiten anführt, die sie aus dieser Debatte deskriptiv gewonnen hat. Folgende Möglichkeiten führt sie auf: „(1) an extension of the term ‘epistemology‘ to refer not only to the philosophical theory of knowledge, but also to natural-scientific of cognition. (2) the proposal that epistemology be reconstrued as the philosophical component of a joint enterprise with the sciences of cognition, in which the questions about human knowledge tackled by philosophy will be extended to include new problem areas suggested by natural-scientific work (3) the thesis that traditional problems of epistemology can be resolved a posteriori, within the web of empirical belief (4) the thesis that traditional problems of epistemology can be resolved by the natural science of cognition (5) the thesis that traditional problems of epistemology are illegitimate or misconceived, and should be abandoned, to be replaced by natural-scientific questions about human cognition“13 14. 12 Einen ähnlichen Versuch kann man in den frühen Begründungen des Naturalismus der vierziger Jahre in Amerika finden. Für einen Überblick dazu: Vgl. Keil 1993, 24f. 13 Haack 1993, 167f. 14 Je nachdem also, wie wohlgesonnen man gegenüber traditionellen epistemologischen Problemen steht, entscheidet sich, wie stark die These ist, die man vertritt. Deswegen haben andere Autoren den erkenntnistheoretischen Naturalismus in einen gemäßigten und einen radikalen aufgeteilt – vgl. Flonta 2000 und die dort zitierte Literatur. Damit wird Haacks Kategorisierung auf einer allgemeineren Ebene bestätigt. 5 Dabei macht Haack folgende Klassifizierungen: Die Thesen (1) und (2) bilden den Expansionistischen Naturalismus, (3) und (4) den Reformistischen und (5) den Revolutionären Naturalismus. Weiterhin gilt, dass (3) den Aposteriorischen und (4) und (5) den Szientistischen Naturalismus bilden. Im Anschluss an die deskriptive Unterscheidung kommt Haack in ihrer Analyse der Quine’schen Erkenntnistheorie zu dem folgenden Schluss: „Quine uses the term ‘science‘ ambiguously, sometimes in the usual sense, to refer to those disciplines ordinarly classified as sciences, sometimes in a broder sense, to refer to our presumed empirical knowledge, generally.“15. Aus dieser Ambiguität folge – so Haack –, dass Quine in seinem Naturalismus inkonsequent wird, denn einerseits scheint er einen reformistisch–aposteriorischen Naturalismus und andererseits einen szientistisch–revolutionären zu verfolgen. Auf der Basis dieser Analyse argumentiert Haack anschließend sowohl gegen einen im Anspruch umfassenden reformistischen als auch gegen einen revolutionären Naturalismus – sei dieser umfassend oder nur partiell. Damit kommt sie bei ihrer Position an, einem reformistisch–aposteriorischen Naturalismus, der jedoch nicht so umfassend sein soll wie der Quines. Damit reiht sie sich ein in das naturalistische Positionierungsspektrum, das sie deskriptiv gewonnen hat. Ganz unabhängig davon, ob ihre Argumentation für die eigene Position überzeugend ist, zeigt diese Arbeit mit Blick auf das zweistufige Verständnis, dass es solch eine als naturalistisch behandelte Position nicht berücksichtigt, d.h. die zweistufige Charakterisierung ist extensional nicht angemessen. Trotz dieser Zweifel an dem zweistufigen Verständnis, wird es im 4. Teil noch einmal eher implizit Thema sein, da Andrew Melnyk in seinem Bestreben, den Philosophischen Naturalismus zu charakterisieren, diesem Verständnis verhaftet bleibt. U.a. das wird auch dazu führen, dass Melnyks Vorschlag m. E. als ergänzungswürdig ausgewiesen werden muss. Um das jedoch zu zeigen, muss zuvor der ehemals Kuhn’sche Begriff des Paradigmas entwickelt werden, diesem Vorhaben wende ich mich nun zu. 3 Der (nicht mehr) Kuhn’sche Paradigmenbegriff Kuhn selbst hat im Rückgriff auf eine Beobachtung von Margaret Masterman auf die im hohen Grad mehrdeutige Verwendung von „Paradigma“ in SSR hingewiesen16. Masterman spricht davon, dass bis zu 21 verschiedene Bedeutungen im Buch ausfindig gemacht werden können17. V.a. mit seinem „Postscript“, das 1969 mit der zweiten Auflage von SSR erschienen ist sowie mit weiteren Texten18 erstrebte Kuhn eine Klärung seiner Verwendungen dieses Ausdrucks und eine Verbesserung seiner ganzen Untersuchung. Ich werde darauf verzichten, meine Auseinandersetzung mit der Mehrdeutigkeit von „Paradigma“ in den Gesamtkontext der Kuhn’schen Untersuchung einzubetten. Stattdessen beginne ich bei dem Klärungsversuch Kuhns im Postskriptum. Vorher möchte ich aber weitere Quellen für die Mehrdeutigkeit dieses Ausdrucks aufzeigen. 15 Ebd., 171. Vgl. auch die Zitate Quines auf S. 170 und 173ff. Kuhn 1962, 181. 17 Masterman 1970, 61ff. Ich thematisiere die Frage, ob Masterman mit dieser Behauptung Recht hat, nicht. Widerstand gegen diese Sicht hat Hoyningen–Huene geleistet: Vgl. Hoyningen–Huene 1989, 143. 18 Vgl. Kuhn 1970a und Kuhn 1970b 16 6 Trotz der Beobachtung von Masterman ist das Verständnis von „Paradigma“ als leitende „Forschungseinheit“19 für Kuhns Gesamtuntersuchung am relevantesten. Und etwa in dieser Verwendung nahm der Ausdruck seinen Platz im heutigen bildungssprachlichen Standardvokabular ein. Doch neben der immensen Häufigkeit, mit der der Ausdruck gebraucht wird, kann man außerdem feststellen, dass sich die Bedeutung desselben zwar in viele Richtungen aber größtenteils von der ursprünglichen Kuhn’schen Bedeutung entfernt. Zwei Beispiele, die zeigen, dass diese Bewegung sowohl in den Natur- als auch in den Geisteswissenschaften existiert, machen das deutlich. 1. Beispiel: In der Allgemeinen Linguistik existiert seit Dekaden der Trend, Chomskys Generativer Grammatik revolutionäre Kräfte zuzuschreiben20 und sie mit dem Charakter eines Paradigmas zu versehen21. Obwohl es nahe liegt, Chomskys Konzeption als revolutionär zu bezeichnen, wenn man sich die destruktiven Konsequenzen vergegenwärtigt, die Chomskys Arbeit für behavioristische (Psycho)Linguisten wie Bloomfield oder Skinner hatte, kann dieser Paradigmenbegriff offensichtlich gleich aus mehren Gründen nicht der sein, der für Kuhns Untersuchung zentral war. Zieht man tentativ das Kuhn’sche Programm konsequent durch, wird klar, dass die Generative Grammatik nicht einmal hinsichtlich der Grammatiktheorien forschungsleitend ist oder gar war, geschweige denn mit Blick auf die gesamte Linguistik22. Außerdem hat Chomsky selbst darauf hingewiesen, dass es lange vor seiner vermeintlich revolutionären Arbeit erfolgreiche nativistische Theorien – z.B. zum Spracherwerb – gab23. Nichtsdestotrotz wird die Generative Grammatik auch weiterhin in der Linguistik als „Paradigma“ bezeichnet. 2. Beispiel: Einen anders gelagerten Fall kann man in letzter Zeit in der Biologie ausfindig machen. Seit der Jahrtausendwende wird in der Biologie diskutiert, ob der Wechsel von einer reduktionistischen Sicht zur systembiologischen Sicht einen Paradigmenwechsel dargestellt hat. In der reduktionistischen Biologie bestand das Bemühen v.a. darin, Untersuchungen komplexer Organismen einer theoretischen, methodologischen oder metaphysischen Reduktion zu unterziehen24. Dagegen geht es in der Systembiologie eher darum, die Struktur und Dynamik verschiedener Systeme zu modellieren, wobei die reduktionistischen Versuche entweder ausgeblendet oder als defizitär betrachtet werden. Die Systembiologie weist wesentliche Merkmale eines Kuhn’schen Paradigmas (verstanden als forschungsleitende Einheit) auf: Sie kann auf jeder Ebene einer genuin biologischen Untersuchung angewandt werden – sei es auf der ökologischen oder zellularen. Des Weiteren verdankte die Systembiologie ihren Erfolg nicht zuletzt den Entwicklungen in der Bioinformatik25, d.h. nicht primär den intrinsischen Anstrengungen. Die Schwierigkeit liegt nun darin, dass die Biologie bereits ein Paradigma besitzt. 19 Detel 2007, 129. Vgl. Linke/Nussbaumer/Portmann 2004, 98. 21 Für eine eher vorsichtige (weil konditionierte) Sicht mit einem expliziten Bezug auf Kuhn: Vgl. Matthews 1974, 216. 22 Vgl. Percival 1976, 289ff. 23 Vgl. Chomsky 1991. 24 Vgl. Marcum 2008, 587f. 25 Vgl. Campbell/Reece/Urry (u.a.) 1997, 575, vgl. dazu Kuhns Beispiel in SSR auf S. 181. 20 7 Denn darüber, dass die „Evolution, der große, die gesamte Biologie überspannende Bogen [...] das Zentralthema der Biologie“26 ist, herrscht ein – wohl absoluter – Konsens27. Die zwei gerade dargestellten Beispiele28 zeigen, dass trotz Kuhns Bemühungen um eine Klärung des Paradigmenbegriffs, es keineswegs deutlich sein muss, was damit gemeint ist, wenn man von „Paradigma“ spricht. Deswegen ist die Erarbeitung eines Paradigmenbegriffs, der möglichst klar ist, für das Bestreben, die naturalistische Bewegung zu charakterisieren, nötig. Kuhn versuchte der Kritik wie sie u.a. von Masterman geäußert wurde einerseits dadurch zu entgehen, dass er einige Bedeutungen fallen ließ29 und andererseits dadurch, dass er das, was ich bisher Forschungseinheit genannt habe, auf verschiedene Aspekte aufteilte. In seinem Postskriptum zur zweiten Auflage von SSR unterscheidet er dementsprechend folgende Bedeutungen des Wortes. Erstens: „[T]he term ‚paradigm’ stands for the entire constellation of beliefs, values, techniques, and so on shared by the members of a given constellation.“ (175)30. Diese Konstellation bezeichnet Kuhn fortan als „disciplinary matrix“ (182)31 (im Folgenden: DM). Zweitens: „[I]t [d.h. der Ausdruck „paradigm“] denotes one sort of element in that constellation, the concrete puzzle-solutions“ (175). In der Zeit der starken Diskussion von SSR wurden die Bestandteile einer DM besonders beleuchtet und es erscheint als lohnenswert, diese Diskussion seit dem Postskriptum hier kurz zu skizzieren. Neben den Musterbeispielen nennt Kuhn als weitere Hauptelemente der DM symbolische Verallgemeinerungen, ontologische32 oder heuristische Modelle (metaphysisches Paradigma) und Werte. Disziplinäre Matrix ・ symbolische Verallgemeinerungen ・ metaphysisches Paradigma „Paradigma“ ・ Werte ・ Musterbeispiele 26 Campbell/Reece/Urry (u.a.) 1997, 3. Vgl. ebd. Zwar impliziert dieses Zitat noch nicht, dass es in der Biologie einen Konsens hinsichtlich des Paradigmencharakters der Evolutionstheorie gibt. Die Praxis der Biologen aber lässt nichts anderes vermuten; vgl. auch das Zitat von Dobzhansky auf S. 16 der angegebenen Ausgabe. 28 Zu weiteren Verwendungsweisen in verschiedenen (Geistes- und Sozial-)Wissenschaften: Vgl. Rose 2004, 31f. 29 Wie z.B. die, dass „Paradigma“ sich auf ein klassisches Werk wie die Principia bezieht (Mastermans vierte Bedeutung) – vgl. Kuhn 1970a, 417. 30 Hier und im Folgenden beziehen sich die Angaben in Klammern direkt hinter dem Zitat auf: Kuhn 1962. 31 In der deutschen Übersetzung von SSR wird stattdessen fälschlicherweise von „disziplinärem System“ gesprochen (S. 194 der dt. Ausgabe). 32 Kuhn spricht weder im Original noch in der deutschen Übersetzung von „Ontologie“, sondern von „metaphysical paradigm“ (184). Abgesehen davon, dass Kuhn hier verwirrenderweise eine dritte Bedeutung von „Paradigma“ ins Spiel bringt, entsteht weiterhin das Problem, dass unter „Metaphysik“ sowohl eine Disziplin über die Welt als auch das System dessen, was existiert selbst, verstanden werden kann. M.E. liegt es näher, davon auszugehen, dass Kuhn eher das zweit- als das erstgenannte gemeint hat, dies soll „Ontologie“ markieren. 27 8 Abb. 1: Die Bedeutungen von „Paradigma“ Bei den symbolischen Verallgemeinerungen handelt es sich um symbolisierte allquantifizierte oder generische Aussagen wie „F = ma“ oder „Bären halten Winterruhe.“33. Diese Verallgemeinerungen werden innerhalb einer Forschungsgemeinschaft, die v.a. durch die gemeinsame Ausbildung sowie Fachliteratur individuierbar sein soll, allgemein akzeptiert (vgl. 183) und angewendet. Außerdem weisen sie für eine solche Gemeinschaft eine Vielfalt von Funktionen auf: „Like f = ma or I = V/R, they function in part as laws but also in part as definitions of some symbols they deploy.“ (183). Nun hätten solche Sätze jedoch nur wenig empirischen Gehalt (little empirical content) und sind in dieser Form eigentlich nicht anwendbar: „Sie [d.h. die Formeln] sind weniger Verallgemeinerungen als Skizzen von solchen, deren konkreter symbolischer Ausdruck von einer Verwendung zur anderen wechselt. Für das Problem des freien Falls wird k=mb [d.h. F = ma] zu mg = md2s/dt2, für das einfache Pendel zu mgsin Θ = -md2s/dt2.“34. Erst die von Kuhn vorgeführte Interpretation dieser Skizzen versetzt Wissenschaftler in die Lage, solche Verallgemeinerungen auf einen gegebenen Problembereich anzuwenden. Der Name der zweiten Grundkomponente lädt v.a. durch seine disjunktive Natur zu einem Missverständnis ein, denn eine Forschergemeinschaft muss sich nach Kuhn nicht zwischen einem ontologischen Modell oder einem heuristischen entscheiden. Z.B. kann eine Physiker– Gemeinschaft mehr oder weniger tolerant sein, wenn sie für die Beschreibung der Bahnen der Elektronen um einen Atomkern die Schalenmetapher verwendet oder (vielleicht) genauer von Elektronenwolken reden. Durch ihren ontologischen oder heuristischen Charakter „they help determine what will be accepted as an explanation [...] they assist in the determination of the roster of unsolved puzzles and in the evaluation of the importance of each.“ (184). Interessanterweise geht Kuhn davon aus, dass eine wissenschaftliche Gemeinschaft auch ohne eine einheitliche Ontologie bzw. Heuristik funktionieren könne und dass dieses Fehlen sie nicht in eine vor–paradigmatische Zeit werfen würde35. Kuhn sagt über die Musterbeispiele, sie seien „the central element of [...] the most novel and least understood aspect“ (187) von SSR. Die Wichtigkeit dieser Musterbeispiele erklärt Kuhn durch die Demonstration einer typischen Ausbildung von Naturwissenschaftlern. Hier zeigt sich – und dies wird gleich noch einmal zentral sein – zum ersten Mal eine systematische Stellungnahme zum Verhältnis der einzelnen Bestandteile der DM: Zwar würden die Studenten in ihrer Ausbildung zuerst die symbolischen Verallgemeinerungen lernen, diese hätten jedoch nur wenig empirischen Gehalt (little empirical content) (vgl. 188). Um mit den symbolischen Verallgemeinerungen nach dem Ethos der Forschergemeinschaft arbeiten zu können, d.h. die Verallgemeinerungen durch eine kreative Weise auf verschiedene und womöglich noch nie 33 Welchen Status generische Aussagen haben ist v.a. in der Sprachphilosophie der letzten Dekade umstritten. Die Frage ist primär, ob eine generische Aussageform sich auf die klassischen Formen – etwa auf die allquantifizierende – reduzieren lässt. Dieser Streitpunkt ist hier jedoch sekundär. 34 Kuhn 1970a, S. 395. 35 Vgl. Kuhn 1970b, 255. Vgl. dazu auch Musgrave 1971, 42f. sowie Hoyningen-Huene 1989, 148. 9 dagewesene Problemfälle anzuwenden, muss die Studentin die Fähigkeit entwickeln, die Probleme, vor der sie gestellt wird, in jener Weise zu sehen (to see...as like) wie diejenigen Fälle, die sie bereits (erfolgreich) gelöst hat. Erst das Bewusstsein über diese Ähnlichkeitsbeziehungen versetzen sie in die Lage, die Verallgemeinerungen aufzustellen. Die Musterlösungen als Analogiespender sind für Kuhn besonders wichtig für die Abgrenzung von expliziten Handlungsanweisungen innerhalb einer Forschergemeinschaft: Kuhn geht nämlich davon, aus dass die Praxis solch einer Gemeinschaft nicht allein durch explizite Regeln beschrieben bzw. erklärt werden kann. Wenn das DM–Modell einen explanativen Gewinn erbringen soll, muss gezeigt werden, was die einzelnen Komponente zu einer Einheit macht, d.h. welche Verhältnisse zwischen ihnen bestehen36. Musterlösungen weisen zwei Aspekte auf: Einerseits lösen sie ein bestehendes Problem (p1) (oder eine nicht unbedingt bestimmte Menge nicht unbedingt bestimmter Probleme). Andererseits ermöglichen sie die weitergehende Forschung, d.h. v.a. die Lösung weiterer Probleme (p2, p3, ..., pn) und die Bewertung von ganzen Theorien im Hinblick auf diese Probleme. Der erste Aspekt soll – nach Hoyningen–Huene – lokal–normativ, der zweite global– normativ heißen37. Dies zeigt der demonstrierte Ausbildungsprozess der Wissenschaftsanwärter. Die weiteren Problemlösungen müssen trivialerweise durch die Verwendung eines Systems empirischer Begriffe realisiert werden. Dafür muss ein Vokabular entwickelt werden, das eine Möglichkeit zur Artikulation solcher Begriffe schafft. Solches Vokabular nennt Kuhn „Lexikon“. Dieses Lexikon ist „weltkonstitutiv“38 und hängt somit unmittelbar mit den Modellen zusammen. Diese bedingen – wie Kuhn es sagt – einen Problembereich, zu dem die weitere Forschung der Forschergemeinschaft arbeitet, samt Lösungen, die die Gemeinschaft zu finden hofft. Somit bestimmen die Musterlösungen (mittelbar) die Ontologie und den erlaubten Bereich der ontologischen und heuristischen Mittel (z.B. Metaphern), die der Gemeinschaft für neue Problemlösungen bereitstehen. Nun haben nicht nur die Musterbeispiele begriffsbestimmende Funktion. Wie oben gezeigt, dienen auch die symbolischen Verallgemeinerungen als Definitionen. Natürlich können die Bedeutungen der interpretierten Skizzen von nirgendwo herstammen als von dem durch die Musterlösungen gelieferten Lexikon. Das Lexikon stellt den Verallgemeinerungen also Begriffe bereit und ermöglicht somit die Artikulation von diesen Verallgemeinerungen. Die Bedeutungen in den Verallgemeinerungen wirken aber auch auf das Lexikon zurück, insofern sie dieses erweitern bzw. rekonstruieren. Dementsprechend bestimmen auch die symbolischen Verallgemeinerungen die Ontologie der Forschergemeinschaft. Da die Ontologie ihrerseits den Problembereich bedingt, hat sie auch Einfluss auf die symbolischen Verallgemeinerungen, da der Problembereich zugleich auch der Anwendungsbereich der Verallgemeinerungen ist. Wie gesagt, 36 Bei der folgenden Beschreibung orientiere ich mich zwar wesentlich an Paul Hoyningen–Huenes systematischer Darstellung der Kuhn’schen Wissenschaftstheorie in: Hoyningen–Huene 1989. Allerdings weicht meine Interpretation des DM–Modells von seiner Darstellung ab. Einige Punkte könnten sogar mit seiner Interpretation unvereinbar sein. Insbesondere teile ich seine Auffassung nur begrenzt, dass symbolische Verallgemeinerungen, Modelle und Werte „als Momente“ in den Musterlösungen enthalten sind – vgl. Hoyningen–Huene 1989, 158. 37 Vgl. Hoyningen–Huene 1989, 136. 38 Hoyningen–Huene 1989, 159. 10 funktionieren die Problemlösungen in der weitergehenden Forschung durch Ähnlichkeitsrelationen, das bedeutet: Alle Probleme (p2, p3, ..., pn) sollen hinreichend ähnlich zu demjenigen sein, das durch die Musterlösung bereits gelöst wurde. Insofern bestimmen die Musterlösungen den Bereich der bestimmten Ähnlichkeitsrelationen, die dann in der Ausbildung erlernt werden müssen. symbolische Verallg. liefe rt Lexikon t uier nstr reko . u tion t kula bereit eiter er w Ar t i Lösung für cht ourcen ö g li s erm l l t R e s ste und konstitutiv bestimmt Ähnlichkeitsbeziehung P1 bestimmt Ontologie p 2, bedingt p3 , ..., Anwendungsbereich von Musterlösungen pn Weitergehende Forschung: Problembereich Abb. 2: Die disziplinäre Matrix Ich bin noch der Erläuterung des übriggebliebenen Elements schuldig geblieben – den Werten. Obwohl dieser Teil der DM von größter Wichtigkeit für die Praxis einer Forschergemeinschaft zu sein scheint, hat Kuhn sie nach dem erscheinen des Postskriptums aufgegeben. Er sah sie wohl nicht mehr als ein Element an, das „den Wissenschaftstheoretiker am meisten interessieren würde“39. Bei dieser Komponente sollen zwei Aspekte existieren: Zum Einen können ganze Theorien bewertet werden, dann beziehen sich die Urteile der Wissenschaftler auf alle Elemente der DM. Andererseits können auch einzelne Theorieanwendungen im Rahmen der DM evaluiert werden. Dann zielen die Urteile auf einzelne Problemlösungen. Dabei sollen die letztgenannten die Forscher einer Gemeinschaft stärker aneinander binden als diejenigen, die die Evaluation ganzer Theorien ermöglichen. Das starke Bindungspotential von einigen Werten ist trotzdem damit vereinbar, dass Wertsysteme verschiedener Wissenschaftler ganz verschieden zum Einsatz kommen. Entscheidend ist dabei, dass Werte eine Ressource für rationale Argumentation z.B. im Hinblick auf Theorieevaluation sein können: „[S]uch reasons function as values and [..] they can thus be differently applied [...] 39 Kuhn 1970a, 392. 11 by men who concur40 in honoring them.“ (199, Meine Hervorhebung). Trotz dieser Vielfalt bestimmt aber auch ein Wertesystem das Verhalten einer Wissenschaftsgemeinschaft. Damit entsteht folgendes Dilemma: Einerseits soll das Wertsystem einer Gemeinschaft ihr Verhalten beeinflussen, und tut dies nach Kuhn auch, sonst kann man nicht erwarten, dass es sich bei einer Gemeinschaft um eine Einheit handelt. Andererseits determinieren individuelle Präferenzen die Entscheidung jedes einzelnen Gruppenmitglieds. Kuhn spricht explizit davon, dass es eher41 die Gemeinschaft ist, die die Entscheidung trifft (vgl. 200). Bei der Berücksichtigung der Entstehung einer DM – nämlich in einer Phase der Krise – löst sich das Dilemma auf, denn auch wenn sich einzelne Wissenschaftler aufgrund von persönlichen Präferenzen für die eine oder andere in der Krise konkurrierende Theorie entscheiden, beeinflusst ein oder mehrere kollektive Werte die Konsensbildung. Hier muss also kein ontologisch schwer begründeter methodologischer Kollektivismus angenommen werden; es sind immer noch einzelne Forscher, die eine Theorie evaluieren und die individuelle Gründe besitzen, warum sie zu ihrer Entscheidung kommen. Dass sie aber in einen Konsens eintreten, können diese individuellen Präferenzen nicht erklären. Hierbei müssen geteilte Werte, die sich an der Musterlösung orientieren, ins Spiel kommen. Die Wertkomponente ist Angriffsziel von verschiedener Kritik geworden42, doch hier geht es mir zunächst nicht darum, ob Kuhns Idee plausibel ist, sondern bloß, ob sie taugt, die naturalistische Bewegung zu charakterisieren. 4 Andrew Melnyk: Is The Philosophical Naturalism A Paradigm? Andrew Melnyks 2009 entstandener Text43 präsentiert meines Wissens als einziger solcher Text einen expliziten Antwortvorschlag auf die hier im Fokus stehende Frage. Ich möchte den Vorschlag nun kurz umreißen, um ihn anschließend zu prüfen und dann zu meiner Stellungnahme der hiesigen Hauptfrage zu gelangen. Dabei möchte ich jedoch hervorheben, dass es mir zunächst nicht darum geht, ob Melnyk eine gute Charakterisierung des philosophischen Naturalismus vorlegt, sondern bloß darum, ob seine Charakterisierung dem Begriff der DM44 entspricht, den ich gerade aufgezeigt habe. In seinem Text möchte der Autor v.a. nachweisen, dass naturalistische Philosophen in gleicher Weise wie die Naturwissenschaftler, die eine DM teilen, gemeinsame Festlegungen (Commitments) aufweisen, wenn auch womöglich nicht im selben Maße. Wichtig ist, dass Melnyk Kuhns Tugend, von empirisch unabhängigen Modellbildungen Abstand zu nehmen, 40 Ich übersetze diese Stelle mit „in der Achtung der Werte übereinstimmend“. Dies ist eine stärkere Behauptung als das, was in der deutschen Übersetzung zu finden ist, in der geschrieben ist, dass Leute, die die Werte verschieden anwenden, „sie gleichermaßen achten“ (S. 211 der dt. Ausgabe, meine Hervorh.). 41 Ich glaube, diese Qualifizierung ist wichtig und kommt in der dt. Übersetzung nicht vor – vgl. S. 211 der Übersetzung. 42 Vgl. Musgrave 1971, Shapere 1971. 43 Dieser Teil meiner Arbeit ist vollständig Melnyks Text gewidmet: Vgl. Melnyk 2009, die Angaben in Klammern sind die Seitenangaben der genannten Ausgabe. 44 Melnyk nimmt den Ausdruck „disciplinary Matrix“ nicht in den Mund. Er bleibt bei „paradigm“. Seine Beschreibung von Paradigmen zielt aber deutlich auf das DM–Modell ab – vgl. Melnyk 2009, 188f. Deswegen werde ich hier auch von „disziplinärer Matrix“ bzw. „DM“ reden. 12 übernimmt, allerdings ohne detaillierte historische Fallanalyse zu betreiben. Dabei beginnt er bei der Behauptung, dass eine teilende Gemeinschaft, die eine DM teilt, über ontologische Festlegungen aufweisen muss. Sein Ansatzpunkt ist dabei die These, dass der philosophische Naturalismus qua philosophischer Position den gesamten Bereich der Realität als Gegenstand besitzt und somit annimmt, dass alles natürlich ist („everything is natural“ (S. 190, Hervorhebung im Original)). Ohne Zweifel verleiht das „ist“ der These einen ontologischen Charakter, doch ohne eine Qualifizierung des Natürlichkeitsprädikats bleibt sie leer. Um das Prädikat zu bestimmen, geht Melnyk zunächst von der Idee aus, dass der Bereich der Natur nicht nomologisch unerklärbar („nomologically inexplicable“ (ebd., Herv. im Orig.)) ist. Demgegenüber stellt er Handlungen bzw. Handlungsgründe, und kommt zur folgenden Definition: (1) „Alles ist natürlich“ gdw es gibt keine Instanz eines Handlungstyps, die aus einem Grund vollzogen wird. Dabei gilt: (2) Handeln aus einem Grund ist nomologisch unerklärbar. Weiterhin soll gelten: (3) Handlungen aus einem Grund sind nomologisch unerklärbar gdw (a) die Instanzen des Handlungstyps über keine Erklärung verfügen, die ein deckendes Gesetz beinhaltet – gleich welcher Art solch ein Gesetz ist, und (b) wenn diese Instanzen weder identisch noch realisiert sind durch Instanzen – irgendwelchen Typs –, die über solch eine Erklärung verfügen. Wenn man den Vordersatz in (1) bejaht, dann gilt: Entweder a) Es gibt keine Instanzen von Handlungstypen, anders gesagt: es gibt keine Handlungen. Oder b) Handlungen sind nomologisch erklärbar, wobei gilt, dass entweder die Handlungen selbst solch eine Erklärung aufweisen oder die sie instantiierten bzw. realisierten Entitäten. Daraufhin führt Melnyk bekannte Plausibilitätsgründe an, um den Vordersatz zu bejahen. Zum Einen hätten moderne Wissenschaften vieles als nomologisch erklärbar aufgedeckt, was vorher durch Rückgriff auf nomologisch unerklärbare Gründe erklärt wurde. Schließlich wissen wir mittlerweile, dass Sonnenfinsternisse nicht durch die Rache menschenverabscheuender Hexen verursacht werden. Andererseits haben wir heute starke Indizien dafür, dass alle mentalen Phänomene durch physikalische Entitäten realisiert sind. Melnyk macht zunächst einen möglichen Einwand hinsichtlich seiner Argumentationslinie, um diesen Einwand dann zu entkräften. Das Bedenken soll die Durchsetzung einer Ersten Philosophie stützen, insofern, dass die gemachten Indizien zunächst durch die Philosophie „legitimiert“ („certified“ (S. 194, Herv. im Orig.)) werden müssen, bevor sie überhaupt zur Begründung einer These wie in (1) bereitstehen können. Diese Ansicht wird zurückgewiesen, denn eine solche Legitimation könne nicht durchgeführt werden, insofern gäbe es keine Erste Philosophie. 13 Melnyk sagt, dass eine philosophische DM weiterhin über methodologische Annahmen verfüge, die Kuhn’sche Festlegungen darstellen (vgl. S. 195). Diese methodologischen Annahmen würden Melnyk zufolge aus den metaphysischen erwachsen. Er stellt drei solcher Annahmen vor: Die erste bezeichne ich hier als Akzeptanzannahme, da diese die Akzeptanz von Theorien, seien diese naturwissenschaftlichen oder philosophischen Wesens, betrifft. Die Akzeptanzannahme besagt schlicht und einfach, dass jegliche Theorie, die mit (1) unvereinbar ist und es keine weiteren Gründe gibt, an der Theorie festzuhalten, unwahrscheinlich45 ist. Die zweite methodologische Annahme, könnte Isolierbarkeitsverbot genannt werden. Diese Annahme zielt auf die Untersuchungsmethoden der Naturwissenschaftler, ihr zufolge müssen die Methoden der Naturwissenschaftler sicherstellen, dass kein Phänomen, das wir zu erklären beanspruchen, kausal vollkommen von uns isolierbar ist und dass wir diese Phänomene im Prinzip erklären können. Zusammen mit (1) müsste daraus folgen, dass eine umfassende naturalistische Ontologie – verstanden als Lehre – zumindest im Prinzip möglich ist. Schließlich behauptet die dritte philosophisch methodologische Annahme – ich nenne sie hier das Aposteriorische Gebot –, dass es kein apriorisches philosophisches Wissen gibt. Damit soll dasjenige Wissen gemeint sein, das allein durch den Vernunftgebrauch entsteht. Das sind die Grundannahmen, auf die sich die Naturalisten nach Melnyk festgelegt haben und die so die naturalistische DM formen sollen. Nun muss einerseits überprüft werden, ob sich Naturalisten tatsächlich auf diese Annahmen festlegen und andererseits diese Aufstellung dem Kuhn’schen Begriff der DM wie ich ihn im ersten Teil erarbeitet habe, entspricht. Zum zweiten Anliegen komme ich jetzt. Zunächst fällt in dem Angebot Melnyks folgendes auf: Zum einen dass dieser die Kuhn’schen Kategorien aus dem ersten Teil nicht explizit nennt und zum anderen dass er dem zweistufigen Verständnis anhängt (wenn man den analytischen Naturalismus als eine Unterart des methodologischen ansieht). Der Ausdruck „Methodologie“ kommt im DM–Modell nicht vor. Vielleicht kann man aber Melnyks Klassifikation in entsprechender Richtung interpretieren; ich beginne mit der Akzeptanzannahme. Bei dieser Annahme wird die Wertkomponente der DM angesprochen. Doch während Kuhn den Fokus sowohl auf den lokal- wie auch auf den global– normativen Aspekt legt, konzentriert sich Melnyk nur auf den letzteren und dabei auch nicht vollständig. Er selbst sagt, dass eine Unvereinbarkeit mit (1) allein nicht zur Abkehr von einer Theorie führen dürfte, da Philosophen sonst als Dogmatiker auftreten würden, doch welche andere Wertmaßstäbe an eine Theorie herangetragen werden können, bleibt unerwähnt. Melnyk hat aber Recht. Für einen naturalistischen Philosophen könnte es auch andere Gründe geben, an einer Theorie festzuhalten, die zunächst mit (1) unvereinbar ist. Z.B. könnten das pragmatische Gründe sein, die womöglich auch eine Hoffnung mit sich führen, die Theorie so umzuformulieren, dass sie schließlich mit (1) verträglich wird. Der zweite methodologische Punkt – das Isolierbarkeitsverbot – betrifft die Methoden der Untersuchung. Allerdings fragt sich, inwiefern dieser Punkt wirklich methodologisch (im allgemeinen Sinne) ist. Die Annahme soll ja offensichtlich den Phänomen- und/oder Problembereich begrenzen, nämlich auf jene Phänomene, die von uns nicht völlig kausal isoliert 45 Hier wird nicht von „ablehnen“ gesprochen, weil Melnyk den Dogmatismus abzuwehren versucht (vgl. S. 195). 14 sind und die ein Naturalist erklären können muss. Aber diese Aufgabe hat im DM–Modell doch die Ontologie, so dass es bei dieser zweiten Annahme – trotz des expliziten Appels Melnyks – um eine ontologische handelt, wenn auch mit methodologischen Implikationen. Hier zeigt sich, dass das zweistufige Verständnis zur Charakterisierung nicht hinreicht, um Melnyks Wunsch zu erfüllen, v.a. deswegen, weil das Verständnis den Zusammenhang methodologischer und ontologischer Festlegungen nicht berücksichtigt. Im Gegensatz zu der zweiten Annahme, hängt das Aposteriorische Gebot tatsächlich mit der Affirmation des Vorsatzes in (1) aufs engste zusammen, da die Richtigkeit des Antezedens vorausgesetzt wird. Das Gebot besagt, dass es kein philosophisches Wissen gibt, das allein durch die Vernunft geboren ist. Der Argumentweg zu dieser These lautet folgendermaßen: Jedes Wissen ist ein Wissen über eine Realität. Apriorisches Wissen über eine spezifische Realität müssten wir allein durch die Vernunft gewinnen. Doch Kandidaten für diese Realität könnten kaum begründet werden. Also ist eine naturalistische Philosophie auf aposteriorisches Wissen ausgerichtet46. Dass es sich bei der dritten Annahme um ein Gebot handelt setzt diese Annahme in die Wertkomponente der DM. Doch gleichzeitig scheint es auch um sprachliche Ressourcen zu gehen. Wie man oben ablesen kann, stellt diese jedoch das Lexikon den symbolischen Verallgemeinerungen bereit. Das Gesagte passt auch zu dem Ausgangspunkt, dass sowohl im Lexikon als auch in den Verallgemeinerungen empirische Begriffe vorkommen. Nun zur Melnyks ontologischer These: Sie ist in einem allquantifizierten Satz gefasst und gehört insofern den symbolischen Verallgemeinerungen an. Die Verallgemeinerungen sollen – wie oben gezeigt – auf den Problembereich angewandt werden, wobei dieser von der Ontologie bedingt wird. Wie weiterhin gezeigt, verbirgt sich hinter der zweiten methodologischen Annahme Melnyks eigentlich jene ontologische Annahme, die den Problembereich bedingt. All das lässt Melnyks – nun uminterpretierte – Darstellung dem DM–Modell Kuhns als gemäß erscheinen. Es zeigt sich aber beim näheren Hinsehen eine aus meiner Sicht entscheidende Differenz, entscheidend (noch) nicht im Hinblick auf die Charakterisierung des Naturalismus, sondern mit Blick auf Melnyks Verständnis des DM–Modells. In SSR kann man nicht davon reden, dass eine neu entstandene paradigmatische Theorie die Ontologie mit neuen Mitteln untersucht. Vielmehr führt die Theorie eine neue Ontologie ein. Genau diese Sicht kristallisiert sich im Postskriptum erneut heraus und soweit mir bekannt ist, ist Kuhn von dieser Idee nie abgekehrt47. Die Ontologie wird im DM–Modell erst durch das Lexikon konstituiert und mittelbar durch die Musterbeispiele und die symbolischen Verallgemeinerungen bestimmt. Bei Melnyk in Annahme (1) sieht es dagegen so aus, dass die ontologische These sich auf eine bestehende 46 Melnyk bietet daraufhin fünf Thesen, wie solch ein Wissen aussehen könnte. Ich glaube jedoch, diese Aufstellung fügt der Argumentation nichts hinzu, denn es wird nicht gesagt, welches der Thesen den philosophischen Wissenserwerb am besten beschreibt. So wie ich es verstehe, sollen hier bloß Möglichkeiten aufgezeigt werden, dabei geht m.E. die Fragen nach der Aufgabe der Philosophie und nach philosophischer Leistung völlig verloren. 47 Damit ist natürlich Kuhns weitreichende und oft rezipierte Behauptung betroffen, dass Wissenschaftler nach einer Revolution in einer anderen Welt leben würden (vgl. 111). Zwar hat sich Kuhn von dem Ausdruck „different world“ später distanziert, von der Idee her hielt Kuhn jedoch an seiner Vorstellung auch nach dem Postskriptum fest – vgl. Kuhn 1970a, 420. 15 Ontologie bezieht und dass auch Theorien, denen verschiedene DMs zugrunde liegen über dieselbe Ontologie in Streit geraten können48. Der Erläuterungssatz (3) impliziert ein bereits prädeterminiertes Verständnis über die Existenz und Wesen deckender Gesetze. Nicht anders verhält es sich mit dem Isolationsverbot. Dass es Phänomene gibt, die nicht völlig kausal von uns isolierbar sind, wird zwar begründet, doch ohne explizite Verbindung zur Ontologie. Wie kommt solch eine Verwechslung zustande? Ich glaube, es ist legitim zu sagen, dass die Musterbeispiele als unverzichtbares Moment im DM–Modell angesehen werden sollten. Doch merkwürdigerweise berücksichtigt Melnyk diese Komponente nicht mal implizit. Im Gegenteil; das, was Kuhn im Prinzip als verzichtbar begreift – nämlich das metaphysische Paradigma – bildet bei Melnyk das Fundament, auf dem die methodologischen Annahmen stehen sollen. Deswegen kann Melnyk auch nicht berücksichtigen, dass die Ontologie selbst ein Zu–Bestimmendes ist49. Mit der Ausklammerung der Musterbeispiele wird weiterhin fraglich, wie eine weitergehende philosophisch naturalistische Forschung auszusehen hat. Nach Kuhns Vorstellung sollen Ähnlichkeitsbeziehungen im Problembereich zwischen weitergehenden Problemen und demjenigen Problem oder zu derjenigen Menge von Problemen, zu dem bzw. zu der eine oder mehrere Musterlösung/en existieren, für weitere Forschung sorgen. Dieser Aspekt fehlt in Melnyks Vorschlag völlig und das hat nicht zuletzt den Grund, dass der Autor von konkreten Fallanalysen absieht. Unabhängig also davon, ob Melnyks Annahmen richtig sind, ist sein Vorschlag, den philosophischen Naturalismus als DM auszuzeichnen aus mehreren Gründen defizitär. Sein Verdienst ist zwar, dass er Verbindungen zwischen den Stufen des dreistufigen Verständnisses aufzeigt, er bleibt jedoch diesem Verständnis verhaftet. Damit ergeben sich die schon in Teil 2 gezeigten Schwierigkeiten. Noch wichtiger ist jedoch, dass Melnyk das Kuhn’sche Modell der DM so, wie ich es im letzten Teil entwickelt habe, nicht in allen Komponenten berücksichtigt, was u.a. mit dem Verzicht auf eine Fallanalyse einhergeht. Im letzten Teil möchte ich nun versuchen anzudeuten, wie eine Verbesserung und Erweiterung der Idee Melnyks aussehen könnte. Die dann gemachten Vorschläge orientieren sich mehr an konkreten naturalistischen Projekten, um so an bestimmten Thesen dieser Projekte den philosophischen Naturalismus zu charakterisieren und das zweistufige Verständnis begründet fallen zu lassen. 5 Eine Kuhn’sche Charakterisierung des philosophischen Naturalismus Am Anfang dieses Textes artikulierte ich die Forderung, dass eine Charakterisierung des philosophischen Naturalismus extensional angemessen sein muss, d.h. auch, dass solch eine Charakterisierung dem Umstand Rechnung tragen können muss, dass sich viele Philosophen (und auch Nicht–Philosophen) als Naturalisten und als Anti–Naturalisten bezeichnen bzw. als jene und als solche behandelt werden. Tatsächlich zeigt sich, dass diese Forderung in der 48 Das zeigt sich v.a. bei Melnyks Auseinandersetzung mit der supranaturalistischen Sichtweise Richard Swinburnes, die Melnyk verständlicherweise ablehnt. 49 In diesem Punkt sehe ich meine Ansicht bestätigt durch eine Formulierung von Steven Stich: „[D]ie den besten unserer physikalischen und biologischen Wissenschaften eigene Ontologie [...] [ist] erstaunlich divers.“ – Stich 1996, 109. 16 philosophischen Debatte, der das zweistufige Verständnis zugrunde liegt eben von diesem Verständnis nicht erfüllen kann50. Was helfen könnte, wäre eine Untersuchung derjenigen Annahmen, die Naturalisten anführen, um sich gegen Anti–Naturalisten abzugrenzen und diese Annahmen in einer Weise zu systematisieren, dass am Ende ein Gesamtbild des heutigen philosophischen Naturalismus deutlich wird. Einige Ansätze möchte ich in diesem Teil vorstellen, wobei das DM–Modell für die Systematisierung sorgen soll. Wenn man auf philosophische Debatten um konkrete naturalistische Projekte blickt, dann kann man einige wenige Fragen isolieren, die über die Grenzen der philosophischen Subdisziplinen hinweg für eine Charakterisierung des Naturalismus relevant sein können. Eine dieser Fragen ist: (E) Wie verhalten sich Eigenschaften eines noch zu bestimmenden Typs zu Eigenschaften eines auf den ersten Blick anderen ebenfalls noch zu bestimmenden Typs? 51 In meinen Augen wird solch eine Frage v.a. in der Philosophie des Geistes deutlich gestellt. Die Schwierigkeiten, die mit der cartesianisch–interaktionistischen Lehre verbunden sind, machen deutlich, wie schwerwiegend das Körper–Geist–Problem für eine philosophische Theorie des Geistes wiegen kann. Fasst man dieses Problem als eines auf, das am Anfang einer naturalistischen Matrix (im Folgenden: „NM“) – d.h. einer DM, die den Rahmen für die naturalistische Arbeit abgibt – steht, dann kann man m. E. auch entsprechende Musterlösungen finden, die fortan als Grundlage naturalistischer Arbeit gelten können. So hat Jaegwon Kim drei Prinzipien52 angeführt, die in meinen Augen diese Rolle erfüllen können: (SV) „The mental supervenes on the physical in that things (objects, events, organisms, persons, and so on) that are exactly alike in all physical properties cannot differ with respect to mental properties.“ 53. Dabei gilt für Kim in diesem Zusammenhang: „,[P]hysical‘ properties include chemical, biological, and neural properties, not just those properties investigated in basic physics.“54. Zum Supervenienzprinzip gesellen sich bei Kim noch zwei weitere und bilden so die benannte „Arbeitsgrundlage“55. Das Prinzip des Substance Physicalism56 besagt: 50 Eindrucksvoll aber eher implizit machen das auch Herbert Schnädelbach und Geert Keil deutlich: vgl. Keil/Schnädelbach 2000, besonders: S. 32ff. Vgl. auch Williamson 2007, 19. 51 Vgl. Papineau 2007 und Kim 1996. 52 In der deutschen Übersetzung sowie in der Rezension von Frederick Adams wird davon gesprochen, dass die drei genannten Prinzipien den „Minimalen Physikalismus“ ausmachen – vgl. S. 13 der Übersetzung sowie Adams 1999, 399. Tatsächlich spricht Kim zwar von „minimal physicalism“ – Kim 1996, 13 (Herv. im Orig.) – die Behauptung, dass diese drei Prinzipien den Minimalen Physikalismus konstituieren, sucht man jedoch vergeblich. 53 Kim 1996, 9 (meine Hervorhebung). 54 Ebd. (meine Herv.) 55 Vogel 2008, 189. 56 Dieses Prinzip ist auch unter dem Namen „Anti–Cartesianisches Prinzip“– vgl. die deutsche Übersetzung von Philosophy of Mind sowie die Rezension von Adams: Adams 1999, 399 – sowie als „Ontological Physicalism– Prinzip“ – vgl. die erste englische Auflage von Philosophy of Mind, S. 13 – bekannt. 17 (PH) „All that exists in this world are bits of matter [...] and aggregate structures composed of bits of matter.“57. Und das Mind–Body Dependence–Prinzip (DE) „The mental properties a given thing has depend on, and are determined by, the physical properties it has. That is, our psychological character is wholly determined by our physical nature.“58. Nun heißt es natürlich nicht, dass die drei Prinzipien allein das Körper–Geist–Problem lösen. Allerdings wird damit eine Grundlage für die weitere Arbeit in der NM geschaffen. Die drei Prinzipien, v.a. aber das Prinzip des Substance Physicalism, bestimmen gemäß dem zugrundeliegenden DM–Modell offensichtlich die Ontologie, mit der die naturalistischen Philosophen arbeiten und sie grenzen ihre Arbeit gegen eine konkurrierende Ontologie wie z.B. die Cartesische ab. Die naturalistische Ontologie soll einen Problembereich bedingen, in dem die meisten oder alle Probleme in einer relevanten Ähnlichkeitsbeziehung zueinander stehen59. Dem entspricht der Gemeinplatz der naturalistischen Philosophie, dass man zumindest (SV) und (DE) vor dem Hintergrund der Frage (E) auf weiterführende Probleme anwenden kann, d.h. auf die problematischen Zusammenhänge z.B. zwischen semantischen, moralischen oder ästhetischen auf der einen und natürlich bzw. physikalischen Eigenschaften auf der anderen Seite. Natürlich müssen die benannten Prinzipien modifiziert und verbessert werden: So wurde das Supervenienzprinzip in letzter Zeit immer mehr einer Skepsis ausgesetzt. Zum einen gab es die Gedankenexperimente von Putnam und Burge, die offensichtlich zeigen, dass zwei kompetente Sprecher, die in je zwei verschiedenen möglichen Welten einen Ausdruck lernen, in ihren neurologischen Zuständen, doch nicht in den semantischen Gehalten, übereinstimmen60. Zum anderen werden die sog. Swamp–Szenarien angeführt, um die naive Supervenienzvorstellung devaluieren. Hierbei geht es darum, dass durch eine momentane magische Verwandlung ein Duplikat eines denkenden Wesens entsteht, das dem ursprünglichen Organismus in allen physikalischen Hinsichten gleicht. Diese Gedankenexperimente sollten deutlich machen, dass solche duplizierten Wesen weder Gedanken noch echte biologische Organe haben können, da sowohl Gedanken als auch Organe historisch entwickelte Phänomene sind.61 Die Mängel von (SE), die sowohl mit dem Gedankenexperiment von Putnam und Burge als auch mit den Swamp – Szenarien verbunden wurden, versuchte man auf die gleiche Weise zu beheben. Nämlich durch die Artikulation weiterer Forderungen: David Papineau hat etwa mit Blick auf die ersteren Gedankenexperimente gefordert, dass die Supervenienzbeziehung nur für Systeme vor dem 57 Kim 1996, 13. Ebd., 12 59 Das Problem, wie man die relevanten Ähnlichkeitsbeziehungen herausgreift, wird bei Kuhn implizit durch die „gelernte[.] Ähnlichkeit“ – Kuhn 1970a, 143 – gelöst. 60 Vgl. Putnam 1975, 223ff. 61 Die Gedankenexperimente gehen auf Donald Davidson und Ruth Millikan zurück, für eine Gegenüberstellung und Diskussion dieser Szenarien: Vgl. Vogel 2008, S. 164 – 190. 58 18 Hintergrund umfassenderer Systeme gelten soll62. Und im Hinblick auf die Swamp–Szenarien wurde versucht, durch die Erweiterung des Prinzips um eine historische Komponente die Schwierigkeiten zu beheben. Unabhängig davon, ob all das überzeugend ist, wird – so denke ich – deutlich, dass solche Modifizierungen als die Arbeit einer normalwissenschaftlichen Periode im Kuhn’schen Sinn verstanden werden können. Wenn man nun mit dem DM–Modell an der Hand zum Lexikon voranschreitet, um eine NM auszuzeichnen, zeigt sich folgendes Problem: Anders als bei praktizierenden Naturwissenschaften, wo Begriffe wie „Phlogiston“ in einem Lexikon nicht mehr vorkommen, finden sich in der Philosophie sehr wohl Begriffe, die gerade deswegen im philosophischen Lexikon verbleiben, damit man sie kritisieren kann. So verhält es sich z.B. mit dem platonischen Begriff der Idee. Eine philosophische Naturalistin muss natürlich die Existenz platonischer Ideen ablehnen, doch das kann sie nur tun, wenn dieser Begriff in ihrem Lexikon vorkommt (oder wenn sie zu unphilosophischen Mitteln wie Dogmen greift). Vor diesem Hintergrund scheint es also so zu sein, dass man kein spezifisch naturalistisches Lexikon ausfindig machen kann. Dies ist jedoch nur dann der Fall, wenn man sich auf genuin philosophische Begriffe konzentriert. Es ist aber bezeichnend für alle heutigen Philosophen, die in den Debatten als Naturalisten behandelt werden, dass sie zwar nicht auf Begriffe wie den der platonischen Idee verzichten, dass sie aber ihre Nomenklatur um empirische Begriffe erweitern – seien solche Begriffe aus den Naturwissenschaften geholt oder, wie Haack sagt, aus dem alltäglichen „web of empirical belief“63. Dies schlägt sich dann meistens in empirischen Argumenten nieder. Diese nicht– reduktionistische Öffnung des Lexikons stellt eine verallgemeinerte Version der oben von Haack vorgestellten schwachen naturalistisch–epistemologischen Position dar64 und ich glaube, dass selbst eliminativistische Philosophen zunächst, d.h. am Anfang ihrer Argumentation dieser nicht– revolutionären Erweiterung zustimmen können. Die Möglichkeit, in der weitergehenden Argumentation das genuin philosophische Vokabular fallen zu lassen und ein Philosophie skeptisches Programm zu fahren, bleibt damit gewahrt. Doch selbst Philosophen wie Quine beginnen mit Begriffen, die man i. d. R. nur in der Philosophie findet. Die Erweiterung des Lexikons grenzt Naturalisten gegen Anti–Naturalisten ab. Damit ist natürlich nicht gesagt, dass eine Philosophin, die empirisches Vokabular benutzt, um so empirische Argumente vorzulegen, eo ipso eine Naturalistin ist. Entscheidend hierbei ist, dass Anti–Naturalisten auf solch eine Öffnung nicht angewiesen sind bzw. sein müssen. Dies schlägt sich auch im Konstitutionsverhältnis zwischen dem Lexikon und der Ontologie nieder. Damit ist weiterhin nicht gesagt, dass Naturalisten in der Begründung der Ontologie allein auf empirische Begriffe angewiesen sind und keineswegs ist damit impliziert, dass Naturalisten allein auf naturwissenschaftliche Begriffe festgelegt sind. Es besagt aber sehr wohl, dass die Begründung einer Konstitution der Ontologie ohne die Möglichkeit, empirisches Vokabular zu verwenden, keine naturalistische mehr ist. Nun soll das Lexikon die Ontologie nicht nur vermittelst der Musterlösungen bestimmen, sondern auch durch das Ermöglichen der Artikulation von 62 Papineau 1993, 10f. Haack 1993, 168. 64 Vgl. oben, S. 6 (erste These). 63 19 symbolischen Verallgemeinerungen sowie durch das Bereitstellen von den dafür vorgesehenen sprachlichen Ressourcen. Dabei ist das Verhältnis des Lexikons zu den symbolischen Verallgemeinerungen reziprok, insofern die Verallgemeinerungen das Lexikon rekonstruieren und damit die Ontologie bestimmen. Wie im 2. Teil gesagt, sollen symbolische Verallgemeinerungen u.a. allquantifizierte Sätze sein, die eine definierende Funktion haben können. Natürlich ist es klar, dass es in philosophischen Debatten Unmengen von Definitionen gibt, nicht trivial dagegen ist jedoch, wie mit diesen Definitionen vor dem Hintergrund einer DM verfahren wird; die Diskussion um den Logischen Behaviorismus macht das deutlich: Definitionen, die die Grundlage einer philosophisch– naturalistischen Position darstellen, sind nicht einfach aus der Naturwissenschaft – im Fall des Behaviorismus aus der empirischen Psychologie – übernommen. Durch das Lexikon gibt es eine Möglichkeit, die philosophischen Definitionen auf konkrete Fälle anzuwenden, die Grundlage, die diese Definitionen darstellen wird aber als rein philosophisch aufgefasst. Hempel hat seine Formulierung des Logischen Behaviorismus – „All psychological statements which are meaningful, that is to say, which are in principle verifiable, are translatable into statements which do not involve psychological concepts, but only the concepts of physics.“65 - explizit gegen die Arbeit der Psychologen abgegrenzt: „[O]ne cannot expect the question as to the scientific status of epistemology to be settled by empirical research in psychology itself. To achieve this is rather an undertaking in epistemology.“66. Mit „epistemology“ ist hier wohl Semantik gemeint, da: „It is necessary […] to determine whether there is a fundamental difference between the statements of psychology and those of physics.“67. Putnam hat bei seinem Versuch, den Logischen Behaviorismus unter die Erde zu bringen68 gerade bei solchen Verallgemeinerungen angesetzt. Die Zurückweisung der ursprünglichen logisch–behavioristischen Definition führte Putnam zur Diskussion von moderateren behavioristischen Thesen69 (die er dann aber auch zurückweist). Dieses Beispiel zeigt die gewöhnliche Arbeit hinsichtlich solcher Verallgemeinerungen in philosophischen Diskursen, wobei die Debatte vollständig im naturalistischen Rahmen bleiben kann: Eine hinreichend allgemeine Behauptung einer naturalistischen Position wird in ihrer Reichweite – d.h. mit Blick auf den Problembereich – kritisiert70 und schließlich durch andere Verallgemeinerungen ersetzt. In der Sprache des DM–Modells müsste man sagen, dass die Verallgemeinerungen an den Problembereich, der ihren Anwendungsbereich darstellt, angepasst werden. Durch das reziproke Verhältnis von Verallgemeinerungen und Lexikon wirkt sich diese Arbeit auf das Lexikon aus. So erklärt sich z.B., weshalb naturalistische Projekte, die sich gegen den Behaviorismus als physikalistische Position wenden, immer noch als naturalistische Positionen behandelt werden: Solche Projekte öffnen das Vokabular etwa in Richtung der 65 Hempel 1977, 18. Ebd., 16. 67 Ebd. 68 „I come to bury logical behaviorism“ – Putnam 1965, 26. 69 Vgl. Putnam 1965, 25. 70 Ein weiteres Beispiel für solch eine Kritik kann man in der Metaethik finden: Es ist nämlich keineswegs klar, ob Humes Verbot einer Ableitung normativer Aussagen aus deskriptiven Aussagen allgemeingültig ist. Ausnahmen könnten vielleicht gefunden werden, „die es als fraglich erscheinen lassen, ob man von der These von der Unableitbarkeit eines Sollens aus einem Sein als von einem ‚Gesetz’ sprechen kann.“ – Birnbacher 2003, 368. 66 20 Biologie, so dass ihnen nun z.B. in der Erklärung des Bewusstseins andere Mittel zur Verfügung stehen71; aus der Kritik an den Verallgemeinerungen des Behaviorismus begründen sie die Notwendigkeit der weiteren Öffnung des Vokabulars. Ist diese vollbracht, beziehen sie in der Anwendung ihrer symbolischer Verallgemeinerungen ihre Mittel aus dem nun veränderten und somit eine veränderte Ontologie konstituierenden Lexikon. Ich glaube, ich habe nun fast alle Punkte des DM–Modells erfasst, um sie zumindest anhand einiger Beispiele auf den philosophischen Naturalismus anzuwenden und damit dem, was ich als NM bezeichne, näher zu kommen. Zu einem Element, das im gezeichneten Bild nicht auftaucht, sondern sozusagen über diesem schwebt, habe ich noch nichts gesagt – den Werten. Wie oben herausgearbeitet, ist es nach Kuhn eher das gemeinsame Teilen von bestimmten Werten, die eine Konsensbildung generieren kann. Dabei werden naturalistische Philosophen wohl eher einzelne Problemlösungen beurteilen, wobei die Rückbindung an die Musterlösungen gewahrt werden muss. Das zeigt sich an der bereits angesprochenen Thematisierung des Bewusstseins eines Naturalismus’, der auf die Öffnung des Lexikons in Richtung des biologischen Vokabulars angewiesen ist: „Der Biologische Naturalismus [...] weist sowohl den [cartesianischen] Dualismus als auch den Materialismus zurück, versucht dabei aber, die wahren Anteile beider Positionen zu erhalten.“72. Im Lichte der Idee einer NM hat diese Behauptung Searles etwas richtiges aber auch etwas falsches. Richtig ist, dass nicht jede naturalistische Position eine materialistische ist. Falsch dagegen ist es, den beschriebenen Naturalismus zwischen den Substanzdualismus und den Materialismus zu setzen – nochmals: vor dem Hintergrund des DM–Modells. Man müsste in dem hiesigen Zusammenhang eher sagen, dass der biologische Naturalismus den Dualismus ablehnt, weil dieser mit der Musterlösung nicht übereinstimmt und den Materialismus, weil so das Lexikon keine Ressourcen liefert, die die symbolischen Verallgemeinerungen an den Problembereich anpassen. Ich kann leider nichts mehr zu den Werten sagen. Nichtsdestotrotz glaube ich angedeutet zu haben, wie eine Charakterisierung der naturalistischen Bewegung aussehen könnte, die dem zweistufigen, etablierten und m.E. unangemessenen Verständnis nicht verhaftet ist. Ich möchte nun kurz auf einige offene Fragen hinweisen, ohne den Anspruch zu artikulieren, diese befriedigend zu beantworten. 1. Am Beispiel der Debatte um den logischen Behaviorismus zeigt sich, dass sowohl die symbolischen Verallgemeinerungen als auch die Ontologie einer NM eigentlich Mengen von disjunkten Elementen sind. Mit anderen Worten: Eine Naturalistin kann sich im Prinzip entscheiden, ob sie die Verallgemeinerungen des logischen Behaviorismus oder etwa einer nicht–reduktionistischen biologisch–naturalistischen Position für ihre Theorie zunutze macht. Damit entpuppt sich die Idee einer NM – zumindest zum Teil – als disjunktive Erläuterung. Und damit stellt sich wie im Fall der zweistufigen Charakterisierung die Frage nach der Informationskraft. Aus meiner Sicht ist es kein großes Problem. Gerade am logischen Behaviorismus sieht man, dass es Verallgemeinerungen gibt, die zwar ein Element einer 71 72 Vgl. oben, S. 13. Searle 2007, 71. 21 naturalistischen Position bilden. Doch sie sind so unplausibel geworden, dass sie heute nicht mehr als Auswahlmöglichkeit in Frage kommen. 2. Der Naturalismus muss als eine Bewegung erachtet werden, die man kritisieren können muss. Die Zugrundelegung des DM–Modells lässt m.E. jedoch die berechtigte Frage aufkommen, ob der Naturalismus – verstanden als eine Forschungseinheit – überhaupt noch kritisierbar ist. Geert Keil und Herbert Schnädelbach haben dazu vor dem Hintergrund gängiger Naturalismusdefinitionen wohl richtiger Weise angemerkt: „Man sieht an den zitierten Definitionen, da[ss] der Naturalismus keine philosophische Theorie ist und vielleicht nicht einmal eine Theorienfamilie, sondern eine metatheoretische These oder, in praktischer Hinsicht, ein Programm73, Programme lassen sich nicht auf die gleiche Weise evaluieren wie ausgearbeitete wissenschaftliche Theorien, denn sie erheben nicht selbst Erklärungsansprüche.“74. Hier könnte man vielleicht die zweite Art von Werten nach Kuhn75 in Stellung bringen. In dem Fall ist es klar, dass Anti–Naturalisten eine NM kritisieren können, allerdings womöglich nur unter der Voraussetzung einer eigenen – konkurrierenden – DM und dasselbe gilt natürlich für die Verteidigung einer NM gegen diese Angriffe. 6 Schluss In diesem Text wollte ich zeigen, dass es eine Unvereinbarkeit gibt zwischen einem Verständnis des philosophischen Naturalismus, das vielen philosophischen Debatten zugrunde zu liegen scheint und der Art, wie man in diesen Debatten verschiedene Positionen als naturalistisch behandelt. Aus der im zweiten Teil vollzogenen Diskussion des etablierten zweistufigen Verständnisses geht hervor, dass Positionen, die im philosophischen Diskurs als naturalistisch behandelt werden, als solche von dem etablierten Verständnis nicht erfasst werden, was das Beispiel der Erkenntnistheorie Susan Haacks zeigt. Außerdem droht dieses Verständnis trivial zu werden. Die Idee, die im Anschluss an diese Diskussion eingebracht wurde, war eine Charakterisierung der Naturalismusbewegung vor dem Hintergrund des in Teil 3 interpretierten DM–Modells. Meine Interpretation kann wohl keineswegs als über jeden Zweifel erhaben angesehen werden. Über einige Punkte müssten noch weitere Überlegungen angestellt werden – z.B. muss noch gezeigt werden, ob die Ontologie auch Einfluss auf die symbolischen Verallgemeinerungen ausüben kann – und wenn ja, welchen. Des weiteren ist nicht klar, ob eine DM als diskretes System überhaupt angesehen werden kann, oder ob man sie in Verbindung etwa mit dem alltagssprachlichen Vokabular bringen muss, um so etwa auch das Verhältnis zwischen naturalistischen Theorien des Geistes und der Alltagspsychologie berücksichtigen zu können. Im 4. Teil hat die Auseinandersetzung mit Melnyks Vorschlag gezeigt, welche Probleme auftreten können, wenn man den Naturalismus als Paradigma zu begründen beansprucht. Melnyks Vorschlag ist im Großen und Ganzen mit dem in Teil 5 skizzierten unvereinbar. Das liegt v.a. daran, dass Melnyk nicht in der Weise den Kuhn’schen Paradigmenbegriff bzw. den der 73 Ich interpretiere diesen Ausdruck als synonym mit „Forschungseinheit“. Damit möchte ich zunächst verhindern, dass hier von Forschungsprogrammen im Sinne Lakatos’ gesprochen wird – aber: vgl. unten, Teil 6. 74 Keil/Schnädelbach 2000, 22. 75 Vgl. oben, S. 12. 22 DM interpretiert wie ich das hier getan habe. Außerdem glaube ich gezeigt zu haben, dass er trotz des Verweises auf Kuhn dem etablierten Verständnis anhängt. Es ist dennoch noch nicht ausgemacht, dass sein Vorschlag schlechter ist als derjenige, den ich im 5. Teil umrissen habe. Trotzdem glaube ich, dass der Fokus auf konkrete naturalistische Thesen einen entscheidenden Vorteil aufzeigt. Was in der hiesigen Auseinandersetzung nicht gezeigt wurde ist, weshalb ein Kuhn’sches Modell mit Blick auf die Charakterisierung der philosophischen Naturalismusbewegung gegenüber anderen wissenschaftstheoretischen Modellen prädestiniert ist. So könnte man Keils und Schnädelbachs Zitat76 zum Anlass nehmen zu prüfen, ob ein Modell im Sinne Lakatos’ die naturalistische Bewegung besser zu charakterisieren vermag. Des weiteren wurde hier nicht gezeigt, warum eine einheitliche Charakterisierung gegenüber einem pluralistischen Verständnis – wie es z.B. Steven Stich 1996 vorgelegt hat77 – im Vorteil sein soll. Die zum Anfang meines Textes gemachten Überlegungen jedoch machen aus meiner Sicht deutlich, dass die heutige Philosophie eine irgendwie geartete Charakterisierung dieser vielversprechenden Bewegung als Ganzes braucht. Bibliographie Adams, Frederick (1999): Philosophy of Mind by Jaegwon Kim. In: Mind, Jg. 108, H. 430. 398401. 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