Bahnradius Es soll die Bahn eines geworfenen Balls mit der Flugbahn eines Gewehrgeschosses verglichen werden. Der Ball werde 10 Meter weit geworfen und erreiche dabei eine maximale Höhe von 2,5 Metern. Mit dem Gewehr werde auf eine Distanz von 300 Metern geschossen. Wenn das Geschoss eine Geschwindigkeit von 800 ms−1 hat, erreicht es eine maximale Höhe von 17 Zentimetern über der Ziellinie. Der Luftwiderstand wird in beiden Fällen nicht berücksichtigt. Der Körper bewegt sich somit „kräftefrei“ im Gravitationsfeld, d.h. ausser der Gravitationskraft wirkt keine andere Kraft auf den Körper. ........................................................ .......... ........ ........ ....... ...... ....... ..... ...... . . . . ..... ... . ..... . . ... .... . . . .... . .. ..... ......................................................................................................................................................................................................................... .............................................................................................................. .......................................................................................... ....................................................................................... .. Abbildung 1: Vergleich der Flugbahnen eines geworfenen Balls und eines Gewehrgeschosses (nicht maßstäblich) Es scheint offensichtlich zu sein, dass die Wurfbahn des Balls weitaus stärker gekrümmt ist als die Flugbahn des Gewehrgeschosses. Für eine flache Flugbahn kann die Bahn durch ein Kreisbogenstück approximiert werden. Damit lässt sich der Krümmungsradius R der Bahn leicht berechnen (s. Abbildung 2). ...................................................................................................... ................ .................... .............. ................ ........... .............. ........... ............ . . . . . . . . . .......... ..... . . . . . ....... . . . . ... h A A s/2 A A A A A A A A A A A A A ¢ A ¢ A¢ ¢ ¢ ¢ ¢ ¢ ¢ ¢ ¢ ¢ ¢ ¢ ¢ ¢ ¢ R Abbildung 2: Krümmungsradius der Flugbahn Krümmungsradius der Bahn eines kräftefreien Körpers in einem Gravitationsfeld Wenn s die Wurfweite und h die Wurfhöhe bezeichnen, ergibt sich sofort ³ s ´2 2 (R − h) + = R2 . 2 2 (1) Ausmultiplizieren und Vereinfachen liefert: −2 R h + h2 + ³ s ´2 2 = 0. (2) Für eine flache Flugbahn ist h2 ¿ R h, und der Term h2 kann vernachlässigt werden. Damit wird R= s2 . 8h (3) Diese auf Grund von Näherungen hergeleitete Beziehung liefert für den Scheitelpunkt einer Wurfparabel mit der Wufweite s und der Wurfhöhe h den richtigen Wert des Krümmungsradius. Sie kann daher auch für den Ball verwendet werden, obwohl seine Flugbahn nicht flach ist. Für die betrachteten Beispiele beträgt der Krümmungsradius der Wurfbahn des Balls 5 m, während die Flugbahn des Gewehrgeschosses einen Krümmungsradius von über 66 km aufweist. Werden die beiden Bahnen jedoch im vierdimensionalen Raum-Zeit-Kontinuum vergleichen, ergibt sich ein völlig anderes Resultat 1 . Zu den drei Raumdimensionen mit den Achsen x, y und z kommt die Zeitdimension hinzu, für die zweckmässigerweise nicht die Zeit t, sondern die mit der Lichtgeschwindigkeit multiplizierte Zeit ct als Achse verwendet wird. Während der Körper (beispielsweise) in Richtung der x-Achse fliegt, bewegt er sich zudem im Raum-Zeit-Kontinuum in Richtung der ct-Achse. Die „Wurfweite“ d in der vierdimensionalen Raum-Zeit ergibt sich aus der im dreimdimensionalen Raum gemessenen Wurfweite s durch p (4) d = s2 + (c t)2 . In den betrachteten Beispielen ist die während der Flugzeit t zurückgelegte Strecke ct weitaus grösser als die in x-Richtung durchlaufene Strecke s. Näherungsweise gilt daher d ≈ ct, (5) d2 8h (6) (c t)2 . 8h (7) und für den Krümmungsradius R= ergibt sich R= Die maximale Flughöhe h wird nach der halben Flugzeit erreicht, weshalb µ ¶ g t 2 h= 2 2 (8) gesetzt werden kann (g ist die Erdbeschleunigung). Damit wird R= c2 c2 t2 . µ ¶2 = g g t 8 2 2 1 Ch.W. Misner, K.S. Thorne, J.A. Wheeler, „Gravitation“, W.H. Freeman and Company, New York, 1973, S. 32. (9) Krümmungsradius der Bahn eines kräftefreien Körpers in einem Gravitationsfeld 3 Somit gilt allgemein für beliebige Wurfbahnen: R= c2 g (10) Wird mit R = R̃ c der Krümmungsradius durch die Lichtzeit R̃ ausgedrückt, ergibt sich: c . g (11) 2, 998 · 108 s = 3, 06 · 107 s . 9, 81 (12) R̃ = Mit c = 2, 998 · 108 ms−1 und g = 9, 81 ms−2 wird R̃ = In einem Gravitationsfeld mit einer Feldstärke von 9, 81 ms−2 haben also alle Wurfbahnen einen Krümmungsradius von nahezu einem Lichtjahr (genauer: 354 Lichttage). Es stellt sich die Frage, ob das auch für einen Satelliten gilt. Für einen Satelliten, der die Erde auf einer Kreisbahn mit Radius r umfliegt, ist m v2 = mg, r (13) wobei g hier als die im Abstand r vom Erdzentrum herrschende Gravitationsfeldstärke betrachtet werden kann. Daraus ergibt sich für die Geschwindigkeit: v= √ gr. (14) t= 2πr , v (15) r (16) Die Umlaufszeit ist also t = 2π r . g Im vierdimensionalen Raum-Zeit-Kontinuum beschreibt der Satellit eine Schraubenlinie um die ct-Achse. ct r 2π h Abbildung 3: Satellitenbahn im vierdimensionalen Raum-Zeit-Kontinuum Krümmungsradius der Bahn eines kräftefreien Körpers in einem Gravitationsfeld 4 Wird die Ganghöhe mit 2 π h bezeichnet, gilt für den Krümmungsradius der Schraubenlinie die Beziehung r2 + h2 R= . (17) r Die Ganghöhe ist gleich c t: 2πh = ct. (18) Also gilt ct , 2π und daher ist für einen Satelliten r ¿ h. Deshalb kann R durch h= R= h2 r (19) (20) approximiert werden. Einsetzen der Gleichungen (19) und (16) liefert R= c2 4 π 2 r c2 c2 t2 = = , 4 π2 r 4 π2 r g g (21) also wieder die allgemeine Beziehung (10). Die Beziehung gilt also tatsächlich auch für einen Satelliten. Anhang Krümmungsradius einer Raumkurve Eine Raumkurve kann durch ~r = ~r(t) = (x(t), y(t), z(t)) (22) dargestellt werden. Die Richtung der Tangente an die Kurve wird durch den Tangentenvektor dx dy dz d~r = (ẋ, ẏ, ż) = ( , , ) ~r˙ = dt dt dt dt gegeben, dessen Betrag sich aus sµ ¶ µ ¶2 µ ¶2 p dx 2 dy dy 1p ds 2 ˙ ˙ |~r | = ~r = + + = (dx)2 + (dy)2 + (dz)2 ) = dt dt dt dt dt (23) (24) ergibt. s ist die Bogenlänge. Es gilt somit: dt 1 = . ds |~r˙ | (25) Der Ortsvektor kann als Funktion der Bogenlänge betrachtet werden: ~r = ~r(s) . (26) Die Ableitung des Ortsvektors nach der Bogenlänge ist ~r 0 = d~r d~r dt 1 = = ~r˙ . ds dt ds |~r˙ | (27) Krümmungsradius der Bahn eines kräftefreien Körpers in einem Gravitationsfeld 5 Somit ist der Vektor ~r 0 ist ein Einheitsvektor. Die Krümmung ist definiert als Da |~r 0 | = 1 , (28) κ = |~r 00 | . (29) 2 ¯ 0¯ ¯ ¯ 0 ¯ ¯ ¯ ¯ ¯ ¯ ¯ d~r ¯ ¯ ∆~r 0 ¯ ¯ ~r ∆ϕ ¯ ¯ ∆ϕ ¯ ¯ dϕ ¯ ¯ ¯ ¯ ¯ ¯ ¯ ¯ ¯=¯ ¯, κ = |~r | = ¯ = lim = lim = lim ds ¯ ∆s→0 ¯ ∆s ¯ ∆s→0 ¯ ∆s ¯ ∆s→0 ¯ ∆s ¯ ¯ ds ¯ 00 (30) kann die Krümmung als Drehgeschwindigkeit der Tangente (Winkeländerung pro Bogenlänge) interpretiert werden. Die Ableitung von wird 1 1 dt =p = ˙ ds |~r | ~r˙ 2 ˙¨ d2 t 1 1 ˙ ~¨r dt = − ~r ~r . = − 2 ~ r ds2 2 (~r˙ )3/2 ds ~r˙ 2 (31) (32) Damit ergibt sich für die Ableitung von dt ~r 0 = ~r˙ ds der Ausdruck ~r = ~¨r 00 µ dt ds ¶2 ~¨r ~r˙ ~¨r ˙ d2 t − ~r . + ~r˙ 2 = ds ~r˙ 2 ~r˙ 2 (33) (34) Kreis Ein Kreis kann durch ~r = (r cos t, r sin t) (35) ~r˙ = (−r sin t, r cos t) (36) ~¨r = (−r cos t, −r sin t) . (37) ~r˙ 2 = r2 sin2 t + r2 cos2 t = r2 (38) ~r˙ ~¨r = r2 sin t cos t − r2 cos t sin t = 0 . (39) dargestellt werden. Die Ableitungen sind und Damit wird und Somit ist ~r 00 = und (~r 00 )2 = (−r cos t, −r sin t) r2 r2 cos2 t + r2 sin2 t 1 = 2. r4 r (40) (41) 2 Siehe z.B.: B. Klotzek, „Einführung in die Differentialgeometrie“, Verlag Harri Deutsch, Thun und Frankfurt am Main, 1977. Krümmungsradius der Bahn eines kräftefreien Körpers in einem Gravitationsfeld Für die Krümmung κ = |~r 00 | = ergibt sich damit die Beziehung p (~r 00 )2 6 (42) 1 . r Die Krümmung eines Kreises ist gleich dem Reziprokwert des Kreisradius. κ= (43) Wurfparabel y ................................... ................ .......... .......... ........ ....... ...... ...... ...... . . . . . ..... .... . ..... . . ..... ... . . . ..... .. . . . . .... .... x Abbildung 4: Wurfparabel Eine Wurfparabel mit der Wurfweite s und der Wurfhöhe h wird durch die Gleichung y=− 4h 2 4h x x + s2 s (44) oder die Parameterdarstellung ~r = (t, − 4h 2 4h t + t) s s (45) beschrieben. Aus (45) folgt und 8h 4h ~r˙ = (1, − 2 t + ) s s (46) 8h ~¨r = (0, − 2 ) . s (47) ~r˙ = (1, 0) (48) ~r˙ ~¨r = 0 . (49) An der Stelle t = s/2 ist und Damit ergibt sich aus (29) und (34) 8h . (50) s2 Der Krümmungsradius R ist definiert als der Radius eines Kreises mit gleicher Krümmung. Somit ist s2 . (51) R= 8h κ = |~r 00 | = Krümmungsradius der Bahn eines kräftefreien Körpers in einem Gravitationsfeld 7 Schraubenlinie Eine Schraubenlinie wird durch die Parameterdarstellung ~r = (r cos t, r sin t, h t) (52) gegeben. Die Ganghöhe ist 2 π h. Für die Ableitungen ergibt sich ~r˙ = (−r sin t, r cos t, h) (53) ~¨r = (−r cos t, −r sin t, 0) . (54) ~r˙ 2 = r2 sin2 t + r2 cos2 t + h2 = r2 + h2 (55) ~r˙ ~¨r = r2 sin t cos t − r2 cos t sin t = 0 . (56) und Es folgt und Einsetzen der Gleichungen (54), (55) und (56) in die Beziehung (34) ergibt ~r 00 = (−r cos t, −r sin t, 0) . r 2 + h2 (57) Quadrieren liefert (~r 00 )2 = r2 cos2 t + r2 sin2 t r2 = . (r2 + h2 )2 (r2 + h2 )2 (58) Damit ergibt sich schliesslich für die Krümmung die Beziehung κ= r . r2 + h2 (59) R= r2 + h2 . r (60) Somit ist 16. Juni 2009 A. Ruh