1.2 Kinematik des Massepunktes Die Kinematik ist die Lehre der Bewegungen, wobei die Ursache der Bewegung nicht untersucht wird (Die Ursachen von Bewegungen werden im Kapitel 1.3 im Rahmen der Dynamik untersucht). Mit Hilfe der Kinematik kann die Bewegung von kleinsten Teilchen wie den Molekülen, die Bewegung von Kanonenkugeln, Autos oder Flugzeugen bis hin zur Bewegung von Himmelskörpern wie Planeten, Sternen oder Galaxien beschrieben werden. Die folgenden Gesetzmäßigkeiten lassen sich also nahezu auf jeden Größenordnungsbereich der Physik anwenden. Zum Aufstellen der Bewegungsgleichungen der Kinematik werden sich bewegende Körper als sog. Massepunkte betrachtet. Definition: Massepunkt: Ein Massepunkt ist ein Punkt im mathematischen Sinne, in dem man sich die gesamte Masse eines betrachteten Körpers konzentriert vorstellt. Dieser Punkt befindet sich im Schwerpunkt des Körpers. Anmerkung: Rechnungen mit Hilfe von Massepunkten sind bei genauerer Betrachtung nur eine Näherung. Für die meisten Anwendungen sind die so erhaltenen Ergebnisse jedoch genau genug. 1.2.1 Die geradlinig gleichförmige Bewegung Ein Körper bewegt sich geradlinig gleichförmig, wenn er ohne Richtungsänderung eine konstante Geschwindigkeit beibehält. Für die geradlinig gleichförmige Bewegung gilt: Die Geschwindigkeit multipliziert mit der Zeit ergibt die zurückgelegte Strecke . Die Geschwindigkeit des Körpers ist bei dieser Bewegung konstant. Die Beschleunigung des Körpers hat den Wert 0. Weg-Zeit-Gesetz: Geschwindigkeits-Zeit-Gesetz: Beschleunigungs-Zeit-Gesetz: Die geradlinig gleichförmige Bewegung kann mit Hilfe von drei Diagrammen veranschaulicht werden. Im Weg-Zeit-Diagramm, kurz s-t-Diagramm, ist der von einem Körper zurückgelegte Weg in © M. Brennscheidt Abhängigkeit von der Zeit t aufgetragen. Der Funktionsgraph ist hier eine Ursprungsgerade, d.h. in gleichen Zeiten werden gleiche Strecken zurückgelegt. Weg und Zeit sind proportional zueinander. Im Geschwindigkeits-Zeit-Diagramm, kurz v-t-Diagramm ist die Geschwindigkeit in Abhängigkeit von der Zeit aufgetragen. Der Funktionsgraph ist in diesem Fall eine Gerade parallel zur Zeitachse. Anschaulich bedeutet dies, dass sich die Geschwindigkeit während der Bewegung nicht verändert. Im Beschleunigungs-Zeit-Diagramm ist schließlich die Beschleunigung des Körpers in Abhängigkeit von der Zeit aufgetragen. Da der Körper bei gleich bleibender Geschwindigkeit nicht beschleunigt oder abgebremst wird, ist die Beschleunigung zu jedem Zeitpunkt gleich Null. s-t-Diagramm v-t-Diagramm a-t-Diagramm Beispiele für geradlinig gleichförmige Bewegungen sind die Fahrt eines Autos auf einer geraden Autobahn, die Bewegung eines Curling Steins auf dem Eis, oder die Bewegung einer Raumsonde nach dem Abschalten der Triebwerke. 1.2.2 Die gleichförmig beschleunigte Bewegung Bei einer gleichförmig beschleunigten Bewegung nimmt die Geschwindigkeit eines Körpers mit der Zeit gleichmäßig zu. Der Körper beschleunigt. Die Beschleunigung ist bei diesem Vorgang konstant. Für die gleichförmig beschleunigte Bewegung gilt: Bei einer gleichförmig beschl. Bewegung ist die Geschwindigkeit proportional zur Zeit . Die Beschleunigung ist konstant . Weg-Zeit-Gesetz: Geschwindigkeits-Zeit-Gesetz: Beschleunigungs-Zeit-Gesetz: Im s-t-Diagramm ist zu erkennen, dass der zurückgelegte Weg quadratisch mit der Zeit zunimmt. Der Graph hat die Form einer Parabel. Die Ursache für den quadratischen Zusammenhang zwischen Zeit und zurückgelegter Strecke ist die gleichmäßige Zunahme der Geschwindigkeit während der © M. Brennscheidt Beschleunigung. Die Zunahme zeigt sich im v-t-Diagramm in Form einer Ursprungsgeraden. Geschwindigkeit und Zeit sind also proportional zueinander. Für eine konstante Beschleunigung ergibt sich im a-t-Diagramm eine Gerade parallel zur Zeit-Achse. s-t-Diagramm v-t-Diagramm a-t-Diagramm Beispiele für gleichförmig beschleunigte Bewegungen sind die Beschleunigung eines Autos an einer Ampel, der Start eines Flugzeuges oder der Start einer Rakete. Anmerkung: Im Alltag liegen die geradlinig gleichförmige Bewegung und die gleichförmig beschleunigte Bewegung in der Regel nicht getrennt voneinander vor. So gibt es beispielsweise beim Autofahren häufige Geschwindigkeitswechsel mit Beschleunigungsphasen, aber auch Phasen in denen sich das Auto mit konstanter Geschwindigkeit bewegt. Je nach Problemstellung muss also zunächst unterschieden werden, um welche Bewegungsart es sich handelt. 1.2.3 Der freie Fall Der freie Fall ist die Bewegung eines Körpers unter dem Einfluss der Schwerkraft. Allgemein lässt sich der freie Fall vom so genannten Fall mit Reibung unterscheiden. Bei der physikalischen Beschreibung des freien Falls vernachlässigt man die Reibungskräfte, die z.B. bei der Fallbewegung eines Gegenstandes zur Erdoberfläche durch den Luftwiderstand entstehen. [03] Skydiving © M. Brennscheidt Somit bewegen sich alle Körper beim freien Fall gleich schnell, unabhängig von ihrer Masse oder ihrer Form. Im Vakuum fällt deshalb eine Feder genauso schnell zu Boden wie eine Eisenkugel. Der freie Fall ist ein Spezialfall der oben betrachteten gleichförmig beschleunigten Bewegung. Die Bewegungsgleichungen des freien Falls (Fallgesetze) unterscheiden sich deshalb nur geringfügig von denen der beschleunigten Bewegung. Zur Aufstellung der Fallgesetze werden der Fallweg , die Fallzeit sowie die Fallbeschleunigung benötigt: Per Definition ist die Fallbeschleunigung nach unten gerichtet, angedeutet durch das negative Vorzeichen. Wahlweise kann auch das mit einem , für Höhe, ausgetauscht werden. Die Fallgeschwindigkeit lässt sich aus dem Fallgesetz ableiten und berechnet sich wie folgt: Mit der auf der Erde relativ konstanten Erdbeschleunigung , dem sog. Ortsfaktor, ergibt sich für die Beschleunigung eines jeden frei fallenden Körpers auf der Erde die Fallbeschleunigung Im s-t-Diagramm ist der bereits von der gleichförmig beschleunigten Bewegung bekannte parabelförmige Graph zu erkenne. Die Parabel ist hier jedoch nach unten geöffnet, da sich der Körper beim freien Fall in Richtung Erdboden, also nach unten bewegt. Auch im v-t-Diagramm zeigt der Graph nach unten. Das heißt jedoch nicht, dass die Geschwindigkeit während des freien Falls abnimmt, sondern dass diese gewissermaßen immer negativer wird. Der Betrag der Geschwindigkeit steigt also genau wie bei der beschleunigten Bewegung. Im a-t-Diagramm ist die beim freien Fall gleich bleibende Erdbeschleunigung aufgetragen. s-t-Diagramm v-t-Diagramm a-t-Diagramm 1.2.4 Der vertikale Wurf nach oben Der vertikale Wurf nach oben ist der Wurf eines Körpers senkrecht in die Luft unter Einwirkung der Erdbeschleunigung , welche den Körper abbremst. Der Körper fliegt mit einer Startgeschwindigkeit © M. Brennscheidt senkrecht nach oben und erfährt von Beginn an die entgegenwirkende Erdbeschleunigung. Hat der Körper seine Maximalhöhe erreicht, so fällt er im freien Fall in Richtung Erdboden. Beim vertikalen Wurf überlagert sich eine geradlinig gleichförmige Bewegung mit einem freien Fall. Beide Bewegungen überlagern sich ungestört. Superpositionsprinzip (Überlagerungsprinzip): Führt ein Körper mehrere Bewegungsformen gleichzeitig aus, so überlagern sich die Bewegungsformen ohne sich zu gegenseitig zu beeinflussen. Die Bewegungen superponieren. Die Reibung wird in diesem Fall nicht berücksichtigt. Somit haben die Größe und die äußere Form des Körpers keinerlei Auswirkungen auf den vertikalen Wurf. Zur Aufstellung des Gesetzes des vertikalen Wurfs werden der Weg , die Geschwindigkeit , die Zeit sowie die Fallbeschleunigung benötigt: Das Weg-Zeit-Gesetz des vertikalen Wurfs nach oben ergibt sich also durch Addition der Bewegungsgleichung des freien Falls und der geradlinig gleichförmigen Bewegung (Superpositionsprinzip). Auch die Geschwindigkeit und ergibt sich durch Addition der Gleichungen für die Geschwindigkeiten . Für die Beschleunigung ergibt sich schließlich: s-t-Diagramm v-t-Diagramm a-t-Diagramm Anmerkung: Die im s-t-Diagramm abgebildete Parabel darf nicht mit der Flugparabel beim sog. „schiefen Wurf“ verwechselt werden, wie sie zum Beispiel eine abgefeuerte Kanonenkugel vollführt. Die Parabel gibt stattdessen lediglich die Höhe des Körpers in Abhängigkeit von der Zeit wieder. © M. Brennscheidt 1.2.5 Der vertikale Wurf nach unten Der vertikale Wurf nach oben ist das Ergebnis der Überlagerung einer geradlinig gleichförmigen Bewegung und einer gleichmäßig beschleunigten Fallbewegung. Im Grunde entspricht der vertikale Wurf nach unten einem vertikalen Wurf nach oben. Der einzige Unterschied ist das Vorzeichen der Startgeschwindigkeit , das in diesem Fall negativ ist. Die Gesetze ändern sich also wie folgt: Weg-Zeit-Gesetz: Geschwindigkeits-Zeit-Gesetz: Beschleunigungs-Zeit-Gesetz: s-t-Diagramm v-t-Diagramm a-t-Diagramm 1.2.6 Der waagerechte Wurf Schießt man mit einem Sportbogen einen Pfeil genau parallel zum Erdboden ab, so wird der Pfeil von der Erdanziehungskraft nach unten abgelenkt. Die Flugbahn des Pfeils ist parabelförmig. Ähnliches passiert mit einem Wasserstrahl der aus einem waagerecht gehaltenen Gartenschlauch austritt. Auch hier wird das Wasser von der Erdanziehungskraft nach unten abgelenkt, sodass der Wasserstrahl eine Parabelform annimmt. © M. Brennscheidt Eine Bewegung bei der ein sich horizontal bewegender Körper von der Erdanziehungskraft nach unten abgelenkt wird, bezeichnet man als waagerechten oder horizontalen Wurf. Die parabelförmige Flugbahn des Körpers entsteht durch die ungestörte Überlagerung zweier Bewegungsarten (Superposition). Bei einem waagerechten Wurf überlagern sich eine geradlinig gleichförmige Bewegung in x-Richtung (parallel zum Erdboden) und ein freier Fall in y-Richtung (senkrecht zum Erdboden). Hierzu zwei Gedankenexperimente: 1.Gedankenexperiment: Würde man den Pfeil nicht auf der Erde sondern im Weltall abschießen, so würde er sich ohne Beeinflussung der Schwerkraft entlang einer geraden Linie bewegen und eine geradlinig gleichförmige Bewegung durchführen: Dabei ist die Startgeschwindigkeit des Pfeils in x-Richtung. Diese ist für den gesamten Flug des Pfeils konstant, da der Pfeil nach dem Verlassen des Bogens keine weitere Beschleunigung mehr erfährt: 2. Gedankenexperiment: Würde man den Pfeil nun auf der Erde nicht mit dem Bogen abschießen, sondern ihn stattdessen lediglich fallen lassen, so würde er einen freien Fall nach unten durchführen: © M. Brennscheidt Dabei erhöht sich die Geschwindigkeit des Pfeils in negative y-Richtung je näher er dem Erdboden kommt. Die Beschleunigung entspricht der Erdbeschleunigung : Zusammenfassung: Bei einem waagerechten Wurf überlagern sich nun beide Bewegungsarten, d.h. der Pfeil führt gleichzeitig eine geradlinig gleichförmige Bewegung in x-Richtung und einen freien Fall in y-Richtung durch. Wichtig dabei ist, dass sich die Geschwindigkeit des Pfeils in x-Richtung beim waagerechten Wurf nicht verlangsamt, sondern während des gesamten Fluges gleich bleibt. Die Bewegung in xRichtung wird lediglich durch den Aufprall auf der Zielscheibe gestoppt und wird nicht durch die Bewegung in y-Richtung beeinflusst. Umgekehrt beeinflusst auch die Bewegung des Pfeils in xRichtung nicht den freien Fall. Das heißt, dass die Zeit die der Pfeil benötigt um zu Boden zu fallen unabhängig von der Abschussgeschwindigkeit ist. Die Bewegungsgleichung für die x- und die y-Richtung können abschließend durch Umformen und Einsetzen zusammengefasst werden: Durch Einsetzen in die Gleichung des freien Falls folgt: Es ergibt sich die sog. Gleichung der Bahnkurve: Anmerkung: Mathematisch ist die Gleichung der Bahnkurve nichts anderes als eine quadratische Funktion, deren Funktionsgraph die Form einer nach unten geöffneten Parabel besitzt: mit dem Streckfaktor: Der Streckfaktor der Parabel ergibt sich aus der Erdbeschleunigung und der horizontallen Abschussgeschwindigkeit des Pfeils. Bei einer höheren Abschussgeschwindigkeit wird der © M. Brennscheidt Streckfaktor kleiner, das heißt, die Flugparabel ist flacher und der Pfeil fliegt weiter. Bei einer niedrigen Abschussgeschwindigkeit ist der Streckfaktor größer und die Wurfparabel ist steiler, so dass der Pfeil nicht weit fliegen kann. 1.2.7 Der schiefe Wurf Schießt man, wie im vorangegangenen Kapitel diskutiert, mit einem Sportbogen einen Pfeil genau parallel zum Erdboden ab, so wird der Pfeil gemäß den Gesetzen des waagerechten Wurfs parabelförmig nach unten abgelenkt. Ein so abgeschossener Pfeil würde deshalb niemals die Mitte einer Zielscheibe treffen, sondern immer etwas unterhalb der Mitte auftreffen. Um die Ablenkung nach unten zu kompensieren schießen Sportschützen je nach Distanz zur Zielscheibe den Pfeil immer unter einem gewissen Abschusswinkel zur Horizontalen ab. Man spricht in diesem Fall von einem sog. schiefen Wurf. Bei einem schiefen Wurf überlagern sich ähnlich wie beim waagerechten Wurf zwei voneinander unabhängige Bewegungen. In x-Richtung führt der Pfeil erneut eine geradlinig gleichförmige Bewegung aus. In y-Richtung bewegt sich der Pfeil wie beim vertikalen Wurf nach oben. Durch Superposition beider Bewegungsarten entsteht eine typische Wurfparabel, wie man sie beispielsweise vom Weitsprung in der Leichtathletik oder vom Flug einer Kanonenkugel kennt. Die Bewegungsgleichungen des schiefen Wurfs lauten somit: x-Komponente © M. Brennscheidt y-Komponente In den obigen Gleichungen ist die Startgeschwindigkeit in x-Richtung und die Start- geschwindigkeit in y-Richtung. Anmerkung: In vielen Aufgaben zum schiefen Wurf sind die Startgeschwindigkeiten in x- und yRichtung nicht angegeben, sondern nur die resultierende Abschussgeschwindigkeit in Flugrichtung. Die resultierende Abschussgeschwindigkeit ergibt sich durch vektorielle Addition der Geschwindigkeitskomponenten in x- und in y-Richtung (Geschwindigkeitsparallelogramm). Umgekehrt erhält man die Geschwindigkeitskomponenten in x- und in y-Richtung mit Hilfe des Kosinus bzw. des Sinus vom Abschusswinkel : © M. Brennscheidt