Einleitung -1- Zwar kann man ohne zu Zögern behaupten, dass die Europäische Union als politischer und wirtschaftlicher Raum eine der reichsten Regionen unseres Planeten ist, und dass sich dies zwar sowohl hinsichtlich der Konzentration dieser Reichtümer auf internationaler Ebene als auch hinsichtlich der Verteilung dieser Reichtümer in der Bevölkerung der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union sagen lässt, so ändert dies aber nichts am Vorhandensein prekärer Situationen und von Armut in besagten Ländern. Es handelt sich hierbei um dynamische Phänomene, die die Folge von Prozessen sind, die sämtliche Länder Europas betreffen, und zwar insbesondere die der Euregio Maas-Rhein, die Niederlande, Belgien und Deutschland, wobei fünf Regionen dieser Länder Gegenstand vorliegenden Berichts sind. Als einer der Hauptfaktoren, die Ursache dieser prekären Situationen und der Armut sind, ist seit einigen Jahren das bezogen auf die Entwicklung der Lebenshaltungskosten zu geringe Einkommensniveau zu nennen. Ein Phänomen, das 2008 immer größere Ausmaße annimmt und in unterschiedlichem Verhältnis die Niederlande, Belgien, Deutschland und noch einige andere Länder durchzieht. Das aufgetretene Problem der zur Deckung des täglichen Bedarfs unzureichenden Löhne und Gehälter hat in den letzten Jahren eine Kategorie armer Arbeiter entstehen lassen, die den in den USA bereits hinlänglich bekannten „Working poors” immer ähnlicher werden. In Haushalten mit nur einem Einkommen, in Haushalten mit einem oder mehreren Kindern sowie in solchen mit einem Einkommen aus Teilzeitarbeit wird dieses Phänomen noch verschärft. Ganz allgemein bringt es bedeutende Konsequenzen, was die Art angeht, mit der die öffentliche Hand die Armut wahrnimmt sowie die Art, mit der die Gesellschaft als solche sich um die Ärmsten kümmert und wie sie definiert, wer zu dieser sozialen Kategorie gehört, mit sich. In der Tat war die bloße Tatsache, Arbeit zu haben, lange Zeit ausreichend, um sich vor einer prekären Situation zu schützen. Heute aber muss diese Arbeit auch stabil und gut bezahlt sein, sonst bietet sie keinen Schutz vor Armut mehr. Es ist festzustellen, dass zu den Hauptfaktoren, die prekäre Situationen und Armut entstehen lassen, in einer Konsumgesellschaft, in der jedem daran gelegen ist, sich so viele, oft teure und unnütze, selten jedoch unabdingbare Dinge wie möglich anzuschaffen, auch das Problem der Überschuldung gehört. Im europäischen Raum ist der Einzelne nicht nur Bürger, sondern vor allem auch Konsument, der dazu gebracht wird, alle möglichen Dienstleistungen zu zahlen und jedwede Art von Produkten zu kaufen. Dies zeugt zwar einerseits von der wirtschaftlichen Vitalität der Europäischen Union, andererseits aber auch von den Grenzen eines Konsummodells, in dem die Probleme jeden Tag größer werden (Verschmutzung, -2- Ungleichheiten, öffentliche Gesundheit, etc.). Vor einem wirtschaftlichen Hintergrund, in dem die Lebenshaltungskosten schneller steigen als die Einkommen, kann der Bürger als Konsument schnell in die Schuldenfalle geraten, insbesondere, wenn er mit seinen Einkünften bereits seinen täglichen Bedarf nicht decken kann. Die europäische Bevölkerung altert und gleichzeitig nimmt die Jugendarbeitslosigkeit zu. Die Renten sind unzureichend, um ein würdiges Leben zu führen, und oft scheint es für die jungen Generationen keine Zukunftsperspektiven zu geben. Insbesondere, aber nicht nur in den Euregio Maas-Rhein Ländern ist die Armut bei Jugendlichen und älteren Menschen nicht mehr zu übersehen. Beschäftigt man sich mit dem Problem der Ausgrenzung und sucht nach einer Definition, die sich den vielfältigen Situationen und Zusammenhängen anpasst, muss man sowohl die objektiven, konkreten und messbaren Gegebenheiten, als auch die subjektiven, ideologischen und symbolischen Aspekte betrachten. Bei einer Untersuchung dieses sozialen Phänomens sind sowohl Überlegungen über die Charakteristika der Ausgrenzung als auch über den Sinn, den wir ihr geben, anzustrengen. In dieser Hinsicht gibt es verschiedene Grundlagen für die Fragestellung: Erlebnisse und Gefühle des Ausgegrenzten, konkrete Indikatoren für die Ausgrenzung oder auch die Beweggründe öffentlicher, politischer bzw. sozialer Akteure, die sich zu ausgegrenzten Bevölkerungsteilen äußern. Ausgrenzung ist in den Grundfesten jeglichen gesellschaftlichen Lebens verankert. In der Tat existiert die Gesellschaft hauptsächlich durch die reelle und/oder symbolische Konfrontation ihrer Mitglieder, die Werte, Glauben und soziale Normen schaffen, festschreiben, und verändern. Sie birgt zahlreiche soziale Repräsentationen, geschaffen von einzelnen Personen und gesellschaftlichen Gruppen, von denen sich aber nur ein Teil durchsetzt und die sozialen Beziehungen prägt. Genau wie Glück und soziale Integration ist auch Ausgrenzung Teil eines in der Gesellschaft geführten globalen Diskurses und wird durch soziale Repräsentationen legitimiert, die nur von einem Teil der Gesellschaft verankert, aber von der Mehrheit akzeptiert werden. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, Ausgrenzung zu messen. Man kann den absoluten Vergleich wählen und das tatsächliche Einkommen pro Tag jedes Bewohners der Erde erheben. Diese Methode, die die Komplexität der Ausgrenzung unberücksichtigt lässt, hat den -3- Vorteil, die enormen Unterschiede zwischen einzelnen Regionen, Ländern und Kontinenten aufzudecken. Sie kommt zum Einsatz, wenn in den Medien zusammenfassend ein fernes, oft afrikanisches oder asiatisches Land beschrieben wird, und es heißt, dass die Einwohner von weniger als einem Dollar pro Tag leben. Man kann auch einen relativen Vergleich wählen und die Analyse in den sozialen und wirtschaftlichen Zusammenhang des betreffenden Landes setzen. Auf diese Weise erhält man eine Armutsschwelle pro Land und kann feststellen, wie viele Menschen unterhalb dieser leben und somit als arm zu bezeichnen sind. Es handelt sich hierbei um eine relative Methode, da die Armutsschwelle einzig anhand von landeseigenen Kriterien festgelegt wird. Schließlich kann man auch eine qualitative Analyse der Lebensbedingungen zugrunde legen, und darauf abzielen, die Empfindungen und Erlebnisse der Menschen, die sich als ausgegrenzt betrachten oder das Gefühl haben, auf dem Weg dorthin zu sein, zu verstehen. Diese Analyse stützt sich also auf Interviews mit den betroffenen Personen, in denen es um die ihnen verfügbaren Mittel und um zahlreiche Aspekte ihres Lebens geht (Kleidung, Freizeit, Unterkunft, Schulden, etc.). Der Vorteil der qualitativen Analyse besteht in dem sich bietenden Einblick in die Prozesse, die zur Ausgrenzung führen. Sie macht z.B. deutlich, dass arbeitslos zu sein nicht nur in dem Beziehen eines Ersatzeinkommen besteht, sondern auch weniger Kontakt zu anderen bedeutet und somit zu sozialer Isolation und dem Fehlen eines Freundes- und Bekanntenkreises führt. In der Untersuchung wird das Gefühl der Einsamkeit und Langeweile, das einen Langzeitarbeitslosen befallen kann, beschrieben, sie zeigt auf, dass er Mehrausgaben hat, etc. Die drei Methoden lassen sich gut miteinander kombinieren, da jede einzelne wertvolle Erkenntnisse bringt. Eine Betrachtung der sozialen Ausgrenzung im Rahmen der Euregio Maas-Rhein ist in vielerlei Hinsicht interessant. Zunächst einmal bietet sich die Gelegenheit, Daten und Zahlen von fünf Regionen, die, wenn es nicht um breiter angelegte Vergleiche auf europäischer oder internationaler Ebene geht, selten gemeinsam in einem Bericht behandelt werden, miteinander zu vergleichen. Zudem weist die Euregio Maas-Rhein als Euregio-Gebiet aufgrund der Nähe der fünf Regionen zum einen sehr große Ähnlichkeiten, zum anderen, aufgrund ihrer drei -4- unterschiedlichen Staatsstrukturen aber auch bedeutende Unterschiede auf. Dies ermöglicht eine Aussage darüber, in welchen Punkten diese Regionen vergleichbar sind und in welchen nicht. Und schließlich, in Anbetracht des die Europäische Union ausmachenden Integrationswillens, bietet ein euregionaler Vergleich auch die Möglichkeit, festzustellen, inwieweit dieser auf lokaler Ebene von fünf Grenzregionen vorhanden ist. In den Jahren 2003 und 2004 erdacht und 2005 für einen Zeitraum von drei Jahren gestartet, sollte das euregionale Netzwerk gegen soziale Ausgrenzung (RECES) die Zusammenarbeit im Bereich des Wissens und des Kampfes gegen soziale Ausgrenzung fördern. RECES wurde auf einem assoziativen Pfeiler, der Treffen und Events mit lokalen Akteuren der Euregio, die auf dem Gebiet der sozialen Ausgrenzung tätig sind, ermöglicht hat (Verbände, Akteure aus dem Gesundheitsbereich, NROs, etc.), und auf einem „Forschungs”-Pfeiler, der sich aus mehreren Universitäten und Hochschulen der Euregio zusammensetzte, um Wissen über soziale Ausgrenzung auszutauschen und zu verbreiten, aufgebaut und sollte so Plattform des Austauschs zwischen Akteuren, die nie oder nur selten die Möglichkeit zu einem Treffen haben, sein. Für den zweiten Pfeiler („Forschung”) wurden drei Aufgaben festgelegt. Erste Aufgabe sollte die Abfassung eines Berichts über soziale Ausgrenzung aus euregionalem Blickwinkel sein, was mit vorliegendem Text erfolgreich umgesetzt wurde. Als zweites sollten umfassende Kolloquien über soziale Ausgrenzung organisiert werden und als drittes sollten Seminare in den verschiedenen Städten der Euregio Maas-Rhein veranstaltet werden. Die praktische Umsetzung bestand in zwei in Lüttich abgehaltenen Kolloquien. Bei ersterem ging es um die Notwendigkeit, eine euregionale Aktion zur Bekämpfung sozialer Ausgrenzung in der Euregio Maas-Rhein ins Leben zu rufen, bei zweiterem standen soziale Integration und Bürgerschaft in der Euregio im Mittelpunkt. Ein weiteres Ergebnis des RECES war die Organisation von vier Seminaren: In Eupen zum Thema „Kindheit, Jugend und Armut: Ausgrenzung bekämpfen!”, in Hasselt zum Thema „An den sozialen Zusammenhalt in der EMR angepasste Hochschulbildung”, in Aachen zum Thema „Migrantenorganisationen und die Herausforderung Integration” und schließlich in Lüttich zum Thema „Armut und Immigration”. -5- Abgesehen von dieser kleinen Einleitung ist vorliegender Bericht in vier Teile gegliedert. Der erste Teil greift die fünf Berichte über die fünf Regionen der Euregio Maas-Rhein auf. Nach einer Beschreibung des allgemeinen Zusammenhangs sind in jedem Bericht einige Daten über Bevölkerung, Beschäftigung, Gesundheit, Bildungswesen und Wohnungssituation sowie die politischen Maßnahmen in diesen Bereichen zusammengestellt. Jeder Bericht ist mit einer Bibliographie versehen. Im zweiten Teil wird eine Queranalyse der fünf Berichte vorgenommen. Diese zielt zunächst auf das Wesen eines Euregio-Gebiets und den Sinn sowie die Grenzen eines Vergleichs in diesem Bereich ab. Dann werden eine Reihe von Themen in vergleichender Hinsicht wieder aufgegriffen, so z.B. Beschäftigung und Arbeitslosigkeit, Gesundheit, Unterstützung und soziale Sicherheit oder auch die Situation der Ausländer in der Euregio Maas-Rhein. Der dritte Teil basiert auf fünf Fallstudien, die im Rahmen der Tätigkeiten des RECES durchgeführt wurden. Jeder Text veranschaulicht ein spezifisches, soziale Ausgrenzung betreffendes Problem. Bei den Fallstudien handelt es sich um autonome Beiträge, die die Lektüre der fünf Sozialberichte sowie die Euregio-Analyse bereichern sollen. Im vierten Teil sind schließlich noch im Internet verfügbare Quellen zusammengestellt, die dem Leser die Möglichkeit bieten sollen, die Analyse und Suche nach Informationen zur sozialen Ausgrenzung in der Euregio Maas-Rhein noch weiter zu führen. Dieser Bericht beruht zugleich auf individueller als auch auf gemeinschaftlicher Arbeit. Einleitung und Euregio-Analyse sind ein Gemeinschaftswerk. Bei den Sozialberichten und Fallstudien handelt es sich um Arbeiten, die jeder Forscher auf Basis seiner eigenen Quellen und Mittel vorgenommen hat. Allgemein kann man sagen, dass der Bericht Sammlung und Synthese der dreijährigen Gruppenarbeiten des RECES-Projekts darstellt. Unser Dank gilt... Den ersten Juni 2008 -6- Jérôme Jamin Almut Kriele Tanja Mertens Karel Toussaint Ilse Vanderstukken Gwendolyn Verhulst -7-