Erschienen in: In: Sozial Aktuell, 2006, Heft 11, S. 17-18. Daniel Gredig / Elena Wilhelm Kehrseiten der Sozialen Arbeit Blinde Flecken in Forschung und Theoriebildung Forschung in Sozialer Arbeit und theoretische Reflexion haben das Bewusstsein dafür geschärft, dass Soziale Arbeit als wohlfahrtsstaatlich initiierte Integrationsarbeit auch ein Potenzial zu Ausgrenzung hat. Die Prozesse, die dahin führen und dafür Akzeptabilität schaffen, sind aber bislang unerforscht. Durch die Orientierung der Sozialen Arbeit an neueren modernisierungstheoretischen Ansätzen in den 1990er Jahren und der Versuch der Re-Etablierung des angeblich verloren gegangenen Subjekts in sozialgeschichtlichen Arbeiten der letzten Jahre kam es zu einer Vernachlässigung der Forschung zum Spannungsfeld von integrierender Hilfe, disziplinierender Normalisierung, Sanktion und Ausgrenzung. Die Institutionen der Soziale Arbeit sind Agenturen mit dem Auftrag der sozialen Integration. Dieser Integrationsauftrag bestimmte und bestimmt nach wie vor die Zielvorgaben der Sozialen Arbeit und das Selbstverständnis der in diesen Organisationen Tätigen als eine Form von Hilfe. Der theoretische Diskurs über Soziale Arbeit vollzieht dies ebenfalls nach:1 „Sozialpädagogisches Handeln zielt auf Integration von Menschen in belasteten Lebenslagen, die in Gesellschaften und Gemeinschaften an den Rand gedrängt oder gar ausgegrenzt werden.“2 Diese Auffassung von Sozialer Arbeit bildet seit langem den Kern sozialpädagogischen/sozialarbeiterischen Denkens. Dabei stellt sich für die Soziale Arbeit die Frage, wie Bildung, Erziehung und Hilfe dazu beitragen können, dass Ausgrenzungen von Einzelnen oder von ganzen Gruppen vermieden werden. Der Auftrag wie auch das Selbstverständnis der in diesem Bereich Tätigen, auf die soziale Integration ihrer Klientel hinzuwirken, verbürgen nun allerdings nicht, dass die institutionellen Regelungen und beruflichen Praxen in der Tat auch eine Hilfe zur Integration darstellen. In ihrem Vollzug schafft Soziale Arbeit immer auch neue Ordnungen, normiert, normalisiert und diszipliniert auch entlang dieser Ordnungen und trägt – wird diese Ordnung von der Klientel verfehlt – mit ihren Sanktionen selbst zur sozialen Ausgrenzung bei. Dennoch geniessen diese Agenturen der Integrationsarbeit, die auch Ausgrenzung erzeugen, gesellschaftliche Akzeptabilität. Im Zuge der kritischen Wende in den 1970er und 1980er Jahren wurden die Kehrseiten der Sozialen Arbeit deutlich gemacht. Soziale Arbeit wurde als Institution beschrieben, die bestehende Herrschaftsverhältnisse stabilisiert, zur Reproduktion von Arbeitskräften und zur Unterdrückung von Widerstand beiträgt. Oder sie wurde als intermediäre Instanz gefasst, die an der „Kolonialisierung der Lebenswelt“ mitwirkt.3 Insbesondere auch seit der Heimkritik darf deshalb als bekannt gelten, dass Soziale Arbeit als Praxis nicht nur Hilfe leistet und Integration fördert und unterstützt. Im Kontext der neueren modernisierungstheoretischen Ansätze wird die desintegrierende Funktion der Sozialen Arbeit als Dienstleistung im deutschsprachigen theoretischen Diskurs der Sozialen Arbeit neuerdings jedoch negiert.4 Auf empirisch wenig ausgewiesener Basis wird stattdessen eine Erfolgsgeschichte der Sozialen Arbeit konstruiert.5 Der qualitative Funktionswandel der Sozialen Arbeit wird quantitativ zu belegen versucht: Die Soziale Arbeit sei diejenige Profession, die sich in diesem Jahrhundert am meisten ausgedehnt habe. Mit der auf diese Erfolgsgeschichte verweisenden Metapher des „sozialpädagogischen Jahrhunderts“6 soll zudem die Normalisierung und Entstigmatisierung der Sozialen Arbeit hervorgehoben werden, die sich von der modernen, wohlfahrtsstaatlich mitkonstituierten Profession hin zu einer sozialpolitisch unabhängigen Profession entwickelt habe. Die Frage nach Ausgrenzungsprozessen durch die Soziale Arbeit wird damit als überflüssig ad acta gelegt. Mitunter wird im Kontext modernisierungstheoretischer Ansätze die „Exklusionsverwaltung“ gar zum sozialarbeiterischen Ziel erhoben.7 Diese Funktionsbestimmung resultiert aus der Analyse, dass die Soziale Arbeit mit der Zunahme der Prozesse der sozialen Ausgrenzung überfordert ist und in manchen Fällen nicht mehr kann, als Ausgrenzung zu verwalten. Dass sie mitunter selber solche Prozesse einleitet und mit dieser Funktionsbestimmung verstärkt, wird in diesem Ansatz jedoch nicht thematisiert. Dies scheint auch in andern Sprachregionen Europas nicht wesentlich anders zu sein. Die Arbeitsgruppe um Janet Batsleer am Department Community Studies an der Metropolitan University Manchester stellt eine der wenigen Gruppen von Forschenden in Europa dar, die das Bewusstsein um diese Zusammenhänge heute noch wach halten und aus dieser Perspektive auch Untersuchungen zur Sozialen Arbeit in Grossbritannien durchführt.8 Auch in der Geschichtsschreibung zur Sozialen Arbeit werden die Analysen der Sozialen Arbeit als potenziell disziplinierender und ausgrenzender Ordnungsmacht relativiert.9 Die Arbeiten gehen dabei nicht nur zur berechtigten Berücksichtigung der Handlungsspielräume des Klientels über, sondern stellen angesichts des Widerstands von Klientinnen und Klienten in Frage, ob überhaupt noch von Disziplinierung und Ausgrenzung gesprochen werden dürfe. Vom Widerstand gegen die disziplinierende Zumutung durch Akteure des Wohlfahrtsstaates wird vorschnell darauf geschlossen, Disziplinierung sei inexistent. Damit wird aber offen gelassen, wogegen sich denn der Widerstand des Klientels gerichtet haben sollte, wenn nicht gegen einen Versuch, sie fremd zu bestimmen, zu normalisieren und gegebenenfalls zu sanktionieren. Diese erneute Ausblendung der Kehrseite Sozialer Arbeit verhindert, dass diese Prozesse analysiert und auf ihre Bedingungen hin untersucht werden können. Es gilt deshalb künftig über die Beschreibung der normierenden, normalisierenden, disziplinierenden und ausgrenzenden Praxen hinaus zu gehen und nach den Prozessen zu fragen, in denen die Soziale Arbeit die Akzeptabilität auch für ihre ausgrenzenden Praxen herstellt. Es geht um den Versuch der Erklärung von Prozessen der sozialen Integration und der sozialen Ausgrenzung. Es müsste hierfür erstens untersucht werden, unter welchen Bedingungen Soziale Arbeit als im Grunde institutionalisierte soziale Integrationsarbeit in gesellschaftlich akzeptable Ausgrenzungsprozesse umschlägt. Es müsste zweitens untersucht werden, wie diese Prozesse der Schaffung von Akzeptabilität von Ausgrenzung verlaufen und welche Kämpfe zwischen den von Ausgrenzung Betroffenen und den Ausgrenzungsagenturen stattfinden und in welchen Formen von Widerstand einerseits und von Disziplinierung und Normalisierung andererseits sie Niederschlag finden. Drittens müssten die Effekte dieser Prozesse auf die Entwicklung der Sozialen Arbeit als Praxis selbst untersucht werden. Disziplin wie Profession Sozialer Arbeit sind in der heutigen Situation aufgerufen, die Analyse dieser Zusammenhänge und Dynamiken vertieft voranzutreiben und die daraus hervorgehenden Erkenntnisse in der disziplinären Theorieentwicklung systematisch zu berücksichtigen. Es müssen neue Perspektiven für die Sozialpolitik und Handlungsoptionen für die eigene Praxis entwickelt werden, die nicht zur Verschärfung oder Perpetuierung von sozialer Ungleichheit beitragen. Literatur Batsleer, J./Humphries, B. (eds.) (2000): Welfare, Exclusion and Political Agency. London/New York. Bommes, M./Scherr, A. (1996): Soziale Arbeit als, Exklusionsvermeidung, Inklusionsvermittlung und/oder Exklusionsverwaltung. In: Merten, R./Sommerfeld, P./Koditek, T. (Hrsg.) (1996): Sozialarbeitswissenschaft – Kontroversen und Perspektiven. Neuwied/Kriftel/Berlin, S. 93–119. Habermas, J. (1981): Theorie des kommunikativen Handelns. 2 Bde. Frankfurt a.M.. Merten, R. (1997): Autonomie der Sozialen Arbeit. Weinheim, München. Merten, R./Olk, T. (1996): Sozialpädagogik als Profession. Historische Entwicklung und künftige Perspektiven. In: Combe, A./Helsper, W. (Hrsg.): Pädagogische Professionalität. Untersuchungen zum Typus pädagogischen Handelns. Frankfurt a.M., S. 570–613. Mollenhauer, K. (1959): Die Ursprünge der Sozialpädagogik in der industriellen Gesellschaft: Eine Untersuchung zur Struktur sozialpädagogischen Denkens und Handelns. Weinheim. Peukert, D. J. K. (1986): Grenzen der Sozialdisziplinierung. Aufstieg und Krise der deutschen Jugendfürsorge 1878–1932. Köln. Ramsauer, N. (2000): „Verwahrlost“. Kindswegnahme und die Entstehung der Jugendfürsorge im schweizerischen Sozialstaat 1900–1945. Zürich. Rauschenbach, Th. (1999a): Das sozialpädagogische Jahrhundert. Analysen zur Entwicklung Sozialer Arbeit in der Moderne. Weinheim, München. Sache, Ch. (1998): Historische Forschung und Soziale Arbeit. In: Rauschenbach, Th./Thole, W. (Hrsg.): Sozialpädagogische Forschung. Weinheim/München, S. 141–156. Scherr, A. (1999): Inklusion/Exklusion – Soziale Ausgrenzung. Verändert sich die gesellschaftliche Funktion der Sozialen Arbeit? In: Treptow, R./Hörster, R. (Hrsg.): Sozialpädagogische Integration. Frankfurt a.M., S. 39–56. Thiersch, H. (1992a): Lebensweltorientierte soziale Arbeit : Aufgaben der Praxis im sozialen Wandel. Weinheim/München. Thiersch, H. (1992b): Das sozialpädagogische Jahrhundert. In: Rauschenbach, Th./Gängler, H. (Hrsg.) Soziale Arbeit und Erziehung in der Risikogesellschaft. Neuwied, S. 9–24. Treptow, R./Hörster, R. (1999): Sozialpädagogische Integration heute. In: dies.: Sozialpädagogische Integration. Frankfurt a.M., S. 9–10. 1 2 3 4 5 6 7 8 9 Vgl. z.B. Mollenhauer 1959; Rauschenbach 1992; Thiersch 1992a; Bommes/Scherr 1996; Merten 1997 sowie die Beiträge in Treptow/Hörster 1999 Treptow/Hörster 1999: 9 Vgl. z.B. Habermas 1981 Vgl. z.B. Thiersch 1992b; Merten 1997 Vgl. z.B. Merten 1997; Merten/Olk 1996 Rauschenbach 1999a Vgl. z.B. Scherr 1999: 53 Vgl. Batsleer/Humphries 2000 Vgl. z.B. Peukert 1986; Ramsauer 2000