Mittendrin und trotzdem draußen?

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Aus der aktuellen WZB-Forschung
Mittendrin und trotzdem draußen?
Soziale Ungleichheit in Deutschland
Soziale Ausgrenzung ist zu einem allgemeinen Lebensrisiko geworden und betrifft heute auch die Mittelschicht. So lautet eine populäre These. Empirische
Befunde belegen aber, dass die Risiken nicht gleichmäßig verteilt sind. Angst vor Arbeitsplatzverlust und
nicht ausreichender sozialer Sicherung im Bedarfsfall
nimmt zwar auch in mittleren Bevölkerungsschichten
zu. Aber nach wie vor entscheiden vor allem Langzeitarbeitslosigkeit und dauerhafte Armut über Teilhabechancen. Organisierter Protest und politische
Radikalisierung gehen damit nicht einher, im Gegenteil, in prekären Lebenslagen herrscht Resignation.
Petra Böhnke [Foto: David Ausserhofer]
Petra Böhnke, geboren 1969 in
Lüneburg, Studium der Soziologie,
Politologie und Germanistik in Göttingen, London und Berlin, seit
1998 Mitarbeiterin der Abteilung
„Ungleichheit und soziale Integration“, Promotion 2004 an der
Freien Universität Berlin. Forschungsinteressen: Soziale Ungleichheit und Sozialstrukturanalyse, prekäre Lebenslagen und
soziale Integration, Wandel der
Erwerbsarbeit.
Summary
Social Inequality
It is a popular assumption that social exclusion has become a general
risk to one’s livelihood and now
even for the middle class. Empirical
research shows, however, that this
risk is not distributed evenly
throughout society. Fears of losing
one’s job or having an insufficient
social security network are indeed
increasing in more well-off population groups. Yet social disadvantages such as long-term unemployment and lasting poverty still play a
powerful role in determining one’s
chances of participation in society.
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Aktuelle Zeitdiagnosen in Wissenschaft und
Feuilleton zeichnen das Bild einer sich polarisierenden Gesellschaft. Anhaltend hohe Arbeitslosigkeit, eine niedrige Geburtenrate und
die lange Konjunkturflaute münden in eine
Diskussion um das Ende des Wohlfahrtsstaates alter Prägung. Nicht mehr die Absicherung
entsprechend des gewohnten Lebensstandards, sondern Grundsicherung und Privatisierung sozialer Risiken bilden die Basis der Reformbemühungen. Damit gehen Degradierungsängste einher, und weite Teile der Bevölkerung sind verunsichert.
„Ausgrenzung“ und „Teilhabe“ sind in der Debatte um soziale Ungleichheit zu Schlüsselbegriffen geworden. Dabei geht es um veränderte Formen sozialer Ungleichheit und um
eine Zunahme von Risikogruppen. Soziale
Ausgrenzung, das heißt Deklassierung und
Isolation. Hat sich die Ungleichheitsforschung
bisher wesentlich der Verteilung von materiellen Ressourcen gewidmet, so verweist der
Ausgrenzungsdiskurs auf mehr als die Sicherung des Lebensstandards. Er bezieht sich umfassender auf eingeschränkte Teilhabechancen
mit Blick auf soziale Rechte und etablierte Gerechtigkeitsnormen. Die Folgen von Arbeitslosigkeit und Armut für den gesellschaftlichen
Zusammenhalt werden in den Mittelpunkt gerückt. Theoretische Debatten um soziale Ungleichheit kreisen somit nicht mehr nur um
Verteilungsfragen, sondern widmen sich Aspekten der Zugehörigkeit und Integration.
Zwei Thesen, die im Rahmen des Ausgrenzungsdiskurses populär geworden sind, werden im Folgenden anhand empirischer Befunde überprüft: zum einen die Annahme,
dass die Erfahrung von Marginalisierung und
eingeschränkten Teilhabechancen auch mittlere Gesellschaftsschichten erfasst hat und soziale Ausgrenzung somit quer zur sozialen
Schichtung verlaufe. Zum anderen soll es um
die viel diskutierten politischen Folgen sozialer
WZB-Mitteilungen
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Ausgrenzung gehen. In offiziellen EU-Dokumenten wird immer wieder betont, dass mit
eingeschränkten Teilhabechancen die Gefahr
eines gestärkten politischen Extremismus einhergehe und der Konsens über sozialstaatliche
und demokratische Grundlagen des Zusammenlebens in Frage gestellt werde. Protest
oder Apathie – was sind die Folgen eingeschränkter Teilhabechancen?
Wann fühlen sich Menschen ihrer Gesellschaft
nicht mehr zugehörig? Mit Hilfe von Bevölkerungsumfragen lässt sich der Zusammenhang
zwischen Benachteiligungen und der subjektiven Einschätzung sozialer Teilhabechancen erklären und die Frage beantworten, wer besonders von Anerkennungs- und Zugehörigkeitsverlust betroffen ist. Datengrundlage sind die
Wohlfahrtssurveys, repräsentative Bevölkerungsumfragen aus den Jahren 1998 und 2001
in Deutschland, und Eurobarometer-Umfragen mit Daten aus der gesamten EU. Gefragt
wurde beispielsweise nach der Zufriedenheit
mit den Möglichkeiten, am gesellschaftlichen
Leben teilzunehmen oder ob man sich ausgegrenzt fühle. Andere Fragen thematisierten
Anerkennungsdefizite und wahrgenommene
Nutzlosigkeit aufgrund der persönlichen Einkommens- oder Erwerbssituation.
Soziale Ausgrenzung als Lebensrisiko
Alle Indikatoren spiegeln zunächst die im europäischen Vergleich überdurchschnittlich gelungene Integration weiter Teile der – mit
Umfragen zu erreichenden – deutschen Bevölkerung wider. Kaum ein Befragter gibt an, sich
voll und ganz aus der Gesellschaft ausgegrenzt
zu fühlen. Erfahrungen von Marginalisierung
sind jedoch durchaus präsent: Im Jahr 2001
geben sieben Prozent der Bevölkerung an, relativ unzufrieden mit ihren persönlichen Teilhabemöglichkeiten zu sein. Im Jahr 2003 können zehn Prozent der Deutschen der Aussage
„zustimmen“ oder „sehr zustimmen“, sie fühlten sich aus der Gesellschaft ausgegrenzt.
Zum Vergleich: In den alten EU-15-Mitgliedsstaaten sind es durchschnittlich 12 Prozent,
am wenigsten verbreitet sind Ausgrenzungserfahrungen in Dänemark (5 Prozent), am weitesten in Großbritannien (22 Prozent).
Weitere Auswertungen haben ergeben, dass
nicht alle Bevölkerungsschichten gleichermaßen vom Risiko sozialer Ausgrenzung betroffen sind (Abbildung 1). Langzeitarbeitslosigkeit und Armut, insbesondere wenn sie von
Dauer ist, gehen mit einer deutlichen Ver-
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schlechterung von Teilhabemöglichkeiten einher. Reichtum, Wohlstand und eine gesicherte
berufliche Stellung führen zu einer überdurchschnittlichen Zufriedenheit mit der gesellschaftlichen Integration. Neben einem fehlenden Berufsabschluss und niedrigem Bildungsniveau sind auch unsichere Beschäftigung,
Krankheit und hohes Alter Faktoren, die Erfahrungen von Marginalisierung mit sich bringen und verstärken. Die Einschätzung, außen
vor zu sein, beruht auf Lebenssituationen, die
neben starker materieller Benachteiligung
Identitätsverlust und mangelnde Wertschätzung mit sich bringen.
til) am stärksten davon betroffen. In höheren
Einkommenspositionen fällt die Zunahme an
Orientierungsverlust moderater aus. Personen
mit sehr hohem Einkommen zeigen sogar einen geringfügigen Rückgang dieser Desintegrationssymptome. Fazit: Die gesellschaftliche
Mitte ist zwar nicht massenhaft benachteiligt,
marginalisiert und von sozialer Ausgrenzung
bedroht, wohl aber nachweislich zunehmend
verunsichert.
Die Einbindung in soziale Netzwerke kann
dieser Ausgrenzungsgefahr entgegenwirken.
Doch die Ergebnisse zeigen, dass es nur selten
gelingt, Armut oder Arbeitslosigkeit mit sozialem Rückhalt zu kompensieren. Gerade Bevölkerungsgruppen, die materiell benachteiligt
sind und sozialen Beistand am nötigsten hätten, können nur selten darauf zurückgreifen.
Die These sozialer Ausgrenzung als allgemeines Lebensrisiko für breite Bevölkerungsschichten bestätigen die Analysen nicht. Mehrfache und dauerhafte Benachteiligungen –
materiell, sozial und am Arbeitsmarkt – betreffen nahezu ausschließlich gering Qualifizierte
sowie Angehörige der un- oder angelernten
Arbeiterschicht. Soziale Ungleichheiten bestehen hartnäckig fort; Bildung und Ausbildung
sind nach wie vor zentrale Merkmale der
Chancenzuweisung.
Im Verlauf des letzten Jahrzehnts haben jedoch
Verunsicherungen hinsichtlich der Arbeitsplatzgarantie und der sozialen Absicherung in
Deutschland zugenommen, die auch mittlere
Gesellschaftsschichten nicht mehr verschonen.
Nimmt man die Angst vor Arbeitslosigkeit als
Indikator für ein Klima der Verunsicherung, so
lässt sich im Zeitverlauf ein stetiger Zuwachs
von Sorgen und Nöten feststellen (Abbildung 2,
siehe S. 34). Zwar ist zu allen drei Erhebungszeitpunkten – 1988, 1998 und 2004 – die
Angst vor Arbeitslosigkeit in der Arbeiterschicht am weitesten verbreitet. In der Mittelschicht ist sie nur halb so groß, und die obere
Mitte bzw. Oberschicht berichtet am seltensten von der Sorge, den Arbeitsplatz zu verlieren. Dennoch hat bei allen drei Bevölkerungsgruppen die Verunsicherung im Laufe der
Jahre zugenommen. Auch in der Mitte der Gesellschaft bangt heute jeder zehnte Erwerbstätige um seinen Arbeitsplatz.
Auch eine allgemeine Orientierungslosigkeit
(„Das Leben ist so kompliziert geworden, dass
man sich fast nicht mehr zurecht findet“) hat
quer durch alle Bevölkerungsschichten im
Laufe der 1990er Jahre zugenommen. Wiederum sind jedoch benachteiligte Bevölkerungsgruppen (niedrigstes Einkommensquin-
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Darüber hinaus äußern Menschen in benachteiligten Lebenssituationen öfter negative Einschätzungen zum Leben im Allgemeinen und
gegenüber ihren Mitmenschen. Allgemeines
Vertrauen ist erheblich geringer, je prekärer die
Lebenslage ist. Auch Passivität ist verbreiteter,
ebenso wie die Einschätzung, das Leben sei zu
kompliziert. Insbesondere Langzeitarbeitslosigkeit und dauerhafte Armut, die am ehesten
soziale Ausgrenzung bedeuten, führen zu starken Einbußen an Optimismus und Vertrauen.
Ein wesentlicher Bestandteil der Diskussion
um soziale Ausgrenzungsrisiken besteht in der
Annahme, dass sich mit ihnen Konflikte ausbreiteten, die den sozialen Frieden gefährden.
Desintegration, so wird befürchtet, drücke sich
in der Delegitimierung von Sozialstaat und
Demokratie aus. Funktionieren gesellschaftliche Integrationsmodi nicht mehr, so gehört es
seit Durkheim zu den soziologischen Grundannahmen, dass die sozialmoralische Bindung
an die vorherrschende Gesellschaftsordnung
schwächer wird. Verunsicherung und Entfremdung, aber auch Protest und Radikalisierung
können die Folgen sein.
Weiterführende Literatur:
Petra Böhnke, Am Rande der Gesellschaft. Risiken sozialer Ausgrenzung, Verlag Barbara Budrich, Opladen 2005
Heinz Bude, Das Phänomen der Exklusion. Der Widerstreit zwischen
gesellschaftlicher Erfahrung und soziologischer Rekonstruktion, in:
Mittelweg 36, 13 (4), 2004, S. 3–
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Gefährdung der Demokratie?
Es stellt sich also die Frage, ob sich bei Benachteiligten sichtbarer Protest formiert oder
ob Resignation und Rückzug vorherrschen. Ist
die Bewältigung prekärer Lebenslagen von
mangelnder Systemunterstützung und politischem Extremismus gekennzeichnet oder
werden Benachteiligungen eher in den persönlichen Verantwortungsbereich jedes Einzelnen
gelegt?
Martin Kronauer, Exklusion. Die Gefährdung des Sozialen im hoch entwickelten Kapitalismus, Frankfurt
am Main 2002
Auswertungen des Wohlfahrtssurveys aus dem
Jahr 2001 zeigen, dass die Kritik am Gesellschaftssystem wächst und dessen Funktionsfähigkeit skeptischer beurteilt wird, wenn Teilhabechancen als eingeschränkt wahrgenommen
werden. Verfestigte prekäre Lebenslagen und
damit verbundene Ausweglosigkeit stehen in
engem Zusammenhang mit einer ausgeprägten Kritik an den demokratischen und sozialstaatlichen Einrichtungen.
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WZB-Mitteilungen
Robert Castel, Die Fallstricke des
Exklusionsbegriffs, in: Mittelweg
36, 9 (3), 2000, S. 11–25
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Weiterhin zeigt sich, dass prekäre Lebensbedingungen die Wahrscheinlichkeit erhöhen,
auf politische Partizipation zu verzichten. Die
Hälfte derjenigen, die in mehreren Lebensbereichen unterdurchschnittlich versorgt sind
und sich auch selbst als marginalisiert wahrnehmen, ist 1998 nicht zur Wahl gegangen.
Dies spricht deutlich gegen die Formulierung
von Protest mit dem Ziel, politische Entscheidungsträger auszuwechseln. Die Unterstützung extremistischer Parteien erhöht sich in
prekären Lebenslagen nur geringfügig. Viel öfter geben die Befragten an, keiner spezifischen
Partei zuzuneigen, was mit dem vorherrschenden Entschluss übereinstimmt, auf die eigene
Stimme zu verzichten. Dies weist auf ein massives Repräsentationsdefizit von Bürgern in benachteiligten Lebenslagen hin.
Ausgrenzungserfahrungen führen in Deutschland also nicht dazu, dass sich Protest organisiert und politisch zum Ausdruck bringt. Die
Zurechnung prekärer Lebenslagen wird vorrangig in den persönlichen Verantwortungsbereich verlagert und äußert sich in Resignation
und Hoffnungslosigkeit. Es besteht die Gefahr,
dass sich politische Mitbestimmung und gesellschaftspolitischer Konsens mehr und mehr
auf die gesicherten Mittel- und Oberschichten
beschränken und Menschen in prekären Lebenslagen auf Dauer vom politischen Prozess
und einer unterstützenden Interessenvertretung isoliert werden.
Trotz der wissenschaftlich nur begrenzten
Reichweite des Ausgrenzungsbegriffes und der
folgenschweren – und nicht zuletzt voreiligen
– Schlussfolgerungen zum Zustand der deutschen Gesellschaft leistet die öffentliche Debatte um soziale Ausgrenzungsrisiken doch
Beachtliches: Sie verändert die Sichtweise auf
Armut und Arbeitslosigkeit, rückt Fragen sozialer Teilhabe in den Mittelpunkt und erkennt
Degradierungsängste als soziale Tatsachen an.
Der Diskurs über Ungleichheit ist zu einem
Diskurs über Integration geworden.
Die Ergebnisse der Studie über Ausgrenzungsrisiken in Deutschland zeigen politischen Handlungsbedarf in mehrfacher Hinsicht auf: Niedrige Bildung und ein fehlender
Ausbildungsabschluss erweisen sich nach wie
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vor als zentrale, Ungleichheit generierende
Merkmale. Langzeitarbeitslosigkeit und dauerhafte Armut sind die wesentlichen Faktoren, die im Mittelpunkt einer Politik zur Bekämpfung sozialer Ausgrenzung stehen müssen. Arbeitsmarktpolitik allein reicht dafür
nicht aus. Geht man davon aus, dass trotz aller Beschäftigungsinitiativen ein Teil der Bevölkerung schwer integrierbar bleibt und Erwerbsbiographien immer unstetiger werden,
muss über die Förderung sozialer Integration
jenseits der Erwerbsarbeit nachgedacht werden, um Hoffnungslosigkeit, Marginalisierung
und Resignation entgegen zu wirken. Generell stellt sich damit die Frage, wie gesellschaftliche Integration zukünftig verwirklicht
werden kann, und wie realistisch die Orientierung am Ziel der Vollbeschäftigung ist. Reflexionen über eine Entkopplung von Erwerbsarbeit und sozialer Sicherung sowie
über eine „Politik der Anerkennung“, in deren Mittelpunkt nicht mehr nur Erwerbsarbeit
steht, sind wichtige Schritte.
Petra Böhnke
Abteilung „Ungleichheit und soziale Integration“
Verkehrte Infrastrukturpolitik
Nicht intendierte Effekte guter Erreichbarkeit
Infrastrukturpolitik ist in Deutschland traditionell
darauf ausgelegt, einen Beitrag zur vom Grundgesetz
geforderten Angleichung der Lebensverhältnisse zu
leisten. Die Versorgung mit Basisdienstleistungen wie
Wasser, Strom, Telekommunikation und auch Verkehr ist vom daseinsvorsorgenden Staat unabhängig
vom Wohnort zu gewährleisten. Diesen in der Verfassung verbrieften Anspruch lässt sich die Bundesrepublik Deutschland viel kosten. Es ist aber zu fragen, ob
demograühische und wirtschaftsstrukturelle Verwerfungen zu neuen Ungleichheiten führen.
Allein im Zeitraum von 1991 bis 1998 sind
rund 465 Milliarden Euro so genannter raumwirksamer Bundesmittel ausgegeben worden.
Dabei handelt es sich um Investitionen, die
zum Abbau von Disparitäten zwischen prosperierenden und weniger wohlhabenden Regionen beitragen und vor allen Dingen die „innere Einheit“ von Ost und West herstellen
sollten.
Das Ergebnis zeigt nun jedoch umgekehrte,
nicht intendierte Effekte: Durch die hervorragende Erschließung ländlicher Gebiete wird
die Beweglichkeit der Bewohner erheblich vergrößert. Die Entscheidungen über einen
Wechsel der Arbeitsstätte fallen – so lautet
hier die Hypothese – mit dem Wissen um eine
gute Verkehrsinfrastruktur leichter. Ein Pendlerdasein wird durch kürzere Reisezeiten erleichtert. Die Folge ist nicht, dass durch die
schnellen Verkehrsverbindungen die Lebensverhältnisse angeglichen werden. Die Abwanderung aus ländlich geprägten Regionen in
Richtung Ballungsräume verstärkt sich. Nicht
intendierte Effekte der Infrastrukturpolitik
nehmen Überhand – die räumlichen Unterschiede werden sogar größer.
Diese bisher vernachlässigten Effekte können
nur in enger Kooperation von demographi-
WZB-Mitteilungen Heft 110
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scher und verkehrswissenschaftlicher Forschung sowie der Regionalsoziologie verstanden werden.
Die Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse spielt im deutschen Föderalismus eine
große Rolle. Netzgebundene und infrastrukturbasierte Dienstleistungen gehören fest zum
Kanon der staatlichen Daseinsvorsorge. Sie
werden, wie beispielsweise der öffentliche Verkehr, in aller Regel in kommunaler Eigenregie
erbracht. Begründet wird das staatliche Engagement damit, dass bei diesen Versorgungsgütern ein Marktversagen zu erwarten ist, weil
die gewünschte hohe Qualität der Leistung
und eine langfristige Bereitstellung nur mit einer „Verpflichtung zur Bedürfnisbefriedigung
ohne Chance auf Gewinnerzielung“ erreicht
werden können, wie es in der klassischen Formulierung des Staatsrechtlers Ernst Forsthoff
heißt. Dies lasse sich nur durch öffentlichrechtliche Konstruktionen gewährleisten.
Der Staat garantiert durch die Einbindung aller
organisierten Interessengruppen den Zugang
zur gesellschaftlichen Teilhabe. Diese Garantie
basiert auf der Tradition der Daseinsvorsorge,
die ein umfassendes und materiell substanzielles Engagement des organisierten Gemeinwesens bei der Gestaltung und Gewährleistung
der individuellen Lebensumstände festschreibt.
Vom früheren Verkehrsminister Georg Leber
ist diese Teilhabepolitik in der berühmt gewordenen Zielsetzung umschrieben worden, dass
kein Bundesbürger weiter als 25 Kilometer
von der nächsten Autobahnauffahrt entfernt
wohnen solle.
Summary
Growing Disparities
In accordance with its constitution,
Germany’s infrastructure policy has
traditionally been designed to contribute to the adjustment of living
conditions. Demographics and economic shortcomings, however, have
resulted in new disparities. Phenomena such als ‘shrinkage’ and
’growth’ are now occuring simultaneously. There are more and more
indications that Germany’s infrastructure policy has not only failed in
its aim to improve regional development, reduce inequalities and develop rural areas, but that it has actually increased disparities due to
the high rate of mobility people are
prepared to accept. This new mobility enables people to travel faster
and more comfortably between
where they live and where they
work.
Mittlerweile ist das Verkehrsnetz in Deutschland überaus leistungsfähig: Deutschland hat
nach Belgien und den Niederlanden das dichteste Schienenfernverkehrsnetz Europas. Das
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