Tarek Badawia · Helga Luckas · Heinz Müller (Hrsg.) Das Soziale

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Tarek Badawia · Helga Luckas · Heinz Müller (Hrsg.)
Das Soziale gestalten
Tarek Badawia · Helga Luckas
Heinz Müller (Hrsg.)
Das Soziale
gestalten
Über Mögliches
und Unmögliches
der Sozialpädagogik
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.ddb.de> abrufbar.
.
1. Auflage Juni 2006
Alle Rechte vorbehalten
© VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2006
Lektorat: Stefanie Laux
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Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg
Druck und buchbinderische Verarbeitung: MercedesDruck, Berlin
Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier
Printed in Germany
ISBN-10 3-531-15082-0
ISBN-13 978-3-531-15082-6
Inhaltsverzeichnis
5
Inhaltsverzeichnis
Vorwort................................................................................................................. 7
Einleitung.............................................................................................................. 9
Teil I:
Der disziplinäre Blick auf die Gestaltung des Sozialen
Erika Richter / Heinz Sünker
Schiller und die Sozialpädagogik – Notate zum historischen
Verhältnis von Gesellschaft, Kultur und Sozialer Arbeit............................ 19
Eva Borst
Die vermessene Bildung ............................................................................. 41
Michael Winkler
Kleine Skizze einer revidierten Theorie der Sozialpädagogik .................... 55
Andreas Schaarschuch
Der Nutzer Sozialer Dienstleistungen als Produzent des „Sozialen“ .......... 81
Hans-Uwe Otto / Holger Ziegler
Managerielle Wirkungsorientierung und der demokratische Nutzwert
professioneller Sozialer Arbeit.................................................................... 95
Hans Thiersch
Normen, Grenzen, Strafen – eine Skizze .................................................. 113
Teil II: Sozialpädagogik als Gestaltung des Sozialen
Albert Scherr
Soziale Arbeit und die Ambivalenz sozialer Ordnungen .......................... 135
Walter Lorenz
Wie innovativ ist die Soziale Arbeit in Europa?
Möglichkeiten und Grenzen...................................................................... 149
Detlef Baum
Die Stadt in der Sozialen Arbeit –
eine andere Begründung der Sozialraumorientierung
in der Kinder- und Jugendhilfe ................................................................. 167
6
Inhaltsverzeichnis
Cornelia Schweppe / Gunther Graßhoff
Rekonstruktive Sozialpädagogik und sozialpädagogisches Handeln........ 185
Thomas Rauschenbach / Ivo Züchner
Was ist eigentlich mit der Jugend?
Zu „gefühlten“ und gemessenen Lagen der Jugend .................................. 199
Heinz Müller
Wie kommen Innovationen in die Jugendhilfe?
Praxisorientierte Jugendhilfeforschung und Praxisentwicklung
als Bildungsprozess................................................................................... 225
Teil III:
Mögliches und Unmögliches in der Gestaltung
der Differenz
Ursula Apitzsch
Die Migrationsfamilie:
Hort der Tradition oder Raum der Entwicklung interkultureller
biografischer Reflexivität? ........................................................................ 249
Georg Auernheimer
Nochmals über die Unmöglichkeit, Politik
durch Pädagogik zu ersetzen..................................................................... 265
Tarek Badawia
Die leise Vernunftstimme der Intrakulturalität –
kritische Anmerkungen zur „Reflexiven Interkulturalität“ ....................... 281
Merle Hummrich
Fremdheit als konstitutives Moment der Migrationsforschung................. 295
Paul Mecheril
Das Besondere ist das Allgemeine.
Überlegungen zur Befremdung des „Interkulturellen“.............................. 311
Werner Nell
Vom Nutzen und Nachteil des „Kultur“-Begriffs
in interkulturellen Arbeitsansätzen ........................................................... 327
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren ......................................................... 347
Vorwort
7
Vorwort
„Wer fertig ist, dem ist nichts recht zu machen;
Ein Werdender wird immer dankbar sein.“
(Johann Wolfgang von Goethe, Faust I)
Die Idee für den vorliegenden Band entstand als wir uns aus Anerkennung
für und Verbundenheit mit Franz Hamburger gefragt haben, wie lässt sich ein
Mensch mit gewissem Weltbürgertum, der humorvolle Pfälzer, der politisch
gestalterisch tätige Europäer, der Freund und Kumpel, der Projektmanager und
Ideengeber, der Soziologe mit kritischem Scharfsinn für Soziales und der Pädagoge mit feinem Einfühlungsvermögen für Individuelles, der engagierte Universitätsprofessor mit Wissen und Weisheit und nicht zuletzt der Doktorvater mit
Sinn für Nachwuchsförderung liebevoll zu seinem 60. Geburtstag ehren.
Franz Hamburger macht es den Widmenden offensichtlich nicht einfach.
Denn jede Festlegung widerstrebt seinem Charakter als Werdender, der sicherlich mit sechzig nie fertig, sondern für Streitstoff und konstruktive Kritik immer
dankbar ist. Daher diese Festschrift, oder genauer gesagt Streitschrift mit Beiträgen von Kolleginnen und Kollegen, die sich in einem für uns als Herausgeber
eindrucksvollen Enthusiasmus mit vielfältigen Thesen, Schriften und Ideen aus
lediglich drei Interessen- bzw. Erkenntnisgebieten Franz Hamburgers (Theorie
der Sozialpädagogik/Soziale Arbeit, Jugendhilfe und Migrationsforschung) auseinander gesetzt haben. Die Autorinnen und Autoren, bei denen wir uns an dieser
Stelle für die hervorragende Zusammenarbeit und tatkräftige Unterstützung bei
der Entstehung dieses Bandes herzlich bedanken möchten, diskutieren die Frage
nach der Gestaltung des Sozialen, die nach unserem Dafürhalten bei aller Vielfalt
der Interessen und Aktivitäten von Franz Hamburger ein zentrales Erkenntnisinteresse bildet.
Was dabei als Gestaltungsauftrag möglich aber auch als unmöglich zurück
gewiesen werden muss, um disziplinär, professionell und politisch die Sozialpädagogik zu verorten, wird in diesem Sammelband ansatzweise ausgelotet. Dabei
deckt der Sammelband längst nicht alle Fragestellungen und Arbeitsgebiete von
Franz Hamburger ab, noch konnten alle KollegInnen, WegbegleiterInnen und
NachwuchswissenschaftlerInnen um Beiträge gebeten werden. Da die Gestaltung
des Sozialen eine Daueraufgabe und der Werdende nie fertig ist, wird es hierzu
weitere Gelegenheiten geben müssen.
Mainz im April 2006
Tarek Badawia / Helga Luckas / Heinz Müller
Einleitung
9
Einleitung
Tarek Badawia/ Helga Luckas/ Heinz Müller
Das Soziale gestalten: Über Mögliches und Unmögliches der
Sozialpädagogik und Sozialarbeit
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts steht die Sozialpädagogik vor neuen und ambivalenten Herausforderungen. Auch wenn die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichem Wandel und wohlfahrtsstaatlichen Abbau- und Umbauprogrammen
die Sozialpädagogik seit je her in unterschiedlichen Konjunkturen beschäftigt,
vorangetrieben und zu praktischer, professioneller und theoretischer Positionierung und Reflexion gezwungen hat, so zeigt sich heute eine neue und veränderte
Ausgangssituation.
Gegenwärtig verweisen alle Gesellschaftsdiagnosen auf eine unüberschaubare Fülle von Aufgaben für die Sozialpädagogik, um das soziale Zusammenleben von Menschen zu gestalten, Bildungsprozesse zu ermöglichen und Bewältigungshandeln von Individuen in unterschiedlichen sozialen Kontexten und Lebensphasen zu unterstützen. Je entfesselter sich der globalisierte Kapitalismus
mit all seinen Folgeproblemen zeigt, desto unabdingbarer scheinen soziale
Dienstleistungen zur Herstellung der sozialen Balance einer Gesellschaft zu
werden. Der Ausbau sozialer Dienstleistungen im vorangegangenen sozialpädagogischen Jahrhundert (vgl. Thiersch 2002; Rauschenbach 1999) steht spiegelbildlich für ein entgrenztes Problemszenario (vgl. Böhnisch/ Schröer/ Thiersch
2005), für das sich die Sozialarbeit/Sozialpädagogik zuständig erklärt bzw. zuständig gemacht wurde. Insofern verwundert es nicht, dass trotz ihrer Etablierung als eigenständige wissenschaftliche Disziplin bis heute es unmöglich
scheint, sie als Ganzes von innen her darzustellen oder von außen her zu beschreiben (vgl. Hamburger 2003: 11).
Vor dem Hintergrund des derzeitigen ökonomisch-gesellschaftlichen Strukturwandels erhält die Sozialpädagogik nicht nur neue und wachsende Aufgaben,
sie wird gleichzeitig und zunehmend mehr auch aus dem sozialstaatlichen Rahmen ausgegliedert. Einerseits werden wohlfahrtsstaatliche Leistungen drastisch
abgebaut, andererseits entstehen neue sozialpädagogische Handlungsfelder, die
keineswegs mehr eindeutig der Profession und Disziplin zugeordnet werden
können. Die Ausgestaltung des Wohlfahrtsstaates folgt längst nicht mehr dem
Paradigma durch Recht und soziale Dienstleistungen soziale Gerechtigkeit und
gesellschaftliche Teilhabe herzustellen. Vielmehr dominieren wohlfahrtsstaatli-
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Tarek Badawia/ Helga Luckas/ Heinz Müller
che Programmstrukturen, die entlang neo-liberaler Orientierungen auf die technische Machbarkeit bei der Bearbeitung sozialer Probleme abheben, auf Markt und
Wettbewerb setzen, Problemlagen individualisieren und sozialpädagogisieren.
Dadurch entstehen nicht nur sozialpolitisch bedingte, sondern auch über die
Soziale Arbeit reproduzierte neue Inklusions- und Exklusionsprozesse. Letztlich
steht sie auch in der Gefahr zur Sozialtechnologie herabgestuft zu werden, die an
messbaren Effekten überprüft und außerhalb der gesellschaftlichen Problemzusammenhänge stehend, neuen Mechanismen der Instrumentalisierung unterliegt.
Zu den einschneidenden Veränderungen der heutigen (Sozial-)Pädagogik
unter theoretischen und professionellen Gesichtspunkten gehören zweifellos die
mit der Globalisierung und den Integrationsentwicklungen in Europa verbundenen Prozesse. Migration, Ein- und Zuwanderung sind zwar politische und soziologische Kategorien, diese müssen aber konkret in jedem Feld pädagogischer
Professionalität im Sinne der kommunikativen Regelung transnationaler gesellschaftlicher Verhältnisse gestaltet werden. Die Gestaltung solcher innovativen
Wandlungsprozesse vom nationalen sowie internationalen Umfang wirken sich
sicherlich sowohl auf den sozialpädagogischen Theoriediskurs der Gegenwart als
auch auf das konkrete (sozial-)pädagogische Handeln aus. Die Gestaltung des
Interkulturellen bzw. der mit zunehmender Pluralisierung einhergehenden
Transkulturalität des Sozialen gewinnt zunehmend bei jeder Neubestimmung
sozialpädagogischen Denkens an Gewicht. Der Sozialpädagogik fallen im schulischen sowie – und genau so wichtig im Sinne des sozialen Friedens – im außerschulischen Bereich herausfordernde Aufgaben zu, die u. a. mit Folgeproblemen
der sozial-kulturellen Strukturveränderungen und der Durchmischung von Globalem, Nationalem und Lokalem zusammenhängen (vgl. Schäfer 1998). Erschwert wird die Leistung der Sozialpädagogik im Umgang mit Zugewanderten
nicht zuletzt dadurch, dass die Sozialpädagogik und Sozialarbeit durch einen
Paradigmenwechsel innerhalb der Migrationspolitik, und zwar vom Arbeitskräfteansatz zum Humankapitalansatz (vgl. Böhnisch/ Schröer/ Thiersch 2005), Gefahr läuft, in eine gesellschaftliche Randposition zu geraten und folglich die
Rückendeckung des Sozialstaates zu verlieren.
Welche Konsequenzen sich aus dieser Beschreibung der Ausgangssituation
für die Soziale Arbeit/ Sozialpädagogik ergeben, ist bislang noch völlig offen.
Insofern stellt sich die Frage, wie über eine Bilanzierung eine Standortbestimmung vorgenommen werden kann, die angesichts der vielfältigen Entgrenzungen
Mögliches und Unmögliches der Sozialen Arbeit/ Sozialpädagogik in der Gestaltung des Sozialen aufzeigt. Mit Blick auf theoretische Reflexionen und ausgewählte Handlungsfelder soll der These nachgegangen werden, ob die Sozialpädagogik nicht doch über eine spezifische Dignität verfügt, die auch für die Bewältigung der Anforderungen des beginnenden 21. Jahrhunderts geeignet
scheint.
Einleitung
11
Dabei lässt sich davon ausgehen, dass die Sozialpädagogik in allgemeinen
gesellschaftlichen Spannungsfeldern fundiert ist und hier einen Gestaltungsauftrag hat. In diesen gesellschaftlichen Spannungsfeldern besteht die spezifische
Aufgabe der Sozialpädagogik genau darin, als Expertensystem für das Soziale
eine andere Form des »Dazwischentretens« zu entwickeln, wenn sie im Konflikt
zwischen Individuen und den gemeinsamen Praktiken, zwischen dem Individuum und dem geteilten Sinn der Gemeinschaft vermitteln soll. Das sozialpädagogische Handeln steht dabei nicht außerhalb der Lebenswelt, die es zu stabilisieren und gleichzeitig zu verändern gilt (vgl. Hamburger 2003: 73). In diesem
paradoxen und anspruchsvollen Muster für professionelles Handeln, für die Ausgestaltung personenbezogener Dienstleistungen und lernender Organisationen,
für die Sicherung von Subjektivität im Aneignungshandeln und zur Durchsetzung sozialer Rechte wird die Sozialpädagogik zur Innovation gezwungen.
Im ersten Teil dieses Bandes soll der Frage nachgegangen werden, welcher
Stellenwert der Sozialarbeit/Sozialpädagogik vor dem Hintergrund dieser ökonomisch-gesellschaftlichen Veränderungen zukommt, und wie sie im Kontext
des disziplinären Diskurses ihren Standort zu den je aktuellen Konflikten im
Verhältnis von Individuum und Gesellschaft bestimmt.
Erika Richter und Heinz Sünker beschäftigen sich in ihrem Beitrag mit den
Anfängen der Sozialpädagogik. Sie erinnern daran, dass Pädagogik und Sozialpädagogik Kinder der Aufklärung sind. Sie greifen Franz Hamburgers Hinweis
auf, dass Sozialpädagogik analytisch in der Reflexion auf und in den Prozessen
eines widersprüchlichen, spannungsvollen Verhältnisses von Individuum und
Gesellschaft konstituiert zu sehen ist. Am Beispiel von Schillers ästhetischen
Schriften entwickeln sie eine Lesart der deutschen Klassik, in der kritische, humanistische Zeitdiagnose und Zeitkritik angesichts der Dominanz der alten
Mächte in einer ästhetischen Kodierung des eigenen Selbstverständnisses vorgetragen werden. Dieses subversive Potenzial – so die These – geht der sich
gleichzeitig entwickelnden Sozialpädagogik ab, die in dieser Zeit eine stabilisierende Orientierung entwickelt.
Eva Borst zeigt, am Beispiel des 12. Jugendberichts, wie der Verzicht auf
die pädagogisch essenzielle Distanz zu den vordergründigen Anforderungen
gesellschaftlicher Bildungsziele nicht nur theoretisch zu einer Entdifferenzierung
des Bildungsbegriffs führt, der Bildung nur noch als Lebensbewältigung begreift,
und zugleich dem Subjekt die emanzipative Dimension von Bildung vor enthält,
die es doch zu seiner Verwirklichung braucht. Professionspolitisch erscheint die
Übernahme der an gesellschaftlich-ökonomischen Erfordernissen orientierten
Ziele und Inhalte von Bildung aus zwei Gründen prekär: die disziplinäre Differenz von Schule und Sozialpädagogik wird verwischt, der kritische Subjektbeg-
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Tarek Badawia/ Helga Luckas/ Heinz Müller
riff (mit seiner kategorialen Eigenständigkeit gegenüber gesellschaftlichen Anforderungen) zerrinnt.
In dem folgenden Beitrag geht Michael Winkler davon aus, dass die Sozialpädagogik vor einer dramatischen Umwälzung steht, in der ihr gesellschaftlicher
Ort, ihre Aufgaben und Leistungen, vor allem ihre Theorie neu bedacht werden
müssen. Gegenwärtig ließe sich der Zustand der Sozialpädagogik kurz auf die
Formel bringen: das Ende der reflexiven Sozialpädagogik und der Aufstieg einer
sozialpädagogischen Technologie. Ansatzpunkte einer Überwindung dieser Misere sieht er im Anknüpfen der Sozialpädagogik an der Pädagogik und einer
Subjektkonstruktion, die Sozialpädagogik unter den Bedingungen einer radikalisierten Moderne möglich macht.
Dies ist zugleich der Ausgangspunkt von Andreas Schaarschuch. In der Reformulierung des Verhältnisses von Gesellschaft und Individuum entwirft er die
Figur des Nutzers sozialer Dienstleistungen als Produzent des Sozialen. Mit
dieser Figur des Nutzers markiert er einen Perspektivenwechsel in der Gegenstandsbetrachtung der Sozialpädagogik, den er auf der theoretischen, methodologischen und empirischen Ebene umreißt. Sein Anliegen dabei ist, die Demokratisierung der Sozialen Arbeit durch die Ermächtigung der Nutzer strukturell möglich zu machen.
Den demokratischen Nutzwert der Sozialen Arbeit sehen dagegen Hans
Uwe Otto und Holger Ziegler gefährdet. Sie richten ihr Augenmerk auf die Profession als strategisches wie konstitutives Element der Ordnung des Sozialen.
Die Verschiebung von der wohlfahrtsstaatlichen zur managerialistischen Ausrichtung der Sozialen Arbeit – so die These im Anschluss an die Analyse der
Konzepte einer evidenzbasierten Sozialen Arbeit – führe zur Deprofessionalisierung der Sozialen Arbeit, und sie verliere damit ihr demokratisches Potenzial. In
dem die Soziale Arbeit im Rückgriff auf den Capability-Approach, Fragen einer
gerechten Gestaltung des Sozialen mit einer Perspektive auf die handelnden
Akteure verknüpft, sehen sie einen Ansatzpunkt am demokratischen Nutzwert
der Sozialen Arbeit in Zeiten neo-liberaler Politiken festzuhalten.
Aus der Perspektive des Capabilty-approach wendet sich Hans Thiersch
zum Abschluss des ersten Teils einer der zentralen Aufgaben von Sozialer Arbeit
zu, und zwar der Normenvermittlung im Kontext der zweiten Moderne. Er greift
damit ein zentrales Problem professionellen sozialpädagogischen Handelns auf.
Wenn die Qualität professionellen sozialpädagogischen Handelns in der Herstellung von Meta-Intentionalität besteht (vgl. Hamburger 2003), dann stellt sich die
Frage, wie Soziale Arbeit diese Qualität unter den veränderten gesellschaftlichen
Rahmenbedingungen einzulösen vermag. Dem Vorwurf an die Sozialpädagogik,
sie erfülle ihre zentrale gesellschaftliche Aufgabe der Normvermittlung nicht,
begegnet er mit dem sozialpädagogischen Blick auf Normverletzungen. Die
Einleitung
13
Soziale Arbeit habe das Gewicht zwischen Disziplinierung und einer pädagogischen Arbeit im Zeichen sozialer Gerechtigkeit zu verschieben.
Der zweite Teil dieses Bandes befasst sich mit der Frage, welche Gestaltungsmöglichkeiten die Sozialpädagogik durch professionelles und politisches Handeln hat, wie sie mit bestimmten gesellschaftlichen Erwartungen und Zumutungen umgeht und wie sie ihren Gestaltungsauftrag in den unterschiedliche Handlungsfeldern wahrnimmt und reflektiert. Darüber hinaus soll auch das innovative
Potenzial der Sozialarbeit/Sozialpädagogik ausgelotet werden, um einerseits
Fallstricke aber andererseits auch Entwicklungsperspektiven aufzuzeigen und
kritisch reflektieren zu können.
Eine zentrale Herausforderung beziehe sich dabei darauf, dass, wie Albert
Scherr in seinem Beitrag aufzeigt, derzeit gesellschaftliche Konzepte an Einfluss
gewinnen, in denen der Abbau sozialstaatlicher Leistungen mit kontrollierenden
und sanktionierenden Konzepten verbunden wird, die an die Stelle von Hilfen
treten bzw. diese ergänzen sollen. Er weist auf eine bedeutsame Entwicklungsrichtung der ordnungspolitischen Aufgabenzuweisung bzw. Indienstnahme der
Sozialen Arbeit hin. Daraus leitet er die Anforderung ab, dass eine daraufbezogene Kritik sich nicht mehr nur auf diskursanalytische und ideologiekritische
Positionen zurückziehen könne, sondern sich auf konkrete Kontroversen über die
Interpretation von Problemlagen und den Umgang damit einlassen müsse.
Walter Lorenz geht in seinem Beitrag der Frage nach, wie innovativ die Soziale Arbeit in Europa ist. Mit Blick auf ausgewählte europäische Staaten zeigt er
einerseits auf, dass die Soziale Arbeit sich weiterhin konsolidiere und an professioneller Autonomie gewinne. Andererseits kann am Beispiel der neo-liberalen
Umbauprozesse des Sozialstaates in Großbritannien verdeutlicht werden, dass
sich ebenso deutliche Trends zur Entprofessionalisierung zeigen. Gleichzeitig
verweist er auf durchgängige Strömungen in vielen Teilen Europas, die als ambivalenter Versuch die sozialpolitischen Abbauprozesse umzukehren, sich auf
sozialräumliche sozialpädagogische Ansätze beziehen und dabei auf die Gestaltung von sozialen Dienstleistungsstrukturen zielen. Ambivalent sei dieser Versuch deshalb, weil es in diesen innovativen Ansätzen an systematischer sozialpolitischer Fähigkeit fehle, mit Hilfe derer die Verlagerung der sozialpolitischen
Gestaltungsverantwortung auf die lokale Ebene auch kritisch genutzt werden
könne.
Daran schließt der Beitrag von Detlef Baum an, der nach einer anderen Begründung der Sozialraumorientierung in der Kinder- und Jugendhilfe sucht.
Ausgehend von den Jugendrevolten in den französischen Großstädten geht er der
Frage nach, wie die soziale Integration von Jugendlichen unter den erfahrbaren
räumlichen und strukturellen Bedingungen der Ausgrenzung gelingen kann.
Über eine neue Bestimmung der Sozialraumorientierung nachzudenken, bedeute
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Tarek Badawia/ Helga Luckas/ Heinz Müller
aber auch, den Sozialraum als Möglichkeitsraum für ein gelingendes Leben in
den Blick zu nehmen. In diesem Sinne meint Sozialraumorientierung mehr als
nur Quartiersmanagement. Baum skizziert eine erweiterte Dimension von Jugendhilfe, die aktiv Einfluss auf die assoziative Vernetzung ihrer Klientel mit
den am sozialen Raum interessierten und verantwortlichen Bürgern nimmt und
dabei auch Strategien der kommunalen Sozialpolitik einbezieht.
Ganz anders als in Frankreich ist es in Deutschland laut Einschätzung von
Thomas Rauschenbach und Ivo Züchner sehr ruhig um die Jugend geworden.
Die Autoren stellen in ihrem Beitrag fest, dass das Thema Jugend aus den zentralen politischen Debatten verschwunden sei, und dass die „Krise“ der Jugend
heute vielmehr in ihrer Nicht-Thematisierung bestehe. Entlang von empirischem
Material zur Analyse zentraler Statuspassagen im Jugendalter zeigen sie auf,
dass die gelingende Gestaltung von Übergängen und die Teilhabe an gesellschaftlichen Gütern wie Bildung, Ausbildung und Arbeit für eine wachsende
Zielgruppe zu einem zentralen Problem geworden sei. Daran anschließend formulieren sie Anforderungen an eine Politik für und eine Politik mit der Jugend,
die sich am ehesten als Querschnittsaufgabe eigenen Zuschnitts realisieren lasse.
Einen anderen Zugang zur Auslotung der Gestaltungsmöglichkeiten der Sozialpädagogik wählen Cornelia Schweppe und Gunther Graßhoff, die sich mit
dem Theorieprogramm einer rekonstruktiven Sozialpädagogik in Verbindung mit
der Frage nach der Professionalisierung sozialpädagogischen Handelns beschäftigen. Ihre These lautet, dass qualitative Methoden der Sozialforschung eine
verstehende und reflexive Professionalität fördern, gleichzeitig aber zuviel Euphorie unangebracht sei, bevor ihre theoretischen Grundannahmen nicht kritisch
reflektiert und auch der Zusammenhang empirisch nicht erforscht sei.
Abschließend fragt Heinz Müller danach, wie Innovationen in der Jugendhilfe zustande kommen. Am Beispiel der Hilfen zur Erziehung wird aufgezeigt,
dass höchst unterschiedliche Reformmotoren das Handlungsfeld der Kinder- und
Jugendhilfe verändert haben, die von der Orientierung an den Paradigmen der
Lebensweltorientierung und den fachlichen Gestaltungsmöglichkeiten des Kinder- und Jugendhilferechts bis hin zu der praktischen Umsetzung von wettbewerbsbasierten Finanzierungs- und Managementkonzepten reichen. Hier wird die
These vertreten, dass der praxisorientierten Jugendhilfeforschung bei der Ausgestaltung von Innovationen eine spezifische Aufgabe zukomme, um reflexive
Rationalisierungen zu gestalten.
In einem praktisch, politisch und theoretisch durch zahlreiche diffuse Diskussionen unwegsam gewordenen Gebiet wie dem der Migration versuchen die Autorinnen und Autoren im dritten Teil des Bandes die Differenz als Handlungsund zugleich disziplinär relevantes Erkenntnisgebiet von Sozialpädagogik und
Einleitung
15
Sozialarbeit durch unterschiedliche Zugänge unter dem Gesichtspunkt des Möglichen und Unmöglichen anders zu reflektieren.
Ursula Apitzsch eröffnet diesen Teil mit einer Dekonstruktion eines verbreiteten Denkmusters, nach dem die Migrationsfamilie fast selbstverständlich als
Hindernis für die Integration angesehen wird. Anhand empirischer Beispiele aus
dem Leben von Migrantenfamilien diskutiert sie die Bedeutung der „Dialektik
der Familienorientierung“ für die Herausbildung von reflexiver, biografischer
Interkulturalität. Zur Korrektur des (Vor-)Urteils stellt sie heraus, dass die Familienorientierung ein Modus der Integration ist, in dem die Wirklichkeit globalisierter Gesellschaften avantgardistischer bearbeitet wird als dies üblicherweise in
der Lebenspraxis autochthoner Bevölkerungsteile geschieht.
Im zweiten Beitrag greift Georg Auernheimer ein für das Andersdenken der
Differenz problematisches, aber gegenwärtig gängiges Deutungsmuster auf: das
Erklärungsmuster „Kulturkonflikt“. Er begründet mit der ausgeprägten strukturellen Benachteiligung von Migrantenkindern und Jugendlichen (Selektionslogik), wie die Bemühungen interkultureller Bildung auf mehreren Ebenen des
Systems konterkariert werden. Ohne Korrekturen am System erscheint die Pädagogik ziemlich hilflos, so sein Resümee. Die Gestaltung des Sozialen verläuft
aus diesem Blickwinkel entlang einer schmalen Grenze zwischen Resignation
und Hoffnung auf (sozial-)pädagogische Arbeit mit politischem Engagement.
Im Mittelpunkt des dritten Beitrages von Tarek Badawia steht eine kritische
Auseinandersetzung mit dem inzwischen zur Handlungsmaxime interkultureller
Pädagogik gewordenen Stichwort „reflexive Interkulturalität“ von Franz Hamburger (vgl. Hamburger 2000). Das Konzept wird im Hinblick auf dessen Anspruch zur Revision der eigenen Denkmuster im Umgang mit Differenz kritisch
dahingehend diskutiert, dass die Idee der (Neu-)Gestaltung des Sozialen im Wesentlichen in einer Vernunft des Übergangs (transversal) verankert sein muss.
In einer Auseinandersetzung mit dem Fremdheitsbegriff argumentiert Merle
Hummrich im vierten Beitrag anhand literarischer Illustrationen gegen die Übernahme alltäglicher Verwendungsweisen von Fremdheit in die Wissenschaft. Die
Ent-Fremdung der wissenschaftlichen Perspektive in der Migrationsforschung
wäre somit ein wichtiger Qualitätssprung, um Migrationsprozesse jenseits von
Festschreibungen und Reproduktion von Fremdheitsbildern besser zu verstehen.
Anschließend setzt Paul Mecheril im fünften Beitrag an einer in der pädagogischen Praxis gegebenen Gefahr der Vereinnahmung der inzwischen akademisch institutionalisierten Interkulturellen Pädagogik durch eine überfremdende
„ausländerpädagogische Perspektive“ an. Um sozial gestalterisch zu wirken,
muss die Chiffre „Interkulturell“ herrschaftskritisch, subjektorientiert und entbesondernd an ihrem Widerstand zur Überwindung einer ausländerpädagogischen
Zielgruppenorientierung festhalten.
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Tarek Badawia/ Helga Luckas/ Heinz Müller
Abgeschlossen wird dieser Teil mit Werner Nells Analyse von Nutzen und
Nachteilen des Kulturbegriffs als Instrument zur Analyse und Interpretation
sozialer Situationen im interkulturellen Kontext. Vor dem Hintergrund der „Unvermeidlichkeit“ der Kultur als Bezugsfeld für kulturelle Orientierungen und
Interpretationen plädiert Nell zwar für das Festhalten am Kulturbegriff als bemerkenswertes Handlungsfeld und Analyse-Muster für die Gestaltung des Sozialen, aber zugleich auch für die Reflexion über dessen Unbestimmtheit und Verdinglichungsgefahren.
Mit Blick auf die vorliegenden Beiträge ließe sich der gegenwärtige disziplinäre
Diskurs in der Soziapädagogik auch als Suche nach Identität und Eigenständigkeit charakterisieren. Dabei ruhen letztlich alle Entwürfe auf einer programmatischen Formel auf: die Sozialpädagogik habe einen Beitrag zur Gestaltung des
Sozialen zu leisten. Die normative Offenheit dieser Programmatik weist der
Sozialpädagogik einen Gestaltungsauftrag zu, überlässt jedoch die Realisierung
den sozialpädagogischen Akteuren und versucht, diese Realisierung empirisch
wieder einzuholen. Die Dignität der disziplinären Sozialpädagogik besteht dann
im Modus der Reflexivität, der ihr ermöglicht, einerseits flexibel mit veränderten
und neuen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen umzugehen, andererseits auf
die Gefahren gesellschaftlicher Inanspruchnahme aufmerksam zu machen. Folglich kann die Sozialpädagogik Gegenstrategien entwerfen und diese sichtbar
machen (vgl. Galuske 2002, Winkler 1992), um über Mögliches und Unmögliches bei der Gestaltung des Sozialen neu nachzudenken.
Mit den AutorInnen hoffen die HerausgeberInnen dieses Bandes, dazu einen
Beitrag zu leisten.
Literatur
Böhnisch, L./ Schröer, W./ Thiersch, H. (2005): Sozialpädagogisches Denken. Weinheim
Galuske, M. (2002): Flexible Sozialpädagogik. Weinheim und München
Hamburger, F. (2000): Interkulturelle Erziehung in einem Land mit unzivilisierter Ausländerpolitik? In: Fechler, B. u. a. (Hrsg.): „Erziehung nach Ausschwitz“ in der multikulturellen Gesellschaft. Pädagogische und soziologische Annäherungen. Weinheim u. München, S. 163-173.
Hamburger, F. (2003): Einführung in die Sozialpädagogik. Stuttgart
Rauschenbach, T. (1999): Das sozialpädagogische Jahrhundert: Analysen zur Entwicklung Sozialer Arbeit in der Moderne. Weinheim
Schäfer, A. (1998): Identität im Widerspruch. Annäherungen an eine Anthropologie der
Moderne. Weinheim
Thiersch, H. (2002): Positionsbestimmungen der Sozialen Arbeit. Weinheim
Winkler, M.: Modernisierungsrisiken. Folgen für den Begriff Sozialpädagogik. In: Rauschenbach, T./ Gängler, H. (Hrsg.) (1992): Soziale Arbeit und Erziehung in der Risikogesellschaft. Neuwied
Teil I:
Der disziplinäre Blick auf die Gestaltung des Sozialen
Schiller und die Sozialpädagogik
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Schiller und die Sozialpädagogik
Notate zum historischen Verhältnis von Gesellschaft,
Kultur und Sozialer Arbeit
Erika Richter / Heinz Sünker
I. Selbstvergewisserung und Historiografie stehen für alle wissenschaftlichen
Disziplinen in einem konkreten Verhältnis zueinander; gleichwohl gilt dies in
höherem Maße für jene Disziplinen, die wie die Sozialpädagogik hinsichtlich
ihrer Entstehungsbedingungen wie Praxiskonstellationen besonders ausgeprägt
in gesellschaftliche Kontexte eingelassen sind.
Unsere Beschäftigung mit den Anfängen der Sozialpädagogik, so wie sie
hier in einem ersten Ansatz gesucht wird, geht darauf aus, Diskurse neu zu lesen
und Aufgabenstellungen wie Zuschreibungen in Bezug auf ihre Verortung im
Verhältnis von Disziplin und Profession zu Gesellschaft und Kultur mithilfe
kontrastiver Analyseangebote zu überprüfen. Konkret werden Lesarten frühbürgerlicher Gesellschafts- wie Kulturtheorie, die die Etablierung und Durchsetzung
der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsformation in ihren Konsequenzen
für Existenzweisen und Lebenschancen untersuchen und beschreiben, auf ein
zeitgleiches Verständnis von Sozialpädagogik bezogen. Die dabei hervortretende
reflexive Fortgeschrittenheit der Beiträge aus Philosophie und Kunst um 1800 –
mit den Beispielen G.W.F. Hegel und F. Schiller – führt dabei nicht allein zu der
Frage, was aus der Sozialpädagogik für alle Beteiligten hätte erwachsen können,
wenn diese über dergleichen Reflexivität und analytische Kraft verfügt hätte,
sondern auch zu der nach heutigen Perspektiven – jenseits von einem „interesselosen Wohlgefallen“ an Theorieproduktion.
Mit den gesellschafts- wie kulturtheoretisch akzentuierten Beiträgen – bei
deutlich konstatierbarer Differenz in den Ansätzen – von H. Mayer und G. Bollenbeck liegen zwei Analysen zu Deutschem Idealismus und Deutscher Klassik
vor, die eine perspektivenreiche Vermittlung mit sozialpädagogischen Diskursen
erlauben.
Hans Mayer bettet seine Analyse der Produktionsbedingungen von Kunst
und Philosophie um 1800 ein in das, was er insgesamt – und schon durch den
Titel hervorgehoben – „Das unglückliche Bewusstsein“ (1986) nennt und was
sich ihm als Ausdruck bzw. Ergebnis einer spezifischen „Dialektik der deutschen
20
Erika Richter / Heinz Sünker
Aufklärung“ (1986: 86) oder als „Dialektik der bürgerlichen Aufklärung in
Deutschland“ (1986: 173) darstellt1.
Schillers Werke, die literarischen wie die kunsttheoretischen, stellen für
Mayer in diesem Zusammenhang einen entscheidenden Beitrag dar, der zugleich
Perspektiven wie Grenzen der Aufklärung, d.h. des Projekts der (Selbst-)
Bemündigung des Menschen, unter deutschen Bedingungen verdeutlicht.2 Zentral ist dabei der Bezug auf die Französische Revolution; verhandelt wird dies als
Problem des Jakobinismus, damit der Frage nach dem Terror (1986: 275ff).
Allerdings gelangt Mayer bezüglich der zeitgenössischen Diskurse zu der auf
den ersten Blick erstaunlichen und widersprüchlich scheinenden Einschätzung:
„Zur eigentlichen Dialektik deutscher Aufklärung am Ausgang des 18. Jahrhunderts gehört der Widerspruch, dass die auf den philosophisch-künstlerischen
Bereich absichtsvoll beschränkte radikale bürgerliche Aufklärung weitaus radikaler auftrat, als der jakobinische Rousseauismus in Frankreich. Das eben hat
Heinrich Heine gemeint, als er den Radikalismus eines Maximilien Robespierre
mit jenem anderen des Immanuel Kant verglich: zuungunsten des französischen
Rhetorikers und Terroristen“ (1986: 290).
Vor diesem Hintergrund sind Schillers Briefe zur ästhetischen Erziehung zu
lesen als Beitrag zu der Frage, wie „der Vollzug der Aufklärung auch ohne Re-
1 Aufgezeigt wird dies vor allem an der Literatur von Lessing bis Kleist, deren Werke
zugleich als Pole dienen können. Die Dialektik kommt am Beispiel von Lessings „Emilia Galotti“ für Mayer in der Gestalt der Gräfin Orsina zum Tragen: „Lessings Dialektik verlangt, dass hier die Weisheit verkündigt wird durch den Mund einer Umnachteten. Es ist die Vernunft der Unvernunft. Nur so ist der berühmte und vielzitierte
Satz der Orsina zu verstehen: ‚Und glauben Sie, glauben Sie mir: wer über gewisse
Dinge den Verstand nicht verliert, der hat keinen zu verlieren.’ In dieser Gestalt der
Gräfin Orsina hat Lessing, der Aufklärer und Theatermann, eine Figur der raisonnierenden Weisheit geschaffen, die als vielleicht großartigste Inkarnation einer Dialektik der deutschen Aufklärung zu verstehen wäre. Die Unvernunft der Zustände findet ihre angemessene Interpretation nicht im herkömmlichen Raisonneur, weil eine
Vernünftelei solcher Art insgeheim mit den Zuständen paktiere, statt sie in Frage zu
stellen. Nur die Unvernunft, die nach Aufhebung der unvernünftigen Wirklichkeit verlangt, darf als wirkliche Vernunft angesprochen werden“ (Mayer 1986: 85f.). Zu
Kleist hält Mayer fest: „Seine Krisen sind Krisen der bürgerlichen Weltanschauung,
sein Scheitern deutet auf die Anfänge einer tiefen bürgerlichen Gesellschaftskrise. Die
Romantiker erstrebten die Zurücknahme der Aufklärung. Kleists Krise dagegen war
eine Krise eben dieser bürgerlichen Aufklärung in Deutschland“ (1986: 363).
2 Verbinden lässt sich dies mit der Einschätzung Marcuses: „Nur in der Kunst hat die
bürgerliche Gesellschaft die Verwirklichung ihrer eigenen Ideale geduldet und sie als
allgemeine Forderung ernst genommen“ (1965: 82; vgl. weiter Adorno 1966: 387ff;
Kappner 1984: 192). Alternativen zu dieser Form von Idealismus verkörpert, was
nicht nur mit Bezug auf den genius loci – also Mainz – herauszuheben ist, in Person
und Werk Georg Forster (s. dazu exemplarisch Padberg 1982).
Schiller und die Sozialpädagogik
21
volution möglich sei“ (1986: 310)3; dies in einem Sinne der Gestaltung des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft, das nicht gewaltförmig ist und nicht
subsumtionslogisch verfährt, also nicht der Unterordnung des Individuums unter
gesellschaftliche Bedingungen dient (1986: 314).4 Es geht um die „harmonische
Ausbildung der produktiven Eigenschaften im Menschen mit Hilfe der Kunst“,
darum, „durch das Zusammenwirken harmonisch ausgebildeter Individualitäten
eine größere Harmonie in Staat und Gesellschaft zu schaffen“ (1986: 359).5
„Die hehre Vorstellung vom sich selbst vervollkommnenden, sittlichen
Menschen, der sich im Medium der ‚Kultur’ zu einer Ganzheit bildet, kann auch
als Antwort auf die Lage um 1800 verstanden werden. [...] Mit dem Deutungsmuster stellt sich die deutsche Intelligenz, abgestoßen vom Nützlichkeitsdenken
des spätabsolutistischen Staates wie von der bürgerlichen Ökonomie, verschreckt
durch den Terror der Französischen Revolution, auf die politische Lage ein. Sie
setzt auf eine Reform der Gesellschaft durch die ‚Bildung’ der Individuen und
hofft auf einen reformbereiten Herrscher“ (Bollenbeck 1994: 155, vgl. 195).6
Für Georg Bollenbeck verbinden sich mit dieser Einschätzung spezifisch deutsche Verknüpfungen von „eingeschränkten politischen Handlungsmöglichkeiten“ und „metapolitische(n) Ansprüche(n)“ (ebd.) der ‚Intelligenz’ – als ‚Erfinder’ bestimmter Semantiken -, mit dem insgesamt betrachtet das einhergeht, was
sich als Projekt einer „defensiven Modernisierung“ deutscher Gesellschaftsver3 Interessanterweise ist die Neufassung der Briefe für Mayer „gleichzeitig goetheanischer und thermidorianischer“ (1986: 310) als die erste Fassung, die verbrannte.
4 Dieser Leitidee folgt auch die Interpretation der „Wanderjahre“ Goethes durch
Muschg (1982: 516f.): „Die Pädagogische Provinz wird zum unfreiwilligen Zeugen
ihrer eigenen Unwirksamkeit. Es wird dafür gesorgt, dass sich das Inkalkulable gegen
ihre Anstalten durchsetzt: Felix, der einzelne Mensch. Das Individuum bleibt ‚ineffabile’ – unaussprechlich nicht nur, auch unerreichbar für die Sprache der Regeln. Die
arbeitsteilige Gesellschaft kassiert das offenbare Geheimnis des Individuellen nicht; es
wird nur schutzbedürftiger und schutzwürdiger, wenn der Einzelne zum Vereinzelten
wird. Im Widerstand gegen die Organisation – auch seine eigene – verbirgt das
Kunstwerk seine Zuversicht, eine gefährdete vielleicht, aber die einzige. Schon in den
‚Lehrjahren’ war das Unberechenbare die List im Bildungsprozeß gewesen; in den
‚Wanderjahren’ wird es zu ihrem archimedischen Punkt“.
5 Gelesen werden kann dies auch immer als Perspektive für einen „Gesellschaftskompromiß“ (Mayer 1986: 312); gleichwohl könnte auch gelten, was Kurz
(1975: 13, vgl. 138ff) für andere Literaten der Zeit feststellt: „Hölderlins und Hardenbergs Dichtungen wollen gelesen sein als proleptischer und urbildlicher Vollzug freier
menschlicher Tätigkeit. Darin läge ein Akt der Kompensation, wenn nicht beider Begriff von Dichtung darauf insistierte, dass die Wahrheit der Dichtung erst in einer künftigen neuen Gesellschaft liege“.
6 S. zu diesem Kontext auch Harich (1974); zur Frage „Ästhetisierung oder Politisierung des deutschen Geistes“ (1974: 431f.); zur ‚Herrscherproblematik’ s. weiter Mayer (1986: 310).
22
Erika Richter / Heinz Sünker
hältnisse in hegemonialem Interesse verbindet.7 Dabei gilt es gleichwohl entscheidende Differenzen zwischen Beginn und Verfall dieses Projektes wie dem
Umgang mit dem Deutungsmuster zu beachten: „Zu Beginn des 19. Jahrhunderts
stehen die Begriffe für eine zukunftsgewisse Weltdeutung mit emanzipatorischer
Handlungsanbindung. Hundert Jahre später dienen sie einem eher handlungsgehemmten Räsonnement, das der Moderne vorrangig kulturpessimistisch begegnet“ (1994: 283).
Den Anfang ‚macht’ Schiller, indem er eine Semantik von Kultur und Bildung entwickelt, mit der Zeitanalyse und Zeitkritik zusammengedacht werden
können. Für diesen Ansatz entscheidend ist, wie Bollenbeck ausdrücklich verdeutlicht, eine Positionierung, die nicht mit einer ästhetizistischen Selbstgenügsamkeit auserlesener Persönlichkeiten einhergeht; vielmehr verkennte dies den
spezifischen Zusammenhang von Zeitkritik und Anpassung, „von einem hohen
philosophischen Problembewusstsein und ästhetischer Versöhnung“ (Bollenbeck
1994: 137). Auch wenn Bollenbeck anerkennt, dass Schillers Perspektive auf
politische Praxis ausgerichtet ist, scheint ihm doch eine Ausrichtung auf das
Reich der Ideen, auf eine „zeitliche wie inhaltliche Spannung zwischen einer
kritisierten Gegenwart und einem idealisierten Gegenmodell“ entscheidend.
(1994: 153, vgl. 171f.). Politik und Freiheit können infolge der besonderen deutschen Situation – so das Gemeinsame bei Bollenbeck und Mayer – nicht historisch konkret aufeinander bezogen werden. Die emanzipatorischen Elemente der
Schillerschen Kulturkritik (vgl. Bollenbeck 2005; vgl. Kappner 1984: 103ff)
erschöpfen sich im Laufe der deutschen bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsentwicklung; das Bildungsdenken verkommt in Verbindung mit Untergangssemantiken, wie sie vom Bildungsbürgertum erfunden werden (Bollenbeck
1994: 285ff).8
7 Bollenbeck (1994: 156) stellt in seiner Kritik des Bildungsbürgertums heraus: „Die
Emphase und der religiöse Ton sollten uns nicht über die Weltlichkeit und Praxisbefähigung des Deutungsmusters täuschen. Sein neuartiges Wissenschaftsverständnis,
sein Individualismus, seine innengeleitete Autonomie ‚passen’ zur defensiven Modernisierung und können für das Bildungsbürgertum programmatische Identitäten stiften.
Adelt doch das Deutungsmuster mit der Selbsttätigkeit des Individuums den Leistungsgedanken; wird doch mit ihm die Person nicht nach ständischer Herkunft oder
Besitz und Erfolg, sondern nach ‚Bildungswissen’ und ‚Geist’ bewertet“.
8 Die einschneidende Differenz zwischen Neuhumanismus und verfallendem Bildungsdenken macht Bollenbeck am Beispiel ‚Spranger’ deutlich (1994: 286f.); s. dazu auch
Heydorn (1979: 215): „Jahrelang aber herrschte der Geheimrat Spranger: Den kastrierten Pestalozzi für die Kinder armer, aber reinlicher Eltern, den kastrierten Humboldt für die Talmielite“.
Zu Verfallsgeschichte von und Verfall des Denkens im Bürgertum s. Schumacher
(1972), der 1936 unter dem Titel „Die Angst vor dem Chaos“ Gesellschaftsgeschichte
und -politik auf ihre ordnungspolitischen Ideologisierungen hin untersucht.
Schiller und die Sozialpädagogik
23
II. In seinem Text „Zeitdiagnose zur Theoriediskussion“ gelangt Franz Hamburger zu dem Schluss, die Sozialpädagogik sei hinsichtlich der Frage ihrer Konstitutions- wie Geltungsbedingungen als Kind der Moderne in der Gestalt der Industrialisierung zu verstehen. Dies setze sich in der Einschätzung fort, sie sei erst
recht ein Bestandteil der zweiten, damit der reflexiven Modernisierung. Insoweit
sie damit endgültig über den Rahmen der Nothilfepädagogik hinausgehe und –
wie im Falle einer umfassenden Kindergartenversorgung – zur konstitutiven
Bildungsvoraussetzung des Sozialen werde, könne man von einem Paradigmenwechsel sprechen. Infrastrukturpolitik und Prävention, Pluralisierung der Handlungsformen und Methoden seien einzelne Elemente eines solchen Wandels, der
sich vorläufig angemessener als Perspektivenwechsel beschreiben lasse. Diesen
epochalen Wandel habe sich die Sozialpädagogik erst durch Aneignung der sozialwissenschaftlichen Diskurse zugänglich und begreifbar machen können. „Gerade diese verdeutlichen die strukturellen Ambivalenzen, die der Sozialpädagogik
auch nach ihrer allgemeinen Normalisierung als Regelpädagogik eigen sind“
(Hamburger 1995: 20; vgl. Winkler 1995).
Dass die Sozialpädagogik aus Kontexten der Industrialisierung, damit der
Kapitalisierung von Gesellschaft, zu verstehen ist, darauf hat bereits 1959 Klaus
Mollenhauer in seiner Studie „Die Ursprünge der Sozialpädagogik in der industriellen Gesellschaft“ aufmerksam gemacht, indem er ordnungspolitische und
normalisierungstheoretische Orientierungen in die Frage nach ihrer Entstehung
eingebracht hat. Gerahmt durch Bezüge auf Gesellschaftstheorie und Gesellschaftspolitik führte er seinerzeit aus, es werde „der Gegensatz der pädagogischen und sozialwissenschaftlichen, sozialpolitischen Gesichtspunkte, die in der
Diskussion meist als ergänzendes Nebeneinander dargestellt werden, in der besondern Struktur sozialpädagogischen Denkens schon aufgehoben“. Dieses Denken nämlich zeichne sich, wie aus der geschichtlichen Untersuchung hervorgehe,
durch das Fortschreiten von der individuellen Situation des Einzelnen, über den
Rückgang auf die Ursachen, zur Situation der Gesamtgesellschaft aus. Mit der
Hilfe für das notleidende Individuum sei immer auch das Nachdenken über die
Reform der Voraussetzungen, der Gesellschaft verbunden gewesen. In den sozialpädagogischen Institutionen sei der Gegensatz eingebunden worden in Form
neuer sozialer Ordnungsgefüge, pädagogisch mit Sinn erfüllt und nach gesellschaftlicher Zweckmäßigkeit und Notwendigkeit gestaltet. Die sozialtheoretischen Leitideen, dabei die allgemeine sozialpädagogische Aufgabe auf ein begrenztes Bildungsideal einengend, könnten so neu verstanden werden: „Sie sind
der inhaltliche Ausdruck dieser wesenhaften Struktur sozialpädagogischen Denkens; in ihnen sollte das dialektische Verhältnis von sozialer Eingliederung des
Einzelnen und Gestaltung der gesellschaftlichen Ordnung in einem Idealbilde
überwunden werden, [...]“ (Mollenhauer 1959: 132).
24
Erika Richter / Heinz Sünker
Disziplinpolitisch wie analytisch folgte aus diesen Überlegungen die Möglichkeit, eine Theorie Sozialer Arbeit aus ihrem Bezug auf „Pädagogik in der
spezifischen Form einer Sozialpädagogik“ zu begründen (Mollenhauer 1959:
130), indem das „Soziale“, Sozialität in ihrer Prozessualität als spannungsvolles
Verhältnis von Individuum und Gesellschaft gegenstandskonstitutiv (an)genommen wurde (vgl. Hornstein 1995; Hamburger 2003; Sünker 2000).9 Analytisch,
und das heißt hier immer auch historisch-genetisch orientiert, bleibt gleichwohl
die Aufgabe, das „Soziale“ als Verhältnisbestimmung von Individuum und Gesellschaft immer wieder neu aufzuschlüsseln und zu entziffern.10
Die Darstellung Mollenhauers macht in besonderer Weise deutlich, welchen
Fallstricken – theoretischer wie praktischer Art – Sozialpädagogik im historischen Verlauf zu entgehen gehabt hätte, de facto aber als ‚Magd’ herrschender
Politik sich darin verfing. So hat er in seiner ‚Ursprungsstudie’ explizit darauf
hingewiesen, dass Sozialpädagogik in ihren Anfängen die eigene Entstehung und
Perspektive dadurch bestimmt sah, dass die Verfasstheit der bürgerlichen Gesellschaft als „Kulturverfall“ verstanden wurde. Daraus ergab sich die Aufgabe
„einer umfassenden sozialen Regeneration“, die „das Volksganze zum Gegenstand der Erziehung“ machte (Mollenhauer 1959: 121f.), während, und dies ist
bemerkenswert, weitere frühbürgerliche Sozialphilosophen – über Hegel und
Schiller hinaus die Problematik des Zusammenlebens und der gesellschaftlichen
Kohäsion durch das Thema „Egoismus und Gemeinwohl“ grundlegend bestimmt
sahen (vgl. Euchner 1973). Entwickelt wurde dieser sozialpädagogische Blick
vor dem Hintergrund einer Weltsicht, die behauptete, „dass die Sozialnormen
jener Generation und die soziale Wirklichkeit divergierten“, somit – im Interesse
herrschender Ordnungsvorstellungen, muss man wohl hinzufügen – zu pädagogischen Interventionen herausforderten (Mollenhauer 1959: 121).
Diese Perspektive, die in ihren Formierungs- und Disziplinierungstendenzen
im historischen Prozess maßgeblicher bleibt als das, was sich für Hans Mayer
positiv, weil auf Freiheit und Autonomie bezogen, als „Voraussetzung aller sozialpädagogischen Möglichkeiten“, „Selbsterziehung“ à la Kant und Schiller
(Mayer 1986: 520), darstellt, verweist darauf, dass Sozialpädagogik ihren Gegenstand, das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, von Anfang an systematisch verzerrt betrachtet. Zudem bezieht sie sich noch komplementär zu
bereits genannten Aufgaben auf die der „Erneuerung des Volkslebens“ (Mollen-
9 Vor diesem Hintergrund – und in der Folge dieser Tradition – kann dann Hans
Thiersch (2004) seinen Rezensionsaufsatz zu Hamburgers „Einführung“ mit „Gesellschaft als Konflikt des Sozialen und die Sozialpädagogik“ präzise betiteln.
10 Darin eingelassen ist die Aufgabe, sich disziplinär über die Bedingungen von „Theorie und Kritik“ (Kuhlmann 1975) zu verständigen und einen entsprechenden Modus
der Reflexion zu entwickeln.
Schiller und die Sozialpädagogik
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hauer 1959: 122), damit auf Vormodernes, in dem ‚Volk’, ‚Kultur’ und ‚Organisches’ ein spezifisch deutsches synkretistisches Ganzes bilden.11
Das, was Max Horkheimer aus sozialtheoretischer Perspektive als allgemein
gültig und kennzeichnend für die Existenzbedingung des Einzelnen in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsformation setzt, wenn er festhält, es gebe
keine Sicherheitszonen auf den Verkehrsstraßen der Gesellschaft (Horkheimer
1968: 254), kann bereits als kennzeichnend für frühbürgerliche Verhältnisse und
deren theoriehaltige, eben nicht ideologisierte, Durchdringung genommen werden, wie die analytisch durchaus differenten Beispiele Hegel und Schiller erweisen – was von der Sozialpädagogik analytisch offensichtlich nicht eingeholt zu
werden vermag.
III. In seiner „Philosophie des Rechts“ hat Hegel eine empirisch gehaltvolle
Analyse der bürgerlichen Gesellschaft vorgelegt, die der Frage nach dem Vergesellschaftungsmodus in ihren Folgen für die Verfassung wie Existenzweise der
Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft nachgeht. Es geht dabei um die Aufschlüsselung von Form und Gehalt der Beziehung der Mitglieder aufeinander,
was einen besonderen Ausdruck in deren Selbstständigkeit – die sich nur in abstrakter Weise auf ‚Selbstbestimmung’ beziehen lässt – als Einzelne findet.12 Für
den der bürgerlichen Gesellschaft eigenen Zusammenhalt der Bürger gilt, wie
Theunissen zeigte, dass Hegel – so wie er die ganze bürgerliche Gesellschaft
reflexionslogisch begreift – „auch die Selbständigkeit, die die Einzelnen in ihr
haben, als die eigen reflexionslogische, vom seinsmäßigen Für-sich-Bestehen zu
unterscheidende Selbständigkeit (fasst, d. V.), die gerade aus der Angewiesenheit
der Einzelnen aufeinander resultiert. Die ist eine Angewiesenheit aller auf alle,
die bürgerliche Gesellschaft als Verbindung selbständiger Einzelner ein ‚System
allseitiger Abhängigkeit’ (§183)“ (Theunissen 1981: 371).13
11 In diesem Kontext könnte es auch sein, dass die Kritik am Kulturalismus einer ‚interkulturellen Bildung/Pädagogik’ wie Sozialpädagogik (vgl. exemplarisch Hamburger
2006) diese spezifisch deutsche Traditionslinie im Hinterkopf hat und die zwischenzeitlich erfolgten qualitativen Weiterungen, vor allem im Kontext der Aufnahme angelsächsischer Beiträge, nur unzureichend berücksichtigt – s. zu alternativen Möglichkeiten des Umgangs mit dem ‚cultural turn’ in gesellschaftstheoretischer wie gesellschaftspolitischer Kontextualisierung die Beiträge von Richter (2000; 2005).
12 Das darin mitgesetzte Verfolgen „selbstsüchtiger Zwecke“ (Hegel 1955: §183) geht
soweit, dass sich selbst im Altruismus vielfach noch der Standpunkt einer egoistischen
Privatmoral durchhält (Theunissen 1981: 358).
13 Marx nimmt diese Analyse auf und formuliert in materialistischer Weise: „Daß der
gesellschaftliche Zusammenhang, der durch den Zusammenstoß der unabhängigen Individuen entsteht, zugleich als sachliche Notwendigkeit, und zugleich als ein äußerliches Band gegenüber ihnen erscheint, stellt eben ihre Unabhängigkeit dar, für die das
gesellschaftliche Dasein zwar Notwendigkeit, aber nur Mittel ist, also den Individuen
26
Erika Richter / Heinz Sünker
Der äußerliche Zusammenhang der formal selbstständigen Einzelnen ( Hegel 1955: §§ 182 + 183) führt – und dies ist nicht auf die Zeit um 1800 beschränkt – infolge der darin mitgesetzten Voraussetzungen zu tiefgehenden
strukturellen wie handlungspraktischen Widersprüchen: „Die bürgerliche Gesellschaft bietet in diesen Gegensätzen und ihrer Verwickelung das Schauspiel ebenso der Ausschweifung, des Elends und des beiden gemeinschaftlichen physischen und sittlichen Verderbens dar“ (Hegel 1955: §185).
Disziplinär wie professionell entscheidend für die Sozialpädagogik ist daran, wie Hegel dieses Bild konkretisiert und nachweist, dass es zu einer gesellschaftlich notwendigen Entwicklung, weil dem Gesellschaftscharakter entsprechend, kommt, die eine „unendliche Vermehrung der Abhängigkeit und Not“
(Hegel 1955: §195) vieler beinhaltet. Einher geht diese Entwicklung mit der
Durchsetzung einer Lebenslage, die „das Herabsinken einer großen Masse unter
das Maß einer gewissen Subsistenzweise“, damit Armut als Massenerscheinung,
zur Folge hat; komplementär dazu – und dies ist nicht allein historisch, sondern
mit Bezug auf heutige Globalisierungsprozesse zu formulieren – verhält sich
„die größere Leichtigkeit, unverhältnismäßige Reichtümer in wenige Hände zu
konzentrieren“ (1955: §244).14
Der Strategie der Pädagogisierung „sozialer Fragen“ (Mollenhauer 1959:
123), wie sie in der Mollenhauerschen Darstellung des Umgangs der Sozialpädagogik mit den gesellschaftlichen Widersprüchen deutlich wird, widerspricht der
Materialismus (und Realismus) in der Analyse der bürgerlichen Gesellschaft bei
Hegel15, der als Kern dieser Form von Vergesellschaftung die Durchsetzung und
selbst als ein Äußerliches erscheint, im Geld sogar als ein handgreifliches Ding. Sie
produzieren in und für die Gesellschaft, als gesellschaftliche, aber zugleich erscheint
dies als bloßes Mittel ihre Individualität zu vergegenständlichen. Da sie weder subsumiert sind unter ein naturwüchsiges Gemeinwesen, noch andrerseits als bewusst Gemeinschaftliche das Gemeinwesen unter sich subsumieren, muss es ihnen als den Unabhängigen Subjekten gegenüber als ein ebenfalls unabhängiges, äußerliches, zufälliges, Sachliches ihnen gegenüber existieren“ (Marx o.J.: 909).
14 Dass dieser Analyse eine allgemeine Bedeutung für die Charakterisierung von Kapitalverhältnis und korrespondierenden Existenzbedingungen zukommt, zeigt eine Darstellung Braudels für den Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus in Spanien,
der, seine historischen Studien zusammenfassend, formuliert: „[...] all diese Leute (die
Armen, d. V.) haben mit der Arbeit gebrochen; allerdings erst nachdem die andere
Seite, die der Arbeit und Beschäftigung, nichts mehr von ihnen wissen wollte“ (1994:
164). (Zur Durchsetzung des ‚Arbeitsprinzips’ – vor dem Hintergrund der Armenfürsorge im Mittelalter mit der Praxis der Almosengabe – in der Zeit der Kapitalisierung
s. Sachße/Tennstedt 1980: 23-79).
15 Zu Bedeutung und Realitätsgehalt der Hegelschen Analyse in hegemonialen Kämpfen um Gesellschaftsanalysen s. die instruktive Studie von Losurdo (1993). Auch ihm
zufolge zeichnet sich die herrschende bürgerliche Ideologie dadurch aus, dass ‚Individualisierung’ im Zentrum steht: „Sowohl bei moralischer Verantwortung als auch bei
Schiller und die Sozialpädagogik
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Realisierung von Arbeitswilligkeit, was in den Betroffenen durch das Gefühl der
„Ehre“ verankert wird, herausstellt. Zugleich hält er fest, dass die systematische
Grenze dieser Gesellschaftsform darin besteht, nicht in der Lage zu sein, Arbeit
für alle zu schaffen; dass diese Gesellschaft damit im Prinzip verunmöglicht zu
realisieren, was als ihr herrschendes Prinzip gesetzt wird (Hegel 1955: 245).
IV. Das Verzweifeln an den desolaten Zuständen seiner Zeit, dem verstümmelten
Menschenbild, das sich dem empfindsamen Auge und Herzen des Poeten darbot,
veranlasste Friedrich Schiller um die Wende der 1780/90er Jahre – er war um die
30 Jahre alt – sein dichterisch-dramatisches Schaffen zu unterbrechen, um sich
einer mehrjährigen gedanklich-analytischen Arbeit zuzuwenden. Diese resultierte in den mehrteiligen philosophisch-ästhetischen Schriften, die das Verhältnis
von Gesellschaft, Individualität, Bildung, Geschichte und Kunst in ihren einzelnen Facetten untersuchten.
In einer Zeit, in der die benachbarten Franzosen auf die Straße gingen, um
die Freiheit, die historisch möglich gewordene Befreiung aus anachronistischen
Zwängen in einer großen Revolution realiter zu erkämpfen, standen die Deutschen noch fest unter dem Joch ihrer Herren, derweil seine besten Köpfe in ihren
Stuben aber den Freiheitsgedanken in den philosophischen Systemen zu seiner
vollen Klarheit herausarbeiteten. Heinrich Heine schreibt dazu fast ein halbes
Jahrhundert später – in Deutschland wurde immer noch vergeblich auf die Revolution gehofft – in ironischem Duktus: „Die deutsche Philosophie ist eine wichtige Angelegenheit, und erst die spätesten Enkel werden darüber entscheiden können, ob wir dafür zu tadeln oder zu loben sind, dass wir erst unsere Philosophie
und hernach unsere Revolution ausarbeiteten. Mich dünkt, ein methodisches
Volk wie wir musste mit der Reformation beginnen, konnte erst hierauf sich mit
der Philosophie beschäftigen und durfte nur nach deren Vollendung zur politischen Revolution übergehen“. Wenn sich aber dereinst der in diesen Werken so
mächtig entfaltete Gedanke brechen werde, dann werde sich die französische
Revolution neben der deutschen wie ein laues Lüftchen ausnehmen: „dann“ – so
prophezeit der sich im Pariser Exil befindliche Heine seinen liebenswürdigen
Gastgebern – „hütet euch, ihr Nachbarskinder, ihr Franzosen, und mischt euch
nicht in die Geschäfte, die wir zu Hause in Deutschland vollbringen. Es könnte
euch schlecht bekommen. Der Gedanke geht der Tat voraus, wie der Blitz dem
Donner. Der deutsche Donner ist freilich auch ein Deutscher und ist nicht sehr
gelenkig und kommt etwas langsam dahergerollt; aber kommen wird er, und
wenn ihr es einst krachen hört, wie es noch niemals in der Weltgeschichte gekracht hat, so wisst: der deutsche Donner hat endlich sein Ziel erreicht“ (Heine
Unglück als Ursache für die Armut wird der Akzent immer auf das Individuum gelegt,
nie dagegen auf die Objektivität der politisch-sozialen Ordnung“ (1993: 123).
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Erika Richter / Heinz Sünker
1972: 305ff.). Heines Ankündigung ist leider nicht in der erhofften Weise eingetreten.
Die Zeit um 1789 war in beiden Ländern eine Epoche des Umbruchs, des
politischen Gärens und der Suche nach neuen Orientierungen – des Aufbrechens
zu neuen Ufern und der Rückwendung zum vollkommenen Menschenbild nach
antikem Muster.16 Die gesellschaftliche Arbeitsteilung hatte um diese Zeit bereits
so um sich gegriffen, dass das Resultat als allseitige Gespalten- und Zerrissenheit
augenfällig und als Entfremdung spürbar wurde. Schiller richtet einige Jahre lang
seine ganze Kraft darauf, den Ursachen dieser Fehlentwicklung auf die Spur zu
kommen und nach Lösung zu ihrer Behebung zu suchen. Diese sah er in der
Vermittlungsrolle der Kunst, in der ‚heilenden’ Wirkung der gestalteten schönen
Form – im Kunstschönen also, deren gedachte Wirkungsmächtigkeit er in seiner
Schrift „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ entfaltete.
Deren Ausgangspunkt dafür bildete das ruinöse Gemälde der zeitgenössischen Gesellschaft und Individualität: „In seinen Taten malt sich der Mensch,
und welche Gestalt ist es, die sich in dem Drama der jetzigen Zeit abbildet! Hier
Verwilderung, dort Erschlaffung: die zwei Äußersten des menschlichen Verfalls,
und beide in einem Zeitraum vereinigt!
In den niedern und zahlreichern Klassen stellen sich uns rohe gesetzlose
Triebe dar, die sich nach aufgelöstem Band der bürgerlichen Ordnung entfesseln
und mit unlenksamer Wut zu ihrer tierischen Befriedigung eilen. [...] Auf der
andern Seite geben uns die zivilisierten Klassen den noch widrigern Anblick der
Schlaffheit und einer Depravation des Charakters, die desto mehr empört, weil
die Kultur selbst ihre Quelle ist. [...] Die Aufklärung des Verstandes, deren sich
die verfeinerten Stände nicht ganz mit Unrecht rühmen, zeigt im ganzen so wenig einen veredelnden Einfluss auf die Gesinnungen, dass sie vielmehr die Verderbnis durch Maximen befestigt. [...] Mitten im Schoße der raffiniertesten Geselligkeit hat der Egoism sein System gegründet, und ohne ein geselliges Herz
mit herauszubringen, erfahren wir alle Ansteckungen und alle Drangsale der
Gesellschaft“ (Schiller 1966, II: 453).
Schillers zentrales Anliegen – in seinem dichterischen Schaffen wie in seinen ästhetiktheoretischen und geschichtsphilosophischen Schriften – war stets
das der Freiheit: der historisch möglich gewordenen Realisierung des Freiheitsgedankens in Deutschland.
Sein Freiheitsenthusiasmus war zum einen deutlich durch seine persönlichen Erfahrungen, schon in frühen Kindes- und Jugendalter, motiviert. Und Zeit
16 Vgl. die damals unter dem Titel „Querelles des Anciennes et des Modernes“ vor allem
in Frankreich entbrannte Auseinandersetzung um den Stellenwert der antiken für die
zeitgenössische Kunst, in der es um Nachahmung oder Kreativität/Genialität des
Kunstschaffens ging; vgl. auch Schillers „Über naive und sentimentalische Dichtung“
(1966, II: 839-842).
Schiller und die Sozialpädagogik
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seines Lebens lastete auf Schiller die überall sich geltend machende Fürstenwillkür im politisch stark zerklüfteten Deutschland seiner Zeit. Die Jahre seiner
Kindheit und Jugend auf der württembergischen „Karlsschule“17, der militärischen Nachwuchs-Kaderschmiede Herzog Carl Eugens, müssen wohl als eine
veritable „Vergewaltigung“ seiner Natur bezeichnet, die mühsame Findung seiner eigentlichen Bestimmung als ein bitterer Kampf und Leidensweg gesehen
werden. Die schließlich angetretene Flucht18 aus dem unmittelbaren Bannkreis
Carl Eugens nach Mannheim, wo Schiller zuversichtlich auf die Aufführung
seiner heimlich geschriebenen „Räuber“ unter der Regie Heribert von Dalbergs
hoffen durfte, gefährdete nicht nur den jungen Dichter selbst, sondern auch seine
elterliche Familie. Die Schillersche Biografie weist noch weitere Fluchten19 aus
ihn unerträglich einengenden Verhältnissen aus – bis er endlich, inzwischen zu
großer Berühmtheit gelangt, seine Destination und etwas Ruhe im relativ liberalen politisch-geistigen Umfeld von Leipzig, Weimar und Jena findet. Das in
schon fortgeschrittenem Mannesalter geschriebene enthusiastische Glaubensbekenntnis: „Der Mensch ist frei geschaffen, ist frei, und sei er in Ketten geboren“20 – darf wohl mit Fug als das das gesamte Lebenswerk Schillers durchziehende Leitmotiv bezeichnet werden.
17 Dem Wunsch Schillers, Theologie zu studieren, wird seitens des Herzogs Carl Eugen
von Württemberg nicht entsprochen. Der Sohn seines Hauptmanns, Johann Kaspar
Schiller, wird stattdessen auf die Stuttgarter Karlsschule beordert, eine so genannte
Militär-Pflanzschule, seit 1773 Herzogliche Militär-Akademie, in der ein streng diszipliniertes Kasernenleben, Uniformzwang, eine ausdrückliche Absonderung von der
Außenwelt herrschen und der Herzog als persönlicher Erzieher auftritt. Schiller demonstriert seine „innere Auflehnung gegen den Geist der Schule“ u.a. durch die in
kleinem Freundeskreis heimlich betriebene Beschäftigung mit Lessing, Klopstock und
den Dramen des Sturm-und-Drang (Safranski 2004: 529).
18 Am 23.9.82 flieht Schiller vor dem „Tyrannen des Württembergischen Landes“, s.
Safranski (2004: 121 ff.).
19 Die Arbeits- und Produktionsbedingungen in Mannheim waren für Schiller zeitweise
gefährlich bis unerträglich, zunächst, weil der ‚lange Arm’ des Herzogs sich noch
spürbar macht; später, weil sein Vertrag mit dem Mannheimer Nationaltheater nicht
verlängert wird (Safranski a.a.O.: 84). Dagegen werden Schillers frühe Dramen, insbesondere seine „Räuber“, offenbar landesweit in bestimmten Kreisen begeistert aufgenommen. So erreicht Schiller im Frühjahr 1784 eine von vier ihm bis dahin völlig
unbekannten jungen Menschen brieflich übermittelte dringliche Einladung nach Leipzig, der er ein Jahr später Folge leistet, um in diesem Umkreis seine Heimat zu finden.
Einer von ihnen, Christian Gottfried Körner, Rat des Oberkonsistoriums in Dresden,
wird sein lebensbegleitender Freund werden. In ihrem ersten Schreiben huldigten die
Freunde Schiller wie folgt: „Zu einer Zeit, da die Kunst sich immer mehr herabwürdigt, tut es wohl, wenn ein großer Mann auftritt und zeigt, was der Mensch auch jetzt
noch vermag“; s. Safranski (2004: 201).
20 Leitmotivische Zeile in Schillers Gedicht „Die Worte des Glaubens“ (1798), in: Schiller Werke (1966, II: 706; vgl. II: 551).
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Erika Richter / Heinz Sünker
Auf der anderen Seite schien die Zeit sozusagen reif geworden zu sein für
die historische Konkretisierung der im philosophischen Denken der französischen und der deutschen Aufklärung, vollendet in den drei Kritiken Immanuel
Kants, menschheitsgeschichtlich erstmals in voller Klarheit entwickelten Freiheitsidee, die im benachbarten Frankreich in der revolutionären Bewegung, die
die Massen ergriffen hatte, tatsächlich bereits realisiert zu werden schien. Die
deutsche freiheitsdrängende Intelligenz beobachtete diese Bewegung mit großem
Interesse und anfänglich begeistertem Enthusiasmus, der allerdings – im Gegensatz zu den deutschen Jakobinern – in deren sich erschreckenden schöngeistigen
Teilen sehr abkühlte, als die Revolution in die Phase des „terreur“ umschlug.
Auch Friedrich Schiller wandte sich enttäuscht ab von der rohen, gewaltsamen
Methode der Freiheitstransformation und begann, auf andere Mittel zur Umsetzung dieses Zieles zu sinnen. Der Argumentation der Briefe zur ‚ästhetischen
Erziehung’ zufolge war für Schiller die französische Revolution „gescheitert“
und damit der politische Weg für ihn verschlossen (vgl. auch Kurz 1989: 305f.).
Einzig der Kunst – dem Kunstschönen – schien ein befreiendes Potenzial noch
einzuwohnen.
Etwa im Zeitraum 1790 bis 1796 wird Schiller sich an die Ausarbeitung
seiner philosophischen Ästhetiktheorie und der hierin zum Tragen kommenden
komplexen Zusammenhänge von Gesellschaft, Staat, Individualität, Historie und
Kunst machen.
Schiller hatte, kaum 30-jährig, eine Reihe seiner Dramen21 verfasst und erfolgreich auf die Bühne gebracht, da begann er um diese Zeit, sich irgendwie
ausgebrannt und leer geschrieben22 fühlend – und damit offensichtlich in eine
Phase grundlegender Neuorientierung eintretend –, sich dem Studium historischer Studien, vor allem Herderscher und Kantscher Provenienz zuzuwenden.
21 Ab 1777 beginnt Schiller die Arbeit an den ‚Räubern’ (1782 Uraufführung in Mannheim, in der Bearbeitung Heribert von Dalbergs); ab 1782 Arbeit am ‚Fiesko’ (1783
Uraufführung in Bonn); 1782/83 Bearbeitung der ‚Luise Millerin’; 1784 ‚Kabale und
Liebe’; 1784/85 ‚Don Karlos’.
22 Nach Beendigung des ‚Don Karlos’ habe Schiller sich irgendwie „ausgeschrieben“
und „ausgeleert“ gefühlt. Dies habe ihn veranlasst, nach einer Form des Schreibens zu
suchen, bei der es eine günstigere Proportion zwischen Hervorbringung und Empfangen, Imagination und Rezeption, Denken und Lernen gebe, die er in der Geschichtsschreibung gesehen habe: „Es gibt Arbeiten, bei denen das Lernen die Hälfte, das
Denken die andere Hälfte tut – zu einem Schauspiel brauche ich kein Buch, aber meine ganze Seele und alle meine Zeit. Zu einer historischen Arbeit tragen mir die Bücher
die Hälfte bei. Die Zeit, welche ich für beide verwende, ist ungefähr gleich groß. Aber
am Ende eines historischen Buches habe ich Ideen erweitert, neue empfangen; am Ende eines verfertigten Schauspiels vielmehr verloren“, bekennt er im Brief an Körner
vom 18.1.1788; s. Safranski (2004: 271).
Schiller und die Sozialpädagogik
31
Daraus gingen eigene Schriften23 hervor, die ihm sowohl den Ruf des bedeutendsten Historikers seiner Zeit als auch eine Geschichtsprofessur in Jena24 eintrugen.
Auch die 1791 einsetzende schwere Erkrankung und der bald sich rapide
verschlechternde Gesundheitszustand mögen dazu beigetragen haben, Schiller in
eine existenzielle Krise zu treiben und in diese Schaffensphase einer zeituntypischen theoretischen Reflexion und Selbstvergewisserung des Dichters auf seine
gesellschaftliche Rolle und die Funktion von Kunst im anstehenden Prozess
einer gesellschaftserneuernden Umgestaltung.25
Das zentrale Ausgangsproblem, das Schiller in diese aufreibende philosophisch-theoretische Auseinandersetzung treibt, besteht in dem eklatanten Missverhältnis von stattgehabter Vernunftaufklärung und desolatem Erscheinungsbild
seiner Epoche: „Denn woher diese noch so allgemeine Herrschaft der Vorurteile
und diese Verfinsterung der Köpfe bei allem Licht, das Philosophie und Erfahrung aufsteckten?“, fragt er: „Das Zeitalter ist aufgeklärt, [...] woran liegt es, dass
wir noch immer Barbaren sind?“ Die dem Menschen mit der berühmten Kantschen Maxime „sapere aude“ (habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu
bedienen) gegebene Möglichkeit zu ihrer Emanzipation von unbegründeten Ansprüchen und zur autonomen Regulierung ihrer Angelegenheiten war nicht nur
nicht in Angriff genommen worden, sondern zeigte sich aktuell als in ihr Gegenteil umgeschlagen: „Die Kultur, weit entfernt, uns in Freiheit zu setzen, (entwickelt, erg. d. V.) mit jeder Kraft, die sie in uns ausbildet, nur ein neues Bedürfnis, die Bande des Physischen schnüren sich immer beängstigender zu [...] So
sieht man den Geist der Zeit zwischen Verkehrtheit und Rohigkeit, zwischen
Unnatur und bloßer Natur, zwischen Superstition und moralischem Unglauben
schwanken, und es ist bloß das Gleichgewicht des Schlimmen, was ihm zuweilen
noch Grenzen setzt“ (Schiller 1966, II: 453).
Was sind die Hinderungsgründe, die der Freisetzung der menschlichen Potenziale entgegenstehen; welchen Beitrag können der Künstler und seine Kunst
zur Beförderung derselben leisten?
23 In folgender Reihenfolge schrieb er: die „Geschichte des Abfalls der Niederlande“
(1788 - 92), dann die „Geschichte des Dreißigjährigen Krieges“ (1790-92); die Abhandlung „Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? hält er
am 26.5. 1789 als Antrittsvorlesung.
24 Dies mag zwar verblüffen, da doch sein Ruhm als poetischer Schriftsteller allemal
fundierter war, schien jedoch auch mit der Weimar-Jenaer Hochschulpolitik und einer
Einmischung Goethes zu tun zu haben, vgl. Safranski (2004: 304).
25 Für den philosophisch gebildeten Rezipienten liegen die Verständnisschwierigkeiten,
die die Schillerschen Schriften bieten, in deren „zwitterhafter“ Eigenart „einer in den
Bereich des reinen Gedankens übergreifenden dichterischen Einbildungskraft“ begründet (Henrich 1957: 527).
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Erika Richter / Heinz Sünker
Die Aufgabe des Dichters, des Künstlers ist es, durch seine Kunst dem sich
im Kulturprozess entfremdenden Menschen die Idee und das Ideal seiner Wesensbestimmung sinnlich vor Augen zu führen; denn vermittels des sinnlichen
Scheinens der Idee im Kunstschönen- das Schöne als „Freiheit in der Erscheinung, Autonomie in der Erscheinung“26 wird ihm die Möglichkeit zur identifizierenden Anschauung derselben gegeben. Dabei solle er sich nicht am herrschenden Publikumsgeschmack orientieren; vielmehr blicke er „aufwärts nach seiner
Würde und dem Gesetz [...] er [...] strebe, aus dem Bunde des Möglichen mit
dem Notwendigen das Ideal zu erzeugen; (er gebe, d.V.) die Richtung zum Guten, so wird der ruhige Rhythmus der Zeit die Entwicklung bringen“. Die idealisch gestaltete Kunst kann auf diese Weise zu einem „Werkzeug“ werden, das
die Quellen“ zu eröffnen hat, „die sich bei aller politischen Verderbnis rein und
lauter erhalten haben“ (Schiller 1966, II: 463 ff.).
In der Ausarbeitung seiner Gedanken über die komplexen Interdependenzverhältnisse von Individualität, Gesellschaft und Staat; Kunst und Geschichte
bilden geschichtsphilosophische, anthropologische und ästhetiktheoretische Theoriestränge eine eigene Melange und verbinden sich zu der Gestalt von Schillers
philosophiegeschichtlich bedeutsam gewordenen ästhetischen Schriften.27
Schiller begründet in der zweiten großen Schrift seiner Kunstphilosophie
„Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen“28,
26 S. Schillers Schrift: Kallias oder Über die Schönheit (1966, II: 356).
27 Kallias oder über die Schönheit (1792/93); Über Anmut und Würde (1793); Über die
ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen (1793-95); Über naive und sentimentalische Dichtung (1793-96); Über das Erhabene (1794/95). Jedem
halbwegs Verzweifelnden, der Schillers kunstphilosophische Schriften erstmals rezipiert, mögen die seine Antrittsvorlesung auf die Heidelberger Professur einleitenden
Sentenzen Dieter Henrichs über die Schwierigkeiten, die diese dem Verständnis auch
bereits den Zeitgenossen boten, zum Troste gereichen. Die durch Wilhelm von Humboldt dem Autor übermittelte Erfahrung eines Zeitgenossen, das ihm zunächst leicht
und klar Zugängliche der Schrift habe sich nach der Gesamtlektüre in ein ‚Vieldeutiges und Unbestimmtes’ verwandelt, zeige deutlich, „dass der „Künstler bilden, nicht
reden“ solle. Schiller selbst habe dies schließlich in „seiner fast unmutigen Abkehr
von der Spekulation“ ebenso empfunden. Henrich, der in dieser Vorlesung das genuin
philosophische Verdienst Schillers herausarbeiten will, kann hier zeigen, dass die Undeutlichkeit Schillers darin begründet liege, dass dieser, vom Boden des Kantischen,
als dem damals fortgeschrittensten System, argumentierend, in seiner Intention zwar
über dieses - dessen grundlegende Dualitätsstruktur - hinausstrebe, aber nicht die
Kraft des Gedankens habe, dieses zu sprengen, sondern letztlich in dessen Kategorien
befangen bleibe (Henrich 1957: 527 ff.).
28 Vom Sommer 1793 an begann Schiller seine ästhetische Erziehungsschrift in einer
Serie von insgesamt 27 Briefen an „den Augustenburger“, Prinz Friedrich Christian
von Schleswig-Holstein-Augustenburg, aus Dankbarkeit für dessen Hilfe nach seiner
schweren Krankheit im Jahre 1791 zu entwickeln (Schiller1966, II; Anm.: 836).
Schiller und die Sozialpädagogik
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warum er sich den „Bau einer wahren politischen Freiheit“, der eben aufgrund
des erreichten Standes der Aufklärung ein so dringliches Anliegen der Zeit sei,
nicht über die revolutionäre Tat, aber auch nicht über eine moralischen Einwirkung auf die Menschen, sondern vermittels der ästhetischen erwarte.
Schiller rechtfertigt seinen moralisch-ästhetischen Ansatz wie folgt: „dass
man, um jenes politische Problem in der Erfahrung zu lösen, durch das ästhetische den Weg nehmen muss, weil es die Schönheit ist, durch welche man zu der
Freiheit wandert“ (Schiller 1966, II: 447). Die facettenreiche Beweisführung für
diesen programmatischen Satz wird Schiller in seinen ästhetik-theoretischen
Schriften antreten.
Der erste Theoriestrang setzt an der Kantischen29, als der entwickeltsten Philosophie seiner Zeit, an, und hier insbesondere an der Kritik der Urteilskraft, indem
er diese von vornherein unter eigener Perspektive – nach einer möglichen moralisch-praktischen Wirkmächtigkeit von Kunst nämlich – durchleuchtet (vgl. auch
Rosalewski 1912: 5). Ausgehend von dessen Bestimmung der Schönheit als
eines „Symbols der Sittlichkeit“ definiert Schiller diese um als „Freiheit in der
Erscheinung“ oder, was unter dem Sittlichkeitspostulat das Gleiche ist, als „Autonomie in der Erscheinung“ (Schiller Werke 1966, II: 356). Dies führt ihn zu
einer spezifischen Kantkritik. Der Transzendentalphilosoph Kant, so führt Dieter
Henrich aus, habe „die Bedingungen der Möglichkeit objektiv gültiger Urteile
über Gegenstände“ untersucht und „am Ende seines kritischen Geschäfts ein
Problem in der Verbindlichkeit des ästhetischen Urteils“ gesehen: „Der ästhetische Genuss entstammt also dem Bereiche des Erkennens und gewinnt erst durch
nachträglich hinzutretende Akte ein Gastrecht auch in der Welt des tätigen Menschen, als ein Symbol seiner sittlichen Vollkommenheit.“ Für Schiller habe das
transzendentaltheoretische Problem der Möglichkeit der Erkenntnis dagegen kein
wirkliches Gewicht gehabt. Zwar habe er ihm Rechnung getragen, sich aber
nicht an ihm orientiert: „Es ist die Problematik des menschlichen Wesens, seine
sinnlich-vernünftige Doppelnatur, der sittliche Maßstab seines Handelns und die
Möglichkeit seiner Vollendung, durch die Schiller in das Philosophieren genötigt
ist. Und für den Künstler Schiller hängt die innere Wahrheit, die Rechtfertigung
seines Dichtens davon ab, ob die Kunst in dem ihr eigenen Bereiche der schönen
Gestalt eine Beziehung auf diese Problematik besitzt. Schönheit muss schon in
29 Als Schiller Anfang 1791 mit dieser spezifischen Kantrezeption beginn, schreibt er
am 3. März an seinen Freund Körner: „Du errätst wohl nicht, was ich jetzt lese und
studiere? Nichts Schlechteres als Kant. Seine Kritik der Urteilskraft, die ich mir selbst
angeschafft habe, reißt mich hin durch ihren lichtvollen geistreichen Inhalt und hat
mir das größte Verlangen beigebracht, mich nach und nach in seine Philosophie hineinzuarbeiten“ (Safranski 2004: 349).
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