Max Joseph Nadja Michael über das Spiel mit dem Blick – Premiere Die Sache Makropulos Hans Neuenfels über die leidenschaftliche Liebe – Premiere Manon Lescaut Kopfpornokino – Was ist Voyeurismus? BlICKE Bayerische staatsoper Das Beste kennt keine Alternative. Das neue C-Klasse T-Modell. Ab 27. September bei Ihrem Mercedes-Benz Partner. Eine Marke der Daimler AG Elegante Sportlichkeit bis ins Detail. Das neue C-Klasse T-Modell definiert mit seinem progressiven Design in effizienter Leichtbauweise, den zahlreichen innovativen Sicherheits- und Assistenzsystemen und dem großzügigen, flexiblen wie hochwertigen Raumkonzept den Maßstab seiner Klasse neu. www.mercedes-benz.de/c-klasse-t-modell Die Verbrauchswerte beziehen sich auf die zur Markteinführung (09/2014) verfügbaren Motoren des C-Klasse T-Modells (C 180/C Kraftstoffverbrauch kombiniert: 6,0–4,3 l/100 km; CO₂ -Emissionen kombiniert: 140–108 g/km. Anbieter: Daimler AG, Mercedesstraße 137, 70327 Stuttgart 200/C 250/C 220 BlueTEC und C 250 BlueTEC). Editorial Jon Burgerman, face, 2014 Max Joseph 1 2014 – 2015 Das Magazin der Bayerischen Staatsoper Blicke Kusse Bisse „Küsse, Bisse / Das reimt sich, und wer recht von Herzen liebt, / Kann schon das eine für das andre greifen“, stellt die Amazonenkönigin Penthesilea bei Heinrich von Kleist fest, als ihr bewusst wird, dass sie ihren Geliebten Achill aus R ­ aserei zerrissen hat. Für die Spielzeit 2014 /15 haben wir das Kleist‘sche Wortpaar über die verhängnisvolle Nähe von Begehren und Zerstörung um den Begriff „Blicke“ erweitert – als den Auftakt jeder Begegnung, als das Davor. Damit beschäftigt sich diese erste Ausgabe von MAX JOSEPH in der neuen Spielzeit. Für das Theater sind Blicke elementar. Die Gesetzmäßigkeiten schei­ nen dabei festgelegt – hier der Zuschauer, dort der Darsteller. Eine Zwei­ teilung der Blickwelt in Sehen und Gesehen-Werden verlief über Jahrhun­ derte entlang von Geschlechtergrenzen. Wir finden sie auch in Leoš Janáčeks Die Sache Makropulos, der ersten Neuproduktion der Spielzeit. Die Sängerin Emilia Marty wird den Männern vor allem wegen ihrer Jugend und Schönheit zum Objekt der Anbetung. Ihre Interpretin, die Sopranistin Nadja Michael, erkundet im großen MAX JOSEPH-Gespräch mit drei weiteren Künstlerin­ nen, wie Emilia Marty sich dieser Rolle widersetzt, und wie Frauen inzwi­ schen diese Regeln unterwandern. Der Blickwechsel von Liebenden kann „sie aus der Welt herausreißen“, wie László Földényi in seinem Essay formuliert. Dass in dieser Zerstörung des Gewohnten das Potenzial liegt, im philosophischen Sinn tiefer zu blicken, ­belegt er anhand literarischer Stimmen aus mehreren Jahrhunderten. Einen „Überfall“ nennt hingegen der Regisseur Hans Neuenfels die Liebe auf den ersten Blick im Interview – er wird diesen Moment und seine Folgen in ­Giacomo Puccinis Manon Lescaut mit Anna Netrebko in der Titelpartie und Jonas ­Kaufmann als Des Grieux neu inszenieren. Wirklich körperlos, wie der Blick zunächst scheint, ist er nicht. Blicke können Berührungen gleichen, das Angeschaute verschlingen, sexuell und intim sein. Jörg Böckem findet in seiner Reportage über Voyeurismus Men­ schen, die ihre Lust gern mit anderen teilen – über den Blick, den sie werfen oder über den, dem sie sich preisgeben. Diese Schaulust ist, wie der Journa­ list und Autor herausfindet, weit entfernt von krankhaftem Voyeurismus, wie auch vom gewohnheitsmäßigen Ausspähen privater Banalitäten in TV-Shows und sozialen Netzwerken. Vielmehr offenbart sie die menschliche Fähigkeit zu Empathie und Fantasie. Ohne Empathie und Fantasie bleibt auch das Theater kalt. Erst wenn der Zuschauer das Geschaute und Gehörte in eine eigene Erfahrung überträgt und in seine Gedanken- und Gefühlswelt aufnimmt, vollendet sich die Vorstellung auf der Bühne in der Vorstellung des Zuschauers. Blicke nach außen werden zu Blicken nach innen. Dazu laden wir mit unserem Programm in der kommen­ den Spielzeit herzlich ein. Nikolaus Bachler Intendant der Bayerischen Staatsoper Das Cover zeigt ein Selbst­ porträt der schwedischen Fotografin Lina Scheynius, über den Dächern von ­ Brüssel im Frühjahr 2014. Scheynius lebt in London, fotografiert Mode für internationale Magazine und vor allem und immer wieder sich selbst und ihr Umfeld. Die Autodidaktin sagt, ohne das Internet hätten ihre Bilder wohl keine weiteren Betrachter außer ihr gefunden. 8 Contributors /Impressum 10 Meine Begegnung mit … Filmemacherin Lone Scherfig erinnert sich an Lars von Trier 36 Das Offene zu schauen Über die Blicke von Liebenden in der Literatur. Ein Essay von László F. Földényi MAx Joseph 1 20 Im Zwischenreich der Liebe – PREMIERE Hans Neuenfels, Regisseur von Giacomo Puccinis Manon Lescaut, im Gespräch Foto Ryan McGinley 12 1937: Neue Pläne für die Münchner Oper Das Forschungsteam „Bayerische Staatsoper 1933–1963“ berichtet vom Beginn der ­Intendanz Clemens Krauss 66 Sofies Blick Philosophen ­versuchten seit der Antike, das Sehen zu begreifen – eine Auswahl in Bildern, ­ gezeichnet von Gian Gisiger 72 Mehr als Worte – PREMIERE Der Dirigent Tomáš Hanus im Interview über den Komponisten Leoš Janáček 74 Gemalte Augenblicke Der Wissenschaftspublizist Ernst Peter Fischer erklärt, warum man sich den Vorgang des Sehens auch wie Malen vorstellen kann 78 Portfolio Die Serie Charlotte des Fotografen Ross Rawlings AGENDA 34 „Man spürt diese Lust, sich streiten zu wollen“ Ein Türsteher vertraut ganz auf den Blickkontakt Kopfpornokino Eine Reportage über Schaulust und Voyeurismus von Jörg Böckem 42 Haben Sie die Blickmacht? – PREMIERE Frauenrunde: Die Sopranistin Nadja Michael, Interpretin der Emilia Marty in Die Sache Makropulos, im Erfahrungsaustausch über Sehen und Angesehen-Werden 49 Comic Giuseppe Verdis Rigoletto, erzählt von Leon Sadler 88 Foto Heji Shin – Siehe Haben Sie die Blickmacht?, S. 42 Editorial Von Nikolaus Bachler Illustration Leon Sadler 3 60 Illustration Gian Gisiger Männergalerie – PREMIERE Die Sänger aus Leoš Janáčeks Die Sache Makropulos denken an intensive Blickwechsel Inhalt 26 Foto Robert Fischer Inhalt MAX JOSEPH 1 Spielzeit 2014 – 2015 „Ich weiß, wie ich aussehe“ Der blinde Physiotherapeut Florian Deroubaix über Annäherungen an das Visuelle und Klischees vom Blindsein 93 Spielplan 102 Augenblicke der Muße Kulturtipps von Opernmitarbeitern 104 Vorschau Sehen Sie Wasserstoff. In einer Weltpremiere von Linde. Am Anfang stand eine Idee: unsichtbare Gase sichtbar zu machen. Wir haben einen faszinierenden, einzigartigen Ansatz entwickelt. Numerische Grafiken, errechnet aus den spezifischen Stoffeigenschaften der Gase. Mehr unter www.fascinating-gases.com. Wir unterstützen die Bayerische Staatsoper als Spielzeitpartner. IMPRESSUM Contributors Magazin der Bayerischen Staatsoper www.staatsoper.de/maxjoseph Max-Joseph-Platz 2 / 80539 München T 089 – 21 85 10 20 / Fax 089 – 21 85 10 23 [email protected] www.staatsoper.de Herausgeber Staatsintendant Nikolaus Bachler (V.i.S.d.P.) Redaktionsleitung Maria März Gesamtkoordination Christoph Koch Redaktion Miron Hakenbeck, Rainer Karlitschek, Malte Krasting, Daniel Menne, Julia Schmidt, Benedikt Stampfli Mitarbeit: Sabine Voß Bildredaktion Yvonne Gebauer Gestaltung Bureau Mirko Borsche Mirko Borsche, Johannes von Gross, Moritz Wiegand, Sophie Schultz, Paul Thalmeier Autoren Peter von Becker, Jens van Bommel, Christina von Braun, Jörg Böckem, Rasmus Cromme, Ernst Peter Fischer, László F. Földényi, Dominik Frank, Katrin Frühinsfeld, Lea Heutelbeck, Christiane Lutz, Nadia Pantel, Anna Rajah, Theresa Schlichtherle, Jakob Spahn, Robert Ziegler Fotografen & Bildende Künstler Jon Burgerman, Robert Fischer, Ryan McGinley, Gian Gisiger, Jani Leinonen, Cătălin Petrișor, Ross Rawlings, Nuria Riaza, Leon Sadler, Sany, Lina Scheynius, Heji Shin, Kohei Yoshiyuki (mit bestem Dank an die Galerie Yossi Milo, New York) László F. Földényi Seite 20 Heji Shin Seite 42 Cătălin Petrişor Seite 20 Immer schon versuchte die Literatur dies zu fassen: den tiefen Blick zwischen Liebenden und das Ende der bisherigen Welt. László F. Földényi, Professor für Kunsttheorie in Budapest, Autor vieler international erschienener Bücher und als Herausgeber der Werke Heinrich von Kleists in Ungarn mit dessen „Bissen“ und „Küssen“ lange vertraut, durchmisst in seinem Essay zweitausend Jahre Kultur­ geschichte auf den Spuren dieses Geheimnisses. Die Fotografien von Heji Shin für das Aufklärungsbuch Make Love erregten im Jahr 2012 viel Aufsehen. Die Bilder zeigten echte Paare bei echtem Sex. Die Frage nach dem Authentischen? Sie interessiert die in Berlin und New York lebende Fotografin nicht, wie sie im Gespräch für MAX JOSEPH erzählt. Die Bilder, die sie von der Sopranistin Nadja Michael im Berliner Zoo gemacht hat, sprechen für sich. Das Wagnis und die Gefährdung, die in einem Blick liegen können, mag man in dem Bild sehen, das den Essay von László F. Földényi begleitet. Oder spricht es mehr von der Innigkeit eines Paares? Der rumänische Künstler Cătălin Petrişor verwendete für sein Motiv Öl und Graphit. Seine vielseitigen Arbeiten – ­Videokunst, Fotografien, Installationen und ­Zeichnungen – wurden zuletzt in Paris und Peking ausgestellt. Christiane Lutz Seite 88 Sany Seite 102 Christina von Braun Seite 42 Die Frage lag so nah und doch so fern: Wie erlebt ein blinder Mensch die Liebe auf den ersten Blick, und wie ergeht es ihm in unserem über-visualisierten Alltag? Das Interview, das Christiane Lutz mit Florian Deroubaix führte, gibt beeindruckende ­Antworten darauf. Christiane Lutz, Absolventin der Deutschen Journalistenschule, schreibt für den Kulturteil der ­Süddeutschen Zeitung über Theater und Popmusik, aber auch über Gesellschafts- ­ und Sozialthemen. Die Kulturtipps von MAX JOSEPH haben eine Frischzellenkur bekommen, wie es sich für ein Heft über Blicke gehört. Verabreicht wurde diese von Professor Samuel Nyholm alias Sany. Der schwedische Grafikdesigner und Illustrator arbeitet für Zeitungen und Magazine in ganz Europa und lehrt Illustration an der Hochschule für Künste in Bremen. Er war übrigens so nett, gleich selbst eine Freizeitbeschäftigung in Bildform mitzuempfehlen. Wo zwischen Mann und Frau die Macht des Blickes liegt, interessiert Christina von Braun seit langem – als Professorin für Kulturwissenschaft an der Berliner Humboldt-Universität, Gründerin des Studiengangs Gender Studies und als Filmemacherin. Sie ist Sprecherin des Zentrums Jüdische Studien Berlin­Brandenburg und Vize-­ Präsidentin des Goethe-­ Instituts. Für MAX JOSEPH moderierte sie die Runde der Künstlerinnen. Marketing Laura Schieferle T 089 – 21 85 10 27 / Fax 089 – 21 85 10 33 [email protected] Schlussredaktion Nikolaus Stenitzer Anzeigenleitung Imogen Lenhart T 089 – 21 85 10 06 [email protected] Vertrieb Zeitschriftenhandel Axel Springer Vertriebsservice GmbH Süderstraße 77 20097 Hamburg www.as-vertriebsservice.de Lithografie MXM Digital Service, München Druck und Herstellung Gotteswinter und Aumeier GmbH, München ISSN 1867-3260 Nachdruck nur nach vorheriger Einwilligung. Für die Originalbeiträge und Originalbilder alle Rechte vorbehalten. Urheber, die nicht zu erreichen waren, werden zwecks nachträglicher Rechtsabgeltung um Nachricht gebeten. Meine Begegnung mit … … Lars von Trier. Die dänische Filmregisseurin Lone Scherfig erzählt. 10 10 Vorstellungsankündigung Illustration Nuria Riaza Gleichzeitig waren die Erwartungen an Dogma-Filme damals so hoch. Ich stand unter Druck und war fest davon überzeugt, den ersten schlechten Dogma-­ Film zu drehen! Aber sein Respekt und seine Unterstützung für meine Detailversessenheit gaben mir Selbstvertrauen und das Gefühl, auf dem Weg zu meiner eigenen Filmsprache zu sein. In meinen Filmen spielen Blicke eine sehr große Rolle. Ich versuche immer, die Kamera zwischen die Schauspieler zu bringen, so dass der Zuschauer die Figuren mit den Augen des jeweils anderen sehen kann. Blickkontakt, kleine mimische Signale im Zuhören und An­ sehen bedeuten mir sehr viel. Ein falscher Blick kann eine Szene ruinieren. Denn in meiner Arbeit ist es mir sehr wichtig, die Augen der Darsteller zu zeigen oder aber mit ihren Augen auf das Geschehen zu blicken. Dadurch kann es gelingen, dass ganz gewöhnliche Dinge besondere Bedeutung ­erlangen. Durch Lars von Trier habe ich auch erfahren, dass ich die Kamera nutzen kann, um die Welt, wie ich sie sehe, zu rahmen; oder mit ihr wie mit einer Waffe auf die Dinge zu deuten. Heute stelle ich sogar fest, dass Dogma mich bis in mein Privatleben hinein geprägt hat. So mag ich es, in unserem Haus nicht von Dingen umgeben zu sein, die ich ausge­sucht habe, sondern die meinem Mann gefallen. Ich habe nicht das Foto Prokino „Für mich war meine Begegnung mit Lars von Trier von großer Bedeutung und hat mein Arbeitsleben sehr geprägt. Er gehört für mich zu den stilbildenden Regisseuren, und es war außergewöhnlich, ihm so nahe sein zu können. Ich kannte ihn ja schon von der Filmhochschule. Doch wir hatten wenig Kontakt. Das änderte sich mit Beginn der Dogma-Bewegung und meinem Film Italienisch für Anfänger, den ich für seine Produktionsfirma drehte. Wir kamen uns langsam näher, Stück für Stück. Wir lachten über dieselben Dinge, hatten die gleichen Bücher gelesen und liebten dieselbe Musik. Diese Nähe hat mir sehr gut getan. Ich bekam das Gefühl vermittelt, auf dem richtigen Weg zu sein. Das war existenziell für mich, denn Filme, wie ich sie mache, brauchen Zeit. Und Zeit brauchte ich damals auch, um mich als Filmemacherin zu entwickeln. Aufgezeichnet von Jörg Böckem In der Spielzeit 2014 / 15 erzählen Künstler in MAX JOSEPH von einer Begegnung, die sie verändert hat. Die dänische Filmemacherin Lone Scherfig studierte Filmwissenschaft in Kopenhagen und Paris und Regie an der Dänischen Filmhochschule. In Deutschland wurde sie vor allem durch ­ihren Film Italienisch für Anfänger aus dem Jahr 2000 bekannt. Er gilt als einer der wichtigsten Filme der Dogma-Bewegung, die sich für ein realistisches Kino ohne technische Effekte einsetzte. Seit 9.10.2014 läuft ihr neuer Film Riot Club in den deutschen Kinos. In dem Thriller um einen studentischen Geheimbund seziert Lone Scherfig die zukünftige Elite Großbritanniens. Bedürfnis, meine Umgebung kontrol­ lieren, gestalten, inszenieren zu müssen. Das macht mich zu einem glücklicheren Menschen. Heute habe ich nur noch sehr, sehr selten Kontakt zu Lars von Trier. Seit acht Jahren arbeite ich England. Es hat sich einfach so ergeben, war keine bewusste Entscheidung oder gar ein Befreiungsversuch. Wir haben uns ein­fach in unterschiedliche Richtungen bewegt. Oft vermisse ich die alte Zeit, Kollegen zu haben, die mir so nah sind wie damals. Als Regisseurin genieße ich es zurzeit sehr, mit jungen Schau­ spielern zu arbeiten und mitzuer­ leben, wie sie herausfinden, wer sie sind und was sie können. Diesen ­Prozess zu begleiten und ihnen dabei zu helfen, den Schauspieler in ihrem Inneren zu finden, ist fan­ tastisch; also in gewisser Weise das zu tun, was Lars von Trier vor Jahren für mich getan hat.“ 11 Im Zwischen­reich der Liebe Blicke Küsse Bisse – dieser Dreiklang steht über der Spielzeit 2014 / 15 an der Bayerischen Staatsoper. Die Küsse von Manon und Des Grieux aus Giacomo ­Puccinis Manon Lescaut wird Hans N ­ euenfels neu ­inszenieren. Mit dem ­Kulturjournalisten Peter von Becker, zugleich ein lang­jähriger Freund, sprach der Regisseur über das, „was stört“ und der Ursprung allen ­Dramas ist: die leidenschaftliche Liebe. 12 Premiere Manon Lescaut PETER VON BECKER Blicke Küsse Bisse – damit ist diese Spielzeit an der Bayerischen Staatsoper überschrieben. „Küsse, Bisse / Das reimt sich, und wer recht von Herzen liebt, / Kann schon das eine für das andre greifen“, heißt es in Heinrich von Kleists Penthesilea, als die Amazonenkönigin am Ende den Achill, ihren Geliebten, aus entfesselter Liebe leibhaftig gefressen hat. Sie haben ­sowohl Kleists Penthesilea in Berlin als auch Othmar Schoecks Oper nach dem Drama inszeniert und auch einen Penthesilea-Film gedreht. Jetzt machen Sie sich in München an Puccinis Manon Lescaut, eine Oper nicht voller mörderischer, aber wiederum tödlicher Leidenschaft. HANS NEUENFELS Also sprechen wir über die Leidenschaft. PvB Über Liebe, Leidenschaft und Kunst. Was für Kleist die Nähe von Küssen und Bissen war, hat Friedrich Nietzsche mit Blick auf alle große Kunst als den Widerstreit zwischen dem rauschhaft Dionysischen und dem verstandeshellen Apollinischen bezeichnet. Stehen Sie selber in diesem Spannungsverhältnis, regen Sie solche Paarungen an? HN Sie regen mich auf und an, weil zwischen diesen Extremen, die man im Theater und in der Oper aufwühlen muss, sehr viel passiert. Auch an Differenzierungen. Es stellen sich einem hier dauernd Fragen: Woher kommt das, was sind die Motive dafür, dass sich Menschen so verhalten, und was ist überhaupt menschenmöglich? Dahinter stecken aufkeimende Geschichten, die man erstmal zum Vorschein bringen muss. PvB Das, was bei allen Extremen dazwischen liegt. HN Das Zwischenreich. Die Behauptung, Küsse und Bisse reimten sich und seien sich auch sinnlich sehr nah, besagt für sich noch nichts. Es kommt immer auf die Interpretation an. Dem Rasen der Penthesilea liegt ja ein großer Irrtum zugrunde. Eine Verwechslung – man „kann das Eine für das Andre greifen“. Die Leidenschaft und der Wahn ergeben sich nie auf eine homogene Weise, sondern durch eine Störung. So lässt sich dem natürlichen Prozess auch der Kunst-Prozess entgegensetzen. Schon die leidenschaftliche Liebe ist keineswegs völlig natürlich und normal, obwohl wir alle von ihr träumen. Und die leidenschaftliche Liebe endet nicht nur mit dem Tod, sie stirbt meist schon vorher durch Gewöhnung. Durch Alltäglichkeit. Oft beruht das Ende auf Banalisierung, auch wenn es den davon Betroffenen dramatisch, bestürzend, verrückt erscheint. Genau dagegen lehnen sich die Komponisten und die Schriftsteller auf. Daraus schöpfen sie ihre Kunstwerke. Kunst ist halt nicht normal. Auch die Liebe ist nicht normal. PvB Unser gemeinsamer Freund, der Dramatiker Tankred Dorst, hat in einem seiner Stücke gesagt: „Wer lebt, stört.“ Das gilt … Fotografie Ryan McGinley HN … genauso für die Liebe. Aber die hinterhältigste Störung des Lebens und der Liebe ist die Gewöhnung. Dieser schleichende Tod. PvB Einen Liebestod durch Gewöhnung zu zeigen wirkt aber undramatisch, es dauert auch zu lange. Kunst ist immer Verdichtung unserer Raum-Zeit-Erfahrung, selbst in einem Tausend-Seiten-Roman. Eine Steigerung des real Normalen. Eigentlich hat es nur Tschechow geschafft, das Alltägliche auf der Bühne spannend und sogar poetisch zu machen. HN Tschechow hat allerdings keine Opern geschrieben. Ich habe mal bei Mozart gesagt, der Tod ist normal, die Liebe ist es nicht. Sie erträumt man, erhofft und ersehnt man. Den Tod muss man sich nicht wünschen, der kommt von allein. PvB Ist Liebe zwischen Geburt und Tod die stärkste Erfahrung, wenn man ansonsten nicht gerade Länder erobern will oder Weltmeisterschaften gewinnen kann? HN Die Liebe ist das Besondere. In all ihren Erscheinungsformen ist sie das, worauf der Verliebte pocht, selbst wenn er sonst nichts besitzt, kein Geld hat, keine besonderen Begabungen, keinen gesellschaftlichen Erfolg. Aber den begehrten und geliebten anderen will er irgendwie besitzen. Durch die Liebe zu einem anderen Wesen hofft er auf eine Erweiterung, eine Vermehrung seiner selbst. Hofft auf eine Überdosis Leben. Es ist ein Traum von Glück, wenn zwei verliebte Menschen nur über eine Straße gehen, sich an den Händen halten, nicht voneinander lassen, miteinander scherzen und sich für diesen Moment nicht vorstellen können, dass es außer ihnen noch andere Menschen gibt. Aber dieses Glück ist sofort bedroht. PvB Bedroht durch sein Ende: das Unglück in Gestalt eines anderen oder des eigenen Ungeschicks. HN Ja, es kann ins Auge gehen. Zu dem begrifflichen Dreiklang der Bayerischen Staatsoper gehören ja vor den Küssen und Bissen auch die „Blicke“. Es gibt tatsächlich die Liebe auf den ersten Blick, wie den Tod auf den letzten Blick. Die Liebe b ­ eginnt schon mit einem Überfall. Sie ist eine Ausgrenzung des Normalen, darum zugleich diese Beschleunigung und Verdichtung. PvB Ein existenzieller Ausnahmezustand. Oft blitzartig, und mit einem Coup de foudre beginnt auch Manon Lescaut. Der Student Des Grieux sieht Manon, und es ist geschehen. HN Der erste Blick entflammt ihn. Mehr noch als die Frau. Bei ihr ist es anders, im 2. Akt verfällt sie auch dem Glamour, dem Reiz des Reichtums, den Des Grieux ihr nicht bieten kann. Sie hat noch einen Nebenausgang. Doch später landet sie wieder bei ihm, und sie bleiben aneinander hängen. Nur nimmt Manon gleichsam eine Kurve, bevor es in 15 den Abgrund geht. Sie hat die Neigung zum glamourösen Wohlleben, trotzdem wird sie ihre Liebe nicht aufgeben oder verraten. Und weil die Liebe nichts neben sich duldet – sie kennt immer nur sich selbst – wird es umso komplizierter. Vielleicht muss Manons Verblendung zwischendrin sein, das gehört zur Konstruktion des Unglücks. Es ist ein Irrtum, ein anderer Irrtum als bei Penthesilea und Achill, aber die Liebe steigert nicht die – wie heißt das? – Realitätstauglichkeit. PvB Was wieder eine Ambivalenz beschreibt. Die Liebe explodiert auf den ersten Blick und macht den Liebhaber sehend, sonst würde der oder die Geliebte gar nicht erkannt. Doch macht die Liebe, Volksweisheit, zugleich blind. Das muss sie, weil sie sonst ihre Selbstbesessenheit nicht hätte. Der Liebende kann nicht Augen noch für alle anderen haben – das unterscheidet die Liebe vom Sex. HN Absolut. Sexuelles Begehren kann sich auf viele richten, die leidenschaftliche Liebe wohl nicht. PvB Also ist die Verblendung liebesnotwendig. Und in der Verblendung liegt auch der Ursprung der Tragödie. Das antike Theater pointiert die Ambivalenz übrigens noch in der Figur des blinden Sehers. Auch Homer, der Vater aller Dichtkunst, war der Überlieferung nach blind. Sind im Theater und in der Oper nicht alle Liebenden blinde Seher? HN Vermutlich ist die Liebe in einem Kunstwerk noch vertrackter. Bei Manon oder bei Romeo und Julia erwacht die Liebe in dem Moment, in dem es schon fast zu spät ist, weil es um die Liebenden durch ihre Gefühlsverstrickung und die sie in ganz andere Richtungen zerrenden gesellschaftlichen Verhältnisse bereits geschehen ist. Die Tragödie ist schon geschehen, zwar nicht vollendet, aber in Gang gesetzt. Es gibt ja das Unausweichliche der Tragödie, und trotz der Vorhersehbarkeit des Endes bleibt sie in sich spannend. Das ist die Kunst. PvB Das Liebesglück ist der Beginn der Katastrophe. Im Drama. HN Und dazu der verhängnisvolle Blick. Das Versehen. In der Penthesilea gibt es an zwei entscheidenden Stellen ein Versehen. Ein Missverständnis, ein falscher Anschein setzt auch in Kleists Familie Schroffenstein die Tragödie in Gang. Die Dichter und Komponisten empfinden das Leben und, in seiner Steigerungsform, die Liebe eben nicht als etwas Organisches und Harmonisches, sondern als Gefährdung. Ein Hornissennest. Ein Bazillus. Ein Wahnsinn. PvB Der Liebende ist ja der Gefährdetste überhaupt. Je mehr er liebt, desto größer der mögliche Verlust, je stärker das Glücksgefühl, desto giftiger die Eifersucht, die zu Mord und Selbstzerstörung führt. Shakespeare und Verdi zeigen im Othello das berühmteste Beispiel. HN Außerdem gibt es noch die Hassliebe. Die ex­ tremste Spannung der Gefühle. 16 PvB Immerzu Gewalt und Leidenschaft – dagegen haben Sie nie ein Lustspiel inszeniert. Sie sind kein Mann der Komödien und des Happy Ends. HN Als Zuschauer schon, da liebe ich Komödien. Und Komödien sind ja nicht nur Happy-End-Geschichten zum ungetrübten Lachen. Ich gehe beispielsweise in jeden Woody-Allen-Film und lache sehr gern. Ich mag auch Witze. Aber ich inszeniere sie nicht. PvB Hitchcock hat mal zu seinen Filmen gesagt, er hasse es, „wenn die Wahrscheinlichkeit ihr gemeines Haupt ­erhebt“. Wenn das Schauspiel eine Liebesgeschichte erzählt, braucht es, trotz aller Verrücktheit, dennoch eine gewisse Stringenz des Textes und des Plots. In der Oper lässt sich das von den Libretti und Handlungen nicht immer sagen. Auch nicht bei Manon Lescaut. Es braucht die Musik und den Gesang, damit der schöne Unsinn der Story zum wahren Wahnsinn wird. Oder aus Pathetik richtiges Pathos wird. HN Die Musik ist der Schlüssel. Selbst die Libretti von da Ponte, der eng mit Mozart zusammengearbeitet hat, sind nichts ohne Mozarts Musik. Wenn man ganz bösartig ist, ließe sich das sogar von Wagner ­sagen, der immerhin sein eigener Librettist war. PvB Dieses Altdeutsche und die Stabreime mögen uns zwar schrullig erscheinen, aber Wagners Sprache hat doch eine poetische Eigenmacht. Er verstand sich ja auch als Dichter und hat bei seinen Opern immer zuerst das Libretto geschrieben, hat sie in Abgrenzung später Musikdrama genannt. HN Ja, das ist der große Unterschied. Schon das ­Libretto ist eine Steigerung und Verfremdung. Aber das Wagner’sche Gesamtkunstwerk entsteht durch die Musik, die ja das Wort in Klang verwandelt und die Grenzen des Literarischen sprengt. Wagner als Wortdichter hätte nie diese universelle Bedeutung erlangt. PvB Ihr Kollege Peter Stein hat die Regie einmal als kalkulierten Aberwitz beschrieben. Theater und Oper gibt es zwar nicht ohne Regie, aber der Regisseur muss ein Kunstwerk, das die Grenzen der Vernunft überschreitet, auf der Bühne durch lauter geordnete, wiederholbare Abläufe gleichsam zur Vernunft bringen. Er muss das Chaos zeigen und gleichzeitig aufheben, das Inkommensurable, wie es Goethe nennt, das Unmäßige in ein Maß fügen. Sonst könnte ein Theater- oder Opernabend gar nicht stattfinden. HN Oh ja! (Neuenfels lächelt und beginnt zu lachen. Er raucht eine Zigarette). Ja, ja. PvB Dem Regisseur ist nichts zu schwör. HN Aber der Regisseur ist nur ein Interpret des Kunstwerks, der Übersetzer, nicht der Urheber des Übermaßes, das wir in den Stücken finden. PvB Klar. Trotzdem können Sie, was Sie mit Ihrer eigenen künstlerischen Fantasie und Leidenschaft auch an „Die Dichter und Komponisten empfinden das Leben und, in seiner Steigerungsform, die Liebe eben nicht als etwas Organisches und Harmo­­­­n­isches, sondern als Gefähr­d­ung. Ein Hornissennest. Ein Bazillus. Ein Wahnsinn.“ Hans Neuenfels Unmäßigem erträumen, auf der Bühne in Zeit und Raum schon rein physisch nie ganz verwirklichen. HN Nein, dann müsste ich selber ein Stück schreiben, eine Prosa, ein Drama, einen Film erfinden, das habe ich ja auch schon gemacht. Aber als Bühnenregisseur bin ich gegenüber dem Künstler, dem Autor oder Komponisten, ein … PvB … ein Handwerker? Obwohl Sie ein durchaus erfinderischer Inszenator sind!? HN Das Handwerk ist schon wichtig. Aber es ist auch ein zwielichtiger Begriff, weil das sogenannte Handwerkliche oft als Ausrede dient für mangelnde Intensität: für Routine und Bequemlichkeit statt Risikobereitschaft beim Probieren. Natürlich sind die Vorlagen, die wir finden und auf der Bühne immer auch ein Stück neu erfinden müssen, keine Tabus. Sie sind nicht unberührbar. Aber es gilt, was Brecht mal gesagt hat: „Wir können Shakespeare verändern, wenn wir Shakespeare verändern können.“ Das ist der Maßstab. Allerdings sind die Vorgaben nicht überall gleich stark. Beispielsweise gibt es bei Manon Lescaut im 1. Akt ein szenisches Problem mit der etwas undeutlich und unscharf entworfenen Volksszene. Da herrscht ein nicht so recht einleuchtendes Gewimmel um Manon und Des Grieux herum, wenn sie sich erstmals begegnen. Viele Bürger, Studenten, Unbeteiligte – ein ungeheurer ­ Verbrauch von Zufälligkeit! (Lachen) Das wirkt sehr ­retardierend, die Personen werden etwas umständlich vorgestellt, es besteht zwischenzeitlich die Gefahr des Verläpperns. Eine inszenatorische Schwierigkeit. Ich möchte die Partitur nicht verletzen und dem Zuschauer dennoch das Gefühl nehmen, oh, es fängt aber zäh an. Ich kenne Regisseure, die haben Manon schon dreimal inszeniert und mir gesagt, den 1. Akt habe ich noch nie geschafft! PvB Volksszenen sind ja fast immer ein Problem, selbst bei den besten Chören. Es stehen, staksen oder schreiten viele Damen und Herren oft gravitätisch herum, in historischen oder abstrakten Kostümen. Für den Zuhörer klingt das gewaltig, für den Zuschauer aber ist es eine buchstäblich kritische Masse. Sie haben beispielsweise bei Ihrem gefeierten Bayreuther Lohengrin den Kniff gewählt, das wankelmütige Volk und Heer von Brabant als ein Rudel Ratten darzustellen. Diese Tiermenschen ­wirken in den raffinierten Kostümen und Masken so erschreckend wie bezaubernd. Ganz genau versteht das zwar keiner, aber das macht nichts, es ist eine poetische Verfremdung, sie suggeriert eine Art monströsen staatspolitischen Labor-Versuch, in den Lohengrin und Elsa als scheiternde Liebende geraten. HN Wie Sie das beschreiben, ist es doch mehr als ein Kniff, mehr als ein Regietrick. Es ging darum, eine Metapher zu finden, die eine uns ferne, fremde 17 Peter von Becker lebt als Schriftsteller und Kulturautor des Tagesspiegel, dessen Kulturredaktion er bis 2005 leitete, in Berlin. Er gehört dem Direktorium des Forum du Théâtre Européen an und lehrt Kulturjournalismus an der Berliner Universität der Künste. Foto Monika Rittershaus Situation durch eine nur scheinbar groteske Verschärfung näherrückt. Etwas Ähnliches werde ich auch bei Manon Lescaut im 1. Akt versuchen. Das hat dort nichts mit Tieren zu tun. Ich möchte nur das klebrig Ausmalende, das Dekorativ-Atmosphärische der Szene plastischer, kräftiger, sehniger kriegen. Damit sich die Handlung dann besser abfedert. Es ist ein Versuch. PvB Nicht jeder Künstler ist ja ein so leidenschaftlicher und dabei leidender Grenzgänger wie Hölderlin und Rimbaud. Oder wie Schubert, vielleicht auch Mozart. Genie und Wahnsinn haben sich zum Beispiel bei Wagner auch mit seinem tatkräftigen Geschäftssinn verbunden, mit einem Organisationstalent: vom Bankrotteur hin zum ­ Bayreuther Opernbaumeister und Gesamtkunstwerker. ­Goethe war Minister und Dichter und hat seinen inneren Zwiespalt im Torquato Tasso objektiviert, indem er stellvertretend den realitätsmächtigen Staatssekretär Antonio gegen den emotionalen Träumer und Poeten Tasso auftreten lässt. Sind Ihnen die heißblütigen Künstler näher als die kühlköpfigen? HN Also, Goethe hat immerhin den Werther geschrieben, ich glaube auch nicht, dass er seine eigenen Dämonen je ganz gebannt hat. Er hat nur mit seinem Kunstverstand das Unmäßige, das Verzückte und Verrückte des Tasso als Geschichte toll organisiert. Wenn ich an die Komponisten denke, ist mir Verdi vielleicht am allerliebsten, aber der war, ähnlich wie Wagner, karrierebewusst und im Leben überaus erfolgreich. Trotzdem hat er diese leidenschaftlich tiefgründige, abgründig tragische und zugleich schöne Musik komponiert. Und Kleist hat das Aufeinandertreffen dieser beiden Kometen Penthesilea und Achill auch irrsinnig gut organi­ siert, es ist ein fabelhaft gebautes und gedichtetes Stück. Ich glaube, ab einem gewissen künstlerischen Niveau ist die Frage der Ökonomisierung eines Talents nicht mehr zu beantworten. Ich habe, um nochmals auf den anfangs erwähnten Nietzsche zu kommen, für die Dionysier und die Apollinischen gleich viel Sympathie und kann sie nicht trennen. Heiß und kalt, Verstand und Gefühl gehören zusammen, schon damit es zwischen ihnen krachen kann. PvB Sie haben selber oft im Rausch gearbeitet, früher. HN Im Rausch und wie im Rausch. Aber am nächsten Morgen, wenn ich es auf der Bühne dann sehe, wird es wieder klar, fast objektiv. Ich sehe die Stärken und Schwächen, vor allem die Irrtümer. Das ist der zweite Blick, auch auf die Leidenschaften. Seit er 1974 mit Il trovatore in Nürnberg das erste Mal Oper in­­s­zenierte, verbindet den Regisseur Hans Neuenfels eine intensive ­Beziehung zu dieser Gattung. Ausdruck davon waren über die letzten vier Jahrzehnte hinweg immer wieder kontrovers diskutierte Inszenierungen, wie unter vielen anderen Aida (Frankfurt, 1980), La forza del destino, Rigoletto und Nabucco (alle Deutsche Oper Berlin, 1982, 1986 und 2000), Die Entführung aus dem Serail (Stuttgart, 1998), Die Fledermaus (Salzburger Festspiele, 2001), Idomeneo (Deutsche Oper Berlin, 2003) und Lohengrin (Bayreuther Festspiele,­2010). Erst 2010 gab Hans Neuenfels sein Debüt an der Bayerischen Staatsoper mit der Inszenierung von Giovanni Simone Mayrs Medea in Corinto. Auch schriftstellerisch setzt sich Neuenfels mit der Oper und von ihm verehrten Komponisten auseinander, wie mit Verdi, zu dem er früh, und mit Mozart, zu dem er später fand. So schrieb er mehrere Opernlibretti, darunter Giuseppe e Silvia (2000), und veröffentlichte 2009 als Autor Wie viel Musik braucht der Mensch? Über Oper und Komponisten. Nach seinem Schauspiel- und Regiestudium am Wiener Max Reinhardt Seminar und einem Pariser Jahr als Assistent von Max Ernst begann Neuenfels ab 1964, Schauspiel zu inszenieren, vor allem in Wien, Frankfurt und Berlin. Von 1986 bis 1990 war er Intendant am Theater der Freien Volksbühne in Berlin. Manon Lescaut Oper in vier Akten Von Giacomo Puccini Premiere am Samstag, 15. November 2014, Nationaltheater Weitere Termine im Spielplan ab S. 93 Tische mit Charakter. Schaffen Sie Raum für Persönlichkeit. Besuchen Sie unsere aktuelle Ausstellung im by USM Showroom München und entdecken Sie unseren neuen Blog www.personalitiesbyusm.com 18 by USM München, Wittelsbacherplatz 1, 80333 München, Tel. +49 89 2284702-0 Deutschland: USM U. Schärer Söhne GmbH, D-77815 Bühl, Tel. +49 72 23 80 94 0, [email protected] Showrooms: Berlin, Bern, Düsseldorf, Hamburg, München, New York, Paris, Stuttgart, Tokio, [email protected] www.usm.com Macht Liebe nicht blind, sondern ­sehend? Der ungarische Kleist-­Kenner László F. Földényi blickt auf ­Momente aus ­zweitausend Jahren Kultur­geschichte. Cătălin Petrişor, No Title, 2010, oil and graphite on canvas, 65 x 80 cm Das Offene zu schauen Blicke von Liebenden können nicht nur lebensspendend sein. Sie können auch verheerend sein. Ungeahnte Tiefen tun sich unter Liebenden auf, und sie fühlen sich aus der Welt herausgerissen. „Denn unser Geist, der dem ersehnten Ziele / Sich naht, muss sich darein so tief versenken, / Dass das Gedächtnis ihm nicht Folge leistet”, schreibt Dante. Das ist die größte Gabe, aber auch die größte Gefahr der Liebe: Sie reißt den Liebenden aus seinem alltäglichen Leben. Denn sein Blick zersprengt die gewöhnliche Welt und schafft zugleich eine neue, ist also zerstörerisch und schöpferisch. Der Blick der Liebe geht ins Jenseits und stellt alles in eine neue Perspektive. Dieser Blick wird in der abendländischen Kultur oft auch als göttlich oder genialisch bezeichnet. Ein Blick kann unendlich vielfältig sein. Besorgt oder freudig, forschend oder zaghaft, durchdringend oder zerstreut, argwöhnisch oder unschuldig, wissend oder naiv. Und so weiter, bis ins Unendliche. Aber wie auch immer er sein mag, stets dient der Blick dem Menschen dazu, sich in der Welt zurechtzufinden, die wie eine Glasglocke über ihm zu liegen scheint. Alles wird darunter eingeschlossen – sogar der unendliche gestirnte Himmel. Es gibt aber auch andere Blicke, die sich in einer Weise auf die Welt richten, dass sie alles durchdringen und ihr letztes Ziel jenseits des sinnlich Wahrnehmbaren finden. Dieser Gedanke taucht zum ersten Mal bei Platon auf, der die Ansicht vertrat, dass es manchen Sterblichen gegeben sei, die „ewige Wahrheit“ zu schauen. Zu diesen Auserwählten zählte er die Philosophen und die Liebenden, die hinwegschauten „über das, was wir jetzt Sein nennen, das Haupt auf reckend in das Wirklich-Seiende“. Ein solches Sehen ist an nichts gebunden, wird von nichts begrenzt. Deshalb wird es oft auch als göttlich bezeichnet. In seinem Buch Physiognomische Fragmente beschrieb Johann Caspar Lavater den Blick des Genies mit den Worten: „das Auge des Genies, des gesalbten Gottes, scheint Ausflüsse zu haben, die auf andre Augen physisch und unmittelbar wirken […] Der Blick des Genies in seiner höchsten Treffenheit, wenn ich so sagen darf, ist – beynahe wunderwirkend – unwiderstehlich, allanerkannt, göttlich“. Siehe da, ein Tisch, ein Krug, eine Obstschale. Alltägliche Anblicke, über die unser Blick gewöhnlich hinweggleitet. Wenn aber ein Künstler wie der berühmte Maler von Stillleben Giorgio Morandi sie wiedergibt, sehen wir unter dem Eindruck seines Blickes nicht nur einen Krug und eine Schale, sondern ein Mysterium, das uns mit dem Rätsel des Universums selbst konfrontiert. Auch Dichter und Komponisten verfügen über diesen „inneren Blick“, und natürlich auch die Liebenden und all jene, die unter dem Eindruck eines blitzartigen Augenblicks vorübergehend außer sich geraten. Diese Blicke gelten als göttlich; aber indem sie die Welt neu einrichten, müssen sie sie in ihrer bisherigen Form auch zerstören. So mag, wenn wir ­Caravaggios Porträt Glauben schenken dürfen, auch der Blick der Medusa gewesen sein, der jeden zu Stein erstarren ließ, der in ihre Augen schaute. Im Vergleich dazu ist das alltägliche Sehen, der alltägliche Blick ein beschränktes, getrübtes Sehen. Bild Cătălin Petrişor 21 Die Hoffnung auf ein unumschränktes Sehen indes war als Idealvorstellung, als utopischer Maßstab in der europäischen Kultur stets präsent. Wir würden vielleicht nicht so hartnäckig daran festhalten, hätte diese Hoffnung nicht auch eine Realität, gäbe es nicht auch die Möglichkeit, dass sie zur rechten Zeit Wirklichkeit wird. ­Platon schrieb in seinem berühmten Höhlengleichnis, dass wir dazu verdammt seien, mit dem Rücken zur Wahrheit zu sitzen und nur die schattenhaften Umrisse ihres Abbildes an der Höhlenwand wahrnehmen zu können. Dass wir in unserem diesseitigen Leben also nur erahnen können, dass auch jenseits dessen, was wir sehen, ­etwas existiert. Es ist aber möglich, dieses „Jenseitige“ in besonderen Augenblicken zu schauen. Dem Tier, dem Kleinkind scheint dies noch zu gelingen. Rilke schreibt in der Achten Duineser Elegie, dass wir „das Offene“, das, was „draußen ist“, nur noch „aus des Tiers Antlitz“ kennen, „denn schon das frühe Kind wenden wir um“. Lange vor Rilke hat bereits Hölderlin in seinem Gedicht Brot und Wein dieses Offene beschworen: „Göttliches Feuer auch treibt, bei Tag und bei Nacht, / Aufzubrechen. So komm! daß wir das Offene schauen“. Im 20. Jahrhundert bezeichnet es Georges ­Bataille als „das, was ist“, und verweist damit auf die unendliche Fremdheit, die ein Universum kennzeichnet, das seiner menschlichen Perspektive beraubt ist. Das Offene zu schauen heißt, durch die Welt hindurchzusehen, heißt, die Vorder- und die Kehrseite der Dinge gleichzeitig zu sehen. In der Theologia Germanica, einem Werk aus dem 13. Jahrhundert, das Johannes Tauler zugeschrieben wird, ist zu lesen, dass sogar Christi Seele zwei Augen gehabt habe: Mit dem linken habe Christus­die kreatürliche Welt und die Zeit betrachtet, mit dem rechten sich in Gott und die Ewigkeit vertieft. Ein solches Sehen in zwei Richtungen führt auch zu einer Art Silberblick. Dieser Silberblick ist aber kein Defekt, der mit Hilfe einer Brille kuriert werden muss, sondern ein Zustand der Verheißung. Als Silberblick bezeichnete Franz von Baader am Anfang des 19. Jahrhunderts den Blick, der mit dem äußeren und einem inneren Auge gleichzeitig sieht. Ein solches Blicken ereignet sich in jenen außergewöhnlichen Momenten, in denen sich zwei Menschen auf den ersten Blick ineinander verlieben. „In jedem schön’ren Sinn, erhabne Königinn! / ­ Gewillt mein ganzes Leben fürderhin, / In deiner Blicke Fesseln zu verflattern“, gesteht Achilles Penthesilea bei Heinrich von Kleist. 22 Der außergewöhnliche, göttliche Blick wird in der Geschichte der europäischen Kultur häufig mit den blitzartigen Augenblicken der leidenschaftlichen Liebe identifiziert. Angefangen bei den Autoren der griechischen Antike über Dante und Shakespeare bis hin zu Kleist oder Thomas Mann. Diese Augenblicke gehören zu jenen großen, seltenen Zuständen, in denen man in der Welt ist, ohne das Gefühl zu haben, von ihr geknebelt zu werden. Nicht umsonst bezeichnet man einen solchen Zustand als ekstatisch. Das griechische Wort verweist auf einen Austritt. Der Liebende tritt aus sich heraus; wo er aber eintritt, weiß er selbst nicht. Einerseits findet er restlos zu sich, mehr denn je zuvor in seinem Leben, andererseits verliert er sich aber auch. Er wird sich fremd und erst recht den anderen, die spüren, dass ein Liebender für die Welt nicht mehr erreichbar ist. „Ich bin der Welt abhanden gekommen“, schreibt Friedrich Rückert in seinem gleichnamigen Gedicht, das durch Gustav Mahlers Vertonung berühmt wurde und mit den Sätzen endet: „Ich bin gestorben dem Weltgetümmel, / Und ruh’ in einem stillen Gebiet! / Ich leb’ allein in meinem Himmel, / In meinem Lieben, in meinem Lied!“ Man denke an Lucia im dritten Akt von Gaetano Donizettis Lucia di Lammermoor, wenn sie in dieser erschütterndsten Wahnsinnsszene der Operngeschichte unwiederbringlich aus der Welt gerät; oder an Elvira im zweiten Akt von Bellinis Oper I puritani, als sie sich von Arturo verlassen wähnt und die Welt für sie plötzlich unverlässlich wird. Die unendliche Einsamkeit beider Frauen wird von ihrer Umgebung als Wahnsinn gedeutet. Hört man ihnen und der Musik aber aufmerksam zu, offenbart sich, dass es sich weniger um Wahnsinn als vielmehr um einen besonderen Zustand handelt, an der Grenze zwischen der Welt und dem Offenen stehend mit einer Wahrnehmung, die sonst vielleicht nur Säuglingen, Sterbenden oder Tieren gelingt. Diesen Wahnsinn bezeichnete Platon als göttliche Manie und schrieb ihn jenen zu, die verliebt sind, die das göttlich Schöne lieben. Der verliebte Blick ist aufwühlend und überwältigend. Er lässt den Blickenden außer sich geraten, und umso mehr noch den, auf den er sich richtet. Denn der Liebende möchte sich mit seinem Blick den Geliebten sprichwörtlich einverleiben, zu eigen machen. Der verliebte Blick vermag die ganze Welt nur durch seinen Filter zu sehen; er begehrt den anderen, aber er wünscht auch, dass das ganze Universum ihm gehörte. Nicht zufällig birgt ein solcher Blick auch gewaltige Gefahren: Er kann sich auf den anderen genauso zerstörerisch auswirken wie auf das eigene Ich. Die beiden Extreme: Penthesilea und Aktaion. Kleists Penthesilea genügt ein einziger Blick, und sie gerät in Raserei. Am Anfang ist ihr Antlitz „von Ausdruck leer“. Als sie jedoch Achilles erblickt, entflammt es sofort, „und einen finstern Blick wirft sie auf ihn“. Wie Handschellen fesselt dieser finstere Blick sie fortan aneinander. „In jedem schön’ren Sinn, erhabne Königinn! / Gewillt mein ganzes Leben fürderhin, / In deiner Blicke Fesseln zu verflattern“, gesteht ihr Achilles später, ohne zu ahnen, dass sie am Ende beide Opfer dieses Blickes werden. Unter dem Eindruck des „finst’ren Blickes“ verliebt sich Penthesilea nicht nur in Achilles, sondern bricht auch mit ihrer eigenen Sippe, ihrer Tradition, mit ihrer Vergangenheit und Erziehung. Bis sie schließlich im Banne der Sehnsucht nach Ganzheit den, den sie liebt, buchstäblich verzehrt. „So war es ein Versehen. Küsse, Bisse, / Das reimt sich, und wer recht von Herzen liebt, / Kann schon das eine für das andre greifen“, sagt sie und wird von den anderen fortan nicht mehr bei ihrem Namen, sondern nur noch „die Ungeheuerste“ genannt. Penthesilea ist dorthin ausgetreten (ἔκστασις, ekstasis), wozu diejenigen, die nicht über ihren Blick verfügen, keinen Zugang haben: ins Offene, ins Ungeheure, in „das, was ist“. Im Falle von Aktaion vernichtet der Blick den Blickenden selbst. Seine Geschichte wird von Ovid in den Metamorphosen erzählt. Aktaion verirrt sich bei einer Jagd im Wald in die Grotte der Göttin Diana und erblickt sie nackt badend im Kreise ihrer Nymphen. Aus Rache verwandelt ihn die jungfräuliche Göttin in einen Hirsch, der schließlich von seinen eigenen Hunden zerfleischt wird. Aus dem Jäger wird ein erlegtes Wild, aus dem Verfolger ein Verfolgter. Alles wegen eines einzigen Essay László F. Földényi 23 Blickes. Aktaion bricht nicht in den Wald auf, um ihr nachzuspähen, im Gegenteil: dass er sie erblickt, ist ein Werk des Zufalls. Und doch nimmt damit eine Kette schrecklicher Ereignisse ihren Lauf. Vermutlich hatte der Anblick der nackten Frau Aktaion seelisch schon in ein wildes Tier verwandelt, noch bevor der Zauber der Göttin wirken konnte. Er wird seines Menschseins entkleidet. Was sich in ihm abspielt, wenn er die Göttin erblickt, schildert Ovid nicht. Aber die bloße Tatsache des Anblickens genügt, dass er außer sich gerät, einem ekstatischen Zustand anheimfällt, der letztlich zu seinem Untergang führen muss. Wie mag es wohl sein, einen Gott zu erblicken? Es ist wohl kein Zufall, dass der verliebte Blick eben damit verglichen wird. Er ist überwältigend und erhebend, schöpferisch und zerstörerisch zugleich. „Mich treibt ein Ja und Nein, ein Süß und Herbe – / Daran sind, Herrin, deine Augen Schuld“, schreibt Michelangelo in seinem Sonett Fühlt meine Seele das ersehnte Licht. Und Hugo Wolfs Vertonung unterstreicht dramatisch, dass ein Verliebter erst unter dem Eindruck des Blickes des Geliebten das Gefühl bekommt, zu existieren, und ihm sein vorheriges Leben als bloßes Dahinvegetieren erscheint. Das Auge und das Sehen besitzen göttliche Schöpferkraft. „Nächtiges Dunkel / deckte mein Aug’, / ihres Blickes Strahl / streifte mich da: / Wärme gewann ich und Tag“, singt Siegmund in Richard Wagners Die Walküre, und erst durch den Blick, den Sieglinde auf ihn richtet, beginnt er zu leben und zu sein. Das bezeugt auch Sieglinde selbst: „Als mein Auge dich sah, / warst du mein Eigen“. Später warnt Brünhilde Siegmund – in unausgesprochener Anspielung auf Aktaions Geschichte –, dass es verboten sei, sie als Göttin zu erblicken („Nur Todgeweihten / taugt mein Anblick; / wer mich erschaut / der scheidet vom Lebenslicht“). Und doch wird auch sie ihre Liebeserfüllung erst finden, als ein Mann, Siegfried, sie erblickt und sich in sie verliebt: „Nur dein Blick durfte mich schau’n, / erwachen durft’ ich nur dir!“, spricht sie in Liebesekstase. Der verliebte Blick ist bei Wagner zum dramaturgischen Gestaltungsmittel geworden – und das nicht erst im Parsifal, zu dessen Vorspiel Nietzsche schreibt: „Ob je ein Maler einen so schwermütigen Blick der Liebe gemalt hat, als Wagner mit den letzten Accenten des Vorspiels?“ Siegmund und Sieglinde, Brünhilde und Siegfried, Penthesilea und Achilles, Aktaion und Diana, Lucia und Edgardo, Elvira und Arturo und all die anderen, Werther und Charlotte, Manon und Des Grieux, Violetta und Alfredo: Die Situationen unterscheiden sich, aber die Blicke sind ähnlich. Lebensspendend und zerstörerisch zugleich, gerichtet auf das Jenseits der sichtbaren Welt. Und sie bewegen sich alle zwischen den Extremen, zwischen Kuss und Biss. Während die Liebenden sich nacheinander sehnen, spüren sie instinktiv, dass sie einer größeren, übermächtigen Kraft ausgeliefert sind. Sie sehen einander an, ihre Blicke sind aufeinander gerichtet, und doch entdecken sie im Gesicht des anderen das Offene, das sie, wenn es sie einmal berührt hat, nie mehr freigeben wird. Die Psychologie der leidenschaftlichen Liebe ist untrennbar verbunden mit der Metaphysik des Blickes und des Sehens. Und deren letzte Stoßrichtung ist stets das, was Jakob Böhme so formuliert hat: Nicht das bloße Sehen, erst der Blick der Gnade „gehet durch Holz und Steine, durch Mark und Beine, und kann ihn nichts halten, denn er zersprenget […] überall die Finsterniß.“ WARUM SICH MIT LUFT UND LIEBE BEGNÜGEN, WENN MAN LICHT UND LAGE HABEN KANN. MERZSTRASSE 3–5, MÜNCHEN Im Herzen Alt-Bogenhausens entstehen 15 Zwei- und Drei-Zimmer-Wohnungen von ca. 65 m bis ca. 165 m. Die außergewöhnlich ruhige Lage bildet den idealen Rahmen für den Aufenthalt auf den großzügigen Terrassen und Balkonen mit der charakteristischen Brüstung oder in dem von Landschaftsarchitekten gestalteten Garten. Wohnkultur in Reinform versprechen die weiten, hellen Räume mit bodentiefen Fensterfronten und hochwertiger Ausstattung. Auch die Bäder mit ihrem Materialkonzept sind eine unmittelbare Aufforderung zum Wohlfühlen und unterstreichen das Grundkonzept, das sich in drei Wörtern zusammenfassen lässt: Noch mehr Licht. Aus dem Ungarischen von Akos Doma Mehr über den Autor und den Bildkünstler auf S. 8 24 EnEv 2014 EA-B · HZG BHKW Bj. (EA) 2014 64 kWh/(m²a) Beratung und provisionsfreier Verkauf: 089 415595-15 www.bauwerk.de Bauwerk Capital GmbH & Co. KG, Prinzregentenstraße 22, 80538 München Die männlichen Figuren in Leoš Janáčeks Die Sache Makropulos werfen auf die Hauptfigur Emilia Marty die unterschiedlichsten Blicke – bewundernde, zerstörerische, gierige, v ­ erachtende, ­distanzierte. ­Die Sänger dieser Partien kehren hier die Blickrichtung um und stellen sich der ­ Kamera von Robert Fischer sowie der Frage: Männergalerie „Zuletzt ins Herz getroffen haben mich die aufmerksamen Blicke meiner beiden, elfund fünfzehnjährigen, Töchter beim Abschied gestern. Augen von heranwachsenden Persönlichkeiten –­ein warmer, sehnsüchtiger Blick voll kindlicher Zuneigung und Vertrauen; ein wenig Traurigkeit – aber auch ein neues, selbstbewusstes Leuchten. ­Eine Mischung aus eigenständiger Erkenntnis und Einsicht in die Notwendigkeiten des Lebens. Das erwachende Bewusstsein spiegelte sich in jenem Augenblick berückender Schönheit.“ – Peter Lobert, Partie des Theatermaschinisten Welcher Blick hat Sie zuletzt getroffen? Premiere Die Sache Makropulos 27 „Letzten Sommer waren meine Freundin und ich in Padua. Eine wunderschöne Stadt! Eines Sonntagnachts, es war schon ein Uhr, wollten wir zu Fuß zurück zu unserer Unterkunft gehen. Dabei haben wir uns dummerweise verirrt. Auf einer schlecht beleuchteten Straße tauchten auf einmal drei zwielichtig wirkende junge Männer auf Fahrrädern auf. Sie waren noch zirka hundert Meter von uns entfernt aber sie hatten uns schon gesehen. Plötzlich fuhren zwei von ihnen direkt auf uns zu. Immer langsamer wurden sie, je näher sie kamen. Ich wusste: Jetzt haben wir gleich ein Problem! Jetzt muss ich mich gleich schlagen. Ich versuchte, kampfbereit zu blicken. Einer sah mir genau in die Augen. Sein Blick war schwer zu deuten. Er fixierte uns, als er sich näherte. Es war der Moment, in dem er entschied, ob er uns überfallen würde. Aber sie fuhren an uns vorbei. Zum Glück ist nichts passiert.“ – Dean Power, Partie des Janek „Es gibt einen Blickwechsel, der mir in meinem Beruf regelmäßig begegnet: Wenn wir Sänger uns nach der Vorstellung für den Applaus aufstellen, der Vorhang sich öffnet und das Licht im Zuschauerraum angeht, blicken wir plötzlich in die 2100 Augenpaare, die uns den ganzen Abend lang aus dem Dunkel begleitet haben. Aus dem Augenwinkel bemerke ich dann die Überwältigung, die Neulinge auf der Bühne, junge Kollegen also, im Moment dieses Anblicks ergreift. Das berührt mich immer wieder aufs Neue.“ – Kevin Conners, Partie des Vítek „Mir ist ein Erlebnis in starker Erinnerung, aus der Zeit, als ich 21 Jahre alt war. Mein jüngerer Bruder und ich hatten gerade ein Tennismatch beendet. Als wir beim Haus unserer Eltern ankamen, empfing uns meine Mutter schon an der Tür. In dem Moment, als ich sie sah, wusste ich sofort, dass mein Leben von jetzt an nicht mehr das gleiche sein würde. Sie sagte: ‚Bitte setz dich, John... Martins Mutter hat gerade angerufen. Er ist heute Abend bei einem Autounfall ums Leben gekommen ... Es tut mir so leid.‘ Sie wusste, wie wichtig Martin mir war. Er war mein bester Freund – eher wie ein Bruder. Ich habe noch immer deutlich den ganz klaren Blick meiner Mutter vor Augen, diesen Blick hinter den Tränen, so voller Schmerz, Mitgefühl und Liebe.“ – John Lundgren, Partie des Jaroslav Prus „Ich besuchte einen alten Freund und Kollegen im Pflegeheim, er leidet an Alzheimer. Ich hatte ihn lange nicht gesehen und hatte Zweifel, ob er mich erkennen würde. Er sah mich eine Weile an, dann blitzten seine Augen und er sagte: ‚Goldi, du warst mein bester Freund.‘ Danach versanken sein Blick und seine Gedanken wieder. Ich war sehr erschüttert.“ – Reiner Goldberg, Partie des Hauk-Schendorf „Am meisten treffen mich heimliche Blicke.“ – Pavel Černoch, Partie des Albert Gregor Premiere am Sonntag, 19. Oktober 2014, Nationaltheater STAATSOPER.TV: Live-Stream der Vorstellung auf www.staatsoper.de/tv am Samstag, 1. N ­ ovember 2014 Weitere Termine im Spielplan ab S. 93 Fotografie Robert Fischer „Mit den Jahren bringen so viele Blicke mehr und mehr Überraschungen …“ – Gustáv Beláček, Partie des Dr. Kolenatý Die Sache Makropulos Oper in drei Akten Von Leoš Janáček Roségold, bildschön, formvollendet: die neue Lux. Einzelstücke, mit Liebe gefertigt. nomos-glashuette.com, nomos-store.com 32 „Man spürt diese Lust, sich streiten zu wollen“ MAX JOSEPH Herr Yilmaz, wenn die Leute an der Tür vor Ihnen stehen – wohin schauen Sie zuerst? TIM YILMAZ Ins Gesicht, in die Augen. Wenn ich jemandem ein bisschen länger in die Augen schaue, und er reagiert empfindlich oder aggressiv, dann lasse ich ihn natürlich nicht rein. MJ Dann geht es gar nicht darum, ob man die richtigen Turnschuhe trägt? TY Ich achte nicht so sehr auf Coolness oder die richtigen Klamotten. Das läuft wenn dann eher unterbewusst ab. Es geht mehr um Sympathien. Und darum, ob man der Person anmerkt, dass sie Lust hat zu feiern und diese gute Laune weiterzutransportieren. MJ Und wenn ich eher schüchtern bin und es vor dem Türsteher nicht schaffe, gute Laune auszustrahlen? TY Das heißt ja nicht, dass jemand vor mir tanzen und herumspringen muss. Schüchtern ist sympathisch. Wenn jemand wirklich schüchtern ist, erkenne ich das auch. Die schauen auf den Boden oder blinzeln zur Seite weg. Schüchterne Leute liebe ich. Die trinken ein Bier, dann tauen sie auf und feiern. MJ Und die mit der Aggression in den Augen, gucken die auch weg? TY Die erwidern meinen Blick. Man spürt diese Lust, sich streiten zu wollen. Aber nicht nur die Aggressiven sind schwierig, sondern auch die Miesepetrigen. Es kommen jeden Abend einige Leute, die einfach niedergeschlagen sind – wovon auch immer. Man könnte sich natürlich denken, okay, die lassen wir feiern gehen, dann kommen sie besser drauf. Aber meistens kommen die nicht besser drauf, sondern trinken und kriegen dann richtig schlechte Laune. Ich frage dann einfach: Was ist los? Schlecht drauf? Manche gehen dann von selbst. MJ Aber könnte man nicht einfach alle reinlassen und gucken was passiert? TY Nein, also … wirklich nicht. Auch generell: Gerade in München gibt es so viele Bierfeste und Junggesellenabschiede. Die kommen dann völlig betrunken rein. Ich kenne niemanden, der mit denen feiern möchte. MJ Und wie entscheiden Sie, ob einzelne Personen reinkommen oder nicht? TY Ich sorge dafür, dass ich mich nicht sofort entscheiden muss. An der Tür darf es nicht zu schnell gehen. Also warten die Leute erstmal. Das hängt auch davon ab, ob 34 Das Interview führte die Münchner Journalistin Nadia Pantel. Auch in einem Nachtclub stehen vor Küssen und Bissen die Blicke: zuallererst in die Augen eines ­Türstehers. Tim Yilmaz, nebenberuflicher Türsteher in München, erzählt davon. vielleicht die Garderobe zu voll ist oder die Kassenfrau kurz Pause macht. Und während die Leute warten müssen, ergibt sich das Aussortieren fast schon von selbst. Viele reagieren extrem empfindlich, wenn sie kurz warten müssen, und schnauzen einen direkt an. Das ist dann natürlich schnell geklärt. MJ Wenn Sie jemandem sagen, dass er gehen muss, schauen Sie ihn dann direkt an? TY Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es besser ist, jemandem direkt in die Augen zu schauen, wenn man ihm sagt, tut mir leid, das ist nichts für dich. Der Laden und du, ihr passt nicht zusammen. Dann akzeptieren sie das schneller. Wenn man wegguckt, vermittelt man selbst eine Unsicherheit, und außerdem fühlen sich viele natürlich schlecht behandelt. Und ich will nicht, dass irgendjemand sich gedemütigt fühlt. MJ Schicken Sie auch Frauen weg? TY Ja, klar. Frauen kommen nicht immer rein. Stellen Sie sich mal vor, es ist zwölf Uhr, Sie sind mit ein paar Freunden im Club und es geht gerade erst los. Und da kommen dann sechs, sieben After-Work-Ladies rein, die schon ordentlich einen sitzen haben. Die total vollgetankt sind und da unten einen absteppen wollen. Das passt nicht. Aber man kann das gar nicht nur auf das Aussehen oder auf das Verhalten reduzieren. Da spielt alles Mögliche eine Rolle, manchmal vielleicht auch ein schlechtes Parfüm. Ich habe zum Beispiel auch ein Problem mit Frauen, die zu sehr Frau sein wollen, die mich mit Augenblinzeln umschmeicheln wollen. Das passiert ständig. MJ Und die kommen dann nicht rein? TY Das kommt drauf an. Es gibt ja verschiedene Arten von Charmant-Sein. Es gibt aber generell einen Frauentyp, der mit sehr viel Wimperntusche und sehr viel Lippenstift und sehr großer Mähne versucht, Eindruck zu schinden. MJ Wie ist das, wenn man die wegschickt? Werden die auch aggressiv? TY Ja, natürlich, da sind auch schon Handtaschen geflogen. Tim Yilmaz ist hauptberuflich Wissenschaftler. Er hütet die Türen der Münchner Clubs ­Charlie und Kong und bildet inzwischen auch Türsteher aus. Kopfpornokino Wir beobachten andere, unverhohlen oder heimlich. Wir stalken in sozialen Netzwerken. Und wie steht es um die Lust am Zuschauen beim Sex? Ein Streifzug am Rande des Voyeurismus, aufgenommen von Jörg Böckem. Eine nicht mehr ganz junge Frau, die ihren zweifelhaften Ruhm – und den Beinamen „Teppichluder“ – der Tatsache verdankt, dass sie vor Jahren öffentlichkeitswirksam einem in die Jahre gekommenen Pop-Produzenten den Beischlaf gewährte, ein ehemaliger Richter, dessen Kokain-Eskapaden die Boulevardpresse beschäftigten, eine junge Frau, die ihr Geld mit Sex vor der Kamera verdient hat, ein selbstbesoffener Schlagerbarde und andere merkwürdige Menschen, die in Deutschland seltsamerweise als Prominente gelten, ziehen in eine gemeinsame Wohnung, dokumentiert von Dutzenden Kameras. Und mehr als drei Millionen Menschen sitzen vor dem Fernseher. Die Webseite Opentopia sammelt ungeschützte Livestreams von Sicherheitskameras oder Webcams in Privathaushalten, Büros, Heimen und öffentlichen Gebäuden auf der ganzen Welt und macht sie jedem User zugänglich. Abertausende nehmen Einblick in das Wohnzimmer einer Familie in Nordfrankreich, in ein Kinderzimmer in Südkorea, eine Metzgerei in der Schweiz oder ein Büro in Russland und beobachten völlig fremde Menschen bei ihren Alltagsbeschäftigungen. Der Sender RTL setzt einige Mediengestalten, die für das Berühmtsein berühmt sind, im australischen Dschungel aus, filmt sie Tag und Nacht, führt sie wie Zirkustiere am Nasenring durch die Manege und fährt damit Quotenrekorde ein. Intellektuelle wie Roger Willemsen preisen die Sendung öffentlich als faszinierende Sozialstudie und mediale Menschwerdung. Im Internet posten Paare Filme, die sie beim Sex zeigen, zur Freude von Millionen. Auf Fetisch-Partys und in Swingerclubs treffen sich Menschen, die es genießen, wenn andere ihnen zusehen, zum halböffentlichen Sex. Die Welt, so scheint es, ist nicht mehr als ein gewaltiges Panoptikum, jeder Winkel gnadenlos und gierig ausgeleuchtet; von uns, den allgegenwärtigen Voyeuren – zuschauend, beobachtend, immer und überall, schier unersättlich; zum Lustgewinn, Zeitvertreib oder genussvollen Ekeln. Je plakativer, schäbiger, nackter, peinlicher oder privater, desto besser. Der ­moderne Mensch – verführt und verdorben von Internet, Privatfernsehen und Sex-Industrie – frönt niederen Trieben und zeigt seine hässliche voyeuristische Fratze. Oder? In Wahrheit ist nichts davon neu oder außergewöhnlich. Die Lust am Zuschauen hat uns Menschen zu allen Zeiten umgetrieben: Gladiatorenkämpfe, Hexenverbrennungen, öffentliche Hinrichtungen, die Kreuzigung Jesu, „Freakshows“, die Völkerschauen des 19. Jahrhunderts, Johann Wolfgang Goethe, der mithilfe eines Teleskops die Damenwelt im Theater beobachtete, der Blick über die Hecke des Nachbarn; Schaulust ist schon lange ein Massenphänomen. Der Mensch ist ein Homo Videns, wie der italienische Politikwissenschaftler Giovanni Sartori in seinem gleichnamigen Buch schreibt. „Der beliebteste Ort im Himmel ist das Schlüsselloch zur Hölle“, wusste schon Voltaire. Der österreichische Philosoph Konrad Paul Liessmann schrieb 1997 in seinem Essay Kleines Plädoyer für den Voyeurismus: „Watching ist in. Beobachtung ist zur neuen Tugend des orientierungslosen Menschen geworden. Weil er nicht mehr weiß, was er soll, ist er gezwungen, zu beobachten, was sich tut.“ Und der französische Philosoph Paul Virilio ist ähnlicher Auffassung: „In der Fotografie Kohei Yoshiyuki Tat macht es die Globalisierung erforderlich, dass wir uns gegenseitig ununterbrochen beobachten und vergleichen.“ Das neugierige Zusehen erfüllt also ein zutiefst menschliches Bedürfnis. „Wir sind Augenwesen. Das Auge ist unser prominentestes Sinnesorgan, der Visus steht im Vordergrund, alle anderen Wahrnehmungskanäle sind dagegen eher verkümmert“, sagt der Sexualwissenschaftler und Klinische Sexualpsychologe Dr. Christoph Joseph Ahlers aus Berlin. „Für uns als sozial organisierte Lebewesen hat Sehen und G ­ esehen-Werden immer auch referenzielle und sozial regulative Funktion –­wie sind die anderen, was tun sie und wie tun sie es, wie wirken wir wiederum auf andere, welche Reaktion lösen wir bei ihnen aus.“ Blicke bieten soziale Orientierung, sie helfen uns, unsere Identität zu definieren, uns in sozialen Bezügen einzuordnen und zurechtzufinden. Wir suchen Bestätigung, identifizieren uns mit den Beobachteten, vergleichen uns, zur Selbstentlastung, aber auch gerne abwärts. Durch das Beobachten von etwas Neuem, bisher Unbekanntem, befriedigen wir Neugierde. Mit sexuellem Lustgewinn oder gar Voyeurismus im klinischen Sinne, so ­Ahlers, hat all das zunächst einmal nichts zu tun. „Es begann eher zufällig“, sagt Frank B. „Eigentlich gab es nichts zu sehen, das ich nicht auch an jedem Strand oder in jedem Freibad hätte sehen können, vom Internet ganz zu schweigen.“ Es war an einem warmen Frühsommertag, der Mittdreißiger stand am Fenster seiner Wohnung und telefonierte. Wenige Monate zuvor war er eingezogen, fünfter Stock Altbau, die großen Fenster geben den Blick frei auf die Häuser gegenüber, getrennt durch eine vierspurige Straße. Auf dutzende Wohnungen und noch mehr Fenster. Er ließ seinen Blick über die Fassaden schweifen. Viele, sehr viele Fenster ohne Vorhänge. In einer Wohnung sah er eine junge Frau. „Sie war gut zu erkennen, die Sonne schien durch ihr Fenster und leuchtete sie regelrecht aus“, sagt Frank B. „Mein Blick war wie gefesselt.“ Die junge Frau hing Wäsche auf, augenscheinlich hörte sie dazu Musik, mit tänzelnden Bewegungen, erinnert er sich, bewegte sie sich durch den Raum. Sie war spärlich bekleidet, ein Stringtanga, der ihre Pobacken betonte, ein dünnes Trägerhemd, das den Blick auf ihre Brüste freigab, wenn sie sich vorbeugte. Immer wieder reckte sie ihrem Beobachter auch ihren Hintern entgegen, manchmal wackelte sie damit zur Musik. „Ich war wie elektrisiert“, sagt Frank B. Nachdem er das Telefonat beendet hatte, blieb er am Fenster stehen. Auf seinem Schreibtisch wartete Arbeit, aber seinen Beobachtungsposten zu verlassen kam nicht in Frage. Im Gegenteil, als die junge Frau ins Nachbarzimmer an ihren Kleiderschrank ging und damit aus seinem Blickfeld verschwand, wechselte auch er den Standort. Das Fenster im Wohnzimmer bot einen besseren Blick. „Sie hat sich vor dem Fenster umgezogen, es war unglaublich aufregend, sie zu beobachten.“ In den Monaten, die folgten, stand Frank B. immer mal wieder an seinen Fenstern, wenn er Zerstreuung oder Ablenkung suchte; tagsüber, wenn die Sonne in ihr Zimmer schien, oder abends in der Dunkelheit seines Zimmers, wenn ihre Wohnung beleuchtet war. Sie saß am Schreibtisch, lag im Bett und 37 „Wenn ich in den Gesichtern einen Ausdruck der Erregung erkenne, erinnert mich das an meine eigene. Das ist schön“, erzählt Kathrin K. las, räumte in Unterwäsche ihre Wohnung auf, zog sich um. Einmal beobachtete er sie sogar beim Sex, schemenhaft nur, bei gedämpftem Licht. Aufregend, sagt er, sei es trotzdem gewesen. „Keine Ahnung, ob sie wusste, dass ich sie beobachte“, sagt er. „Manchmal war mir das Ganze schon irgendwie peinlich, aber der Reiz war stärker. Außerdem habe ich mir dann gedacht, wenn es ihr unangenehm ist, beobachtet zu werden, kann sie ja ihre Vorhänge schließen.“ Wenn er ihr auf der Straße begegnete, hoffte er inständig, dass sie in ihm nicht den Mann am Fenster gegenüber erkannte. Frank B., der eigentlich anders heißt, möchte seinen wahren Namen nicht in diesem Artikel lesen. Auch seine Freundin weiß nichts vom heimlichen Vergnügen ihres Partners. „Das wäre mir sehr unangenehm“, sagt er. „Ich möchte ja nicht für einen abartigen Freak gehalten werden.“ Auch wenn das Beobachten seiner Nachbarin durchaus auch erregend gewesen sei und seine Fantasie befeuert habe, sagt er, wäre er nie auf die Idee gekommen, sich ihr tatsächlich zu nähern. Der Blick und sein Kopfpornokino hätten ihm vollauf genügt. Anschauen führt eben nicht unbedingt zur Berührung des anderen. Auch wenn Frank B.s Freundin wohl tatsächlich wenig begeistert wäre und sein Verhalten im sozialen Kontext als unangemessen oder unerwünscht angesehen wird – abartig ist es nicht, im Gegenteil. „Menschen, Situationen oder Handlungen zu beobachten, die wir als sexuell ansprechend empfinden, bindet unsere Aufmerksamkeit und wird von den meisten Menschen, insbesondere von Männern, als lustvoll empfunden“, sagt Ahlers. „Durch das Beobachten, manchmal auch durch die Vorstellung, dabei zu sein, entsteht sexuelle Erregung. Sexuelle Handlungen nicht nur selbst auszuführen, sondern auch beobachten zu wollen, ist ein normales menschliches Interesse.“ Dazu kommt der Reiz des Verbotenen, angefeuert von einer früheren, kirchlichen Sozialisation, die den Blick auf vermeintlich Unkeusches verbietet und für viele den Reiz an eben solchen Beobachtungen noch erhöht. „Wenn in der Nachbarwohnung Menschen Sex haben und man ungehindert zusehen kann, sehen die meisten Menschen zu. Wenn das Geschehen im öffentlichen Raum zu beobachten ist, oder bei nicht verhangenem, gut einsehbarem Fenster in der Nachbarwohnung, dann ist das Beobachten eines fremden Menschen, etwa beim Umziehen oder beim Sex, sowohl ethisch als auch klinisch nicht bemerkenswert; es ist einfach menschlich“, so der Sexualwissenschaftler. Kathrin K. hat ihr Kopfkino lange für abartig oder zumindest fragwürdig gehalten. „Bevor ich meinen jetzigen Partner kennengelernt habe, hatte ich immer Freunde, die meine sexuellen Vorlieben als pervers bezeichnet haben“, sagt die schwarz gekleidete Frau in den Dreißigern. Eine Wohnung in Hamburg, das großformatige, gerahmte Foto an der Wand zeigt einen großgewachsenen, breitschultrigen Mann, er ist schwarz gekleidet, sein Blick streng. In der Hand hält er eine Hundeleine. Die Leine endet am Hals einer Frau in einem schwarzen Korsett, die zu seinen Füßen sitzt. Kathrin und ihr Freund. Vor einigen Jahren hat Kathrin ihre Vorliebe für S/M-Sex entdeckt. Sie genießt es, mit verbundenen Text Jörg Böckem ­ ugen an der Hundeleine durch einen Raum geführt, an ein A Andreaskreuz gefesselt und ausgepeitscht zu werden oder über einem Bock fixiert harte Schläge mit einer Reitgerte auf den nackten Hintern zu bekommen, auch und gerade vor Zuschauern. „Spielen“ nennt sie diese Sexualpraktiken. Genauso wie sie es mag, wenn ihr andere beim Spielen zusehen, genießt sie es, selbst andere dabei zu beobachten. „Zu Anfang war es vor allem aufregend, die unterschiedlichen Spielarten zu sehen und mich davon inspirieren zu lassen, heute schaue ich vor allem in die Gesichter“, sagt Kathrin. „Sicher, es ist erregend, schöne nackte Menschen dabei zu beobachten, wie sie den Arsch voll bekommen, aber mittlerweile interessieren mich vor allem die Emotionen, die Erregung der anderen. Manche Männer können so toll leiden!“ Genauso aufregend sei es, in die Gesichter der Umstehenden zu sehen, also die Beobachter zu beobachten. „Wenn ich in den Gesichtern einen Ausdruck der Erregung erkenne, erinnert mich das an meine eigene. Das ist schön.“ Paul, einer ihrer Freunde, ergänzt: „Wenn andere ästhetisch ansprechend spielen, ist das erregend. Ich nutze die Bilder als Inspiration für meinen nächsten Sex oder die Selbstbefriedigung. Manchmal stelle ich mir auch vor, beteiligt zu sein.“ Den Schritt vom Anschauen zum Anfassen würde er in einer solchen Situation allerdings nie machen. „Das gehört da für mich nicht hin.“ Der Blick genügt sich selbst. „Wir Menschen sind eben Rudelwesen“, sagt Kathrin. „Wenn einer gähnt, gähnen die anderen auch. Beim Sex ist es nicht anders. Wenn ich sehe, wie hübsche Menschen erregende Dinge tun, macht mich das an.“ Spezielle S/M-Partys, zum Beispiel im Hamburger Club „Catonium“, bieten ihr und ihren Freunden die Gelegenheit dazu. Wer hierher kommt, kommt aus den gleichen Gründen: seine sexuellen Vorlieben unter Gleichgesinnten auszuleben, dabei zuzusehen und gesehen zu werden, an einem gleichermaßen öffentlichen wie geschützten und sicheren Ort. Hier gelten klare Regeln. Zuschauer sind in den öffentlichen Räumen ausdrücklich gestattet oder auch erwünscht, Anfassen oder gar Mitmachen ist nur auf ausdrückliche Einladung der Spielenden erlaubt. „Meine erste S/M-Party war extrem aufregend“, sagt Kathrin. „Ich wusste vorher nicht, dass es so viele Menschen gibt, die das Gleiche mögen wie ich. Diesen Menschen zuzusehen war großartig. Noch aufregender war es anfangs, dass die anderen Gäste uns mit Begeisterung beim Spielen zusahen und sogar lautlos applaudierten. Vorher hatte ich mich als Freak gefühlt und für meine sexuellen Vorlieben geschämt, jetzt bekam ich dafür Anerkennung. Hier durfte ich sein, wie ich bin.“ Auch Kathrin hat einen anderen Namen und um Anonymisierung gebeten. In ihrem engsten privaten Umfeld, sagt sie, gehe sie sehr offen mit ihren sexuellen Vorlieben um, in der Öffentlichkeit ist sie zurückhaltender. „Kollegen und Nachbarn müssen diese Seite meines Lebens nicht unbedingt kennen.“ Ein Foto wie das an ihrer Wand würde sie nie in sozialen Netzwerken posten. Das sei zu privat, sagt sie. Im Alltag und in früheren Beziehungen habe sie immer wieder Vorurteile und Ablehnung erlebt. 39 Auch wenn Kathrin sich selbst als Voyeurin bezeichnet und Frank sich manchmal als Voyeur fühlt, aus Sicht der Sexualwissenschaft sind sie es nicht. Voyeurismus im klinischen Sinne, als krankheitswertige Störung der Sexualpräferenz, unterscheidet sich davon grundsätzlich: „Voyeurismus bezeichnet das vorsätzliche – nicht zufällige oder beiläufige – Beobachten fremder Personen in intimen Situationen unter bewusster Inkaufnahme von Grenzüberschreitungen“, sagt Ahlers. „Der Voyeur erlebt gerade die Heimlichkeit und die damit einhergehende Uneinvernehmlichkeit als sexuell erregend, die Grenzüberschreitung ist Bestandteil des sexuellen Stimulus.“ Menschen, die sich in öffentlichen Räumen beim Sex beobachten lassen oder vor dem Fenster umziehen und das Beobachtet-Werden billigend in Kauf nehmen, seien für den Voyeur sexuell nicht verwertbar, ebensowenig Strip-Clubs oder Amateurpornos im Internet. „Völlig uninteressant für einen Voyeur. Ähnlich wie ein FKK-­Strand für einen Exhibitionisten. Das funktioniert gar nicht, weil die Uneinvernehmlichkeit fehlt“, so Ahlers. Im Gegensatz zu dem durchschnittlichen Schaulustigen stellt sich der Voyeur nicht vor, mit der beobachteten Person tatsächlich in sexuellen Kontakt zu treten. Körperlich zudringlich werden Voyeure in der Regel nicht. „Der klassische Voyeur hat keinen Annäherungsimpuls“, sagt Ahlers. „Er will heimlich beobachten. Das reizt ihn sexuell. Die unmittelbare Konfrontation mit der beobachteten Person würde ihn überfordern. Das heimliche Beobachten verleiht ihm ein Gefühl von Sicherheit, Kontrolle und Macht. Und das macht ihn an.“ Wie genau sich eine voyeuristische Sexualpräferenz entwickelt, so Ahlers, sei ungeklärt. Die Sexualpräferenz insgesamt sei Teil unserer Persönlichkeit, die sich in den ersten beiden Lebensjahrzehnten durch ein Zusammenkommen von biologischen, psychologischen und soziologischen oder sozialen Einflüssen ausbildet und danach im Großen und Ganzen stabil bleibt. Ob Voyeurismus krankheitswertig und behandlungsbedürftig sei, sagt der Sexualpsychologe, entscheide der Patient oder möglicherweise dessen Opfer. Schon einige Dutzend Voyeure haben seine therapeutische Unterstützung gesucht. „Dafür gibt es in der Regel zwei Gründe“, sagt Ahlers. „Zum einen macht sich der Voyeur strafbar, wenn er seine Sexualpräferenz auslebt. Zum anderen ist das Präferenzmuster dysfunktional, das heißt, der Voyeurismus führt nicht zu einer Erfüllung der eigentlichen Bedürfnisse: der Voyeur empfindet zwar sexuelle Erregung, wenn er heimlich Fremde in intimen Situationen beobachtet. Eigene Intimität, Zugehörigkeit oder Geborgenheit in sexuellem Kontakt mit einem anderen Menschen, vor allem einem Partner, kann er dadurch nicht erleben.“ Die Schaulust in ihren vielfältigen Ausprägungen, reflektiert und um Lust zu empfinden wie bei Kathrin, als Futter für das Kopfpornokino wie bei Frank oder auf der Fernsehcouch in vielen Millionen deutscher Haushalte mag ein wesentlicher Bestandteil der medialen Realität und des menschlichen Zusammenlebens sein. Trotzdem müssen Menschen wie Kathrin ihre Vorlieben im Alltag verbergen – im Gegensatz zu den Millionen vor dem Fernseher. Und der Voyeur steht einsam im Abseits. 40 Jörg Böckem lebt als Journalist und Buchautor in Hamburg. Er hat mehrere Bücher veröffentlicht, zuletzt mit Bernd Thränhardt ­Ausgesoffen. Mein Weg aus der Sucht (2013). Der Mode- und Kunstfotograf Kohei Yoshiyuki lebt und arbeitet bei Tokio. In den 1970er Jahren bemerkte er eines Nachts im Chuo Park in Shinjuku, einem Bezirk von Tokio, ein sich liebendes Paar auf dem Boden und dann Zuschauer, die in den Büschen lauerten und die Szene beobachteten. „Es war wie ein Schock! Ich war damals noch Amateur. Ich hatte meine Kamera dabei, aber es war zu dunkel. Doch ich wusste sofort, das war etwas, das ich fotografieren musste“, erzählte er dem japanischen Fotografen Nobuyoshi Araki 1979 in einem Interview. Ausgestattet mit Kodak Infrarot-Blitzlichtern kam er nach einiger Zeit zurück in die nächtlichen Parks, um die heterosexuellen und homosexuellen Paare und die dazugehörigen Voyeure zu fotografieren. Sechs Monate lang besuchte er die Parks, ohne ein einziges Foto zu machen. Um die Voyeure fotografieren zu können, musste er selbst für einen Voyeur gehalten werden – und war es in gewisser Weise auch. Die heimlichen Zuschauer versuchten zunächst, das Paar aus der Ferne zu betrachten, näherten sich dann langsam und waren schließlich so nah wie möglich. Manchmal versuchten sie sogar, die Frau zu berühren. Die Fotos wurden zum ersten Mal 1979 in Tokio gezeigt. Bei d ­ ieser Ausstellung wurden die Bilder auf Lebensgröße aufgeblasen, die Galerie völlig verdunkelt und jeder Besucher wurde mit einer Taschenlampe ausgestattet, um die reale Situation zu rekonstruieren und den Blick des Betrachters mit dem Lichtstrahl sichtbar zu machen. Seite 36 oben: Kohei Yoshiyuki From the series The Park Untitled, 1971 Gelatin Silver Print © Kohei Yoshiyuki, Courtesy Yossi Milo Gallery, New York Seite 36 unten: Kohei Yoshiyuki From the series The Park Untitled, 1973 Gelatin Silver Print © Kohei Yoshiyuki, Courtesy Yossi Milo Gallery, New York Seite 38 oben: Kohei Yoshiyuki From the series The Park Untitled, 1973 Gelatin Silver Print © Kohei Yoshiyuki, Courtesy Yossi Milo Gallery, New York Seite 39 unten: Kohei Yoshiyuki From the series The Park Untitled, 1971 Gelatin Silver Print © Kohei Yoshiyuki, Courtesy Yossi Milo Gallery, New York Menschen suchen ihre Zukunft in Städten, die heute schon an morgen denken. Deutschland geht neue Wege. Mit Antworten für nachhaltige Stadtentwicklung. München wächst schneller als jede andere Stadt in Deutschland: Prognosen zufolge werden im Jahr 2020 über 1,5 Millionen Menschen in der bayrischen Landeshauptstadt leben. Aber in München wächst nicht nur die Zahl der Einwohner. Die Stadt hat ehrgeizige Ziele – für den Wirtschaftsstandort und für die Lebensqualität der Menschen. Neubauten und bei der Modernisierung bestehender Häuser. Und sichere und wirtschaftliche Stromnetze binden mehr Energie aus erneuerbaren Quellen ein und sorgen dafür, dass sie genau dort zur Verfügung steht, wo sie gebraucht wird. So wächst nicht nur die Wirtschaftskraft, sondern auch die Lebensqualität. Modernste Verkehrsleittechnik und ein gut ausgebautes Nahverkehrsnetz halten die Stadt in Bewegung und entlasten dabei die Umwelt. Intelligente Gebäudetechnik spart Energie – bei Die Antworten für nachhaltige Stadtentwicklung sind da. Und die Zeit für neue Wege ist jetzt. Denn die Welt von morgen braucht unsere Antworten schon heute. siemens.com Haben Sie die Blickmacht? 42 Premiere Die Sache Makropulos Vier Frauen­antworten: die Kulturwissenschaftlerin Christina von Braun, die Fotografin ­­­­Heji Shin,­ die Malerin ­Ulrike Theusner – und ­Nadja Michael, die in der ­Neuinszenierung von Leoš J ­ anáčeks Die ­Sache Makropulos die Emilia Marty singt. CHRISTINA VON BRAUN Sehen und Gesehen-Werden – in der Kulturgeschichte begleitet dieses Thema immer wieder das Los der Frauen – egal, ob es sich um imaginäre Frauen auf der Bühne oder um reale Frauen aus Fleisch und Blut handelt. Beide mussten immer wieder mit ihrem Körper für die Prinzipien von Schönheit, Sexualität, Na­ tur, das Fremde und vieles andere herhalten. In der neue­ ren Zeit haben sich Frauen aber immer mehr aus den ­Fesseln des Gesehen-Werdens befreit; sie haben begonnen, das Sehen für sich in Anspruch zu nehmen, und das gilt, wenn auch auf unterschiedliche Weise, für alle Frauen, die hier am Tisch sitzen – eine Fotografin, eine bildende Künstlerin, eine Bühnenkünstlerin und eine Filmemache­ rin und Wissenschaftlerin. NADJA MICHAEL Ich habe als Opernsängerin dazu sicher einen eigenen Zugang. Denn für mich existiert der beobachtende Blick des Zuschau/hörers in der Oper nur als Teil eines musikdramatischen Gesamt­ kunstwerks. Natürlich bedenken wir den Zuschauer während der gesamten Probenphase einer Neupro­ duktion, aber ohne den Ton, die Musik wird das ZurSchau-Stellen leer – während die Musik sozusagen ewig fortschwingt und ohne Bühnenspektakel pur und edel weiterlebt und wirkt. CvB Im Mittelalter galt das Hören als ein niederer Sinn. Es war der Sinn, der den Körper am unmittelbarsten tref­ fen kann. Anders als das Auge kann man das Ohr nicht schließen. Das Wort Hörigkeit leitet sich ab vom Gehör. Dagegen galt der Sinn des Sehens als die höchste, weil di­ stanzierteste Form der sinnlichen Wahrnehmung. Mit dem Sehen hat man Urteil, Abstraktion verbunden. Heute dagegen gilt die Visualität als besonders sinnlich. In Wirk­ lichkeit erzählt der moderne Blick aber von Macht und Ohnmacht. Mit der Fotografie entstand ein Blick, der nicht erwidert werden kann. Wenn ich Sie direkt anblicke, können Sie zurückschauen, wir sind auf Augenhöhe. Aber wenn Sie als Fotografin mit der Kamera arbeiten, haben Sie ein bewaffnetes Auge, das Sie schützt und in das ich nicht blicken kann. So entsteht ein Gefühl von Ausgelie­ fertsein gegenüber dem Blick der technischen Sehgeräte. ULRIKE THEUSNER Ich bin bildende Künstle­ rin und habe mit Anfang zwanzig für einige Jahre gemodelt. Da muss man sich wirklich entscheiden, welche Rolle man spielt und sich fragen, ob man lie­ ber auf der Seite des „bewaffneten Auges“ oder auf der Seite der Ausgelieferten steht. Mit der Zeit legt man sich eine Art Maske zu, die man auf- oder ab­ setzen kann, wenn man durch die Kamera ange­ blickt wird. HEJI SHIN Ich arbeite seit fünfzehn Jahren im Bereich der kommerziellen Fotografie. Über das Sehen und Angesehen-Werden denke ich wäh­ rend des Arbeitsprozesses nicht besonders viel nach. Aber man fragt sich natürlich ständig, wie 44 „Es geht beim Blick ­immer auch um eine ­Dichotomie: Männlichkeit wird durch das Betrachten definiert, Weiblichkeit durch das Betrachtet-­ Werden. Diese Rollen ­sind aber erst in der Renaissance entstanden.“ – Christina von Braun, Kulturwissenschaftlerin es sich mit der Balance zwischen dem Menschen vor der Kamera und dem hinter der Kamera ver­ hält. Und wie man mit den Mitteln umgeht, die einem hinter der Kamera zur Verfügung stehen. Der Fotografierte ist viel passiver. Als Fotogra­ fin hat man in gewisser Weise einen Vorteil dem Angeblickten gegenüber, weil man sich hinter der Kamera verstecken kann. Die Person, die an­ gesehen wird, steht hingegen ziemlich nackt da. NM Das beziehe ich eins zu eins auf den Zuschauer im Theater. Die Sänger machen sich nackt und zeigen ­sowohl stimmlich als auch menschlich ihre Wahrheit. Im Zusammenhang mit Wahrheit und Blick ist Leoš ­Janáčeks Oper Die Sache Makropulos ein spannender Anknüpfungspunkt. Es geht darin um die Lüge von der ewigen Jugend als dem anbetungswürdigen golde­ nen Kalb. Der Vater der Protagonistin Elina Makro­ pulos war Alchemist und hat eine Rezeptur entwickelt, die das Leben um 300 Jahre verlängern kann. An sei­ ner damals 16-jährigen Tochter hat er das erfolgreich getestet. Das ist die Vorgeschichte. Wenn die Opern­ handlung einsetzt, sind bereits mehr als 300 Jahre ver­ gangen. Durch all diese Zeiten hindurch war Elina eine wunderschöne und berühmte Sängerin. Wir treffen auf sie unter dem Namen Emilia Marty in einem Zustand großer Kälte und Abgeklärtheit. Eine große Liebesge­ schichte hat sie einst beendet. Der Verfall des Mannes war unausweichlich. Sie hatten ein gemeinsames Kind, in den kommenden Jahrhunderten kamen wohl einige andere Nachkommen hinzu. CvB Ist sie des Lebens oder der Blicke müde? NM Elina alias Emilia Marty lebt in einem Niemands­ land ohne einen sinnvollen Grund für ein Weiterleben. Nur in ihrer Kunst scheint sie noch zu atmen. Sie ist eine ausgestellte Person, nur auf der Bühne lebt sie wirklich. Und dort darf und kann sie sein. Die Wahrheit der Menschen hat sie entlarvt, sie existiert nur noch im größtmöglichen Moment des Aus-sich-heraus-„Schrei­ ens“. Interessant ist, dass sie den Blick sucht und zu­ gleich ablehnt. Als fühlendes Wesen kann sie nur in ih­ rer Kunst wahrhaftig existieren, denn Beziehungen zu Menschen können ihr nichts mehr geben. Die Liebe, Mutterschaft, selbst das Sterben hat für sie keine Rele­ vanz. Die Blicke der Männer verachtet sie zutiefst. Be­ gehren, Lust, alles eine Chimäre. Die Wirkung des Mit­ tels lässt nach. Sie ist 337 Jahre alt. Ihr Körper ist kalt, wie der einer Toten, aber sie lebt. Also muss sie unbe­ dingt an das Papier mit der Rezeptur kommen. Aber als sie es findet, will sie es nicht mehr. Sie kommt zu dieser erlösenden Erkenntnis, die sinngemäß lautet: Wie gut ihr es doch habt, dass es euch etwas bedeutet, ob etwas gelingt oder nicht, ob das Essen schmeckt oder nicht! Dass ihr die Dinge des Lebens spüren könnt! Wenn ihr nur wüsstet, wie gut es ist, dass euch manch­ mal der frühe Tod von dieser Welt nimmt! CvB Das klingt paradox und großartig: eine Komposition, eine Erzählung, in der eine schöne Frau das Ende des weiblichen Betrachtet-Werdens zelebriert. Die nur noch in dem Blick lebt und sich ihm gleichzeitig entzieht. Sie wird also vom Objekt zum Subjekt. Ich kenne einige Künstle­ rinnen, die genau damit spielen und die Blickmacht der anderen unterwandern. Etwa durch fotografische Selbst­ porträts, auf denen sie nicht zu erkennen sind. Das Ge­ sicht ist bedeckt, das Bild ist verschwommen, oder sie zei­ gen dem Betrachter den Rücken. HS Wenn ich jemanden durch die Kamera an­ schaue, entscheide ich – natürlich im Rahmen der Situation – wie diese Person auf dem Foto wirkt. In Ihrem Fall, Frau Michael, ist es vielleicht an­ ders, weil Sie entscheiden können, wie Sie wirken? NM Die Wirkung der Musik ist nicht manipulierbar. Es geschieht einfach etwas mit Ihnen. Den Blick auf die Auf­ führung – also die Inszenierung dessen, was angeschaut werden soll – können Sie in jeder Form beeinflussen. CvB Das würde bedeuten, dass nicht das betrachtete Ob­ jekt der Blickmacht ausgesetzt ist, sondern der Betrach­ ter. Jedenfalls im Kino, der Oper, dem Theater. Ich glaube allerdings nicht, dass sich der Zuschauer ganz so leicht durch die Augen manipulieren lässt. Irgendetwas von die­ ser alten Urteilsfähigkeit scheint doch im Blick erhalten geblieben zu sein. NM In unserem Medium, dem Theater oder dem Mu­ siktheater, wird die Emotion über das gesprochene Wort oder den gesungenen Ton übertragen, das ideali­ ter angefüllt ist mit Intention. Es geht daher gar nicht so sehr um das Blicken, beziehungsweise nur in dem größeren Zusammenhang der Inszenierung. Natürlich kann man durch Inszenierung manipulieren, lenken oder versuchen zu führen – auch zu verführen. Aber doch kann man den Inhalt kaum verraten. Fotografie Heji Shin „Wenn ich jemanden durch die Kamera an­ schaue, entscheide ich – im Rahmen der Situation – wie diese Person auf dem Foto wirkt.“ – Heji Shin, Fotografin CvB Wenn Sie auf der Bühne stehen, spielt es aber doch eine Rolle, dass es ein Publikum gibt, das Sie sieht und be­ trachtet, oder nicht? Gibt es nicht auch so etwas wie Lust am Gesehen-Werden? Man hat Schaulust oft mit dem Sexual­akt verglichen. Aber bei vielen Frauen hat der Blick heute eher mit wechselnden Rollenspielen zu tun. Mit den Möglichkeiten der Maskerade. Gerade Darstellerinnen in­ szenieren oft das Gesehen-Werden. Marlene Dietrich war Meisterin darin – sie war es, die die Fäden in der Hand be­ hielt. Nach ihr kamen noch viele andere. NM Es ist natürlich von Bedeutung, dass ein Publikum anwesend ist. Aber ich habe nicht das Gefühl, einem In­ dividuum oder diesem „bewaffneten Auge“ gegenüber­ zustehen. Die Spannung eines körperlichen Raumes, des Publikums als eines körperlichen Wesens, als Ener­ gie, das ist das Wesentliche und das Entscheidende. CvB Manchmal bildet das Publikum einen kollektiven Körper, das stimmt. Der einzelne wird mitgerissen von den Gefühlen der anderen. Aber manchmal ist die Reaktion auch ganz uneinheitlich. Der eine lacht, wo dem anderen die Tränen kommen. Ich stelle es mir schwierig vor, vor ei­ nem heterogenen Publikum zu spielen und zu singen. NM Ich habe da keine expliziten Erwartungen. Für mich gibt es keine falschen oder richtigen Reaktionen. Eine, also jede Reaktion ist immer gewünscht und da­ mit richtig. Das Individuum im Publikum, die Frage danach, wer mich gerade anschaut, die darf keine Rolle spielen. Dann wäre ich nicht bei mir und nicht bei der jeweiligen Vorstellung, sondern würde privat Erwar­ tungshaltungen kultivieren. CvB Die bildende Künstlerin hat die Möglichkeit, den an­ deren auf unterschiedliche Weise und mit unterschiedli­ chen Mitteln anzusprechen. Welche Rolle, Ulrike Theus­ ner, spielt der Betrachter für Sie? UT Während ich ein Bild mache – Tuschezeichnun­ gen und gegenständliche, figurative Arbeiten – gibt 45 es meine subjektiven Empfindungen. Aber wenn der Betrachter das Bild ansieht, spiegelt er sich selbst darin. Deshalb möchte ich es immer offen lassen, was in dem jeweiligen Bild gesehen wer­ den kann. Ich gebe Hilfestellung, indem ich einen Titel setze oder es beschreibe, aber diese Offen­ heit, die Möglichkeit sich selbst zu spiegeln, finde ich sehr wichtig. Genauso wichtig wie zwischen­ menschliche Spiegelungen. Ich kann Nadja Michaels­­ Vorstellung, dass das Publikum zu einem einzigen Auge verschmilzt, übrigens sehr gut nachvollzie­ hen. So ein ähnliches Gefühl hatte ich auf dem Laufsteg. Aber kann man die Blicke auf der Büh­ ne ähnlich ausblenden? Für ein Mannequin ist das ja ziemlich einfach. Es muss fast nichts machen, keine Emotionen geben. Das Angesehen-Werden ist hier keine künstlerische Arbeit. Wenn ich ein Bild male, bin ich in meinem geschützten Atelier und kann dann hinterher entscheiden, ob ich es den Blicken der Menschen aussetze oder nicht. Und wenn es dann irgendwo hängt, bin ich aus dem Spiel. 46 „Für Emilia Marty kommt es schließlich zu diesem erlösenden Satz, der sinngemäß lautet: Wie gut ihr es doch habt, dass es euch etwas bedeutet, ob etwas gelingt oder nicht!“ – Nadja Michael, Sopranistin NM Bei uns gibt es den beschriebenen Atelier-Prozess auch, aber wir haben ihn vorverlegt. Das heißt, es gibt so unendlich viele Prozesse, bevor ich die Bühne betre­ te und einen Ton entstehen lasse. Der Blick in die No­ ten, das Lesen, dann das Üben, Proben, Memorieren, eventuell muss man in einer Fremdsprache singen – so vieles geschieht, noch bevor man auf irgendein anderes Individuum trifft und die eigene Kunst „ausgestellt“ wird. Selbst nach den ersten Begegnungen mit der Au­ ßenwelt wird dann noch endlos geprobt. Erst in einer kleinen Runde, dann in einer größeren, dann auf der Bühne, und irgendwann kommt die Situation der Vor­ stellung. Wenn ich dort angelangt bin, ist jeglicher äu­ ßere Blick auf mich und mein Spiel vergessen. Und nur dann kann ich mich frei in der Partie und der Rolle be­ wegen und vor allem freie Töne produzieren. Ich bin in dieser Hinsicht sicher auch besonders „besessen“. CvB Ich frage mich gerade: Warum, glauben Sie, hat die Münchner Oper eigentlich vier Frauen zusammengeführt, damit sie sich über das Sehen unterhalten? HS Das wäre mir gar nicht aufgefallen ... CvB Ein „Frauentreffen“ ist nicht ganz zufällig angesichts des Themas, das hier verhandelt wird. Erst seit der Renais­ sance wird Männlichkeit durch das Betrachten und Weib­ lichkeit durch das Betrachtet-Werden definiert. Vorher war der weibliche Körper nie unbekleidet zu sehen. Ausge­ nommen Göttinnen oder Allegorien, also imaginäre Frau­ en. Der männliche Körper dagegen wurde gerne nackt ge­ zeigt. In der griechischen Antike repräsentierte er die Norm, das Gesetz, eben die nackte Wahrheit. Mit der Renaissance wird das Auge technisch aufgerüstet. Es ent­ steht zunächst die Zentralperspektive, wo es einen Sehen­ den gibt, und alles andere zum Objekt dieses Blickes wird. Es folgen Camera obscura, Teleskop und Mikroskop, die die Macht des Auges erweitern. Und zwei Jahrhunderte später wird die Fotografie erfunden. All diese Techniken werden als Dominanzstrategien gedacht und mit Männ­ lichkeit gleichgesetzt. Deshalb geht die Einführung der Fotografie auch mit einer zunehmenden Entkleidung des weiblichen Körpers einher. Wir denken das Nackte gerne in Kategorien von Freiheit und Emanzipation. In Wirk­ lichkeit soll der entkleidete weibliche Körper die Macht des Blicks zelebrieren. Weil Frauen nicht sehen, sondern gesehen werden sollten, waren die meisten Kunstakade­ mien für sie verschlossen. Aber in den letzten 100 bis 150 Jahren begannen Frauen, einen eigenen und widerspensti­ gen Umgang mit der Macht des Blicks zu entwickeln. Es gab schon sehr früh Fotografinnen. Die Fotografie war in gewisser Weise der Moment, wo das Sehen neue Bahnen betrat – und diese führten jenseits der alten Geschlechter­ dichotomie. Auch die Oper setzt sich mit diesen neuen, vom Sehen geprägten Geschlechtercodes auseinander. NM Für mich existiert der beobachtende Blick in der Oper nur als Teil eines musikdramatischen Gesamtkunst­ „Beim Modeln muss man sich wirklich entscheiden, ob man lieber auf der Seite des „bewaffneten Auges“ oder auf der Seite der Ausgelieferten steht.“ – Ulrike Theusner, Bildende Künstlerin werks. Ich begreife ihn also immanent und nicht losge­ löst. Wie gesagt, für mich geht alles vom Ton aus. Musik, Schwingung, „unmanipulierbares Material“ begreife ich als den Ursprung, um den sich alles andere herum entwi­ ckelt – sagen wir in einer unbestechlichen Wahrheit. CvB Es stimmt, dass die singende Stimme, die Stimme überhaupt, im Vergleich zum Blick unterschätzt wird – üb­ rigens auch in visuellen Medien wie dem Kino. Was die Stimme vom Körper mitteilt, wie sehr sie uns faszinieren oder abstoßen kann, wird kaum bewusst. Oder es wird für eine Selbstverständlichkeit gehalten, über die man nicht zu reflektieren braucht. NM Genau! Der Blick ist so manipulierbar. Aber der Ton ist real. Er trifft, geht durch alles hindurch. Wir le­ ben in einer Zeit der Äußerlichkeiten. Jeder hat Bilder von sich und anderen im Kopf. In meinem Metier habe ich das große Glück, mit einer Substanz umzugehen, die im Kern nicht manipulierbar ist! CvB Da bin ich mir nicht so sicher. Seitdem die Sprache verschriftet wurde, hat sich das Sprechen gewandelt. Das alphabetische Schriftsystem ist eine Domestizierungsma­ schine, mit der Sprache und Stimme verändert wurden. Die Stimme ist keineswegs so ursprünglich und unverän­ derbar, wie wir alle denken. Es gab vielleicht so etwas wie eine „ursprüngliche“ Oralität, bevor sich die Schrift des Sprechens und der Stimme bemächtigt hatte. Die Gestal­ tung des Gesprochenen durch die Schrift gilt vor allem für Kulturen mit Alphabetschrift. Das Alphabet überführt Laute in visuelle Zeichen, das Gesprochene wird an die Zügel der Schrift genommen. In Schriften, die nicht aus Lautzeichen, sondern zum Beispiel aus Piktogrammen be­ stehen, bewahrt das Sprechen seine eigene Welt. Schrift und Sprache entwickeln sich unabhängig voneinander. Bei uns hingegen gibt es – vor allem seit der allgemeinen Al­ phabetisierung – fast nur eine sekundäre Oralität, eine Mündlichkeit nach der Schrift. Und diese sekundäre Ora­ 47 CvB Das ist vielleicht der Trick dabei: Etwas so oft zu wiederholen, bis es als Wahrheit hingenommen wird. NM … und dadurch irgendwann auch nicht mehr manipulieren zu müssen und so endlich zur eigenen Wahrheit vorzudringen – wie Emilia Marty. Nadja Michael gilt als eine der vielfältigsten und ausdrucksstärksten Sopranistinnen weltweit. Ihr Repertoire reicht von Monteverdis Poppea (Poppea et Nerone) bis hin zu Montezuma in Wolfgang Rihms Die Eroberung von Mexiko, und umfasst ebenso Partien wie Leonore (Fidelio), Marie (Wozzeck), Venus/Elisabeth (Tannhäuser), Lady Macbeth (Macbeth), sowie die Titelpartien in Salome, Tosca, Iphigénie en Tauride und Manon Lescaut. An der Bayerischen Staatsoper gab sie bereits 2004 ihr Debüt als Ottavia in David Aldens Kultinszenierung von Monteverdis L’incoronazione di ­ ­Poppea. 2008/09 sang sie die Lady Macbeth in Martin Kušejs Neu­ inszenierung von Verdis Macbeth. In gleich zwei Interpretationen des Medeastoffes verlieh Nadja Michael der Titelfigur ein aufregendes Profil: so in der Neuinszenierung von Giovanni Simone Mayrs ­Medea in Corinto an der Bayerischen Staatsoper und in Luigi ­Cherubinis Médée am Brüsseler Théâtre Royal de la Monnaie und am Pariser Théâtre des Champs-Elysées. Foto Candy Welz lität gilt natürlich auch für die Oper: Sie ist eine von Text und Notensystem geschaffene Oralität, ein von der Schrift geformter Gesang. NM Wie ergeht es eigentlich blinden Menschen in dem Zusammenhang? CvB Viele sind große Opernanhänger! Blinde gehen auch gerne ins Kino, weil sie finden, dass dort die Geräusche und die Stimmen besser bearbeitet sind als im Hörstück. Die Geräusche wirken echter. Es ist interessant, dass der technisch bearbeitete Ton als echter gilt. Bei ihrer Entstehung galt die Fotografie übrigens auch als Medium einer untrüglichen Wahrheit. Heute scheint die „Echtheit“ kein Thema mehr für die Fotografie zu sein. HS Ich finde diese Vorstellung ziemlich kitschig. Den „authentischen Menschen“ vor der Kamera gibt es nicht. Ich glaube auch nicht, dass man die „echte“ Person oder den „echten“ Augenblick zeigen kann. Für mich ist Fotografie interessant, wenn sie etwas verdeckt, eher Fragen stellt als Antworten gibt. NM Ich jedoch glaube sehr an diesen authentischen Moment. Man kann sehr deutlich erkennen, ob ein Bild lebt und Tiefe hat. Natürlich funktioniert die kommerzielle Fotografie nach anderen Gesetzmäßigkeiten. Aber auch hier haben wir die Phänomene der Supermodels, denen es gelingt, selbst in der glattesten Inszenierung eines Werbesujets Persönlichkeit zu ­ transportieren. Ich habe es häufig erlebt, dass Fotografen diesen Moment wahrnehmen und der sich im Foto beglückend abbildet. HS Für mich ist das eher die manipulative Macht der Fotografie. Wenn sich jemand vor der Kamera unwohl fühlt, wird zwar alles schwieriger, aber auch das kann ich als Fotografin manipulieren oder inszenieren. Es gibt Fotos, da habe ich jede Bewegung, jeden einzelnen Blick vorgegeben. Aber das interessiert mich nicht. Was mir allerdings auffällt, ist ein ganz bestimmter Blick bei sehr jungen Leuten, besonders bei Fotomodellen. Sie blicken durch mich als Fotografin hindurch, als würden sie gar nicht angesehen. CvB Vielleicht hat dieses „Nicht-zurück-Schauen“ genau damit zu tun, dass sich die jungen Leute sehr wohl darüber im Klaren sind, dass sie angeguckt werden. HS Vielleicht hängt es mit dem Alter zusammen. Die Älteren sind sich bewusster über das Schauen und Anschauen und reflektieren viel mehr darüber. UT Die jungen Leute, die viel vor der Kamera stehen, haben ja oft ganz bestimmte Blicke abgespeichert, die immer funktionieren. Deswegen ähneln sich Blicke auf den Bildern, und das wird in der Masse gesehen langweilig. Man fragt sich dabei schon, was das noch mit Wahrheit zu tun hat. Ulrike Theusner studierte an der Weimarer Bauhaus-Universität sowie an der École des Beaux Arts in Nizza. Ihr Werk umfasst Grafiken, Zeichnungen, Malerei, Installationen und Fotografie. Auch mit Musik beschäftigt sie sich intensiv. Sie stellt ihre Werke in zahlreichen Einzel- und Gruppenausstellungen in Europa und den USA aus. Ulrike Theusner lebt in Berlin und New York. Für die Bayerische Staatsoper gestaltet Ulrike Theusner in der Spielzeit 2014/15 die Plakate. Mehr über Heji Shin und Christina von Braun auf S. 8 Mit bestem Dank an den Zoo Berlin, wo Nadja Michael von Heji Shin fotografiert wurde. Die Sache Makropulos Oper in drei Akten Von Leoš Janáček Premiere am Sonntag, 19. Oktober 2014, Nationaltheater STAATSOPER.TV: Live-Stream der Vorstellung auf www.staatsoper.de/tv am Samstag, 1. November 2014 58 Weitere Termine im Spielplan ab S. 93 Wim Wenders, AA Centre in Paris, Texas, 2001, Lightjet Print, 160 x 125 cm, 1 AP | Edition von 6 + 2 AP, Courtesy Wim Wenders und Blain Southern, London © Wim Wenders PIN.Party und Benefizauktion am Samstag, den 22. November 2014 in der Pinakothek der Moderne in München INFORMATION 089 18930 95 0 und www.pin-freunde.de ARBEITEN von Franz Ackermann, Georg Baselitz, Silvia Bächli, Lynda Benglis, Natalie Czech, Rineke Dijkstra, Jacqueline Humphries, Günther Förg, Sven Johne, Uwe Kowski, Albert Oehlen, Martin Parr, Arnulf Rainer, Rolf Sachs, Fiete Stolte, Thomas Struth, Norbert Tadeusz, Gillian Wearing, Charlie White, Ben Willikens und vielen anderen VORBESICHTIGUNG ab 8. November 2014 in der Pinakothek der Moderne Onlinegebote unter: http://paddle8.com/auctions/pin ArtPrivat | Partner und Versicherer Forschungsprojekt Bayerische Staatsoper 1933 – 1963 Folge 5 1937 – Die Pläne der National­ sozialisten ­ für die Münchner Oper Clemens Krauss wird auf Wunsch Hitlers als Generalmusikdirektor installiert. Richard Strauss’ Oper Friedenstag wird uraufgeführt. Clemens Krauss (Unbekannter Zeichner). Quelle: Personalakt Nr. 289, Bayerisches Hauptstaatsarchiv, Bestand Intendanz­ Bayerische Staatsoper ist bekannt − und die „Münchener Oper“ von Bedeutung. In seiner Zeit als Postkartenmaler in München zählte das Nationaltheater zu Hitlers bevorzugten Motiven. Nun plante er für dieses Haus eine „Vorbildrolle“ für das Deutsche Reich. Die gleichgeschaltete Presse beschrieb den Plan als große Tat des Regimes für die sogenannte „Kunststadt“ München und argumentierte, dass das neue Leitungsteam die „künstlerische Qualität“ heben sollte; wenn Ensemble, Orchester und Repertoire dann auf dem von Hitler geforderten „Niveau“ angekommen wären, sollte die Staatsoper in ein von Hitler eigenhändig entworfenes neues großes Opernhaus einziehen. Als Standort war Haidhausen geplant, in etwa an der Stelle, wo heute das Kulturzentrum Gasteig seinen Platz hat. Von diesem Opernhaus sollte eine große Prachtstraße bis zum Marienplatz führen und das Opernhaus somit zu einem zentralen Fixpunkt im Münchner Stadtbild machen. Im Gegensatz zu den personellen Änderungen wurden diese Bauvorhaben nie verwirklicht. Zum 1. Januar 1937 wurde auf persönlichen Wunsch Hitlers der österreichische Dirigent Clemens Krauss als Generalmusikdirektor und Leiter des Bereichs Oper an die Bayerischen Staatstheater berufen. Zuvor war er von 1929 bis 1935 als Direktor der Wiener Staatsoper und von 1935 bis 1936 als Direktor der Berliner Staatsoper tätig gewesen. Generalintendant der Bayerischen Staatstheater seit 1934 und damit Vorgesetzter von Krauss war Oskar Walleck, ein überzeugter und linientreuer Parteigenosse der NSDAP. Krauss brachte ein Leitungsteam von Vertrauten aus Berlin und Wien mit: Oberspielleiter Rudolf Hartmann und der Bühnenbildner Ludwig Sievert kamen fest ans Haus, dazu Kraussʼ Vertrauter Erik Maschat als Leiter des Künstlerischen Betriebsbüros. Schon vor der ersten Aufführung wurde deutlich, welchen Stellenwert diese Personalie haben sollte − so schrieb die linientreue Presse: Eine Aufführung der Walküre gibt am 6. Januar den festlichen Auftakt zur neuen Ära in der Hauptstadt Die Bayerische Staatsoper beauftragte in der Jubiläumsspielzeit 2013/14 ein Forschungsteam der Theaterwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München damit, die Geschichte des Hauses von 1933 bis 1963 zu untersuchen. Auch in dieser Spielzeit gibt MAX JOSEPH kontinuierlich einen Einblick in den Stand der Recherchen. D ­ iese Ausgabe präsentiert einen Ausschnitt aus dem aktuellen Forschungsschwerpunkt: Anhand von Archivalien aus dem Bayerischen Hauptstaatsarchiv wird der Beginn der Intendanz von Clemens Krauss und dessen enge Verflechtung mit dem NS-Regime rekonstruiert. 60 Die Berufung von Clemens Krauss als ­strategischer Schritt des NS-Regimes Ab 1933 instrumentalisierte Adolf Hitler die Oper ­gezielt für nationalsozialistische Propaganda: Die Parteitage der NSDAP in Nürnberg wurden traditionell mit einer Festaufführung von Richard Wagners Die Meistersinger von Nürnberg im Opernhaus eröffnet − allerdings zu Hitlers Ärger oft vor halbleeren Reihen. Viele Parteigrößen mussten von der Gestapo aus den umliegenden Wirtshäusern in die Oper eskortiert werden. Neben Nürnberg waren für Hitler vor allem die Bayreuther Festspiele − seine enge Beziehung zu Winifred Wagner der Bewegung. (31.12.1936, aus: „Erfüllungen und Verheißungen. Die Bayerische Staatsoper in der Spielzeit 1936“. Zeitungsartikel von Heinrich Stahl, Zeitung ­unbekannt, in Krauss II.2: Presseausschnitte, Pressenotizen, Gastspiele 1937-1939) [Quelle dieses und aller weiteren Zitate: Bayerisches ­Hauptstaatsarchiv, Bestand Intendanz Bayerische Staatsoper, Personalakten Nr. 289 (Clemens Krauss) sowie Nr. 541 (Richard Strauss)] Dass es eine „Ära Krauss“ werden sollte, stand also schon von vornherein fest und damit nicht zur Diskussion. Krauss unterschrieb seinen hochdotierten Vertrag und verpflichtete sich in einem später eingeforderten „Gelöbnis der Gefolgschaftsmitglieder öffentlicher Verwaltungen und Betriebe“, seine … […]Dienstobliegenheiten gewissenhaft und uneigennützig zu erfüllen und die Gesetze und sonstigen Anordnungen des nationalsozialistischen Staates zu befolgen. (08.06.1937, Niederschrift von Krauss‘ Erklärung vor der Generalintendanz der Bayerischen Staatstheater, in Krauss II.1: Allgemein) Das Programm von Krauss und seinen Mitarbeitern wurde Ende Dezember 1936 in einer Pressekonferenz vorgestellt und sollte − wie die Presse glorifizierte − eine „Renaissance der Münchener Oper“ einleiten. Demnach war es mit etwa zehn Neueinstudierungen pro Jahr das Ziel von Clemens Krauss, […]die Münchener Oper im Sinne ihrer alten Tradition weiterauszubauen, die alte Glanzzeit wiederzubringen und im Rahmen seiner Arbeit ein Ensemble von Sängern, Chor, Orchester und Bühnentechnik zusammenzustellen, das später einmal würdig sei, in das vom Führer geplante große neue Münchener Opernhaus einzuziehen. (31.12.1936, „Renaissance der Münchener Oper. Generalmusikdirektor Krauß entwickelt sein Arbeitsprogramm – Etwa zehn Neueinstudierungen im Jahr“. Zeitung und Autor unbekannt, in Krauss II.2: Presseausschnitte, Pressenotizen, Gastspiele 1937-1939) Die aus heutiger Sicht sehr hohe Zahl von zehn Neueinstudierungen pro Spielzeit war für die damalige Zeit eine enorme Reduktion. Allerdings wurde der Titel „Neueinstudierung“ beziehungsweise „Neuinszenierung“ oft schnell vergeben, häufig genügte eine Umbesetzung oder ein neues Bühnenbildelement, um eine Vorstellung als Premiere zu deklarieren. Der Begriff der Regie hatte damals eine völlig andere Bedeutung als heute, es wurde damit eher ein Aufgabenbereich zwischen Arrangeur und Inspizient beschrieben. Mit Krauss und Hartmann sollte sich dies nun ändern: Für jede Neueinstudierung sollten jeweils vier ganze Wochen Probenzeit zur Verfügung stehen. Nach Eigenaussagen der Beteiligten ging es darum, die gesammelten Kräfte des Hauses ganz in den Dienst eines Werkes zu stellen. Der Beruf des Regisseurs wurde nun als künstlerische Aufgabe definiert, allerdings noch nicht im heutigen Sinne als (Co-)Autor des Theaterabends. Der Regisseur sollte die Oper im scheinbaren Sinne des Autors und der Handlungszeit des jeweiligen Werkes im Rahmen einer sogenannten „zeitgemäßen Darstellung“ verwirklichen. Die Nationalsozialisten erfanden für diese Art der vordergründig unpolitischen Regie den Begriff „Werktreue“ – im Übrigen ein Terminus, der sich bis heute als pauschalisierendes Schlagwort und vermeintliche Gegenposition zum sogenannten „Regietheater“ erhalten hat und weitgehende Übereinstimmung von Theater- und Inszenierungstext, also von der Stückvorlage und der Umsetzung auf der Bühne einfordert. Text Rasmus Cromme, Dominik Frank, Katrin Frühinsfeld 61 Auf seiner Antrittspressekonferenz 1936 in München äußerte sich Clemens Krauss in diesem Sinne. Er wies zwar darauf hin, dass die Aufführung (und nicht die Partitur) das Werk sei, wollte diese jedoch „zeitentsprechend“, das heißt in vermeintlich originaler historischer Ausstattung realisieren: Diese Auszeichnung der Mitglieder des Münchner Zu dem Aufbau eines entsprechenden Spielplanes ist Nach zwei Jahren seiner Münchner Tätigkeit konnte Krauss als weiteren Erfolg die Etablierung der Staatsoper als künstlerisch und verwaltungstechnisch eigenständige Institution durch die Abschaffung der Generalintendanz verbuchen, mithin seine Beförderung zum Opernintendanten und Generalmusikdirektor in Personalunion. Der Alt-Parteigenosse Oskar Walleck − übrigens der einzige deutsche Intendant, der schon vor 1933 in die NSDAP eingetreten war − wurde entlassen, um die Beförderung und Machtausweitung des Nicht-Parteimitgliedes Clemens Krauss möglich zu machen. De facto fehlte Krauss zwar das formale Dokument der NSDAP-Migliedschaft, er zeigte sich jedoch stets linientreu und fungierte somit als perfektes „künstlerisches Aushängeschild“ der Nationalsozialisten. An diesem Beispiel wird die Strategie der nationalsozialistischen Kulturpolitik deutlich: Letztlich ging es darum, sich mit scheinbarer Liberalität und der vorgeblichen Devise „Qualität vor Parteitreue“ als vorrangig kunstsinnig zu inszenieren und somit bei Künstlern und intellektuellem Publikum subtile, aber wirkungsvolle Propaganda zu betreiben. Ausgestattet mit einem beeindruckenden Machtzugewinn, von Publikum und NSDAP geliebt, konnte Krauss am Ende des Jahres 1938 in einer Bekanntmachung an die MitarbeiterInnen der Staatsoper davon schreiben, den „vom Führer gewiesenen Zielen“ nähergekommen zu sein (siehe Faksimile „Bekanntmachung“, linke Seite). die möglichste Vollkommenheit der Aufführungen und eine zeitentsprechende Darstellung nötig. Die musikalischen Kunstwerke müssen, erfaßt aus der Zeit ihrer Entstehung, neugestaltet und neu gesehen werden. Man darf nie vergessen, daß nicht die Partitur das Werk sei, sondern die Aufführung. In diesem Sinne betrachte ich es als meine Aufgabe, Werke, die ewige Kunstwerke in sich tragen, in vorbildlicher Werktreue neuzugestalten, mit erkennendem Eindringen in die Zeit, in der das Werk geschaffen worden sei. (31.12.1936, „Renaissance der Münchener Oper […]“) „Bekanntmachung“ von Clemens Krauss, gerichtet an die Mitarbeiter der Bayerischen Staatsoper zum Jahreswechsel 1938 / 39 Quelle: Personalakt Nr. 289, Bayerisches Hauptstaatsarchiv, Bestand Intendanz Bayerische Staatsoper Als musikalische Säulen etablierte Krauss neben den Repertoire-Klassikern Mozart, Wagner und Verdi auch den Zeitgenossen Richard Strauss, dessen bis heute ­andauernde Würdigung als „Hausgott“ der Bayerischen Staatsoper hier ihren Anfang nahm. In der oben erwähnten Pressekonferenz äußerte sich Krauss über diese Komponisten: Ohne diese Meister ist ein Theater nicht zu denken und daher will ich damit beginnen, diese Meisterwerke neu aufzuführen, in neuer Besetzung, im neuen Gewande und mit einer grundsätzlich neuen Auffassung. Heil ­ Hitler! Ihr sehr ergebener Adolf Wagner (05.02.1937, Der Bayerische Staatsminister des Innern an GMD Prof. Clemens Krauss, in Krauss II.1: Allgemein) Die Uraufführung von Richard Strauss’ Oper Friedenstag Offensichtlich hatten Krauss und seine Mitarbeiter mit dieser Strategie der scheinbar unpolitischen Historisierung von Oper sowohl Erfolg beim Publikum als auch bei ihren Auftraggebern, den Funktionären des NSDAP-Staates. Neben der weit überdurchschnittlichen finanziellen Ausstattung der Staatsoper gab es immer ­ wieder Extra-Gratifikationen für die Künstler. Dazu zählten etwa die Einladung zu einem Empfang beim „Führer“ persönlich in Berlin für Krauss, Hartmann und die Star-Sänger Viorica Ursuleac, Hildegarde Ranczak, Hans Hermann Nissen und Julius Patzak, oder Ex­traGagen für eine besonders gelungene Premiere, beispielsweise jene von Verdis Aida (31.01.1937): Zusammen mit dem Geld schickte der Bayerische Innenminister Adolf Wagner ein Schreiben an Krauss, welches dessen Bemühungen für das von Hitler gewünschte vorbildliche Opernensemble Tribut zollte: Plakat zur Uraufführung. Quelle: Sonderpublikation der Bayerischen Staatsoper Die Münchener Uraufführung der Richard Strauss Oper Friedenstag, Eine Rückschau mit Bildern (UA 24.07.1938), S. 22 Ensembles ist eine Auszeichnung für Sie. Forschungsprojekt Als einen der Höhepunkte seiner Intendanz plante Clemens Krauss die Uraufführung von Richard Straussʼ Oper ­Friedenstag, die er selbst musikalisch leitete. Das Verhältnis von Richard Strauss zum Nationalsozialismus war mehr als ambivalent [vgl. dazu auch den Beitrag von Hartmut ­Zelinsky in der Festspiel-Ausgabe 2014 von MAX JOSEPH, S. 114 ff]: Einerseits wurde Strauss als Präsident der Reichsmusikkammer zum Rücktritt gezwungen, andererseits war er ein künstlerisches Aushängeschild des nationalsozialistischen Regimes, vor allem an der Bayerischen Staatsoper. Hier kamen auch seine beiden späten Einakter Friedenstag (24.07.1938) und Capriccio (28.10.1942) zur Uraufführung, Letzterer sogar mit einem Libretto von Clemens Krauss selbst. Schon die Tatsache, dass Friedenstag in München − und nicht im auf Strauss-Uraufführungen abonnierten Dresden − seine Uraufführung feierte, gibt zu denken. Die Ver- Bayerische Staatsoper 1933 – 1963 Kraussʼ Mitgliedsausweis für den Reichskultursenat. Quelle: Personalakt Nr. 289, Bayerisches Hauptstaatsarchiv, Bestand Intendanz Bayerische Staatsoper mutung liegt nahe, dass es bei der Premiere anlässlich der Opernfestspiele 1938 − dem Jahr des „Münchner Abkommens“ − darum ging, das nationalsozialistische Deutschland als „Wahrer des Friedens“, gleichzeitig aber als kampfbereite und „ehrliebende“ Nation darzustellen. Ebenso sollte damit die Rolle der „Münchener Staatsoper“ als Aushängeschild und „Lieblingshaus“ des Führers gestärkt werden. Paradoxerweise stammen die Grundidee und Entwürfe des Librettos zur Oper Friedenstag − obwohl als Verfasser der österreichische Theaterwissenschaftler Joseph Gregor firmiert − aus der Zusammenarbeit zwischen Richard Strauss und Stefan Zweig, welcher aufgrund seiner jüdischen Herkunft im nationalsozialistischen Deutschland Arbeits- und Aufführungsverbot hatte. Anhand dieser Uraufführung lassen sich klar neue ästhetische Tendenzen in der Oper während des Nationalsozialismus ableiten. Zum einen liegt das Sujet der NS-Ideologie zumindest nicht fern: Der Kommandant einer belagerten Stadt im Dreißigjährigen Krieg würde eher die ihm anvertraute Festung mitsamt ihrer Bewohner sprengen, als sich dem Feind zu ergeben. Selbst die Klagen des Volkes und der verzweifelte Schrei nach Brot lassen ihn nicht in seiner Überzeugung wanken. Am Ende bringt der Westfäli- Szenenbild Friedenstag. Foto: Hanns Holdt. Quelle: Sonderpublikation der Bayerischen Staatsoper Die Münchener Uraufführung der Richard Strauss Oper Friedenstag, Eine Rückschau mit Bildern (UA 24.07.1938), S. 18 Die Interpretation von Friedenstag im nationalsozialistischen Sinne lieferte das Sonderheft der Bayerischen Staatsoper in dienstbeflissenem Gehorsam gleich selbst: Ehre, Treue und Glauben! Wenn ein ganzes Volk sich nach diesen Idealen ausrichtet, ist es nicht verwunderlich, wenn auch seine schöpferischen Meister von ihrer Kraft inspiriert werden. So schuf Richard Strauss mit Friedenstag die erste Oper, die aus dem Geist nationalsozialistischen Ethos geboren ist. MODE BE AUT Y LIFEST YLE MUSIK (Adolf Rettich: „Friedenstag. Ein Kunstwerk unserer Zeit“ aus Sonderpublikation der Bayerischen Staatsoper Die Münchener Uraufführung der Richard Strauss Oper Friedenstag, Eine Rückschau mit Bildern (UA 24.07.1938). S.10, in Richard Strauss I.) Expressionistische Ästhetik im Frühwerk Ludwig Sieverts: Bühnenbildentwurf zu Judith von Friedrich Hebbel, 1914. Quelle: Ludwig Sievert: Lebendiges Theater. München: Bruckmann, 1944, S. 64 sche­Friede als Deus ex machina das unverhoffte Happy End, die verfeindeten Kommandanten fallen sich in die Arme, alle feiern den Frieden. Trotz der Friedensbotschaft steht also die Opferbereitschaft und Treue des namenlosen, prototypisch deutschen Kommandanten im Vordergrund. Die Inszenierung von Rudolf Hartmann und das Bühnenbild von Ludwig Sievert zeigten einen symbolistisch überhöhten Realismus. Aus ästhetisch-politischem Blickwinkel sehr interessant: Sievert, der in seiner Zeit in Freiburg, Mannheim und Frankfurt mit vollendet expressionistischen Bühnenbildern Furore gemacht hatte, wurde während seines Engagements an der Bayerischen Staatsoper zum konservativen Naturalisten und fügte sich damit den ästhetischen Vorlieben Hitlers und des NS-Staates. Die Bühne zeigte das Innere einer Festung und war wie die Kostüme für über 200 Mitwirkende realistisch, detailgetreu und individuell ausgeführt. Hier wird Krauss‘ Anspruch deutlich, die Neuinszenierungen mit großem Aufwand und großer Akkuratesse zu realisieren. Ebenso akkurat gestaltete sich nach Zeitungsberichten auch Hartmanns Regie: Die Choristen wurden malerisch über die Stufen und Podeste des Bühnenbildes verteilt und als Individuen inszeniert. Das Ziel war folglich (und scheinbar im Widerspruch zum Volks-Begriff der Nationalsozialisten), nicht die einförmige Masse, sondern eine große Zahl von Einzelschicksalen zu präsentieren. Auf der anderen Seite lassen die Aufführungsfotos mit auf der Bühne zusammengequetschten Choristen an eine Mischung aus Ritterfestspielen und NSDAP-Aufmarsch denken. Spätestens, wenn sich zum großen Finale die Wolken öffnen, die Sonnenstrahlen durch das zerstörte Dach der Festung fallen und die Bühne in goldenes Licht tauchen, fügt sich die Ästhetik in die allgegenwärtige Inszenierung der NS-Ideologie, welche neben der Verklärung der kleinbürgerlichen „heimatlichen“ Lebenswelt vor allem auf die In-Szene-Setzung von Größe, Macht, Bombast und „germanischem Heldentum“ abzielt. Es bleibt festzuhalten, dass die Intendanz Krauss die politischen und ästhetischen Forderungen des Nationalsozialismus bediente. Wie sich dies über das erläuterte Beispiel Friedenstag hinaus im Einzelnen manifestierte und ob es an der Bayerischen Staatsoper auch künstlerischen und politischen Widerstand gegen den Nationalsozialismus gab, werden die weiteren Forschungen zeigen. Dr. Rasmus Cromme ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Studiengangskoordinator an der Theaterwissenschaft München. Dominik Frank arbeitet als Theaterpädagoge, Regisseur und Lehrbeauftragter an der Theaterwissenschaft München. Katrin Frühinsfeld studiert an der LMU Theaterwissenschaft, Neuere deutsche Literatur und Englische Literaturwissenschaft und ist als studentische Hilfskraft im Forschungsprojekt tätig. Internationale Tagung „Theater unter NS­-Herrschaft“ Das Team des Forschungsprojekts „Bayerische Staatsoper 1933-1963“ reist im Oktober 2014 zur Konferenz „Theater unter NS-Herrschaft: Begriffe, Praxis, Wechsel­wirkungen“,­ die vom Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien veranstaltet wird, und gibt mit mehreren Vorträgen Einblicke in ­Methodik und ­Forschungsergebnisse des Münchner ­Projekts. Themen der Tagung sind der Theaterbegriff der Nationalsozialisten, Struktur und Institutionalisierung des Theatersystems im „Dritten Reich“, nationalsozialistische ideologische Überformung und die Reaktion von Künstlern und Entscheidungsträgern zwischen ­Konformität, Anpassung und Widerstand. A M M A R I E N P L AT Z IN MÜNCHEN W W W. LU DW I G B E C K . D E Sofies Blick Visio Dei Antike Sehtheorie Was heißt Sehen? Dies versuchten Philosophen bereits seit der Antike zu verstehen. Eine Auswahl an Sehtheorien in Wort und Bild, zusammengestellt von dem ­Philosophen Robert Ziegler, gezeichnet von Gian Gisiger. Licht und Sicht sind für das antike Denken von gleicher Natur. Sehen ist daher bald ein mildes Feuer, das vom Auge ausstrahlt (Platon, um 428–348 v. Chr.), bald ein Auftreffen kleiner Abbilder der Dinge auf dem Auge (Epikur, um 341–271 v. Chr.). 66 Wenn der Mystiker hofft, zur Schau Gottes zu gelangen, bekommt er mehr, als er erhofft hatte: Gott schaut zurück, und er schaut sich und den Schauenden mit dessen eigenem Auge an (so Meister Eckhart, 1260–1328). 67 Phänomenologie (Edmund Husserl, 1859–1938, Maurice Merleau-Ponty, 1908–1961) René Descartes (1596–1650) Eine geometrische Welt, ohne Licht und Farbe, trifft auf ein Auge, das sie dank einer ­­ „natürlichen Geometrie“ entziffert und interpretiert – so begründet Descartes die ­­ naturalistische Idee des Sehens. 68 Für die Phänomenologie kann der Mensch nur etwas sehen, weil er nie alles sieht, sondern die Welt stets nur „abgeschattet“ wahrnimmt – eine Welt, die ihn immer schon angeht und anspricht. 69 70 www.roeckl.com Ein Gefängnis, in dem ein Wächter in der Mitte die Gefangenen stets sehen kann, diese ihn ­aber nie: das ist nach Foucault der Traum der sich disziplinierenden Gesellschaft – bis jeder den Wächter in sich trägt. Robert Ziegler ist promovierter Philosoph und lehrt an der Julius-­Maximilians-Universität Würzburg. Gian Gisiger ist Grafiker und Illustrator. Als Mitarbeiter des Bureau Mirko Borsche gestaltete er lange für MAX JOSEPH die Kulturtipps. Michel Foucault (1926–1984) 175 Jahre Leoš Janáček komponierte eine Sprache der Körper – ­erklärt der Dirigent Tomáš Hanus im Interview. Mehr als Worte Die Werke von Leoš Janáček faszinieren und begleiten Tomáš ­Hanus seit früher Jugend. Der an der Janáček-Akademie für Musik und Darstellende Kunst in Brünn ausgebildete Hanus dirigierte ­regelmäßig an den Opernhäusern von Prag, Helsinki, Paris, Basel, Dresden, Berlin, Paris und Lyon. Ab 2007 war er für zwei Spielzeiten Musikalischer Direktor des Nationaltheaters Brünn. Als Konzertdirigent arbeitet er mit Orchestern wie dem Bayerischen Staatsorchester, dem Ensemble intercontemporain, dem Orchester des Teatro Real in Madrid, der Camerata Salzburg und dem BBC Symphony Orchestra. An der Bayerischen Staatsoper dirigierte er bereits die Premierenserien von Rusalka und Hänsel und Gretel sowie Jenůfa. Gemeinsam mit dem Verlag Bärenreiter erarbeitete Hanus eine kritische Neuedition von Die Sache Makropulos, die bei der Neuinszenierung dieser Oper an der Bayerischen Staatsoper zum ersten Mal Verwendung findet. 72 MAX JOSEPH Leoš Janáček ist besonders für seinen Umgang mit der menschlichen Sprache bekannt und dafür, wie er sie in Musik transformiert. Blicke Küsse Bisse – Spielzeitthema der Bayerischen Staatsoper – sind Gesten und Interaktionen von Körpern jenseits der Worte. Wie klingen diese in Janáčeks Musik? TOMአHANUS Janáčeks Musik sagt weit mehr als das, wozu Worte fähig wären. Natürlich ist sein Ausgangspunkt die Melodie der Worte. Doch er übertrifft mit seiner Musik die Kapazität eines Wortes. Manchmal schafft er sogar bewusst einen Gegensatz – hässliche Worte treffen auf wunderschöne Musik. Und ganz deutlich trägt die Musik der Figuren seiner Bühnenwerke bereits eine gewisse Körpersprache in sich. MJ Wie schafft er diese „Körpersprache“ der Musik? TH Janáčeks Musik wirkt nie kalkuliert. Ich könnte versuchen, es damit zu beschreiben, dass er sie aus dem Inneren der Erde herausgerissen hat. Sie ist pures Leben! Weil sie von den Abgründen der Menschen spricht, den Höhen und Tiefen. Nicht im philosophischen Sinne, nicht in der Theorie, sondern in der Praxis. Sie hat eine Wahrhaftigkeit, die den Menschen als Ganzes denkt. Noch bevor Emilia Marty in Die S ­ ache Makropulos die Szene betritt, kann man an den ersten Tönen hören, dass etwas Außerordentliches passieren wird. Man spürt schon in der Musik die Figur, ihre Schwächen, aber zugleich auch eine unglaublich starke Persönlichkeit. MJ Emilia Marty hat im Drama durch ihre Langlebigkeit durchaus etwas Übernatürliches, Unmenschliches. Wie macht Janáček sie menschlich? TH Janáček war es wichtig, eine Figur nie in einen vereinfachten Kontext zu stellen. Eine durch und durch positive oder negative Figur findet man in Die Sache Makropulos nicht. Er zeigt Menschen, mit Fehlern, mit Schwächen, mit der Sehnsucht, zu lieben und geliebt zu werden. Seine Musik ist aus dem menschlichen Erleben gewachsen. MJ Es wird oft vom psychologischen Realismus Janáčeks gesprochen. Janáček nutzt die alltägliche Sprache, um einen Blick auf die innere Wahrheit einer Figur zu werfen. Wonach sucht man da als Dirigent mit den Darstellern? TH Über die Jahre, die ich mich mit Janáček befasse, ist mir bewusst geworden, dass es gefährlich sein kann, auf der Bühne allzu eindeutige Gefühle und Haltungen zu zeigen. In seinen Werken ist es wie im Leben: Alles ist voller Widersprüche. Wenn man Raum für die musikalische Aussage schafft und sie nicht durch zu viele Erklärungen der szenischen Sprache blendet, dann fühlen sich die Zuschauer komischerweise eher dazu eingeladen, in die Tiefe des Stücks zu gehen. MJ Seinen sezierenden Blick auf die Wirklichkeit wirft er nicht aus der Distanz eines Allwissenden. Premiere Die Sache Makropulos TH Absolut. Janáček wollte, dass man zumindest Mitgefühl mit den Figuren hat, dass man sie liebt. Er hat diese Emilia Marty mehr geliebt als der Schriftsteller Karel Čapek, der sie in seiner Komödie erbarmungslos weiterleben lässt. Janáček lässt sie sterben, weil er sie liebt. Und weil er will, dass das Publikum sie liebt. Janáčeks Intuition war, dass ihr Tod nicht nur eine Tragödie sein muss, sondern auch eine Erlösung für sie sein kann. MJ Allerdings gibt es in diesem Tod keine Verklärung, im Gegensatz etwa zu Wagners Dramen. Dort stirbt einer für den anderen. Marty hingegen stirbt einsam und allein. TH In den Schlüssen aller Opern Janáčeks gibt es – mit Ausnahme von Katja Kabanova – eine Art von Apotheose. Zugleich ist immer eine starke Ambivalenz zwischen Wort und Musik präsent. Man hört die wunderschönste Melodie zu Martys Aussagen wie: Das Leben hat keinen Sinn, für mich existiert nichts mehr. Die letzten zehn bis zwölf Minuten von Makropulos sind eine kaum zu ertragende Aussage eines leidenden Menschen – auch darüber, auf wieviel Ignoranz, Kälte, Stolz und Erbarmungslosigkeit man unter Menschen treffen kann. Dazu erklingt aber eine lyrische Musik, die sich bis zum Tod Martys steigert. In gewisser Weise ist offen gelassen, was da ausgedrückt wird: Ewiges Leben nach 300-jährigem Leiden? Das Ende des Leidens? Eine Apotheose dessen, was man Liebe nennen kann oder Mitgefühl oder Beziehung oder Leben? MJ Hat das Leiden der Emilia Marty mit dem Faktor Zeit zu tun oder war sie von Anfang an nicht fähig z­ ur Liebe? TH Wenn man Text und Musik befragt, kann man sehen, dass sie am Anfang ein normales Leben geführt hat. Das scheinbar Monsterhafte in ihr, ihre Gleichgültigkeit haben diese unendlichen Jahre der Einsamkeit verursacht. Und die Einsicht, dass man grundsätzlich immer nur zwei Sachen von ihr will: Sex und Geld. MJ Kann man gerade diese Erfahrung nicht auch in einem kürzeren Leben machen? Marty wird es ermöglicht, ungeheuer lange jung und damit auch schön und begehrenswert zu sein. Das Problem liegt daher wahrscheinlich nicht nur in den 300 Lebensjahren. Aber durch die 300 Jahre erlebt sie die Erfahrung, vor allem Objekt der Anbetung zu sein, wie durch die Lupe. TH Genau. Wer den Zynismus, der so scharf ist, über die Jahre immer intensiver mitbekommt, hat wohl keine Kraft mehr, Mensch zu sein. Zumindest ist das menschliche Dasein dadurch sehr gestört. MJ Ist es nicht ein pessimistischer Schluss, wenn die Essenz des menschlichen Lebens, die Marty durchlebt, dazu führt, dass man sterben will? Tomáš Hanus TH Nein, das empfinde ich nicht so. Für mich e­ nthält der Schluss eine starke Geste der Menschlichkeit, weil Emilia mit ihrer eigenen Geschichte versöhnt wird. MJ Martys Existenz als Bühnendarstellerin spielt mit dem virtuosen Wechsel der Identitäten und Masken. Unterscheidet die Musik maskierte Momente von solchen, in denen die Maske plötzlich fällt? TH Die erfolgreiche und souveräne Persönlichkeit von Marty wird immer sensibler, wenn sie auf ihre Kindheit oder Jugend angesprochen wird, und wenn sie selbst darüber spricht. Janáček verwendet in diesen Passagen die Viola d‘amore, und er lässt sie in einer ungewöhnlich hohen Lage spielen, in der sie ganz strahlend, im positiven Sinne dünn und rein klingt – fast wie die Unschuld eines Kindes. MJ Hat sich Janáček für das Thema Selbstbestimmtheit der Menschen oder noch konkreter, Selbstbestimmtheit der Frau interessiert? TH In allen seinen Opern findet man Frauen, die reifen, weil sie durch ihre vom Mann festgelegte Rolle misshandelt wurden. Ich spreche nicht nur von körperlicher Misshandlung. Frauen sind in den Beziehungen und den sozialen Zusammenhängen, die Janáčeks Opern behandeln, immer die Nummer zwei. Janáček zeigt, wie falsch dieser Blick ist. Der Akt der Selbstbestimmung, zu der sich die Frauen durchringen, und sei es wie in Katja Kabanova auf tragische Weise durch Selbstmord, ist in jeder Oper zu spüren. Emilia Marty entscheidet am Ende, ihr Leben nicht zu verlängern. Diese Freiheit, sich gegen das Schicksal zu wehren, und gleichzeitig ein anderes Schicksal anzunehmen, ist schon etwas Starkes. Das Interview führten Miron Hakenbeck und Maria März. Die Sache Makropulos Oper in drei Akten Von Leoš Janáček Premiere am Sonntag, 19. Oktober 2014, Nationaltheater STAATSOPER.TV: Live-Stream der Vorstellung auf www.staatsoper.de/tv am Samstag, 1. November 2014 Weitere Termine im Spielplan ab S. 93 73 Gemalte Augenblicke Das menschliche Gehirn erschafft sich beim Sehen wie ein Künstler ein eigenes Bild von der Welt. Auf welche Weise das geschieht, erklärt der Wissenschaftspublizist Ernst Peter Fischer. Wer ein Bild malt, muss dabei in kleinen Schritten vorgehen. Ein Gesicht entsteht nicht in einem Pinselstrich. Linie für Linie, Punkt für Punkt und Rundung für Rundung muss der Künstler auf die Leinwand setzen. Das menschliche Gehirn unternimmt etwas Vergleichbares, wenn es seine Augen in die Welt hinausschauen und im Kopf dabei ein Bild entstehen lässt. Dies sei demnach die Hypothese: Die Blicke auf die Dinge und das dazugehörige Bild der Welt kommen durch ein malendes Schauen im Gehirn zustande. Um diesen vielleicht überraschenden Gedanken verständlich machen und seinen wissenschaftlichen Hintergrund skizzieren zu können, muss man dem Weg nachgehen, der vom Licht zum Sehen führt; muss der Kette der Signale folgen, die mit den im Auge eintreffenden Strahlen beginnt und mit dem bewussten Sehen endet. Die wichtigen Schaltstellen lassen sich dabei schon mit wenigen Worten beschreiben. Wenn Licht ins Auge fällt, trifft es auf die Netzhaut und wird dort von Sehzellen aufgenommen. In ihnen ­befinden sich lichtempfindliche Strukturen, die als Fotorezeptoren bekannt und in der Lage sind, aus dem Lichtsignal ein elektrisches Geschehen zu machen. In dieser neuen Form gelangt die visuelle Information in die Nervenzellen (Neuronen), die zum Gehirn führen und sich in ihm bemerkbar machen. Das Gehirn agiert dabei als ein zentrales Nervensystem. Die ankommenden elektrischen Ströme reizen die dort versammelten Nervenzellen. Es gilt zu verstehen, wie der Übergang von den Sehzellen auf der Netzhaut zu den Neuronen des Gehirns verläuft. Der für die Hypothese des Malens entscheidende Vorgang spielt sich an dieser Umschaltstelle ab, und ihm gilt daher unsere Aufmerksamkeit. 1 2 Ganglienzelle rezeptives Feld 3 Licht 1 2 3 Ein rezeptives Feld besteht aus Sehzellen, die hier als Stäbchen zu sehen und die mit einer einzelnen Nervenzelle verbunden sind. Diese Nervenzelle, die auch Ganglienzelle heißt, wird nur dann aktiv werden und Informationen an das Gehirn weiterleiten, wenn das Lichtmuster im rezeptiven Feld auf sie zugeschnitten ist. Manche Ganglienzellen reagieren auf Lichtpunkte, andere auf Linien, wobei insgesamt geometrische Muster erkennbar werden. Sie sind den Elementen vergleichbar, mit denen ein Künstler ein Bild auf eine Leinwand malt. Der Trick: Nur eine Nervenzelle Ein fundamentaler Trick der beiden Fensterlein im Kopf und des ihnen angeschlossenen Gehirns besteht darin, nicht jede einzelne lichtempfindliche Zelle der Netzhaut an je ein Neuron zu koppeln, sondern nur eine ausgewählte Nervenzelle allein mit der Verarbeitung der Sinnesmeldungen zu beauftragen. Diese Nervenzelle heißt in der Fachsprache Ganglienzelle (siehe hierzu auch die Illustration). Was auf den ersten Blick riskant erscheint und die Gefahr in sich birgt, einige der Infor- 74 Rubrikentitel Illustration Yvonne Gebauer 75 Das von Menschen erblickte Bild der Welt in ihrem Kopf ­ ist keine Fotografie, sondern eine produktive Leistung ­ ihres Gehirns. Tiefen des Gehirns, wobei die Geometrie zum Glück übersichtlich bleibt. Es gibt kreisförmige rezeptive Felder, und es gibt Neuronen, die von Balken oder rechteckigen Flächen informiert werden. Im Hirn können die Forscher sogar Zellen ausfindig machen, die neben dem Muster auch noch erkennen können, ob dieses ruht oder vorwärts beziehungsweise rückwärts bewegt wird. Die Lehrbücher präsentieren hier eine verblüffende Vielfalt von Einsichten. Die gemalte Welt mationen zu verlieren, die das Auge erreichen, erweist sich beim zweiten Hinschauen als Wunderwaffe. Sie wirkt gegen das, was Bürger des 21. Jahrhunderts als Datenmüll nur allzu gut kennen (und fürchten). Unser visuelles System macht seit Millionen Jahren die Erfahrung, dass in der Welt zu viel gleichzeitig passiert und zu viele Informationen einströmen. Die große Kunst besteht also darin, die richtige Auswahl zu treffen. Genau das versucht der im Auge beginnende Umschaltvorgang von Sehzellen zu Sehneuronen, die schließlich gebündelt als ein optischer Nerv das Auge verlassen und ins Gehirn ziehen. Wie kann diese Auswahl gelingen? Die wunderbar einfache Antwort steckt in dem Wort „Muster“. Tatsächlich bringen die vielen Sehzellen die Ganglienzelle, der sie Meldung erstatten, nur dann dazu, aktiv zu werden und dem Gehirn etwas zu melden, wenn das auftreffende Licht ihnen ein Muster präsentiert. Die Sehzellen, die einem Ganglion zuarbeiten, bilden gewissermaßen seinen Empfangsbereich, für den die Fachwelt den Ausdruck „rezeptives Feld“ benutzt (siehe Illustration). Rezeptive Felder aktivieren die angeschlossene Nervenzelle nur dann, wenn sie bestimmte, geeignete Muster empfangen. Das Gehirn erfährt also nicht alles, was das Auge erreicht, sondern nur, welche Muster in den Empfangsfeldern beim Lichteinfall auszumachen sind. Die Empfangsstrukturen halten sich dabei strikt an geometrische Regeln. Sie können zum Beispiel für den Empfang kreis- oder ringförmiger Formen angelegt sein. In diesen Fällen erhält das Gehirn Nachricht darüber, ob auf der Netzhaut etwa ein heller oder ein dunkler Lichtpunkt registriert werden konnte. Das Gehirn erfährt also nur, was die von den rezeptiven Feldern informierten und aktivierten Ganglienzellen ihm mitteilen. Und diese Zellen werden genau dann elektrische Signale zum Gehirn weiterleiten, wenn sowohl die Form des rezeptiven Feldes als auch das in ihm wirkende Lichtmuster übereinstimmen. Es gibt beispielsweise kreisförmige Felder, die dem Gehirn dann etwas melden, wenn die Zellen am Rand Licht empfangen, während das Zentum unbeleuchtet bleibt. Es gibt umgekehrt Felder, die dem Gehirn Lichteinfall nur melden, wenn die Mitte des Zellenbündels beleuchtet wird, während es am Rand dunkel bleibt. Man findet insgesamt eine Vielzahl von rezeptiven Feldern beim Sehen. Und sie existieren nicht nur bei Ganglienzellen, sondern auch beim weiteren Eindringen in die 76 Das vom Menschen erblickte Bild der Welt ist also keine Fotografie, sondern eine produktive Leistung seines Gehirns. Wer die rezeptiven Felder vom ästhetischen Standpunkt der Geometrie aus betrachtet, wird sich erfreuen an den wunderbar runden oder elegant geradlinigen Grundstrukturen des visuellen Systems. Dabei fällt auf, dass solche Formen in der eher krumm gewachsenen Natur höchst selten sind. Der Mensch konstruiert sich also sein eigenes Bild von der Welt, denn er kann besonders gut das erkennen, was er selbst hergestellt hat. Mit diesem Wissen um die Kreativität des visuellen Systems können wir auch verstehen, was Menschen an Gemälden so fasziniert. Ein Künstler vollzieht als bewussten Vorgang der Bildgestaltung ja genau das, was jeder Einzelne von uns sehend unbewusst durchführt. Ein Gemälde visualisiert gleichsam, was im Gehirn angelegt und aus einem Menschen heraus möglich ist. Campus Freunde Sie verschenken eine Mitgliedschaft für die Campus Freunde, wir verschenken vier Logenplätze! Ernst Peter Fischer ist Professor für Wissenschaftsgeschichte an der Universität Heidelberg. Er engagiert sich seit längerem für die Vermittlung von naturwissenschaftlichen Erkenntnissen als Teil der Allgemeinbildung. Unter anderem veröffentlichte er 2001 den Beststeller Die andere Bildung und bloggt auf scienceblogs.de. Beschenken Sie sich oder Ihre Liebsten bis Ende 2014 mit einer Campus Freunde-Mitgliedschaft! Als Dankeschön verlosen wir unter allen Schenkern 2 × 2 Plätze in der Premium-Circle-Loge für die Vorstellung La forza del destino am 10. Mai 2015 mit Anja Harteros und Campus-Botschafter Jonas Kaufmann. Weitere Informationen: www.staatsoper.de/partner Rubrik: Fördervereine / Campus Freunde Bei Fragen zur Mitgliedschaft wenden Sie sich bitte an: T 089.21 85 10 40 oder [email protected] Portfolio Ross Rawlings Portfolio Ross Rawlings, Charlotte 2010 / 2011 Worte. Berührungen. Blicke. Davon nährt sich das Liebespaar. Wie weit kann ich zum geliebten Wesen vordringen? Können mich Worte zum anderen führen? Oder sind die Worte der Liebe nur Floskeln, banal, tausendfach wiederholt, weil es nicht anders sein kann, da Liebe weder interessant noch unterhaltsam ist, wie Roland Barthes in seinen Fragmenten einer Sprache der Liebe schreibt? Also lieber nicht sprechen, nicht sagen, wie sehr ich den anderen liebe, und so das Geheimnis, die Sensation bewahren? Bringen nur körperliche Berührungen mich dem anderen näher? Aber warum wenden wir dann den Blick ab, schließen die Augen? Würde mein Blick etwas zerstören? Ross Rawlings’ Fotografien seiner Serie Charlotte aus den Jahren 2010 und 2011, auf denen ­ der Künstler seine eigene Liebesbeziehung darstellt, werfen solche Fragen auf. Die Blicke des Paares gehen aneinander vorbei. Voller Wissen um etwas Verlorenes. Sie scheinen sich auch das Sprechen zu verbieten: die Hände vor den Mund gelegt, wie um die Verzauberung nicht den gegenseitigen Vorwürfen ausliefern zu müssen, oder der Banalität. Im Rückblick ist ihre Liebe gescheitert. Sie sind verloren – füreinander, aber nicht für die Liebe. Denn ihre Gesten und Blicke wissen um deren Gefahren und Möglichkeiten. – SV 80 82 TV erleben Sie ausgewählte 05.10.2014 STRAUSS – Die schweigsame Frau opern- und Ballettaufführungen 01.11.2014 JAnáček – Die Sache Makropulos live und kostenlos 11.01.2015 RATMAnSkY / PeTIPA – Paquita (Ballett) auf www.staatsoper.de /tv 01.02.2015 DonIzeTTI – Lucia di Lammermoor 12.04.2015 DonIzeTTI – L’elisir d’amore 19.05.2015 SIMon / MALIPHAnT / BARTon – Der gelbe klang (Ballett) 06.06.2015 86 2014 BeRG – Lulu 04.07.2015 DeBUSSY – Pelléas et Mélisande Juli 2015 Live-Stream von den Münchner opernfestspielen (TBA) 2015 „Ich weiß, wie ich aussehe“ Florian Deroubaix ist 28 Jahre alt, Physiotherapeut, St. Pauli-Fan und von Geburt an blind. Seit knapp drei Jahren ist er in einer glücklichen Beziehung. Im Interview mit MAX JOSEPH beschreibt er seine Vorstellung vom Visuellen und was ihm Äußerlichkeiten bedeuten. MAX JOSEPH Ab welchem Moment wussten Sie, dass Sie verliebt sind in Ihre Freundin? FLORIAN DEROUBAIX Es war keine Liebe auf den ersten Blick. Sie war Patientin bei mir in der Praxis. MJ Was ist Liebe auf den ersten Blick bei Blinden? FD Für jemanden, der nichts sieht, kann die Stimme eines Menschen ein erster Parameter sein. Die Parallele zu dem, was Sehende über das Aussehen eines Menschen empfinden. Die Stimme ist das Erste, was man auch aus der Ferne mitbekommt. Ob sich dann mehr daraus ergibt, merkt man ja so oder so erst, wenn man sich näher kommt, sich riecht, fühlt, und so weiter. MJ Hat Ihnen die Stimme Ihrer Freundin gefallen? FD Ja, natürlich. Wir haben uns aber über Gespräche kennengelernt. Sie war am Tag vor meinem Geburtstag als letzte Patientin in der Praxis. Am nächsten Nachmittag hat sie einen selbstgebackenen Kuchen vorbeigebracht. Jemand, der sich für dich abends noch in die Küche stellt nach einem langen Tag, das ist schon ein Zeichen der Wertschätzung. Der Rest bahnte sich ganz langsam an. MJ Ist Ihre Partnerin blind oder sehend? FD Es gibt Partnerschaften von Blinden mit Blinden und von Blinden mit Sehenden. Meine Partnerin sieht. Ich gebe gern zu, dass das Annehmlichkeiten mit sich bringt. Das soll nicht pragmatisch klingen, aber es ist schön, wenn jemand beispielsweise Autofahren kann. Wenn beide blind sind, verstehen sie aber einander in gewissen Situationen besser. Das Blindsein war bei uns am Anfang manchmal Thema, es war nicht ganz nachvollziehbar, warum gewisse Sachen schwierig sind für jemanden, der sieht oder nicht sieht. Zwei Menschen, die in der gleichen Welt leben, haben diesen Prozess nicht zu bewältigen. 88 Interview Christiane Lutz MJ Ihre Freundin lernt aber durch Sie ja auch eine neue Welt kennen. FD Eine neue Sichtweise auf die Welt, so würde ich das formulieren. Ich nehme die Dinge anders wahr, ja. Beim Kochen bin ich derjenige, der abschmeckt. Sie sagt, ich kann das. MJ Wo kollidieren Ihre Lebenswirklichkeiten im Alltag? FD Sie versucht beispielsweise, mir etwas zu reichen, ich guck nicht hin und wir fassen aneinander vorbei. Das ist aber dann eher komisch. Wir nehmen uns beide nicht zu ernst. „Das Thema Äußerlichkeit beschäftigt mich natürlich. Auch, weil ich mir denke: Leute, stellt euch nicht so an.“ – Florian Deroubaix MJ Unsere Welt ist über-visuell. Wer sieht, ist ständig und überall mit optischen Reizen konfrontiert, die ihn beeinflussen, Klischees prägen, Erwartungen an den Partner schüren. Beschäftigt Sie das Thema Visualität und Äußerlichkeit überhaupt? FD Das beschäftigt mich natürlich. Auch, weil ich mir denke: Leute, stellt euch nicht so an. Es gab Zeiten, wo ich unter Äußerlichkeiten gelitten habe, in der Pubertät zum Beispiel, da hat man das breite Kreuz noch nicht. MJ Äußerlichkeiten sind Ihnen also nicht weniger wichtig als sehenden Menschen? FD Doch, vielleicht schon. Aber das liegt auch an mir als Mensch. Ich kenne auch Blinde, die sehr genaue Vorstellungen davon haben, wie ihr Partner aussehen soll. Wir sind nicht frei davon. Manchen gefällt es zu wissen: Ich habe eine blonde Freundin. MJ Aber doch nur, wenn sie eine Vorstellung davon haben, wofür blond angeblich steht? FD Man assoziiert bestimmte Dinge mit Haarfarben, wie die Sehenden auch. Aber es gibt auch die, die nur nach inneren Werten gehen. Ich versuche, die gute Mitte zu finden. Ich habe Vorstellungen von dem, was ich an einer Frau mag. Ich fahre aber 89 kein Selektionsprinzip. Ich hatte beispielsweise nie ganz dünne Frauen, sie hatten immer eine Körperlichkeit, Frau halt. MJ Sie sind blind geboren. Können Sie sich Visualität ausmalen? FD Man sagt mir, ich hätte eine sehr gute Vorstellung von den Dingen. Ich bin sehr neugierig und kann viele Sachen erfühlen. Das einzige, was nicht geht, sind Farben. Aber die sind ja auch sehr assoziativ und werden von sehenden Menschen ­ unterschiedlich wahrgenommen. In Bezug darauf, was sie an Stimmung ausdrücken. Ich lasse mir gern die Farbe dazusagen, wenn mir jemand etwas beschreibt, auch wenn ich sie nicht erfühlen, erfahren kann. Aber sie ­gehört dazu. MJ Nach allem, was Sie wissen: Haben Sie eine Lieblingsfarbe? FD Schwarz und dunkle Farben. Schwarz ist flexibel, das kann man auf Feiern tragen. Und ich muss im Job schon immer weiß anziehen. MJ Können Sie etwas mit dem Kompliment anfangen: „Sie sind ein gutaussehender Mann“? FD Wenn dem so ist! Jeder, der sagt, dass ihm das Kompliment egal sei, der lügt. Das bedeutet mir schon was. Attraktiv zu sein bedeutet, anziehend sein. Das ist eine Aufwertung des Selbst. MJ Wissen Sie denn, ob Sie nach gängigen Standards attraktiv sind? FD Ich weiß, wie ich aussehe. Ich weiß, dass ich nicht ganz klein bin und etwas längere, dunkle Haare habe. Aber ich weiß nicht, ob das gut ist oder nicht. MJ Wie treffen Sie optische Entscheidungen? Warum tragen Sie beispielsweise Bart? FD Weil es bequemer ist. Ich komme ursprünglich aus der linken Szene, die mein Erscheindungsbild prägte. Für mich waren Lederjacken immer 90 geiler als Sackos. Das ändert sich gerade ein bisschen. Mein Spektrum erweitert sich. Wenn es von meinem Lieblingsverein St. Pauli jetzt auch ein Polo-Hemd gibt, warum nicht? MJ Also ist es Ihnen wichtig, wie Sie aussehen? FD Es ist mir wichtig, etwas durch mein Auftreten zu vermitteln. Dem Manager ist es wichtig, dass man sieht, in welcher Gehaltsklasse er verkehrt, und mir ist es wichtig, dass man sieht, welchen Fußballverein ich mag. T-Shirts waren für mich lange Zeit ein gutes Medium, um Botschaften rauszuhauen. Da standen Sachen drauf wie: „Nazis raus!“, „St. Pauli gegen Rechts!“ MJ Sie arbeiten als Physiotherapeut. Was ist „der erste Blick“ bei der Arbeit? FD Das ist wohl der Befund. Dazu gehört ein Gespräch und ein Haltungsstatus, dazu fasst man die Rückseite des Patienten von oben bis unten an. Frauen ist es übrigens tendenziell angenehmer, dass ich blind bin. Die sagen: wenn schon ein männlicher Therapeut, dann einer, der mich nicht beglotzt. MJ Als Physiotherapeut haben Sie mit Menschen zu tun, deren Schmerzpunkte Sie mit den Händen erfühlen müssen. Fällt Ihnen das leichter als Sehenden? FD Wir haben vielleicht mehr Potenzial, müssen aber genauso lernen, das Gefühlte zu interpretieren. Auch ich habe schon in eine falsche Richtung gedacht, wir sind da nicht unfehlbar. MJ Blinde werden in Filmen und in der Literatur oft mit einer gewissen Erhabenheit ausgestattet. Sie können häufig trotz ihrer Blindheit etwas erkennen, das Sehende nicht erkennen. Haben sehende Menschen da verkitschte Vorstellungen vom Blindsein? FD Das Klischee, dass ein Blinder ein besserer Physiotherapeut sein muss, weil er viel mehr fühlen kann, das ist sehr präsent. Ein ganz schlimmes Klischee ist aber: Blinde Menschen würden andere Menschen kennenlernen, indem sie ihnen ins Gesicht fassen. Ich hatte mal eine Patientin, die Prostituierte war. Die sagte: „Was zwischen den ­Beinen passiert, ist eine Sache. Das Gesicht ist ein wahnsinnig intimer Bereich.“ Wenn das jemand sagt, der von Berufs wegen die Balance zwischen Zulassen und Abgren­ zung finden muss, hat das für mich ein großes Gewicht. Wenn ich einer Frau ins Gesicht fasse, ist das eine Form von Zärtlichkeit und höchst ­intim. Mehr über die Autorin auf S. 8 Spielplan Manchmal ist das Leben ein Solo. 19.10.14 – 25.01.15 Oper Leoš Janáček Die Sache Makropulos Musikalische Leitung Tomáš Hanus Inszenierung Árpád Schilling Nadja Michael, Pavel Černoch, Kevin Conners, Tara Erraught, Heike Grötzinger, John Lundgren, Dean Power, Gustáv Beláček, Peter Lobert, Reiner Goldberg So Mi So Mi Sa 19.10.14 22.10.14 26.10.14 29.10.14 01.11.14 18:00 UhrPremiere 19:30 Uhr 18:00 Uhr 20:00 Uhr 18:00 Uhr auch im Live-Stream auf www.staatsoper.de/tv Ausstattungspartner der Bayerischen Staatsoper Wolfgang Amadeus Mozart La clemenza di Tito Musikalische Leitung Oksana Lyniv Inszenierung Jan Bosse Daniel Behle, Kristīne Opolais, Angela Brower, Hanna-Elisabeth Müller, Serena Malfi, Tareq Nazmi Do 23.10.14 19:00 Uhr Bernd Alois Zimmermann Die Soldaten Musikalische Leitung Kirill Petrenko Inszenierung Andreas Kriegenburg Christoph Stephinger, Barbara Hannigan, Okka von der Damerau, Hanna Schwarz, Michael Nagy, Heike Grötzinger, Tareq Nazmi, Daniel Brenna, Kevin Conners, ­ Tim Kuypers, Christian Rieger, Wolfgang Newerla, Peter Tantsits, David Sitka, Dean Power, Nicola Beller Carbone, Alexander Kaimbacher, Johannes Terne, Matthias Bein, Manuel Adt, Eric Price, Frederic Jost, Niklas Mallmann Karten Tageskasse der Bayerischen Staatsoper Marstallplatz 5 80539 München Sofern nicht anders angegeben, finden alle Veranstaltungen im Nationaltheater statt. Zeit für Musik Augsburg 102.1 | Hof 102.3 | Ingolstadt 88.0 | Lindau 87.6 | München 102.3 | Nürnberg 87.6 Passau 95.6 | Regensburg 97.0 | Würzburg 89.0 | Bayernweit im Digitalradio | Bundesweit digital im Kabel | Europaweit digital über Satellit Astra 19,2 Grad Ost | Weltweit live im Internet br-klassik.de Fr 31.10.14 So 02.11.14 Di 04.11.14 19:30 Uhr 19:00 Uhr 19:00 Uhr T 089 – 21 85 19 20 [email protected] www.staatsoper.de 93 Giuseppe Verdi Gioachino Rossini Richard Strauss Rigoletto Il turco in Italia Die Frau ohne Schatten Musikalische Leitung Stefano Ranzani Inszenierung Árpád Schilling Musikalische Leitung Paolo Arrivabeni Inszenierung Christof Loy Musikalische Leitung Kirill Petrenko Inszenierung Krzysztof Warlikowski Joseph Calleja, Franco Vassallo, Ekaterina Siurina, Rafal Siwek, Nadia Krasteva, Tim Kuypers, Christian Rieger, Mária Celeng, John Carpenter, Anna Rajah Alex Esposito, Olga Peretyatko, Renato Girolami, Antonino Siragusa, Nikolay Borchev, Marzia Marzo, Petr Nekoranec Sa 08.11.14 Di 11.11.14 Fr 14.11.14 Fr 28.11.14 19:00 Uhr Mo 01.12.14 19:00 Uhr Fr 05.12.14 18:00 Uhr Robert Dean Smith, Ricarda Merbeth, Deborah Polaski, Samuel Youn, Hanna-Elisabeth Müller, Dean Power, Eri Nakamura, Wolfgang Koch, Elena Pankratova, Tim Kuypers, Christian Rieger, Renate Jett, Golda Schultz, Elsa Benoit, Heike Grötzinger, Rachael Wilson, Andrea Borghini, Evgeny Kachurovsky, John Carpenter 19:30 Uhr 19:00 Uhr 19:00 Uhr Sa 20.12.14 Di 23.12.14 Sa 27.12.14 Giuseppe Verdi Wolfgang Amadeus Mozart Nabucco Die Zauberflöte Musikalische Leitung Paolo Carignani Inszenierung Yannis Kokkos Musikalische Leitung Dan Ettinger Inszenierung August Everding Ambrogio Maestri, Roberto de Biasio, Vitalij Kowaljow, Paoletta Marrocu, Anna Malavasi, Goran Jurić, Golda Schultz, Matthew Grills Günther Groissböck, Charles Castronovo, Tareq Nazmi, Ana Durlovski, ­ Hanna-Elisabeth Müller, Golda Schultz, Tara Erraught, Okka von der Damerau, Tölzer Knabenchor, Christian Gerhaher, Mária Celeng, Alexander Kaimbacher, Francesco Petrozzi, Ivan Michal Unger, Ingmar Thilo, Wolfgang Grabow, Johannes Maximilian Klama, Walter von Hauff, Markus Baumeister, Christoph Stephinger Do 13.11.14 So 16.11.14 Fr 21.11.14 19:00 Uhr 19:00 Uhr 19:00 Uhr Giacomo Puccini Manon Lescaut Musikalische Leitung Alain Altinoglu Inszenierung Hans Neuenfels Anna Netrebko, Markus Eiche, Jonas Kaufmann, Roland Bracht, Dean Power, Christian Rieger, Ulrich Reß, Okka von der Damerau, Alexander Kaimbacher, Evgeny Kachurovsky Sa Mi Mo Do So Do So 15.11.14 19.11.14 24.11.14 27.11.14 30.11.14 04.12.14 07.12.14 19:00 UhrPremiere 19:00 Uhr 19:00 Uhr 19:00 Uhr 19:00 Uhr 19:00 Uhr 17:00 Uhr Sa Di Do So 06.12.14 09.12.14 11.12.14 14.12.14 18:00 Uhr 19:00 Uhr 18:30 Uhr 16:00 Uhr Giacomo Puccini 17:00 Uhr 17:00 Uhr 16:00 Uhr La bohème Musikalische Leitung Dan Ettinger Inszenierung Otto Schenk Anita Hartig, Golda Schultz, Wookyung Kim, Andrei Bondarenko, Andrea Borghini, Nicolas Testé, Christian Rieger, Peter Lobert Fr 23.01.15 20:00 Uhr Di 27.01.15 19:00 Uhr Sa 31.01.15 18:00 Uhr Gaetano Donizetti L’elisir d’amore Musikalische Leitung Asher Fisch Inszenierung David Bösch Ekaterina Siurina, Charles Castronovo, Roman Burdenko, Ambrogio Maestri, Mária Celeng Mo 29.12.14 19:00 Uhr Mi 31.12.14 18:00 Uhr Sa 03.01.15 18:00 Uhr Wolfgang Amadeus Mozart Le nozze di Figaro Musikalische Leitung Ivor Bolton Inszenierung Dieter Dorn Gerald Finley, Véronique Gens, Angela Brower, Luca Pisaroni, Anita Hartig, Georg Zeppenfeld, Heike Grötzinger, Alexander Kaimbacher, Kevin Conners, Peter Lobert, Elsa Benoit, Anna Rajah, Marzia Marzo Mo Fr Mo Mi 08.12.14 12.12.14 15.12.14 17.12.14 18:30 Uhr 19:00 Uhr 18:30 Uhr 18:30 Uhr Wolfgang Amadeus Mozart Don Giovanni Musikalische Leitung Constantinos Carydis Inszenierung Stephan Kimmig Christopher Maltman, Ain Anger, Erin Wall, Charles Castronovo, Véronique Gens, Alex Esposito, Golda Schultz, Tareq Nazmi Georges Bizet Engelbert Humperdinck Carmen Hänsel und Gretel Musikalische Leitung Omer Meir Wellber Nach einer Produktion von Lina Wertmüller Musikalische Leitung Tomáš Hanus Inszenierung Richard Jones Tareq Nazmi, Andrea Borghini, Yonghoon Lee, Gábor Bretz, Alexander Kaimbacher, Dean Power, Eri Nakamura, Angela Brower, Clémentine Margaine, Golda Schultz Sebastian Holecek 25. / 26.11. / 04.01. nachmittags, Markus Eiche 01. / 04.01. abends, Michaela Martens 25. / 26.11., Sabine Hogrefe 01. / 04.01., Tara Erraught 25. / 26.11. / 04.01. nachmittags, Angela Brower 01. / 04.01. abends, Hanna-Elisabeth Müller 25. / 26.11. abends 04.01. nachmittags, Eri Nakamura 01. / 04.01. abends, Wolfgang Ablinger-Sperrhacke 25. / 26.11., Kevin Conners 01. / 04.01. abends, Rainer Trost 04.01. nachmittags, Marzia Marzo, Mária Celeng Fr 19.12.14 Mo 22.12.14 Fr 26.12.14 Di Mi Do So So 25.11.14 26.11.14 01.01.15 04.01.15 04.01.15 94 19:00 Uhr 19:00 Uhr 18:00 Uhr 14:00 Uhr 19:00 Uhr 19:00 Uhr 19:00 Uhr 18:00 Uhr Sa 10.01.15 Di 13.01.15 Fr 16.01.15 18:00 Uhr 19:00 Uhr 19:00 Uhr Gioachino Rossini Guillaume Tell Musikalische Leitung Dan Ettinger Inszenierung Antú Romero Nunes Michael Volle, Yosep Kang, Goran Jurić, Evgeniya Sotnikova, Günther Groissböck, Kevin Conners, Enea Scala, Christian Rieger, Krassimira Stoyanova, Jennifer Johnston So 18.01.15 18:00 Uhr Mi 21.01.15 19:00 Uhr So 25.01.15 17:00 Uhr gefördert durch 95 Ballett John Neumeier Solisten und Ensemble des Bayerischen Staatsballetts Bayerisches Staatsorchester Die Kameliendame Musik Frédéric Chopin Musikalische Leitung Michael Schmidtsdorff Solisten und Ensemble des Bayerischen Staatsballetts Bayerisches Staatsorchester 24.10.14 25.10.14 22.11.14 23.11.14 29.11.14 19:30 Uhr 19:30 Uhr 19:30 Uhr 18:00 Uhr 19:30 Uhr Mikhail Fokine / Bronislawa Nijinska / Terence Kohler Les Ballets Russes Musik Nikolai Rimski-Korsakow, Francis Poulenc, Peter I. Tschaikowsky Musikalische Leitung Myron Romanul Solisten und Ensemble des Bayerischen Staatsballetts Bayerisches Staatsorchester Di 28.10.14 19:30 Uhr John Neumeier Ein Sommernachtstraum Musik Felix Mendelssohn Bartholdy, György Ligeti, Drehorgelmusik Musikalische Leitung Michael Schmidtsdorff Solisten und Ensemble des Bayerischen Staatsballetts Bayerisches Staatsorchester Fr So So So Do So So Paquita Musik Ludwig Minkus, Edouard-Marie-Ernest Deldevez u.a. Musikalische Leitung Myron Romanul Fr Sa Sa So Sa Marius Petipa, Alexei Ratmansky 07.11.14 09.11.14 09.11.14 21.12.14 25.12.14 28.12.14 28.12.14 96 19:30 Uhr 15:00 Uhr 19:30 Uhr 18:00 Uhr 18:00 Uhr 15:00 Uhr 19:30 Uhr Sa Di Do Di Fr Do Fr So 13.12.14 16.12.14 18.12.14 30.12.14 02.01.15 08.01.15 09.01.15 11.01.15 19:30 UhrPremiere 19:30 Uhr 19:30 Uhr 19:30 Uhr 19:30 Uhr 19:30 Uhr 19:30 Uhr 18:00 Uhr auch im Live-Stream auf www.staatsoper.de/tv John Cranko Romeo und Julia Musik Sergej Prokofjew Musikalische Leitung Robertas Šervenikas Solisten und Ensemble des Bayerischen Staatsballetts Bayerisches Staatsorchester Sa 17.01.15 19:30 Uhr Do 22.01.15 19:30 Uhr Sa 24.01.15 18:00 Uhr Matinee der Heinz-BoslStiftung / Junior Company So 16.11.14 So 23.11.14 11:00 Uhr 11:00 Uhr Konzert PARTNER DES BAYERISCHEN STAATSORCHESTERS campus Porträtkonzert des Opernstudios Seit 1841 Gesang Matthew Grills / Anna Rajah 2. Akademiekonzert Mi 22.10.14 Antonin Dvořák / Sergej W. Rachmaninow Gesang Rachael Wilson / Petr Nekoranec Musikalische Leitung Gianandrea Noseda Violine David Schultheiß Fr Mo 17.11.14 Di 18.11.14 20:00 Uhr 20:00 Uhr 12.12.14 19:30 Uhr 19:30 Uhr Künstlerhaus Künstlerhaus Norbert Graf, Simone Sandroni 2. Kammerkonzert Bayerisches Staatsballett II – Lauda Ottorino Respighi / Gabriel Fauré / Maurice Ravel Musik und Musikalische Leitung Gavin Bryars Sopran Aga Mikolaj Ensemble des Bayerischen Staatsballetts II The Gavin Bryars Ensemble So 23.11.14 11:00 UhrAllerheiligen Hofkirche Fr 14.11.14 Sa 15.11.14 Adventsmusik in St. Michael OperaBrass Die Blechbläser der Bayerischen Staatsoper Orgel Frank Höndgen Sa 13.12.14 20:00 Uhr St. Michael 3. Akademiekonzert Johannes Brahms / Alexander Zemlinsky Musikalische Leitung Kirill Petrenko Klavier Gerhard Oppitz Sopran Adrianne Pieczonka Bariton Michael Volle Mo 05.01.15 20:00 Uhr Di 06.01.15 20:00 Uhr 20:30 Uhr 20:30 Uhr St. Michael Uraufführung St. Michael Arienabend des Opernstudios Opernstudio der Bayerischen Staatsoper So 23.11.14 20:00 Uhr Cuvilliés-Theater 1. Kammerkonzert der Orchesterakademie Orchesterakademie des Bayerischen Staatsorchesters Fr 28.11.14 20:00 UhrAllerheiligen Hofkirche Hauptsponsor der Orchesterakademie 3. Kammerkonzert Erlebnistag Ludwig van Beethoven / Claude Debussy / Robert Schumann So 30.11.2014 10:00 Uhr So 18.01.15 11:00 UhrAllerheiligen Hofkirche ATTACCA-Opernabend ATTACCA – Jugendorchester des Bayerischen Staatsorchesters Kinderchor der Bayerischen Staatsoper Solisten des Opernstudios Mo 15.12.14 98 19:00 UhrPrinzregententheater …und vieles mehr* finden Sie in München bei RADSPIELER *Tisch, Schrank, Bett und alles, was eine Wohnung schön macht. F. Radspieler & Comp. Nachf. · Hackenstraße 7 · 80331 München Telefon 089 -23 50 98-0 · Fax 089 -26 42 17 www.radspieler.com Extra Premierenmatinee Manon Lescaut So 02.11.14 MALEREI DES 18. JAHRHUNDERTS 11:00 Uhr FOTOGRAFIE VOR 1900 AUS DER SAMMLUNG DIETMAR SIEGERT Lucia di Lammermoor So 18.01.15 VENEDIG SEHEN… 11:00 Uhr Operndialog Die Sache Makropulos Teil 1: So Teil 2: Mo 26.10.14 27.10.14 10:00 Uhr 18:00 Uhr Capriccio-Saal Capriccio-Saal 02.11.14 03.11.14 10:00 Uhr 18:00 Uhr Capriccio-Saal Capriccio-Saal Teil 1: So 30.11.14 10:00 Uhr Teil 2: Mo 01.12.14 18:00 Uhr Ort wird auf www.staatsoper.de bekannt gegeben Capriccio-Saal Die Soldaten Teil 1: So Teil 2: Mo Manon Lescaut Montagsrunde zu … Zuschauer diskutieren gemeinsam mit Dramaturgen und Gästen die Themen einer Neuinszenierung Die Sache Makropulos Mo 10.11.14 20:00 Uhr Capriccio-Saal Mo 08.12.14 20:00 Uhr Capriccio-Saal Manon Lescaut Ballett extra: Proben zur Premiere von Paquita Ensemble und Ballettmeister des Bayerischen Staatsballetts Sa 06.12.14 20.00 Uhr Probenhaus, Platzl 7 100 09.10.2014–02.02.2015 NEUE PINAKOTHEK KUNSTAREAL MÜNCHEN Augenblicke der Muße Die Mitarbeiter der Oper em­p­fehlen, was sie bezaubert und bewegt. ALPIN-ORIENTALISCHES MÄRCHEN Von Lea Heutelbeck, Leiterin der Videoabteilung Wo, wenn ich nicht in den Alpen, kann ein neuer Blick-Winkel auf die Dinge entstehen? Den Gipfel einmal erklommen, wirken die Dörfer im Tal so klein, das Treiben so weit weg. Genauso muss das auch König Ludwig II gesehen haben. Er erbaute ab 1869 ein Königshaus auf dem Schachen am Fuß des Wettersteinmassivs in 1.866 Metern Höhe. Der Aufstieg kann nur zu Fuß von Elmau über die Wettersteinalm oder durch die Partnachklamm über den Kälbersteig erfolgen. Das kostet Zeit und Anstrengung. Aber es lohnt sich! Oben angekommen, beeindruckt mich nicht nur die imposante Lage des Königshauses; auch das Innere hält eine Überraschung bereit. Das Erdgeschoss ist – wie erwartet – komfortabel im alpinen Design gestaltet. Als ich jedoch das Obergeschoss betrete, versinke ich sofort in ein orientalisches Märchen. Plötzlich stehe ich in einem prachtvollen türkischen Saal, geschmückt mit Wandornamenten, bestickten Hockern, kostbaren Teppichen und einem Springbrunnen in der Mitte. Die bunt bemalten Fenster verhindern dabei jeden Blick nach draußen. Das alles macht das Königshaus am Schachen zu einem wirklichen Kurzurlaub für alle Sinne! Königshaus am Schachen, geöffnet von Mai bis Oktober, Führungen täglich 11.00, 13.00 und 15.00 Uhr, www.schloesser.bayern.de JANE EYRE – ROLE MODEL Von Anna Rajah, ­Sopranistin, Mitglied im Opernstudio 102 Der Roman Jane Eyre von Charlotte Brontë war bei seinem Erscheinen ein ­literarisches Ereignis. Seit meiner Kindheit inspiriert mich die innere Kraft ­dieser jungen Frau. Jane Eyre ist eine Waise, wird von ihren Verwandten schikaniert und schließlich in ein Internat abgeschoben. Dort schließt sie Freundschaft mit einem tuberkulosekranken Mädchen, dem sie bis zu dessen Tod nicht von der Seite weicht. Jane Eyre beginnt bald im Haus des mysteriösen Mr. Rochester zu arbeiten, der sich in sie verliebt. Als er ihr einen Heiratsantrag macht, stimmt sie zu. Doch sie findet heraus, dass Rochester seine geisteskranke Frau auf dem Dachboden versteckt: Eine Heirat wäre illegitim. Jane verlässt Rochester voller Verachtung. Später erfährt sie, dass seine Frau im Wahn das Haus in Brand gesetzt hat und Rochester bei dem Versuch, sie zu retten, das Augenlicht verlor. Das berührt sie. Sie kehrt zu ihm zurück, und die beiden heiraten. Jane Eyre verkörpert für mich eine unerschrockene, reflektierte junge Frau. Und Charlotte Brontë, die den Roman 1847 noch unter dem geschlechtsneutralen Pseudonym „Currer Bell“ veröffent- lichen musste, verrät mit dem Originaltitel – Jane Eyre. An Autobiography – dass wir hier auch über sie selbst lesen. Charlotte Brontë, Jane Eyre, aus dem Englischen von Andrea Ott, Goldmann Verlag, München 2011 (Original 1889; Erstveröffentlichung der Übersetzung 2001], 9,99 € FRAUEN. KRIEG. LUSTSPIEL Von Theresa Schlichtherle, Spielleiterin 1914 und 2014: Zwei Jahreszahlen, die in direktem Zusammenhang miteinander stehen. Europa gedenkt des Beginns des Ersten Weltkriegs. Gleichzeitig brennen östlich unseres Kontinents die Krisenherde. Die eigene kriegerische Vergangenheit zwingt Europa, jede Art von Hilfeleistung genau zu überdenken. Was ist richtig, was falsch? Trotz aller Versuche, solche Traumata zu verarbeiten, steht der Mensch jeder neuen Krisensituation als Anfänger gegenüber. Inwiefern berührt mich die Vergangenheit, inwiefern die Kriege, zwar vor der europäischen „Haustür“, doch tausende Kilometer weit weg? In meinem 2014 haben das nicht Gedenkstunden fühlbar gemacht, sondern die Lektüre des Theaterstücks Frauen. Krieg. Lustspiel, von Thomas Brasch Ende der 1980er Jahre verfasst. Zwei Frauenfiguren leben sich von Berlin an die Front, von Verdun nach Berlin. Die Verarbeitung des Geschehenen vollzieht sich durch Schichten des Bewusstseins wie durch Generationen, sodass bald nicht mehr klar ist, wann die Erlebnisse stattgefunden haben: 1914, 1924 oder 1984? Einzelschicksale öffnen die Diskussion über historische Ereignisse und den subjektiven Blick darauf, über das Kriegerische im Menschen an sich und darüber, was es mit uns macht: „ [ … ] und dann steht die Wahrheit da. Deine oder meine.“ Thomas Brasch, Frauen. Krieg. Lustspiel, ­Suhrkamp Verlag (Edition Suhrkamp), ­Frankfurt am Main 1989, antiquarisch ­erhältlich Kulturtipps KINDHEIT IM SPIEGEL Von Jakob Spahn, Solocellist des Bayerischen Staatsorchesters Als ich ins Kino ging, um mir den neuen Film von Richard Linklater anzuschauen, wusste ich nicht, was mich erwarten würde. Boyhood – knappe drei Stunden, die Geschichte eines amerikanischen Mittelschichtsjungen. Eine Reise durch seine Kindheit bis zum Collegealter. Der Protagonist Mason lebt mit seiner Schwester bei der Mutter, die in wechselnde Männerbeziehungen verstrickt ist. Dies ist für die Kinder mit Umzügen und schwierigen Anpassungsleistungen verbunden, da die Beziehungen regelmäßig – auch gewalttätig – scheitern. Der leibliche Vater, selbst noch auf der Suche nach Stabilität und Reife, bleibt nur bedingt Bezugsperson. Trotz aller Probleme bahnen die Kinder sich ihren eigenen Weg. Der Film wurde im Zeitraum von zwölf Jahren gedreht. Man kann beobachten, wie sich die Schauspieler in Echtzeit verändern. Es geht also auch um Zeit, deren Wahrnehmung und Vergänglichkeit. Das macht den Film so authentisch. Durch intime Momentaufnahmen, die eigene Erinnerungen wecken, entsteht unweigerlich Empathie für die Hauptfigur Mason. Die Geschichte wirkt wie ein Spiegel aller Kindheiten überall auf der Welt. Durch sein offenes Ende lässt der Film Raum für eigene Gedanken, und auch nach drei Stunden Kino hätte ich gerne noch weiter zugeschaut.­ Boyhood, USA 2014, Regie und Drehbuch: Richard Linklater, Darsteller: Ellar Coltrane, ­Patricia Arquette, Ethan Hawke, Lorelei ­Linklater NONKONFORMIST Von Jens van Bommel, Leiter des Malersaals, Werkstätten Bayerische Staatsoper Mal abgesehen von „schnödem Hunger“ – etwas Aufregendes oder emotional Berührendes zu erschaffen ist sicherlich der primäre Antrieb der meisten Künstler. Vermutlich ist auch der Wunsch groß, etwas zu hinterlassen, wenn man selbst nicht mehr physisch anwesend ist. So steht es jedenfalls in den Biografien, die ich schon immer so gerne gelesen habe. Die Beschreibungen Stefan Zweigs über Amerigo Vespucci oder Joseph Fouché verfolgten mich schon als Jugendlicher bis in den Schlaf. Sie, werter Leser, kennen die Anziehung solcher Bücher sicherlich auch. Doch das allein reichte mir bald nicht mehr. Ich wollte Texte über Anarchos, Nonkonformisten, die nicht nur genial waren, sondern auch ungewöhnlich. Nach Jahren mit Geschichten über echte und erfundene Menschen hatte ich dann das Glück, auf Karte und ­Gebiet zu stoßen. Mein Interesse für Malerei und Geografie brachte mich zu Michel Houellebecqs schräger Geschichte über den Künstler Jed Martin. Ich habe sie verschlungen wie einst Zweig und kürte sie zur einsamen Nummer eins meiner inneren Biografienliste. Ob auch Michel Houellebecq damit etwas Aufregendes oder emotional Berührendes erschaffen hat, können Sie nur herausfinden, wenn Sie das Buch selbst lesen. Viel Spaß! Michel Houellebecq, Karte und Gebiet, ­Dumont Verlag, Köln 2011, 9,99 € Jani Leinonen, Chiquita & Elovena, 2009, Acrylic on printed canvas, 130 x 100 cm, Photo Vilhelm Sjöström MAX JOSEPH 2 Vorschau Auf BLICKE folgen … Kusse Sopranistin Diana Damrau und Regisseurin Barbara Wysocka – Premiere Lucia di Lammermoor Themenkonzerte des Bayerischen Staatsorchesters MJ 2 2014-2015 erscheint am 22.1.2015 BOGNER HAUS MÜNCHEN Residenzstraße 15 bogner.com München Residenzstrasse 6 089 238 88 50 00 Düsseldorf Martin-Luther-Platz 32 0211 135 40 92 Frankfurt Grosse Bockenheimerstr. 13 069 219 96 700 Hamburg Neuer Wall 39 040 430 94 90 Wien Am Kohlmarkt 4 01 535 30 53 Akris Boutique auf www.akris.ch