PDF-Download - Bayerische Staatsoper

Werbung
Max Joseph
Nadja Michael über das Spiel mit dem
Blick – Premiere Die Sache Makropulos
Hans Neuenfels über die leidenschaftliche
Liebe – Premiere Manon Lescaut
Kopfpornokino – Was ist Voyeurismus?
BlICKE
Bayerische
staatsoper
Das Beste kennt keine Alternative.
Das neue C-Klasse T-Modell.
Ab 27. September bei Ihrem Mercedes-Benz Partner.
Eine Marke der Daimler AG
Elegante Sportlichkeit bis ins Detail. Das neue C-Klasse T-Modell definiert mit seinem progressiven Design in
effizienter Leichtbauweise, den zahlreichen innovativen Sicherheits- und Assistenzsystemen und dem großzügigen,
flexiblen wie hochwertigen Raumkonzept den Maßstab seiner Klasse neu. www.mercedes-benz.de/c-klasse-t-modell
Die Verbrauchswerte beziehen sich auf die zur Markteinführung (09/2014) verfügbaren Motoren des C-Klasse T-Modells (C 180/C
Kraftstoffverbrauch kombiniert: 6,0–4,3 l/100 km; CO₂ -Emissionen kombiniert: 140–108 g/km.
Anbieter: Daimler AG, Mercedesstraße 137, 70327 Stuttgart
200/C 250/C 220 BlueTEC und C 250 BlueTEC).
Editorial
Jon Burgerman, face, 2014
Max Joseph 1 2014 – 2015
Das Magazin der Bayerischen Staatsoper
Blicke
Kusse Bisse
„Küsse, Bisse / Das reimt sich, und wer recht von Herzen liebt, / Kann schon das
eine für das andre greifen“, stellt die Amazonenkönigin Penthesilea bei Heinrich
von Kleist fest, als ihr bewusst wird, dass sie ihren Geliebten Achill aus R
­ aserei
zerrissen hat. Für die Spielzeit 2014 /15 haben wir das Kleist‘sche Wortpaar über
die verhängnisvolle Nähe von Begehren und Zerstörung um den Begriff „Blicke“
erweitert – als den Auftakt jeder Begegnung, als das Davor. Damit beschäftigt
sich diese erste Ausgabe von MAX JOSEPH in der neuen Spielzeit.
Für das Theater sind Blicke elementar. Die Gesetzmäßigkeiten schei­
nen dabei festgelegt – hier der Zuschauer, dort der Darsteller. Eine Zwei­
teilung der Blickwelt in Sehen und Gesehen-Werden verlief über Jahrhun­
derte entlang von Geschlechtergrenzen. Wir finden sie auch in Leoš Janáčeks
Die Sache Makropulos, der ersten Neuproduktion der Spielzeit. Die Sängerin
Emilia Marty wird den Männern vor allem wegen ihrer Jugend und Schönheit
zum Objekt der Anbetung. Ihre Interpretin, die Sopranistin Nadja Michael,
erkundet im großen MAX JOSEPH-Gespräch mit drei weiteren Künstlerin­
nen, wie Emilia Marty sich dieser Rolle widersetzt, und wie Frauen inzwi­
schen diese Regeln unterwandern.
Der Blickwechsel von Liebenden kann „sie aus der Welt herausreißen“,
wie László Földényi in seinem Essay formuliert. Dass in dieser Zerstörung des
Gewohnten das Potenzial liegt, im philosophischen Sinn tiefer zu blicken,
­belegt er anhand literarischer Stimmen aus mehreren Jahrhunderten. Einen
„Überfall“ nennt hingegen der Regisseur Hans Neuenfels die Liebe auf den
ersten Blick im Interview – er wird diesen Moment und seine Folgen in
­Giacomo Puccinis Manon Lescaut mit Anna Netrebko in der Titelpartie und
Jonas ­Kaufmann als Des Grieux neu inszenieren.
Wirklich körperlos, wie der Blick zunächst scheint, ist er nicht. Blicke
können Berührungen gleichen, das Angeschaute verschlingen, sexuell und
intim sein. Jörg Böckem findet in seiner Reportage über Voyeurismus Men­
schen, die ihre Lust gern mit anderen teilen – über den Blick, den sie werfen
oder über den, dem sie sich preisgeben. Diese Schaulust ist, wie der Journa­
list und Autor herausfindet, weit entfernt von krankhaftem Voyeurismus, wie
auch vom gewohnheitsmäßigen Ausspähen privater Banalitäten in TV-Shows
und sozialen Netzwerken. Vielmehr offenbart sie die menschliche Fähigkeit zu
Empathie und Fantasie.
Ohne Empathie und Fantasie bleibt auch das Theater kalt. Erst wenn der
Zuschauer das Geschaute und Gehörte in eine eigene Erfahrung überträgt und
in seine Gedanken- und Gefühlswelt aufnimmt, vollendet sich die Vorstellung
auf der Bühne in der Vorstellung des Zuschauers. Blicke nach außen werden
zu Blicken nach innen. Dazu laden wir mit unserem Programm in der kommen­
den Spielzeit herzlich ein.
Nikolaus Bachler
Intendant der Bayerischen Staatsoper
Das Cover zeigt ein Selbst­
porträt der schwedischen
Fotografin Lina Scheynius,
über den Dächern von ­
Brüssel im Frühjahr 2014.
Scheynius lebt in London,
fotografiert Mode für
internationale Magazine
und vor allem und immer
wieder sich selbst und ihr
Umfeld. Die Autodidaktin
sagt, ohne das Internet
hätten ihre Bilder wohl
keine weiteren Betrachter
außer ihr gefunden.
8
Contributors /Impressum
10
Meine Begegnung mit …
Filmemacherin Lone Scherfig erinnert sich an
Lars von Trier
36
Das Offene zu schauen
Über die Blicke von Liebenden in der Literatur.
Ein Essay von László F. Földényi
MAx Joseph 1
20
Im Zwischenreich der Liebe – PREMIERE
Hans Neuenfels, Regisseur von Giacomo
Puccinis Manon Lescaut, im Gespräch
Foto Ryan McGinley
12
1937: Neue Pläne für die Münchner Oper
Das Forschungsteam „Bayerische Staatsoper
1933–1963“ berichtet vom Beginn der
­Intendanz Clemens Krauss
66
Sofies Blick
Philosophen
­versuchten seit
der Antike, das
Sehen zu
begreifen –
eine Auswahl
in Bildern, ­
gezeichnet von
Gian Gisiger
72
Mehr als Worte – PREMIERE
Der Dirigent Tomáš Hanus im Interview
über den Komponisten Leoš Janáček
74
Gemalte Augenblicke
Der Wissenschaftspublizist Ernst Peter Fischer
erklärt, warum man sich den Vorgang des
Sehens auch wie Malen vorstellen kann
78
Portfolio
Die Serie Charlotte des Fotografen Ross
Rawlings
AGENDA
34
„Man spürt diese Lust, sich streiten zu wollen“
Ein Türsteher vertraut ganz auf den Blickkontakt
Kopfpornokino
Eine Reportage über Schaulust und
Voyeurismus von Jörg Böckem
42
Haben Sie die Blickmacht? – PREMIERE
Frauenrunde: Die Sopranistin Nadja Michael,
Interpretin der Emilia Marty in Die Sache
Makropulos, im Erfahrungsaustausch über
Sehen und Angesehen-Werden
49
Comic
Giuseppe Verdis Rigoletto, erzählt von
Leon Sadler
88
Foto Heji Shin – Siehe Haben Sie die Blickmacht?, S. 42
Editorial
Von Nikolaus Bachler
Illustration Leon Sadler
3
60
Illustration Gian Gisiger
Männergalerie – PREMIERE
Die Sänger aus Leoš Janáčeks Die Sache
Makropulos denken an intensive Blickwechsel
Inhalt
26
Foto Robert Fischer
Inhalt
MAX JOSEPH 1
Spielzeit 2014 – 2015
„Ich weiß, wie ich aussehe“
Der blinde Physiotherapeut Florian Deroubaix
über Annäherungen an das Visuelle und
Klischees vom Blindsein
93
Spielplan
102
Augenblicke der Muße
Kulturtipps von Opernmitarbeitern
104
Vorschau
Sehen Sie Wasserstoff.
In einer Weltpremiere
von Linde.
Am Anfang stand eine Idee: unsichtbare Gase sichtbar zu machen.
Wir haben einen faszinierenden, einzigartigen Ansatz entwickelt.
Numerische Grafiken, errechnet aus den spezifischen Stoffeigenschaften der Gase.
Mehr unter www.fascinating-gases.com.
Wir unterstützen die Bayerische Staatsoper als Spielzeitpartner.
IMPRESSUM
Contributors
Magazin der
Bayerischen Staatsoper www.staatsoper.de/maxjoseph
Max-Joseph-Platz 2 / 80539 München
T 089 – 21 85 10 20 / Fax 089 – 21 85 10 23
[email protected]
www.staatsoper.de
Herausgeber
Staatsintendant Nikolaus Bachler
(V.i.S.d.P.)
Redaktionsleitung
Maria März
Gesamtkoordination
Christoph Koch
Redaktion
Miron Hakenbeck, Rainer Karlitschek,
Malte Krasting, Daniel Menne, Julia Schmidt,
Benedikt Stampfli
Mitarbeit: Sabine Voß
Bildredaktion
Yvonne Gebauer
Gestaltung
Bureau Mirko Borsche
Mirko Borsche, Johannes von Gross,
Moritz Wiegand, Sophie Schultz,
Paul Thalmeier
Autoren
Peter von Becker, Jens van Bommel,
Christina von Braun, Jörg Böckem,
Rasmus Cromme, Ernst Peter Fischer,
László F. Földényi, Dominik Frank,
Katrin Frühinsfeld, Lea Heutelbeck,
Christiane Lutz, Nadia Pantel, Anna Rajah,
Theresa Schlichtherle, Jakob Spahn,
Robert Ziegler
Fotografen & Bildende Künstler
Jon Burgerman, Robert Fischer,
Ryan McGinley, Gian Gisiger,
Jani Leinonen, Cătălin Petrișor, Ross Rawlings,
Nuria Riaza, Leon Sadler, Sany, Lina Scheynius,
Heji Shin, Kohei Yoshiyuki (mit bestem Dank an
die Galerie Yossi Milo, New York)
László F. Földényi
Seite 20
Heji Shin
Seite 42
Cătălin Petrişor
Seite 20
Immer schon versuchte die
Literatur dies zu fassen: den
tiefen Blick zwischen
Liebenden und das Ende der
bisherigen Welt. László F.
Földényi, Professor für
Kunsttheorie in Budapest,
Autor vieler international
erschienener Bücher und als
Herausgeber der Werke
Heinrich von Kleists in
Ungarn mit dessen „Bissen“
und „Küssen“ lange vertraut,
durchmisst in seinem Essay
zweitausend Jahre Kultur­
geschichte auf den Spuren
dieses Geheimnisses.
Die Fotografien von Heji
Shin für das Aufklärungsbuch Make Love erregten
im Jahr 2012 viel Aufsehen.
Die Bilder zeigten echte
Paare bei echtem Sex.
Die Frage nach dem
Authentischen? Sie
interessiert die in Berlin
und New York lebende
Fotografin nicht, wie sie im
Gespräch für MAX JOSEPH
erzählt. Die Bilder, die
sie von der Sopranistin
Nadja Michael im Berliner
Zoo gemacht hat, sprechen
für sich.
Das Wagnis und die Gefährdung, die in einem Blick
liegen können, mag man in
dem Bild sehen, das den
Essay von László F. Földényi
begleitet. Oder spricht es
mehr von der Innigkeit eines
Paares? Der rumänische
Künstler Cătălin Petrişor
verwendete für sein Motiv
Öl und Graphit. Seine
vielseitigen Arbeiten –
­Videokunst, Fotografien,
Installationen und
­Zeichnungen – wurden
zuletzt in Paris und Peking
ausgestellt.
Christiane Lutz
Seite 88
Sany
Seite 102
Christina von Braun
Seite 42
Die Frage lag so nah und doch
so fern: Wie erlebt ein blinder
Mensch die Liebe auf den
ersten Blick, und wie ergeht
es ihm in unserem über-visualisierten Alltag? Das Interview, das Christiane Lutz mit
Florian Deroubaix führte, gibt
beeindruckende ­Antworten
darauf. Christiane Lutz,
Absolventin der Deutschen
Journalistenschule, schreibt
für den Kulturteil der
­Süddeutschen Zeitung über
Theater und Popmusik, aber
auch über Gesellschafts- ­
und Sozialthemen.
Die Kulturtipps von MAX
JOSEPH haben eine
Frischzellenkur bekommen,
wie es sich für ein Heft über
Blicke gehört. Verabreicht
wurde diese von Professor
Samuel Nyholm alias Sany.
Der schwedische Grafikdesigner und Illustrator
arbeitet für Zeitungen und
Magazine in ganz Europa
und lehrt Illustration an der
Hochschule für Künste in
Bremen. Er war übrigens so
nett, gleich selbst eine
Freizeitbeschäftigung in
Bildform mitzuempfehlen.
Wo zwischen Mann und Frau
die Macht des Blickes liegt,
interessiert Christina von
Braun seit langem – als
Professorin für Kulturwissenschaft an der Berliner
Humboldt-Universität,
Gründerin des Studiengangs Gender Studies und
als Filmemacherin. Sie ist
Sprecherin des Zentrums
Jüdische Studien Berlin­Brandenburg und Vize-­
Präsidentin des Goethe-­
Instituts. Für MAX JOSEPH
moderierte sie die Runde
der Künstlerinnen.
Marketing
Laura Schieferle
T 089 – 21 85 10 27 / Fax 089 – 21 85 10 33
[email protected]
Schlussredaktion
Nikolaus Stenitzer
Anzeigenleitung
Imogen Lenhart
T 089 – 21 85 10 06
[email protected]
Vertrieb Zeitschriftenhandel
Axel Springer Vertriebsservice GmbH
Süderstraße 77
20097 Hamburg
www.as-vertriebsservice.de
Lithografie
MXM Digital Service, München
Druck und Herstellung
Gotteswinter und Aumeier GmbH, München
ISSN
1867-3260
Nachdruck nur nach vorheriger Einwilligung.
Für die Originalbeiträge und Originalbilder alle
Rechte vorbehalten. Urheber, die nicht zu erreichen waren, werden zwecks nachträglicher
Rechtsabgeltung um Nachricht gebeten.
Meine Begegnung mit …
… Lars von Trier. Die dänische
Filmregisseurin Lone Scherfig erzählt.
10
10
Vorstellungsankündigung
Illustration Nuria Riaza
Gleichzeitig waren die Erwartungen an Dogma-Filme damals so
hoch. Ich stand unter Druck
und war fest davon überzeugt, den ersten
schlechten Dogma-­
Film zu drehen! Aber
sein Respekt und
seine Unterstützung
für meine Detailversessenheit gaben mir
Selbstvertrauen und
das Gefühl, auf dem
Weg zu meiner eigenen Filmsprache zu sein.
In meinen Filmen spielen
Blicke eine sehr große
Rolle. Ich versuche immer,
die Kamera zwischen die Schauspieler zu bringen, so dass
der Zuschauer die Figuren mit den
Augen des jeweils anderen sehen
kann. Blickkontakt, kleine mimische Signale im Zuhören und An­
sehen bedeuten mir sehr viel.
Ein falscher Blick kann eine Szene
ruinieren. Denn in meiner Arbeit
ist es mir sehr wichtig, die Augen
der Darsteller zu zeigen oder aber
mit ihren Augen auf das Geschehen
zu blicken. Dadurch kann es
gelingen, dass ganz gewöhnliche
Dinge besondere Bedeutung
­erlangen.
Durch Lars von Trier
habe ich auch erfahren,
dass ich die Kamera
nutzen kann, um die
Welt, wie ich sie sehe,
zu rahmen; oder
mit ihr wie mit einer
Waffe auf die Dinge
zu deuten. Heute
stelle ich sogar fest,
dass Dogma mich bis
in mein Privatleben
hinein geprägt hat. So
mag ich es, in unserem
Haus nicht von Dingen umgeben zu sein, die ich ausge­sucht
habe, sondern die meinem
Mann gefallen. Ich habe nicht das
Foto Prokino
„Für mich war meine Begegnung
mit Lars von Trier von großer
Bedeutung und hat mein Arbeitsleben sehr geprägt. Er
gehört für mich zu
den stilbildenden Regisseuren, und es
war außergewöhnlich, ihm so nahe
sein zu können. Ich
kannte ihn ja schon
von der Filmhochschule. Doch wir hatten wenig Kontakt. Das
änderte sich mit Beginn der Dogma-Bewegung und meinem Film
Italienisch für Anfänger, den
ich für seine Produktionsfirma
drehte. Wir kamen uns langsam
näher, Stück für Stück. Wir lachten
über dieselben Dinge, hatten die
gleichen Bücher gelesen und liebten dieselbe Musik. Diese Nähe hat
mir sehr gut getan. Ich bekam das
Gefühl vermittelt, auf dem richtigen
Weg zu sein. Das war existenziell
für mich, denn Filme, wie ich
sie mache, brauchen Zeit. Und Zeit
brauchte ich damals auch, um mich
als Filmemacherin zu entwickeln.
Aufgezeichnet von Jörg Böckem
In der Spielzeit 2014 / 15 erzählen Künstler in MAX JOSEPH
von einer Begegnung, die sie verändert hat.
Die dänische Filmemacherin Lone Scherfig studierte Filmwissenschaft in Kopenhagen und Paris und Regie an der Dänischen
Filmhochschule. In Deutschland wurde sie vor allem durch ­ihren
Film Italienisch für Anfänger aus dem Jahr 2000 bekannt. Er
gilt als einer der wichtigsten Filme der Dogma-Bewegung, die
sich für ein realistisches Kino ohne technische Effekte einsetzte.
Seit 9.10.2014 läuft ihr neuer Film Riot Club in den deutschen
Kinos. In dem Thriller um einen studentischen Geheimbund seziert Lone Scherfig die zukünftige Elite Großbritanniens.
Bedürfnis, meine Umgebung kontrol­
lieren, gestalten, inszenieren zu
müssen. Das macht mich zu einem
glücklicheren Menschen.
Heute habe ich nur
noch sehr, sehr selten Kontakt zu Lars
von Trier. Seit acht
Jahren arbeite ich
England. Es hat sich
einfach so ergeben,
war keine bewusste
Entscheidung oder gar
ein Befreiungsversuch.
Wir haben uns ein­fach in unterschiedliche
Richtungen bewegt.
Oft vermisse ich die
alte Zeit, Kollegen zu haben,
die mir so nah sind wie damals.
Als Regisseurin genieße ich es
zurzeit sehr, mit jungen Schau­
spielern zu arbeiten und mitzuer­
leben, wie sie herausfinden, wer sie
sind und was sie können. Diesen
­Prozess zu begleiten und ihnen
dabei zu helfen, den Schauspieler in
ihrem Inneren zu finden, ist fan­
tastisch; also in gewisser Weise das
zu tun, was Lars von Trier vor
Jahren für mich getan hat.“ 11
Im Zwischen­reich der Liebe
Blicke Küsse Bisse – dieser Dreiklang steht
über der Spielzeit 2014 / 15 an der Bayerischen Staatsoper. Die Küsse von Manon
und Des Grieux aus Giacomo ­Puccinis
Manon Lescaut wird Hans N
­ euenfels neu
­inszenieren. Mit dem ­Kulturjournalisten
Peter von Becker, zugleich ein lang­jähriger
Freund, sprach der Regisseur über das,
„was stört“ und der Ursprung allen
­Dramas ist: die leidenschaftliche Liebe.
12
Premiere Manon Lescaut
PETER VON BECKER Blicke Küsse Bisse – damit ist
diese Spielzeit an der Bayerischen Staatsoper überschrieben. „Küsse, Bisse / Das reimt sich, und wer recht von Herzen liebt, / Kann schon das eine für das andre greifen“,
heißt es in Heinrich von Kleists Penthesilea, als die Amazonenkönigin am Ende den Achill, ihren Geliebten, aus
entfesselter Liebe leibhaftig gefressen hat. Sie haben
­sowohl Kleists Penthesilea in Berlin als auch Othmar
Schoecks Oper nach dem Drama inszeniert und auch einen
Penthesilea-Film gedreht. Jetzt machen Sie sich in München an Puccinis Manon Lescaut, eine Oper nicht voller
mörderischer, aber wiederum tödlicher Leidenschaft.
HANS NEUENFELS Also sprechen wir über die
Leidenschaft.
PvB Über Liebe, Leidenschaft und Kunst. Was für Kleist
die Nähe von Küssen und Bissen war, hat Friedrich
Nietzsche mit Blick auf alle große Kunst als den
Widerstreit zwischen dem rauschhaft Dionysischen und
dem verstandeshellen Apollinischen bezeichnet. Stehen
Sie selber in diesem Spannungsverhältnis, regen Sie solche
Paarungen an?
HN Sie regen mich auf und an, weil zwischen diesen
Extremen, die man im Theater und in der Oper aufwühlen muss, sehr viel passiert. Auch an Differenzierungen. Es stellen sich einem hier dauernd Fragen: Woher kommt das, was sind die Motive dafür,
dass sich Menschen so verhalten, und was ist überhaupt menschenmöglich? Dahinter stecken aufkeimende Geschichten, die man erstmal zum Vorschein
bringen muss.
PvB Das, was bei allen Extremen dazwischen liegt.
HN Das Zwischenreich. Die Behauptung, Küsse und
Bisse reimten sich und seien sich auch sinnlich sehr
nah, besagt für sich noch nichts. Es kommt immer auf
die Interpretation an. Dem Rasen der Penthesilea
liegt ja ein großer Irrtum zugrunde. Eine Verwechslung – man „kann das Eine für das Andre greifen“.
Die Leidenschaft und der Wahn ergeben sich nie auf
eine homogene Weise, sondern durch eine Störung.
So lässt sich dem natürlichen Prozess auch der
Kunst-Prozess entgegensetzen. Schon die leidenschaftliche Liebe ist keineswegs völlig natürlich und
normal, obwohl wir alle von ihr träumen. Und die leidenschaftliche Liebe endet nicht nur mit dem Tod, sie
stirbt meist schon vorher durch Gewöhnung. Durch
Alltäglichkeit. Oft beruht das Ende auf Banalisierung, auch wenn es den davon Betroffenen dramatisch, bestürzend, verrückt erscheint. Genau dagegen
lehnen sich die Komponisten und die Schriftsteller
auf. Daraus schöpfen sie ihre Kunstwerke. Kunst ist
halt nicht normal. Auch die Liebe ist nicht normal.
PvB Unser gemeinsamer Freund, der Dramatiker Tankred
Dorst, hat in einem seiner Stücke gesagt: „Wer lebt, stört.“
Das gilt …
Fotografie Ryan McGinley
HN … genauso für die Liebe. Aber die hinterhältigste Störung des Lebens und der Liebe ist die Gewöhnung. Dieser schleichende Tod.
PvB Einen Liebestod durch Gewöhnung zu zeigen wirkt
aber undramatisch, es dauert auch zu lange. Kunst ist immer Verdichtung unserer Raum-Zeit-Erfahrung, selbst in
einem Tausend-Seiten-Roman. Eine Steigerung des real
Normalen. Eigentlich hat es nur Tschechow geschafft, das
Alltägliche auf der Bühne spannend und sogar poetisch
zu machen.
HN Tschechow hat allerdings keine Opern geschrieben. Ich habe mal bei Mozart gesagt, der Tod ist
normal, die Liebe ist es nicht. Sie erträumt man, erhofft und ersehnt man. Den Tod muss man sich
nicht wünschen, der kommt von allein.
PvB Ist Liebe zwischen Geburt und Tod die stärkste Erfahrung, wenn man ansonsten nicht gerade Länder erobern will oder Weltmeisterschaften gewinnen kann?
HN Die Liebe ist das Besondere. In all ihren Erscheinungsformen ist sie das, worauf der Verliebte
pocht, selbst wenn er sonst nichts besitzt, kein Geld
hat, keine besonderen Begabungen, keinen gesellschaftlichen Erfolg. Aber den begehrten und geliebten anderen will er irgendwie besitzen. Durch die
Liebe zu einem anderen Wesen hofft er auf eine Erweiterung, eine Vermehrung seiner selbst. Hofft auf
eine Überdosis Leben. Es ist ein Traum von Glück,
wenn zwei verliebte Menschen nur über eine Straße
gehen, sich an den Händen halten, nicht voneinander lassen, miteinander scherzen und sich für diesen Moment nicht vorstellen können, dass es außer
ihnen noch andere Menschen gibt. Aber dieses
Glück ist sofort bedroht.
PvB Bedroht durch sein Ende: das Unglück in Gestalt eines anderen oder des eigenen Ungeschicks.
HN Ja, es kann ins Auge gehen. Zu dem begrifflichen Dreiklang der Bayerischen Staatsoper gehören ja vor den Küssen und Bissen auch die „Blicke“.
Es gibt tatsächlich die Liebe auf den ersten Blick,
wie den Tod auf den letzten Blick. Die Liebe b
­ eginnt
schon mit einem Überfall. Sie ist eine Ausgrenzung
des Normalen, darum zugleich diese Beschleunigung und Verdichtung.
PvB Ein existenzieller Ausnahmezustand. Oft blitzartig,
und mit einem Coup de foudre beginnt auch Manon
Lescaut. Der Student Des Grieux sieht Manon, und es ist
geschehen.
HN Der erste Blick entflammt ihn. Mehr noch als
die Frau. Bei ihr ist es anders, im 2. Akt verfällt sie
auch dem Glamour, dem Reiz des Reichtums, den
Des Grieux ihr nicht bieten kann. Sie hat noch einen Nebenausgang. Doch später landet sie wieder
bei ihm, und sie bleiben aneinander hängen. Nur
nimmt Manon gleichsam eine Kurve, bevor es in
15
den Abgrund geht. Sie hat die Neigung zum glamourösen Wohlleben, trotzdem wird sie ihre Liebe
nicht aufgeben oder verraten. Und weil die Liebe
nichts neben sich duldet – sie kennt immer nur sich
selbst – wird es umso komplizierter. Vielleicht muss
Manons Verblendung zwischendrin sein, das gehört
zur Konstruktion des Unglücks. Es ist ein Irrtum,
ein anderer Irrtum als bei Penthesilea und Achill,
aber die Liebe steigert nicht die – wie heißt das? –
Realitätstauglichkeit.
PvB Was wieder eine Ambivalenz beschreibt. Die Liebe
explodiert auf den ersten Blick und macht den Liebhaber
sehend, sonst würde der oder die Geliebte gar nicht erkannt. Doch macht die Liebe, Volksweisheit, zugleich
blind. Das muss sie, weil sie sonst ihre Selbstbesessenheit
nicht hätte. Der Liebende kann nicht Augen noch für alle
anderen haben – das unterscheidet die Liebe vom Sex.
HN Absolut. Sexuelles Begehren kann sich auf viele richten, die leidenschaftliche Liebe wohl nicht.
PvB Also ist die Verblendung liebesnotwendig. Und in der
Verblendung liegt auch der Ursprung der Tragödie. Das antike Theater pointiert die Ambivalenz übrigens noch in der
Figur des blinden Sehers. Auch Homer, der Vater aller
Dichtkunst, war der Überlieferung nach blind. Sind im Theater und in der Oper nicht alle Liebenden blinde Seher?
HN Vermutlich ist die Liebe in einem Kunstwerk
noch vertrackter. Bei Manon oder bei Romeo und
Julia erwacht die Liebe in dem Moment, in dem es
schon fast zu spät ist, weil es um die Liebenden
durch ihre Gefühlsverstrickung und die sie in ganz
andere Richtungen zerrenden gesellschaftlichen
Verhältnisse bereits geschehen ist. Die Tragödie ist
schon geschehen, zwar nicht vollendet, aber in Gang
gesetzt. Es gibt ja das Unausweichliche der Tragödie, und trotz der Vorhersehbarkeit des Endes
bleibt sie in sich spannend. Das ist die Kunst.
PvB Das Liebesglück ist der Beginn der Katastrophe. Im
Drama.
HN Und dazu der verhängnisvolle Blick. Das Versehen. In der Penthesilea gibt es an zwei entscheidenden Stellen ein Versehen. Ein Missverständnis, ein
falscher Anschein setzt auch in Kleists Familie
Schroffenstein die Tragödie in Gang. Die Dichter und
Komponisten empfinden das Leben und, in seiner
Steigerungsform, die Liebe eben nicht als etwas Organisches und Harmonisches, sondern als Gefährdung.
Ein Hornissennest. Ein Bazillus. Ein Wahnsinn.
PvB Der Liebende ist ja der Gefährdetste überhaupt. Je
mehr er liebt, desto größer der mögliche Verlust, je stärker das Glücksgefühl, desto giftiger die Eifersucht, die zu
Mord und Selbstzerstörung führt. Shakespeare und Verdi
zeigen im Othello das berühmteste Beispiel.
HN Außerdem gibt es noch die Hassliebe. Die ex­
tremste Spannung der Gefühle.
16
PvB Immerzu Gewalt und Leidenschaft – dagegen haben
Sie nie ein Lustspiel inszeniert. Sie sind kein Mann der
Komödien und des Happy Ends.
HN Als Zuschauer schon, da liebe ich Komödien.
Und Komödien sind ja nicht nur Happy-End-Geschichten zum ungetrübten Lachen. Ich gehe beispielsweise in jeden Woody-Allen-Film und lache
sehr gern. Ich mag auch Witze. Aber ich inszeniere
sie nicht.
PvB Hitchcock hat mal zu seinen Filmen gesagt, er hasse
es, „wenn die Wahrscheinlichkeit ihr gemeines Haupt
­erhebt“. Wenn das Schauspiel eine Liebesgeschichte erzählt, braucht es, trotz aller Verrücktheit, dennoch eine gewisse Stringenz des Textes und des Plots. In der Oper
lässt sich das von den Libretti und Handlungen nicht immer sagen. Auch nicht bei Manon Lescaut. Es braucht die
Musik und den Gesang, damit der schöne Unsinn der Story zum wahren Wahnsinn wird. Oder aus Pathetik richtiges Pathos wird.
HN Die Musik ist der Schlüssel. Selbst die Libretti
von da Ponte, der eng mit Mozart zusammengearbeitet hat, sind nichts ohne Mozarts Musik. Wenn man
ganz bösartig ist, ließe sich das sogar von Wagner
­sagen, der immerhin sein eigener Librettist war.
PvB Dieses Altdeutsche und die Stabreime mögen uns
zwar schrullig erscheinen, aber Wagners Sprache hat doch
eine poetische Eigenmacht. Er verstand sich ja auch als
Dichter und hat bei seinen Opern immer zuerst das Libretto geschrieben, hat sie in Abgrenzung später Musikdrama genannt.
HN Ja, das ist der große Unterschied. Schon das
­Libretto ist eine Steigerung und Verfremdung. Aber
das Wagner’sche Gesamtkunstwerk entsteht durch
die Musik, die ja das Wort in Klang verwandelt und
die Grenzen des Literarischen sprengt. Wagner als
Wortdichter hätte nie diese universelle Bedeutung
erlangt.
PvB Ihr Kollege Peter Stein hat die Regie einmal als kalkulierten Aberwitz beschrieben. Theater und Oper gibt es
zwar nicht ohne Regie, aber der Regisseur muss ein Kunstwerk, das die Grenzen der Vernunft überschreitet, auf der
Bühne durch lauter geordnete, wiederholbare Abläufe
gleichsam zur Vernunft bringen. Er muss das Chaos zeigen
und gleichzeitig aufheben, das Inkommensurable, wie es
Goethe nennt, das Unmäßige in ein Maß fügen. Sonst könnte ein Theater- oder Opernabend gar nicht stattfinden.
HN Oh ja! (Neuenfels lächelt und beginnt zu lachen.
Er raucht eine Zigarette). Ja, ja.
PvB Dem Regisseur ist nichts zu schwör.
HN Aber der Regisseur ist nur ein Interpret des
Kunstwerks, der Übersetzer, nicht der Urheber des
Übermaßes, das wir in den Stücken finden.
PvB Klar. Trotzdem können Sie, was Sie mit Ihrer eigenen künstlerischen Fantasie und Leidenschaft auch an
„Die Dichter
und Komponisten empfinden
das Leben
und, in seiner
Steigerungsform, die Liebe
eben nicht
als etwas
Organisches
und Harmo­­­­n­isches, sondern
als Gefähr­d­ung. Ein
Hornissennest.
Ein Bazillus.
Ein Wahnsinn.“
Hans Neuenfels
Unmäßigem erträumen, auf der Bühne in Zeit und Raum
schon rein physisch nie ganz verwirklichen.
HN Nein, dann müsste ich selber ein Stück schreiben, eine Prosa, ein Drama, einen Film erfinden,
das habe ich ja auch schon gemacht. Aber als Bühnenregisseur bin ich gegenüber dem Künstler, dem
Autor oder Komponisten, ein …
PvB … ein Handwerker? Obwohl Sie ein durchaus erfinderischer Inszenator sind!?
HN Das Handwerk ist schon wichtig. Aber es ist
auch ein zwielichtiger Begriff, weil das sogenannte
Handwerkliche oft als Ausrede dient für mangelnde
Intensität: für Routine und Bequemlichkeit statt Risikobereitschaft beim Probieren. Natürlich sind die
Vorlagen, die wir finden und auf der Bühne immer
auch ein Stück neu erfinden müssen, keine Tabus.
Sie sind nicht unberührbar. Aber es gilt, was Brecht
mal gesagt hat: „Wir können Shakespeare verändern, wenn wir Shakespeare verändern können.“
Das ist der Maßstab. Allerdings sind die Vorgaben
nicht überall gleich stark. Beispielsweise gibt es bei
Manon Lescaut im 1. Akt ein szenisches Problem
mit der etwas undeutlich und unscharf entworfenen
Volksszene. Da herrscht ein nicht so recht einleuchtendes Gewimmel um Manon und Des Grieux
herum, wenn sie sich erstmals begegnen. Viele
Bürger, Studenten, Unbeteiligte – ein ungeheurer
­
Verbrauch von Zufälligkeit! (Lachen) Das wirkt sehr
­retardierend, die Personen werden etwas umständlich vorgestellt, es besteht zwischenzeitlich die Gefahr des Verläpperns. Eine inszenatorische Schwierigkeit. Ich möchte die Partitur nicht verletzen und
dem Zuschauer dennoch das Gefühl nehmen, oh, es
fängt aber zäh an. Ich kenne Regisseure, die haben
Manon schon dreimal inszeniert und mir gesagt, den
1. Akt habe ich noch nie geschafft!
PvB Volksszenen sind ja fast immer ein Problem, selbst
bei den besten Chören. Es stehen, staksen oder schreiten
viele Damen und Herren oft gravitätisch herum, in historischen oder abstrakten Kostümen. Für den Zuhörer
klingt das gewaltig, für den Zuschauer aber ist es eine
buchstäblich kritische Masse. Sie haben beispielsweise bei
Ihrem gefeierten Bayreuther Lohengrin den Kniff gewählt, das wankelmütige Volk und Heer von Brabant als
ein Rudel Ratten darzustellen. Diese Tiermenschen
­wirken in den raffinierten Kostümen und Masken so erschreckend wie bezaubernd. Ganz genau versteht das zwar
keiner, aber das macht nichts, es ist eine poetische Verfremdung, sie suggeriert eine Art monströsen staatspolitischen Labor-Versuch, in den Lohengrin und Elsa als scheiternde Liebende geraten.
HN Wie Sie das beschreiben, ist es doch mehr als
ein Kniff, mehr als ein Regietrick. Es ging darum,
eine Metapher zu finden, die eine uns ferne, fremde
17
Peter von Becker lebt als Schriftsteller und Kulturautor des Tagesspiegel, dessen Kulturredaktion er bis 2005 leitete, in Berlin. Er
gehört dem Direktorium des Forum du Théâtre Européen an und
lehrt Kulturjournalismus an der Berliner Universität der Künste.
Foto Monika Rittershaus
Situation durch eine nur scheinbar groteske Verschärfung näherrückt. Etwas Ähnliches werde ich
auch bei Manon Lescaut im 1. Akt versuchen. Das
hat dort nichts mit Tieren zu tun. Ich möchte nur
das klebrig Ausmalende, das Dekorativ-Atmosphärische der Szene plastischer, kräftiger, sehniger
kriegen. Damit sich die Handlung dann besser abfedert. Es ist ein Versuch.
PvB Nicht jeder Künstler ist ja ein so leidenschaftlicher
und dabei leidender Grenzgänger wie Hölderlin und Rimbaud. Oder wie Schubert, vielleicht auch Mozart. Genie
und Wahnsinn haben sich zum Beispiel bei Wagner auch
mit seinem tatkräftigen Geschäftssinn verbunden, mit
einem Organisationstalent: vom Bankrotteur hin zum
­
Bayreuther Opernbaumeister und Gesamtkunstwerker.
­Goethe war Minister und Dichter und hat seinen inneren
Zwiespalt im Torquato Tasso objektiviert, indem er stellvertretend den realitätsmächtigen Staatssekretär Antonio
gegen den emotionalen Träumer und Poeten Tasso auftreten lässt. Sind Ihnen die heißblütigen Künstler näher als
die kühlköpfigen?
HN Also, Goethe hat immerhin den Werther geschrieben, ich glaube auch nicht, dass er seine eigenen Dämonen je ganz gebannt hat. Er hat nur mit
seinem Kunstverstand das Unmäßige, das Verzückte und Verrückte des Tasso als Geschichte toll organisiert. Wenn ich an die Komponisten denke, ist
mir Verdi vielleicht am allerliebsten, aber der war,
ähnlich wie Wagner, karrierebewusst und im Leben
überaus erfolgreich. Trotzdem hat er diese leidenschaftlich tiefgründige, abgründig tragische und zugleich schöne Musik komponiert. Und Kleist hat
das Aufeinandertreffen dieser beiden Kometen
Penthesilea und Achill auch irrsinnig gut organi­
siert, es ist ein fabelhaft gebautes und gedichtetes
Stück. Ich glaube, ab einem gewissen künstlerischen Niveau ist die Frage der Ökonomisierung eines Talents nicht mehr zu beantworten. Ich habe,
um nochmals auf den anfangs erwähnten Nietzsche
zu kommen, für die Dionysier und die Apollinischen
gleich viel Sympathie und kann sie nicht trennen.
Heiß und kalt, Verstand und Gefühl gehören zusammen, schon damit es zwischen ihnen krachen kann.
PvB Sie haben selber oft im Rausch gearbeitet, früher.
HN Im Rausch und wie im Rausch. Aber am nächsten Morgen, wenn ich es auf der Bühne dann sehe,
wird es wieder klar, fast objektiv. Ich sehe die Stärken und Schwächen, vor allem die Irrtümer. Das ist
der zweite Blick, auch auf die Leidenschaften.
Seit er 1974 mit Il trovatore in Nürnberg das erste Mal Oper in­­s­zenierte, verbindet den Regisseur Hans Neuenfels eine intensive
­Beziehung zu dieser Gattung. Ausdruck davon waren über die letzten vier Jahrzehnte hinweg immer wieder kontrovers diskutierte
Inszenierungen, wie unter vielen anderen Aida (Frankfurt, 1980),
La forza del destino, Rigoletto und Nabucco (alle Deutsche Oper
Berlin, 1982, 1986 und 2000), Die Entführung aus dem Serail (Stuttgart, 1998), Die Fledermaus (Salzburger Festspiele, 2001), Idomeneo
(Deutsche Oper Berlin, 2003) und Lohengrin (Bayreuther Festspiele,­2010). Erst 2010 gab Hans Neuenfels sein Debüt an der Bayerischen Staatsoper mit der Inszenierung von Giovanni Simone Mayrs
Medea in Corinto. Auch schriftstellerisch setzt sich Neuenfels mit
der Oper und von ihm verehrten Komponisten auseinander, wie mit
Verdi, zu dem er früh, und mit Mozart, zu dem er später fand. So
schrieb er mehrere Opernlibretti, darunter Giuseppe e Silvia (2000),
und veröffentlichte 2009 als Autor Wie viel Musik braucht der
Mensch? Über Oper und Komponisten. Nach seinem Schauspiel- und
Regiestudium am Wiener Max Reinhardt Seminar und einem Pariser Jahr als Assistent von Max Ernst begann Neuenfels ab 1964,
Schauspiel zu inszenieren, vor allem in Wien, Frankfurt und Berlin. Von 1986 bis 1990 war er Intendant am Theater der Freien
Volksbühne in Berlin. Manon Lescaut
Oper in vier Akten
Von Giacomo Puccini
Premiere am Samstag, 15. November 2014,
Nationaltheater
Weitere Termine im Spielplan ab S. 93
Tische mit Charakter.
Schaffen Sie Raum für Persönlichkeit.
Besuchen Sie unsere aktuelle Ausstellung im by USM Showroom München
und entdecken Sie unseren neuen Blog www.personalitiesbyusm.com
18
by USM München, Wittelsbacherplatz 1, 80333 München, Tel. +49 89 2284702-0
Deutschland: USM U. Schärer Söhne GmbH, D-77815 Bühl, Tel. +49 72 23 80 94 0, [email protected]
Showrooms: Berlin, Bern, Düsseldorf, Hamburg, München, New York, Paris, Stuttgart, Tokio, [email protected]
www.usm.com
Macht Liebe nicht
blind, sondern
­sehend? Der
ungarische
Kleist-­Kenner László
F. Földényi blickt
auf ­Momente aus
­zweitausend Jahren
Kultur­geschichte.
Cătălin Petrişor, No Title, 2010, oil and graphite on canvas, 65 x 80 cm
Das Offene zu
schauen
Blicke von Liebenden können nicht nur lebensspendend sein.
Sie können auch verheerend sein. Ungeahnte Tiefen tun sich
unter Liebenden auf, und sie fühlen sich aus der Welt herausgerissen. „Denn unser Geist, der dem ersehnten Ziele / Sich
naht, muss sich darein so tief versenken, / Dass das Gedächtnis
ihm nicht Folge leistet”, schreibt Dante. Das ist die größte
Gabe, aber auch die größte Gefahr der Liebe: Sie reißt den
Liebenden aus seinem alltäglichen Leben. Denn sein Blick zersprengt die gewöhnliche Welt und schafft zugleich eine neue,
ist also zerstörerisch und schöpferisch. Der Blick der Liebe
geht ins Jenseits und stellt alles in eine neue Perspektive. Dieser Blick wird in der abendländischen Kultur oft auch als göttlich oder genialisch bezeichnet.
Ein Blick kann unendlich vielfältig sein. Besorgt oder
freudig, forschend oder zaghaft, durchdringend oder zerstreut,
argwöhnisch oder unschuldig, wissend oder naiv. Und so weiter, bis ins Unendliche. Aber wie auch immer er sein mag, stets
dient der Blick dem Menschen dazu, sich in der Welt zurechtzufinden, die wie eine Glasglocke über ihm zu liegen scheint.
Alles wird darunter eingeschlossen – sogar der unendliche gestirnte Himmel.
Es gibt aber auch andere Blicke, die sich in einer Weise
auf die Welt richten, dass sie alles durchdringen und ihr letztes
Ziel jenseits des sinnlich Wahrnehmbaren finden. Dieser Gedanke taucht zum ersten Mal bei Platon auf, der die Ansicht
vertrat, dass es manchen Sterblichen gegeben sei, die „ewige
Wahrheit“ zu schauen. Zu diesen Auserwählten zählte er die
Philosophen und die Liebenden, die hinwegschauten „über
das, was wir jetzt Sein nennen, das Haupt auf reckend in das
Wirklich-Seiende“. Ein solches Sehen ist an nichts gebunden,
wird von nichts begrenzt. Deshalb wird es oft auch als göttlich
bezeichnet. In seinem Buch Physiognomische Fragmente beschrieb Johann Caspar Lavater den Blick des Genies mit den
Worten: „das Auge des Genies, des gesalbten Gottes, scheint
Ausflüsse zu haben, die auf andre Augen physisch und unmittelbar wirken […] Der Blick des Genies in seiner höchsten Treffenheit, wenn ich so sagen darf, ist – beynahe wunderwirkend
– unwiderstehlich, allanerkannt, göttlich“.
Siehe da, ein Tisch, ein Krug, eine Obstschale. Alltägliche Anblicke, über die unser Blick gewöhnlich hinweggleitet.
Wenn aber ein Künstler wie der berühmte Maler von Stillleben
Giorgio Morandi sie wiedergibt, sehen wir unter dem Eindruck
seines Blickes nicht nur einen Krug und eine Schale, sondern
ein Mysterium, das uns mit dem Rätsel des Universums selbst
konfrontiert. Auch Dichter und Komponisten verfügen über
diesen „inneren Blick“, und natürlich auch die Liebenden und
all jene, die unter dem Eindruck eines blitzartigen Augenblicks
vorübergehend außer sich geraten. Diese Blicke gelten als göttlich; aber indem sie die Welt neu einrichten, müssen sie sie in
ihrer bisherigen Form auch zerstören. So mag, wenn wir
­Caravaggios Porträt Glauben schenken dürfen, auch der Blick
der Medusa gewesen sein, der jeden zu Stein erstarren ließ, der
in ihre Augen schaute. Im Vergleich dazu ist das alltägliche
Sehen, der alltägliche Blick ein beschränktes, getrübtes Sehen.
Bild Cătălin Petrişor
21
Die Hoffnung auf ein unumschränktes Sehen indes war als Idealvorstellung, als utopischer Maßstab in der europäischen Kultur stets präsent. Wir würden vielleicht
nicht so hartnäckig daran festhalten, hätte diese Hoffnung nicht auch eine Realität,
gäbe es nicht auch die Möglichkeit, dass sie zur rechten Zeit Wirklichkeit wird.
­Platon schrieb in seinem berühmten Höhlengleichnis, dass wir dazu verdammt seien,
mit dem Rücken zur Wahrheit zu sitzen und nur die schattenhaften Umrisse ihres
Abbildes an der Höhlenwand wahrnehmen zu können. Dass wir in unserem diesseitigen Leben also nur erahnen können, dass auch jenseits dessen, was wir sehen,
­etwas existiert. Es ist aber möglich, dieses „Jenseitige“ in besonderen Augenblicken
zu schauen. Dem Tier, dem Kleinkind scheint dies noch zu gelingen. Rilke schreibt in
der Achten Duineser Elegie, dass wir „das Offene“, das, was „draußen ist“, nur noch
„aus des Tiers Antlitz“ kennen, „denn schon das frühe Kind wenden wir um“. Lange
vor Rilke hat bereits Hölderlin in seinem Gedicht Brot und Wein dieses Offene beschworen: „Göttliches Feuer auch treibt, bei Tag und bei Nacht, / Aufzubrechen. So
komm! daß wir das Offene schauen“. Im 20. Jahrhundert bezeichnet es Georges
­Bataille als „das, was ist“, und verweist damit auf die unendliche Fremdheit, die ein
Universum kennzeichnet, das seiner menschlichen Perspektive beraubt ist.
Das Offene zu schauen heißt, durch die Welt hindurchzusehen, heißt, die Vorder- und die Kehrseite der Dinge gleichzeitig zu sehen. In der Theologia Germanica,
einem Werk aus dem 13. Jahrhundert, das Johannes Tauler zugeschrieben wird, ist zu
lesen, dass sogar Christi Seele zwei Augen gehabt habe: Mit dem linken habe Christus­die kreatürliche Welt und die Zeit betrachtet, mit dem rechten sich in Gott und
die Ewigkeit vertieft. Ein solches Sehen in zwei Richtungen führt auch zu einer Art
Silberblick. Dieser Silberblick ist aber kein Defekt, der mit Hilfe einer Brille kuriert
werden muss, sondern ein Zustand der Verheißung. Als Silberblick bezeichnete Franz
von Baader am Anfang des 19. Jahrhunderts den Blick, der mit dem äußeren und
einem inneren Auge gleichzeitig sieht. Ein solches Blicken ereignet sich in jenen außergewöhnlichen Momenten, in denen sich zwei Menschen auf den ersten Blick ineinander verlieben.
„In jedem schön’ren Sinn, erhabne Königinn! / ­
Gewillt mein ganzes Leben fürderhin, /
In deiner Blicke Fesseln zu verflattern“,
gesteht Achilles Penthesilea bei Heinrich von Kleist.
22
Der außergewöhnliche, göttliche Blick wird in der Geschichte der europäischen Kultur häufig mit den blitzartigen Augenblicken der leidenschaftlichen Liebe identifiziert. Angefangen bei den Autoren der griechischen Antike über Dante und Shakespeare bis hin zu Kleist oder Thomas Mann. Diese Augenblicke gehören zu jenen
großen, seltenen Zuständen, in denen man in der Welt ist, ohne das Gefühl zu haben,
von ihr geknebelt zu werden. Nicht umsonst bezeichnet man einen solchen Zustand
als ekstatisch. Das griechische Wort verweist auf einen Austritt. Der Liebende tritt
aus sich heraus; wo er aber eintritt, weiß er selbst nicht. Einerseits findet er restlos
zu sich, mehr denn je zuvor in seinem Leben, andererseits verliert er sich aber auch.
Er wird sich fremd und erst recht den anderen, die spüren, dass ein Liebender für die
Welt nicht mehr erreichbar ist. „Ich bin der Welt abhanden gekommen“, schreibt
Friedrich Rückert in seinem gleichnamigen Gedicht, das durch Gustav Mahlers Vertonung berühmt wurde und mit den Sätzen endet: „Ich bin gestorben dem Weltgetümmel, / Und ruh’ in einem stillen Gebiet! / Ich leb’ allein in meinem Himmel, /
In meinem Lieben, in meinem Lied!“ Man denke an Lucia im dritten Akt von Gaetano Donizettis Lucia di Lammermoor, wenn sie in dieser erschütterndsten Wahnsinnsszene der Operngeschichte unwiederbringlich aus der Welt gerät; oder an Elvira
im zweiten Akt von Bellinis Oper I puritani, als sie sich von Arturo verlassen wähnt
und die Welt für sie plötzlich unverlässlich wird. Die unendliche Einsamkeit beider
Frauen wird von ihrer Umgebung als Wahnsinn gedeutet. Hört man ihnen und der
Musik aber aufmerksam zu, offenbart sich, dass es sich weniger um Wahnsinn als
vielmehr um einen besonderen Zustand handelt, an der Grenze zwischen der Welt
und dem Offenen stehend mit einer Wahrnehmung, die sonst vielleicht nur Säuglingen, Sterbenden oder Tieren gelingt. Diesen Wahnsinn bezeichnete Platon als göttliche Manie und schrieb ihn jenen zu, die verliebt sind, die das göttlich Schöne lieben.
Der verliebte Blick ist aufwühlend und überwältigend. Er lässt den Blickenden außer sich geraten, und umso mehr noch den, auf den er sich richtet. Denn der
Liebende möchte sich mit seinem Blick den Geliebten sprichwörtlich einverleiben, zu
eigen machen. Der verliebte Blick vermag die ganze Welt nur durch seinen Filter zu
sehen; er begehrt den anderen, aber er wünscht auch, dass das ganze Universum ihm
gehörte. Nicht zufällig birgt ein solcher Blick auch gewaltige Gefahren: Er kann sich
auf den anderen genauso zerstörerisch auswirken wie auf das eigene Ich.
Die beiden Extreme: Penthesilea und Aktaion. Kleists Penthesilea genügt ein
einziger Blick, und sie gerät in Raserei. Am Anfang ist ihr Antlitz „von Ausdruck
leer“. Als sie jedoch Achilles erblickt, entflammt es sofort, „und einen finstern Blick
wirft sie auf ihn“. Wie Handschellen fesselt dieser finstere Blick sie fortan aneinander. „In jedem schön’ren Sinn, erhabne Königinn! / Gewillt mein ganzes Leben fürderhin, / In deiner Blicke Fesseln zu verflattern“, gesteht ihr Achilles später, ohne zu
ahnen, dass sie am Ende beide Opfer dieses Blickes werden. Unter dem Eindruck des
„finst’ren Blickes“ verliebt sich Penthesilea nicht nur in Achilles, sondern bricht auch
mit ihrer eigenen Sippe, ihrer Tradition, mit ihrer Vergangenheit und Erziehung. Bis
sie schließlich im Banne der Sehnsucht nach Ganzheit den, den sie liebt, buchstäblich
verzehrt. „So war es ein Versehen. Küsse, Bisse, / Das reimt sich, und wer recht von
Herzen liebt, / Kann schon das eine für das andre greifen“, sagt sie und wird von den
anderen fortan nicht mehr bei ihrem Namen, sondern nur noch „die Ungeheuerste“
genannt. Penthesilea ist dorthin ausgetreten (ἔκστασις, ekstasis), wozu diejenigen,
die nicht über ihren Blick verfügen, keinen Zugang haben: ins Offene, ins Ungeheure,
in „das, was ist“.
Im Falle von Aktaion vernichtet der Blick den Blickenden selbst. Seine Geschichte wird von Ovid in den Metamorphosen erzählt. Aktaion verirrt sich bei einer
Jagd im Wald in die Grotte der Göttin Diana und erblickt sie nackt badend im Kreise ihrer Nymphen. Aus Rache verwandelt ihn die jungfräuliche Göttin in einen
Hirsch, der schließlich von seinen eigenen Hunden zerfleischt wird. Aus dem Jäger
wird ein erlegtes Wild, aus dem Verfolger ein Verfolgter. Alles wegen eines einzigen
Essay László F. Földényi
23
Blickes. Aktaion bricht nicht in den Wald auf, um ihr nachzuspähen, im Gegenteil:
dass er sie erblickt, ist ein Werk des Zufalls. Und doch nimmt damit eine Kette
schrecklicher Ereignisse ihren Lauf. Vermutlich hatte der Anblick der nackten Frau
Aktaion seelisch schon in ein wildes Tier verwandelt, noch bevor der Zauber der
Göttin wirken konnte. Er wird seines Menschseins entkleidet. Was sich in ihm abspielt, wenn er die Göttin erblickt, schildert Ovid nicht. Aber die bloße Tatsache des
Anblickens genügt, dass er außer sich gerät, einem ekstatischen Zustand anheimfällt,
der letztlich zu seinem Untergang führen muss.
Wie mag es wohl sein, einen Gott zu erblicken? Es ist wohl kein Zufall, dass
der verliebte Blick eben damit verglichen wird. Er ist überwältigend und erhebend,
schöpferisch und zerstörerisch zugleich. „Mich treibt ein Ja und Nein, ein Süß und
Herbe – / Daran sind, Herrin, deine Augen Schuld“, schreibt Michelangelo in seinem
Sonett Fühlt meine Seele das ersehnte Licht. Und Hugo Wolfs Vertonung unterstreicht dramatisch, dass ein Verliebter erst unter dem Eindruck des Blickes des
Geliebten das Gefühl bekommt, zu existieren, und ihm sein vorheriges Leben als
bloßes Dahinvegetieren erscheint. Das Auge und das Sehen besitzen göttliche Schöpferkraft. „Nächtiges Dunkel / deckte mein Aug’, / ihres Blickes Strahl / streifte mich
da: / Wärme gewann ich und Tag“, singt Siegmund in Richard Wagners Die Walküre,
und erst durch den Blick, den Sieglinde auf ihn richtet, beginnt er zu leben und zu
sein. Das bezeugt auch Sieglinde selbst: „Als mein Auge dich sah, / warst du mein
Eigen“. Später warnt Brünhilde Siegmund – in unausgesprochener Anspielung auf
Aktaions Geschichte –, dass es verboten sei, sie als Göttin zu erblicken („Nur Todgeweihten / taugt mein Anblick; / wer mich erschaut / der scheidet vom Lebenslicht“).
Und doch wird auch sie ihre Liebeserfüllung erst finden, als ein Mann, Siegfried, sie
erblickt und sich in sie verliebt: „Nur dein Blick durfte mich schau’n, / erwachen
durft’ ich nur dir!“, spricht sie in Liebesekstase. Der verliebte Blick ist bei Wagner
zum dramaturgischen Gestaltungsmittel geworden – und das nicht erst im Parsifal,
zu dessen Vorspiel Nietzsche schreibt: „Ob je ein Maler einen so schwermütigen Blick
der Liebe gemalt hat, als Wagner mit den letzten Accenten des Vorspiels?“
Siegmund und Sieglinde, Brünhilde und Siegfried, Penthesilea und Achilles,
Aktaion und Diana, Lucia und Edgardo, Elvira und Arturo und all die anderen,
Werther und Charlotte, Manon und Des Grieux, Violetta und Alfredo: Die Situationen unterscheiden sich, aber die Blicke sind ähnlich. Lebensspendend und zerstörerisch zugleich, gerichtet auf das Jenseits der sichtbaren Welt. Und sie bewegen
sich alle zwischen den Extremen, zwischen Kuss und Biss. Während die Liebenden
sich nacheinander sehnen, spüren sie instinktiv, dass sie einer größeren, übermächtigen Kraft ausgeliefert sind. Sie sehen einander an, ihre Blicke sind aufeinander
gerichtet, und doch entdecken sie im Gesicht des anderen das Offene, das sie, wenn
es sie einmal berührt hat, nie mehr freigeben wird. Die Psychologie der leidenschaftlichen Liebe ist untrennbar verbunden mit der Metaphysik des Blickes und
des Sehens. Und deren letzte Stoßrichtung ist stets das, was Jakob Böhme so formuliert hat: Nicht das bloße Sehen, erst der Blick der Gnade „gehet durch Holz
und Steine, durch Mark und Beine, und kann ihn nichts halten, denn er zersprenget […] überall die Finsterniß.“
WARUM SICH MIT LUFT UND
LIEBE BEGNÜGEN, WENN MAN
LICHT UND LAGE HABEN KANN.
MERZSTRASSE 3–5, MÜNCHEN Im Herzen Alt-Bogenhausens entstehen
15 Zwei- und Drei-Zimmer-Wohnungen von ca. 65 m bis ca. 165 m. Die außergewöhnlich ruhige Lage bildet den idealen Rahmen für den Aufenthalt auf
den großzügigen Terrassen und Balkonen mit der charakteristischen Brüstung
oder in dem von Landschaftsarchitekten gestalteten Garten. Wohnkultur in
Reinform versprechen die weiten, hellen Räume mit bodentiefen Fensterfronten
und hochwertiger Ausstattung. Auch die Bäder mit ihrem Materialkonzept sind
eine unmittelbare Aufforderung zum Wohlfühlen und unterstreichen das Grundkonzept, das sich in drei Wörtern zusammenfassen lässt: Noch mehr Licht.
Aus dem Ungarischen von Akos Doma
Mehr über den Autor und den Bildkünstler auf S. 8
24
EnEv 2014
EA-B · HZG BHKW
Bj. (EA) 2014
64 kWh/(m²a)
Beratung und provisionsfreier Verkauf: 089 415595-15
www.bauwerk.de
Bauwerk Capital GmbH & Co. KG, Prinzregentenstraße 22, 80538 München
Die männlichen Figuren in Leoš Janáčeks Die Sache Makropulos werfen auf die Hauptfigur Emilia
Marty die unterschiedlichsten Blicke – bewundernde, zerstörerische, gierige, v
­ erachtende,
­distanzierte. ­Die Sänger dieser Partien kehren hier die Blickrichtung um und stellen sich der ­
Kamera von Robert Fischer sowie der Frage:
Männergalerie
„Zuletzt ins Herz getroffen haben mich die aufmerksamen Blicke meiner beiden, elfund fünfzehnjährigen, Töchter beim Abschied gestern. Augen von heranwachsenden
Persönlichkeiten –­ein warmer, sehnsüchtiger Blick voll kindlicher Zuneigung und
Vertrauen; ein wenig Traurigkeit – aber auch ein neues, selbstbewusstes Leuchten.
­Eine Mischung aus eigenständiger Erkenntnis und Einsicht in die Notwendigkeiten
des Lebens. Das erwachende Bewusstsein spiegelte sich in jenem Augenblick
berückender Schönheit.“ – Peter Lobert, Partie des Theatermaschinisten
Welcher Blick
hat Sie zuletzt
getroffen?
Premiere Die Sache Makropulos
27
„Letzten Sommer waren meine Freundin und ich in Padua. Eine wunderschöne Stadt!
Eines Sonntagnachts, es war schon ein Uhr, wollten wir zu Fuß zurück zu unserer
Unterkunft gehen. Dabei haben wir uns dummerweise verirrt. Auf einer schlecht
beleuchteten Straße tauchten auf einmal drei zwielichtig wirkende junge Männer auf
Fahrrädern auf. Sie waren noch zirka hundert Meter von uns entfernt aber sie hatten
uns schon gesehen. Plötzlich fuhren zwei von ihnen direkt auf uns zu. Immer
langsamer wurden sie, je näher sie kamen. Ich wusste: Jetzt haben wir gleich ein
Problem! Jetzt muss ich mich gleich schlagen. Ich versuchte, kampfbereit zu blicken.
Einer sah mir genau in die Augen. Sein Blick war schwer zu deuten. Er fixierte uns,
als er sich näherte. Es war der Moment, in dem er entschied, ob er uns überfallen
würde. Aber sie fuhren an uns vorbei. Zum Glück ist nichts passiert.“
– Dean Power, Partie des Janek
„Es gibt einen Blickwechsel, der mir in meinem Beruf regelmäßig begegnet: Wenn
wir Sänger uns nach der Vorstellung für den Applaus aufstellen, der Vorhang sich
öffnet und das Licht im Zuschauerraum angeht, blicken wir plötzlich in die 2100
Augenpaare, die uns den ganzen Abend lang aus dem Dunkel begleitet haben. Aus
dem Augenwinkel bemerke ich dann die Überwältigung, die Neulinge auf der Bühne,
junge Kollegen also, im Moment dieses Anblicks ergreift. Das berührt mich immer
wieder aufs Neue.“ – Kevin Conners, Partie des Vítek
„Mir ist ein Erlebnis in starker Erinnerung, aus der Zeit, als ich 21 Jahre alt war. Mein
jüngerer Bruder und ich hatten gerade ein Tennismatch beendet. Als wir beim Haus
unserer Eltern ankamen, empfing uns meine Mutter schon an der Tür. In dem Moment,
als ich sie sah, wusste ich sofort, dass mein Leben von jetzt an nicht mehr das
gleiche sein würde. Sie sagte: ‚Bitte setz dich, John... Martins Mutter hat gerade
angerufen. Er ist heute Abend bei einem Autounfall ums Leben gekommen ... Es tut
mir so leid.‘ Sie wusste, wie wichtig Martin mir war. Er war mein bester Freund – eher
wie ein Bruder. Ich habe noch immer deutlich den ganz klaren Blick meiner Mutter
vor Augen, diesen Blick hinter den Tränen, so voller Schmerz, Mitgefühl und Liebe.“
– John Lundgren, Partie des Jaroslav Prus
„Ich besuchte einen alten Freund und Kollegen im Pflegeheim, er leidet an
Alzheimer. Ich hatte ihn lange nicht gesehen und hatte Zweifel, ob er mich erkennen
würde. Er sah mich eine Weile an, dann blitzten seine Augen und er sagte: ‚Goldi, du
warst mein bester Freund.‘ Danach versanken sein Blick und seine Gedanken wieder.
Ich war sehr erschüttert.“ – Reiner Goldberg, Partie des Hauk-Schendorf
„Am meisten treffen mich heimliche Blicke.“
– Pavel Černoch, Partie des Albert Gregor
Premiere am Sonntag, 19. Oktober 2014,
Nationaltheater
STAATSOPER.TV: Live-Stream der Vorstellung auf
www.staatsoper.de/tv am Samstag, 1. N
­ ovember 2014
Weitere Termine im Spielplan ab S. 93
Fotografie Robert Fischer
„Mit den Jahren bringen so viele Blicke mehr und mehr Überraschungen …“
– Gustáv Beláček, Partie des Dr. Kolenatý
Die Sache Makropulos
Oper in drei Akten
Von Leoš Janáček
Roségold, bildschön, formvollendet:
die neue Lux. Einzelstücke, mit Liebe gefertigt.
nomos-glashuette.com, nomos-store.com
32
„Man spürt diese Lust,
sich streiten zu wollen“
MAX JOSEPH Herr Yilmaz, wenn die Leute an der
Tür vor Ihnen stehen – wohin schauen Sie zuerst?
TIM YILMAZ Ins Gesicht, in die Augen. Wenn ich jemandem ein bisschen länger in die Augen schaue, und er
reagiert empfindlich oder aggressiv, dann lasse ich ihn natürlich nicht rein.
MJ Dann geht es gar nicht darum, ob man die richtigen
Turnschuhe trägt?
TY Ich achte nicht so sehr auf Coolness oder die richtigen
Klamotten. Das läuft wenn dann eher unterbewusst ab.
Es geht mehr um Sympathien. Und darum, ob man der
Person anmerkt, dass sie Lust hat zu feiern und diese gute
Laune weiterzutransportieren.
MJ Und wenn ich eher schüchtern bin und es vor dem
Türsteher nicht schaffe, gute Laune auszustrahlen?
TY Das heißt ja nicht, dass jemand vor mir tanzen und
herumspringen muss. Schüchtern ist sympathisch. Wenn
jemand wirklich schüchtern ist, erkenne ich das auch.
Die schauen auf den Boden oder blinzeln zur Seite weg.
Schüchterne Leute liebe ich. Die trinken ein Bier, dann
tauen sie auf und feiern.
MJ Und die mit der Aggression in den Augen, gucken
die auch weg?
TY Die erwidern meinen Blick. Man spürt diese Lust,
sich streiten zu wollen. Aber nicht nur die Aggressiven
sind schwierig, sondern auch die Miesepetrigen. Es kommen jeden Abend einige Leute, die einfach niedergeschlagen sind – wovon auch immer. Man könnte sich natürlich
denken, okay, die lassen wir feiern gehen, dann kommen
sie besser drauf. Aber meistens kommen die nicht besser
drauf, sondern trinken und kriegen dann richtig schlechte
Laune. Ich frage dann einfach: Was ist los? Schlecht drauf?
Manche gehen dann von selbst.
MJ Aber könnte man nicht einfach alle reinlassen und
gucken was passiert?
TY Nein, also … wirklich nicht. Auch generell: Gerade
in München gibt es so viele Bierfeste und Junggesellenabschiede. Die kommen dann völlig betrunken rein. Ich
kenne niemanden, der mit denen feiern möchte.
MJ Und wie entscheiden Sie, ob einzelne Personen reinkommen oder nicht?
TY Ich sorge dafür, dass ich mich nicht sofort entscheiden muss. An der Tür darf es nicht zu schnell gehen. Also
warten die Leute erstmal. Das hängt auch davon ab, ob
34
Das Interview führte die Münchner Journalistin Nadia Pantel.
Auch in einem Nachtclub stehen vor Küssen und Bissen die Blicke: zuallererst in die Augen eines ­Türstehers.
Tim Yilmaz, nebenberuflicher Türsteher in München, erzählt davon.
vielleicht die Garderobe zu voll ist oder die Kassenfrau
kurz Pause macht. Und während die Leute warten müssen, ergibt sich das Aussortieren fast schon von selbst.
Viele reagieren extrem empfindlich, wenn sie kurz warten
müssen, und schnauzen einen direkt an. Das ist dann natürlich schnell geklärt.
MJ Wenn Sie jemandem sagen, dass er gehen muss,
schauen Sie ihn dann direkt an?
TY Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es besser ist,
jemandem direkt in die Augen zu schauen, wenn man ihm
sagt, tut mir leid, das ist nichts für dich. Der Laden und
du, ihr passt nicht zusammen. Dann akzeptieren sie das
schneller. Wenn man wegguckt, vermittelt man selbst eine
Unsicherheit, und außerdem fühlen sich viele natürlich
schlecht behandelt. Und ich will nicht, dass irgendjemand
sich gedemütigt fühlt.
MJ Schicken Sie auch Frauen weg?
TY Ja, klar. Frauen kommen nicht immer rein. Stellen Sie
sich mal vor, es ist zwölf Uhr, Sie sind mit ein paar Freunden im Club und es geht gerade erst los. Und da kommen
dann sechs, sieben After-Work-Ladies rein, die schon ordentlich einen sitzen haben. Die total vollgetankt sind und
da unten einen absteppen wollen. Das passt nicht. Aber
man kann das gar nicht nur auf das Aussehen oder auf das
Verhalten reduzieren. Da spielt alles Mögliche eine Rolle,
manchmal vielleicht auch ein schlechtes Parfüm. Ich habe
zum Beispiel auch ein Problem mit Frauen, die zu sehr
Frau sein wollen, die mich mit Augenblinzeln umschmeicheln wollen. Das passiert ständig.
MJ Und die kommen dann nicht rein?
TY Das kommt drauf an. Es gibt ja verschiedene Arten
von Charmant-Sein. Es gibt aber generell einen Frauentyp,
der mit sehr viel Wimperntusche und sehr viel Lippenstift
und sehr großer Mähne versucht, Eindruck zu schinden.
MJ Wie ist das, wenn man die wegschickt? Werden die
auch aggressiv?
TY Ja, natürlich, da sind auch schon Handtaschen geflogen.
Tim Yilmaz ist hauptberuflich Wissenschaftler.
Er hütet die Türen der Münchner Clubs
­Charlie und Kong und bildet inzwischen auch
Türsteher aus.
Kopfpornokino
Wir beobachten
andere, unverhohlen oder heimlich.
Wir stalken in
sozialen Netzwerken. Und wie
steht es um die
Lust am Zuschauen beim Sex? Ein
Streifzug am
Rande des Voyeurismus, aufgenommen von Jörg
Böckem.
Eine nicht mehr ganz junge Frau, die ihren zweifelhaften Ruhm
– und den Beinamen „Teppichluder“ – der Tatsache verdankt,
dass sie vor Jahren öffentlichkeitswirksam einem in die Jahre
gekommenen Pop-Produzenten den Beischlaf gewährte, ein
ehemaliger Richter, dessen Kokain-Eskapaden die Boulevardpresse beschäftigten, eine junge Frau, die ihr Geld mit Sex vor
der Kamera verdient hat, ein selbstbesoffener Schlagerbarde
und andere merkwürdige Menschen, die in Deutschland seltsamerweise als Prominente gelten, ziehen in eine gemeinsame
Wohnung, dokumentiert von Dutzenden Kameras. Und mehr als
drei Millionen Menschen sitzen vor dem Fernseher. Die Webseite Opentopia sammelt ungeschützte Livestreams von Sicherheitskameras oder Webcams in Privathaushalten, Büros, Heimen und öffentlichen Gebäuden auf der ganzen Welt und macht
sie jedem User zugänglich. Abertausende nehmen Einblick in
das Wohnzimmer einer Familie in Nordfrankreich, in ein Kinderzimmer in Südkorea, eine Metzgerei in der Schweiz oder ein
Büro in Russland und beobachten völlig fremde Menschen bei
ihren Alltagsbeschäftigungen. Der Sender RTL setzt einige Mediengestalten, die für das Berühmtsein berühmt sind, im australischen Dschungel aus, filmt sie Tag und Nacht, führt sie wie
Zirkustiere am Nasenring durch die Manege und fährt damit
Quotenrekorde ein. Intellektuelle wie Roger Willemsen preisen
die Sendung öffentlich als faszinierende Sozialstudie und mediale Menschwerdung. Im Internet posten Paare Filme, die sie
beim Sex zeigen, zur Freude von Millionen. Auf Fetisch-Partys
und in Swingerclubs treffen sich Menschen, die es genießen,
wenn andere ihnen zusehen, zum halböffentlichen Sex.
Die Welt, so scheint es, ist nicht mehr als ein gewaltiges
Panoptikum, jeder Winkel gnadenlos und gierig ausgeleuchtet;
von uns, den allgegenwärtigen Voyeuren – zuschauend, beobachtend, immer und überall, schier unersättlich; zum Lustgewinn, Zeitvertreib oder genussvollen Ekeln. Je plakativer, schäbiger, nackter, peinlicher oder privater, desto besser. Der
­moderne Mensch – verführt und verdorben von Internet, Privatfernsehen und Sex-Industrie – frönt niederen Trieben und zeigt
seine hässliche voyeuristische Fratze. Oder?
In Wahrheit ist nichts davon neu oder außergewöhnlich.
Die Lust am Zuschauen hat uns Menschen zu allen Zeiten umgetrieben: Gladiatorenkämpfe, Hexenverbrennungen, öffentliche
Hinrichtungen, die Kreuzigung Jesu, „Freakshows“, die Völkerschauen des 19. Jahrhunderts, Johann Wolfgang Goethe, der
mithilfe eines Teleskops die Damenwelt im Theater beobachtete,
der Blick über die Hecke des Nachbarn; Schaulust ist schon lange ein Massenphänomen. Der Mensch ist ein Homo Videns, wie
der italienische Politikwissenschaftler Giovanni Sartori in seinem gleichnamigen Buch schreibt. „Der beliebteste Ort im Himmel ist das Schlüsselloch zur Hölle“, wusste schon Voltaire. Der
österreichische Philosoph Konrad Paul Liessmann schrieb 1997
in seinem Essay Kleines Plädoyer für den Voyeurismus: „Watching
ist in. Beobachtung ist zur neuen Tugend des orientierungslosen Menschen geworden. Weil er nicht mehr weiß, was er soll,
ist er gezwungen, zu beobachten, was sich tut.“ Und der französische Philosoph Paul Virilio ist ähnlicher Auffassung: „In der
Fotografie Kohei Yoshiyuki
Tat macht es die Globalisierung erforderlich, dass wir uns gegenseitig ununterbrochen beobachten und vergleichen.“
Das neugierige Zusehen erfüllt also ein zutiefst menschliches Bedürfnis. „Wir sind Augenwesen. Das Auge ist unser
prominentestes Sinnesorgan, der Visus steht im Vordergrund,
alle anderen Wahrnehmungskanäle sind dagegen eher verkümmert“, sagt der Sexualwissenschaftler und Klinische Sexualpsychologe Dr. Christoph Joseph Ahlers aus Berlin. „Für uns als
sozial organisierte Lebewesen hat Sehen und G
­ esehen-Werden
immer auch referenzielle und sozial regulative Funktion –­wie
sind die anderen, was tun sie und wie tun sie es, wie wirken wir
wiederum auf andere, welche Reaktion lösen wir bei ihnen aus.“
Blicke bieten soziale Orientierung, sie helfen uns, unsere Identität zu definieren, uns in sozialen Bezügen einzuordnen und
zurechtzufinden. Wir suchen Bestätigung, identifizieren uns mit
den Beobachteten, vergleichen uns, zur Selbstentlastung, aber
auch gerne abwärts. Durch das Beobachten von etwas Neuem,
bisher Unbekanntem, befriedigen wir Neugierde. Mit sexuellem
Lustgewinn oder gar Voyeurismus im klinischen Sinne, so
­Ahlers, hat all das zunächst einmal nichts zu tun.
„Es begann eher zufällig“, sagt Frank B. „Eigentlich gab
es nichts zu sehen, das ich nicht auch an jedem Strand oder in
jedem Freibad hätte sehen können, vom Internet ganz zu
schweigen.“ Es war an einem warmen Frühsommertag, der Mittdreißiger stand am Fenster seiner Wohnung und telefonierte.
Wenige Monate zuvor war er eingezogen, fünfter Stock Altbau,
die großen Fenster geben den Blick frei auf die Häuser gegenüber, getrennt durch eine vierspurige Straße. Auf dutzende
Wohnungen und noch mehr Fenster. Er ließ seinen Blick über
die Fassaden schweifen. Viele, sehr viele Fenster ohne Vorhänge. In einer Wohnung sah er eine junge Frau. „Sie war gut zu erkennen, die Sonne schien durch ihr Fenster und leuchtete sie
regelrecht aus“, sagt Frank B. „Mein Blick war wie gefesselt.“
Die junge Frau hing Wäsche auf, augenscheinlich hörte sie dazu
Musik, mit tänzelnden Bewegungen, erinnert er sich, bewegte
sie sich durch den Raum. Sie war spärlich bekleidet, ein Stringtanga, der ihre Pobacken betonte, ein dünnes Trägerhemd, das
den Blick auf ihre Brüste freigab, wenn sie sich vorbeugte. Immer wieder reckte sie ihrem Beobachter auch ihren Hintern entgegen, manchmal wackelte sie damit zur Musik. „Ich war wie
elektrisiert“, sagt Frank B. Nachdem er das Telefonat beendet
hatte, blieb er am Fenster stehen. Auf seinem Schreibtisch wartete Arbeit, aber seinen Beobachtungsposten zu verlassen kam
nicht in Frage. Im Gegenteil, als die junge Frau ins Nachbarzimmer an ihren Kleiderschrank ging und damit aus seinem Blickfeld verschwand, wechselte auch er den Standort. Das Fenster
im Wohnzimmer bot einen besseren Blick. „Sie hat sich vor dem
Fenster umgezogen, es war unglaublich aufregend, sie zu beobachten.“
In den Monaten, die folgten, stand Frank B. immer mal
wieder an seinen Fenstern, wenn er Zerstreuung oder Ablenkung suchte; tagsüber, wenn die Sonne in ihr Zimmer schien,
oder abends in der Dunkelheit seines Zimmers, wenn ihre Wohnung beleuchtet war. Sie saß am Schreibtisch, lag im Bett und
37
„Wenn ich in den
Gesichtern einen
Ausdruck der
Erregung erkenne,
erinnert mich das
an meine eigene.
Das ist schön“,
erzählt Kathrin K.
las, räumte in Unterwäsche ihre Wohnung auf, zog sich um. Einmal beobachtete er sie sogar beim Sex, schemenhaft nur, bei
gedämpftem Licht. Aufregend, sagt er, sei es trotzdem gewesen.
„Keine Ahnung, ob sie wusste, dass ich sie beobachte“,
sagt er. „Manchmal war mir das Ganze schon irgendwie peinlich,
aber der Reiz war stärker. Außerdem habe ich mir dann gedacht,
wenn es ihr unangenehm ist, beobachtet zu werden, kann sie ja
ihre Vorhänge schließen.“
Wenn er ihr auf der Straße begegnete, hoffte er inständig, dass sie in ihm nicht den Mann am Fenster gegenüber erkannte. Frank B., der eigentlich anders heißt, möchte seinen
wahren Namen nicht in diesem Artikel lesen. Auch seine Freundin weiß nichts vom heimlichen Vergnügen ihres Partners. „Das
wäre mir sehr unangenehm“, sagt er. „Ich möchte ja nicht für
einen abartigen Freak gehalten werden.“ Auch wenn das Beobachten seiner Nachbarin durchaus auch erregend gewesen sei
und seine Fantasie befeuert habe, sagt er, wäre er nie auf die
Idee gekommen, sich ihr tatsächlich zu nähern. Der Blick und
sein Kopfpornokino hätten ihm vollauf genügt. Anschauen führt
eben nicht unbedingt zur Berührung des anderen.
Auch wenn Frank B.s Freundin wohl tatsächlich wenig
begeistert wäre und sein Verhalten im sozialen Kontext als unangemessen oder unerwünscht angesehen wird – abartig ist es
nicht, im Gegenteil. „Menschen, Situationen oder Handlungen
zu beobachten, die wir als sexuell ansprechend empfinden, bindet unsere Aufmerksamkeit und wird von den meisten Menschen, insbesondere von Männern, als lustvoll empfunden“, sagt
Ahlers. „Durch das Beobachten, manchmal auch durch die Vorstellung, dabei zu sein, entsteht sexuelle Erregung. Sexuelle
Handlungen nicht nur selbst auszuführen, sondern auch beobachten zu wollen, ist ein normales menschliches Interesse.“ Dazu
kommt der Reiz des Verbotenen, angefeuert von einer früheren,
kirchlichen Sozialisation, die den Blick auf vermeintlich Unkeusches verbietet und für viele den Reiz an eben solchen Beobachtungen noch erhöht. „Wenn in der Nachbarwohnung Menschen Sex haben und man ungehindert zusehen kann, sehen die
meisten Menschen zu. Wenn das Geschehen im öffentlichen
Raum zu beobachten ist, oder bei nicht verhangenem, gut einsehbarem Fenster in der Nachbarwohnung, dann ist das Beobachten eines fremden Menschen, etwa beim Umziehen oder
beim Sex, sowohl ethisch als auch klinisch nicht bemerkenswert;
es ist einfach menschlich“, so der Sexualwissenschaftler.
Kathrin K. hat ihr Kopfkino lange für abartig oder zumindest fragwürdig gehalten. „Bevor ich meinen jetzigen Partner
kennengelernt habe, hatte ich immer Freunde, die meine sexuellen Vorlieben als pervers bezeichnet haben“, sagt die schwarz
gekleidete Frau in den Dreißigern.
Eine Wohnung in Hamburg, das großformatige, gerahmte
Foto an der Wand zeigt einen großgewachsenen, breitschultrigen Mann, er ist schwarz gekleidet, sein Blick streng. In der
Hand hält er eine Hundeleine. Die Leine endet am Hals einer
Frau in einem schwarzen Korsett, die zu seinen Füßen sitzt. Kathrin und ihr Freund. Vor einigen Jahren hat Kathrin ihre Vorliebe für S/M-Sex entdeckt. Sie genießt es, mit verbundenen
Text Jörg Böckem
­ ugen an der Hundeleine durch einen Raum geführt, an ein
A
Andreaskreuz gefesselt und ausgepeitscht zu werden oder über
einem Bock fixiert harte Schläge mit einer Reitgerte auf den
nackten Hintern zu bekommen, auch und gerade vor Zuschauern. „Spielen“ nennt sie diese Sexualpraktiken. Genauso wie sie
es mag, wenn ihr andere beim Spielen zusehen, genießt sie es,
selbst andere dabei zu beobachten.
„Zu Anfang war es vor allem aufregend, die unterschiedlichen Spielarten zu sehen und mich davon inspirieren zu lassen, heute schaue ich vor allem in die Gesichter“, sagt Kathrin.
„Sicher, es ist erregend, schöne nackte Menschen dabei zu beobachten, wie sie den Arsch voll bekommen, aber mittlerweile
interessieren mich vor allem die Emotionen, die Erregung der
anderen. Manche Männer können so toll leiden!“ Genauso aufregend sei es, in die Gesichter der Umstehenden zu sehen, also
die Beobachter zu beobachten. „Wenn ich in den Gesichtern einen Ausdruck der Erregung erkenne, erinnert mich das an meine eigene. Das ist schön.“
Paul, einer ihrer Freunde, ergänzt: „Wenn andere ästhetisch ansprechend spielen, ist das erregend. Ich nutze die Bilder
als Inspiration für meinen nächsten Sex oder die Selbstbefriedigung. Manchmal stelle ich mir auch vor, beteiligt zu sein.“ Den
Schritt vom Anschauen zum Anfassen würde er in einer solchen
Situation allerdings nie machen. „Das gehört da für mich nicht
hin.“ Der Blick genügt sich selbst.
„Wir Menschen sind eben Rudelwesen“, sagt Kathrin.
„Wenn einer gähnt, gähnen die anderen auch. Beim Sex ist es
nicht anders. Wenn ich sehe, wie hübsche Menschen erregende
Dinge tun, macht mich das an.“
Spezielle S/M-Partys, zum Beispiel im Hamburger Club
„Catonium“, bieten ihr und ihren Freunden die Gelegenheit dazu.
Wer hierher kommt, kommt aus den gleichen Gründen: seine sexuellen Vorlieben unter Gleichgesinnten auszuleben, dabei zuzusehen und gesehen zu werden, an einem gleichermaßen öffentlichen wie geschützten und sicheren Ort. Hier gelten klare
Regeln. Zuschauer sind in den öffentlichen Räumen ausdrücklich gestattet oder auch erwünscht, Anfassen oder gar Mitmachen ist nur auf ausdrückliche Einladung der Spielenden erlaubt.
„Meine erste S/M-Party war extrem aufregend“, sagt Kathrin. „Ich wusste vorher nicht, dass es so viele Menschen gibt,
die das Gleiche mögen wie ich. Diesen Menschen zuzusehen
war großartig. Noch aufregender war es anfangs, dass die anderen Gäste uns mit Begeisterung beim Spielen zusahen und sogar
lautlos applaudierten. Vorher hatte ich mich als Freak gefühlt und
für meine sexuellen Vorlieben geschämt, jetzt bekam ich dafür
Anerkennung. Hier durfte ich sein, wie ich bin.“
Auch Kathrin hat einen anderen Namen und um Anonymisierung gebeten. In ihrem engsten privaten Umfeld, sagt sie, gehe
sie sehr offen mit ihren sexuellen Vorlieben um, in der Öffentlichkeit ist sie zurückhaltender. „Kollegen und Nachbarn müssen diese Seite meines Lebens nicht unbedingt kennen.“ Ein Foto wie
das an ihrer Wand würde sie nie in sozialen Netzwerken posten.
Das sei zu privat, sagt sie. Im Alltag und in früheren Beziehungen
habe sie immer wieder Vorurteile und Ablehnung erlebt.
39
Auch wenn Kathrin sich selbst als Voyeurin bezeichnet und
Frank sich manchmal als Voyeur fühlt, aus Sicht der Sexualwissenschaft sind sie es nicht. Voyeurismus im klinischen Sinne,
als krankheitswertige Störung der Sexualpräferenz, unterscheidet sich davon grundsätzlich: „Voyeurismus bezeichnet das vorsätzliche – nicht zufällige oder beiläufige – Beobachten fremder
Personen in intimen Situationen unter bewusster Inkaufnahme
von Grenzüberschreitungen“, sagt Ahlers. „Der Voyeur erlebt
gerade die Heimlichkeit und die damit einhergehende Uneinvernehmlichkeit als sexuell erregend, die Grenzüberschreitung
ist Bestandteil des sexuellen Stimulus.“ Menschen, die sich in
öffentlichen Räumen beim Sex beobachten lassen oder vor dem
Fenster umziehen und das Beobachtet-Werden billigend in Kauf
nehmen, seien für den Voyeur sexuell nicht verwertbar, ebensowenig Strip-Clubs oder Amateurpornos im Internet. „Völlig
uninteressant für einen Voyeur. Ähnlich wie ein FKK-­Strand für
einen Exhibitionisten. Das funktioniert gar nicht, weil die Uneinvernehmlichkeit fehlt“, so Ahlers. Im Gegensatz zu dem
durchschnittlichen Schaulustigen stellt sich der Voyeur nicht
vor, mit der beobachteten Person tatsächlich in sexuellen Kontakt zu treten. Körperlich zudringlich werden Voyeure in der Regel nicht. „Der klassische Voyeur hat keinen Annäherungsimpuls“, sagt Ahlers. „Er will heimlich beobachten. Das reizt ihn
sexuell. Die unmittelbare Konfrontation mit der beobachteten
Person würde ihn überfordern. Das heimliche Beobachten verleiht ihm ein Gefühl von Sicherheit, Kontrolle und Macht. Und
das macht ihn an.“
Wie genau sich eine voyeuristische Sexualpräferenz entwickelt, so Ahlers, sei ungeklärt. Die Sexualpräferenz insgesamt
sei Teil unserer Persönlichkeit, die sich in den ersten beiden
Lebensjahrzehnten durch ein Zusammenkommen von biologischen, psychologischen und soziologischen oder sozialen Einflüssen ausbildet und danach im Großen und Ganzen stabil
bleibt. Ob Voyeurismus krankheitswertig und behandlungsbedürftig sei, sagt der Sexualpsychologe, entscheide der Patient
oder möglicherweise dessen Opfer. Schon einige Dutzend Voyeure haben seine therapeutische Unterstützung gesucht. „Dafür gibt es in der Regel zwei Gründe“, sagt Ahlers. „Zum einen
macht sich der Voyeur strafbar, wenn er seine Sexualpräferenz
auslebt. Zum anderen ist das Präferenzmuster dysfunktional,
das heißt, der Voyeurismus führt nicht zu einer Erfüllung der
eigentlichen Bedürfnisse: der Voyeur empfindet zwar sexuelle
Erregung, wenn er heimlich Fremde in intimen Situationen beobachtet. Eigene Intimität, Zugehörigkeit oder Geborgenheit in
sexuellem Kontakt mit einem anderen Menschen, vor allem einem Partner, kann er dadurch nicht erleben.“
Die Schaulust in ihren vielfältigen Ausprägungen, reflektiert und um Lust zu empfinden wie bei Kathrin, als Futter für das
Kopfpornokino wie bei Frank oder auf der Fernsehcouch in vielen Millionen deutscher Haushalte mag ein wesentlicher Bestandteil der medialen Realität und des menschlichen Zusammenlebens sein. Trotzdem müssen Menschen wie Kathrin ihre
Vorlieben im Alltag verbergen – im Gegensatz zu den Millionen
vor dem Fernseher. Und der Voyeur steht einsam im Abseits.
40
Jörg Böckem lebt als Journalist und Buchautor in Hamburg. Er hat mehrere Bücher veröffentlicht, zuletzt mit Bernd Thränhardt ­Ausgesoffen.
Mein Weg aus der Sucht (2013).
Der Mode- und Kunstfotograf Kohei Yoshiyuki lebt und arbeitet bei Tokio.
In den 1970er Jahren bemerkte er eines Nachts im Chuo Park in Shinjuku, einem Bezirk von Tokio, ein sich liebendes Paar auf dem Boden und
dann Zuschauer, die in den Büschen lauerten und die Szene beobachteten. „Es war wie ein Schock! Ich war damals noch Amateur. Ich hatte meine Kamera dabei, aber es war zu dunkel. Doch ich wusste sofort, das war
etwas, das ich fotografieren musste“, erzählte er dem japanischen Fotografen Nobuyoshi Araki 1979 in einem Interview. Ausgestattet mit Kodak
Infrarot-Blitzlichtern kam er nach einiger Zeit zurück in die nächtlichen
Parks, um die heterosexuellen und homosexuellen Paare und die dazugehörigen Voyeure zu fotografieren. Sechs Monate lang besuchte er die
Parks, ohne ein einziges Foto zu machen. Um die Voyeure fotografieren
zu können, musste er selbst für einen Voyeur gehalten werden – und war
es in gewisser Weise auch. Die heimlichen Zuschauer versuchten zunächst, das Paar aus der Ferne zu betrachten, näherten sich dann langsam und waren schließlich so nah wie möglich. Manchmal versuchten sie
sogar, die Frau zu berühren.
Die Fotos wurden zum ersten Mal 1979 in Tokio gezeigt. Bei d
­ ieser
Ausstellung wurden die Bilder auf Lebensgröße aufgeblasen, die Galerie
völlig verdunkelt und jeder Besucher wurde mit einer Taschenlampe ausgestattet, um die reale Situation zu rekonstruieren und den Blick des
Betrachters mit dem Lichtstrahl sichtbar zu machen.
Seite 36 oben:
Kohei Yoshiyuki
From the series The Park
Untitled, 1971
Gelatin Silver Print
© Kohei Yoshiyuki,
Courtesy Yossi Milo Gallery, New York
Seite 36 unten:
Kohei Yoshiyuki
From the series The Park
Untitled, 1973
Gelatin Silver Print
© Kohei Yoshiyuki,
Courtesy Yossi Milo Gallery, New York
Seite 38 oben:
Kohei Yoshiyuki
From the series The Park
Untitled, 1973
Gelatin Silver Print
© Kohei Yoshiyuki,
Courtesy Yossi Milo Gallery, New York
Seite 39 unten:
Kohei Yoshiyuki
From the series The Park
Untitled, 1971
Gelatin Silver Print
© Kohei Yoshiyuki,
Courtesy Yossi Milo Gallery, New York
Menschen suchen ihre Zukunft in Städten,
die heute schon an morgen denken.
Deutschland geht neue Wege. Mit Antworten für nachhaltige Stadtentwicklung.
München wächst schneller als jede andere Stadt in Deutschland:
Prognosen zufolge werden im Jahr 2020 über 1,5 Millionen
Menschen in der bayrischen Landeshauptstadt leben. Aber in
München wächst nicht nur die Zahl der Einwohner. Die Stadt
hat ehrgeizige Ziele – für den Wirtschaftsstandort und für
die Lebensqualität der Menschen.
Neubauten und bei der Modernisierung bestehender Häuser.
Und sichere und wirtschaftliche Stromnetze binden mehr
Energie aus erneuerbaren Quellen ein und sorgen dafür, dass
sie genau dort zur Verfügung steht, wo sie gebraucht
wird. So wächst nicht nur die Wirtschaftskraft, sondern auch
die Lebensqualität.
Modernste Verkehrsleittechnik und ein gut ausgebautes Nahverkehrsnetz halten die Stadt in Bewegung und entlasten dabei
die Umwelt. Intelligente Gebäudetechnik spart Energie – bei
Die Antworten für nachhaltige Stadtentwicklung sind da. Und
die Zeit für neue Wege ist jetzt. Denn die Welt von morgen
braucht unsere Antworten schon heute.
siemens.com
Haben Sie die
Blickmacht?
42
Premiere
Die Sache Makropulos
Vier Frauen­antworten:
die Kulturwissenschaftlerin Christina von
Braun, die Fotografin
­­­­Heji Shin,­ die Malerin
­Ulrike Theusner – und
­Nadja Michael, die in
der ­Neuinszenierung
von Leoš J
­ anáčeks Die
­Sache Makropulos die
Emilia Marty singt.
CHRISTINA VON BRAUN Sehen und Gesehen-Werden
– in der Kulturgeschichte begleitet dieses Thema immer
wieder das Los der Frauen – egal, ob es sich um imaginäre
Frauen auf der Bühne oder um reale Frauen aus Fleisch
und Blut handelt. Beide mussten immer wieder mit ihrem
Körper für die Prinzipien von Schönheit, Sexualität, Na­
tur, das Fremde und vieles andere herhalten. In der neue­
ren Zeit haben sich Frauen aber immer mehr aus den
­Fesseln des Gesehen-Werdens befreit; sie haben begonnen,
das Sehen für sich in Anspruch zu nehmen, und das gilt,
wenn auch auf unterschiedliche Weise, für alle Frauen, die
hier am Tisch sitzen – eine Fotografin, eine bildende
Künstlerin, eine Bühnenkünstlerin und eine Filmemache­
rin und Wissenschaftlerin.
NADJA MICHAEL Ich habe als Opernsängerin dazu
sicher einen eigenen Zugang. Denn für mich existiert
der beobachtende Blick des Zuschau/hörers in der
Oper nur als Teil eines musikdramatischen Gesamt­
kunstwerks. Natürlich bedenken wir den Zuschauer
während der gesamten Probenphase einer Neupro­
duktion, aber ohne den Ton, die Musik wird das ZurSchau-Stellen leer – während die Musik sozusagen
ewig fortschwingt und ohne Bühnenspektakel pur und
edel weiterlebt und wirkt.
CvB Im Mittelalter galt das Hören als ein niederer Sinn.
Es war der Sinn, der den Körper am unmittelbarsten tref­
fen kann. Anders als das Auge kann man das Ohr nicht
schließen. Das Wort Hörigkeit leitet sich ab vom Gehör.
Dagegen galt der Sinn des Sehens als die höchste, weil di­
stanzierteste Form der sinnlichen Wahrnehmung. Mit
dem Sehen hat man Urteil, Abstraktion verbunden. Heute
dagegen gilt die Visualität als besonders sinnlich. In Wirk­
lichkeit erzählt der moderne Blick aber von Macht und
Ohnmacht. Mit der Fotografie entstand ein Blick, der
nicht erwidert werden kann. Wenn ich Sie direkt anblicke,
können Sie zurückschauen, wir sind auf Augenhöhe. Aber
wenn Sie als Fotografin mit der Kamera arbeiten, haben
Sie ein bewaffnetes Auge, das Sie schützt und in das ich
nicht blicken kann. So entsteht ein Gefühl von Ausgelie­
fertsein gegenüber dem Blick der technischen Sehgeräte.
ULRIKE THEUSNER Ich bin bildende Künstle­
rin und habe mit Anfang zwanzig für einige Jahre
gemodelt. Da muss man sich wirklich entscheiden,
welche Rolle man spielt und sich fragen, ob man lie­
ber auf der Seite des „bewaffneten Auges“ oder auf
der Seite der Ausgelieferten steht. Mit der Zeit legt
man sich eine Art Maske zu, die man auf- oder ab­
setzen kann, wenn man durch die Kamera ange­
blickt wird.
HEJI SHIN Ich arbeite seit fünfzehn Jahren im
Bereich der kommerziellen Fotografie. Über das
Sehen und Angesehen-Werden denke ich wäh­
rend des Arbeitsprozesses nicht besonders viel
nach. Aber man fragt sich natürlich ständig, wie
44
„Es geht beim Blick
­immer auch um eine
­Dichotomie: Männlichkeit
wird durch das Betrachten
definiert, Weiblichkeit
durch das Betrachtet-­
Werden. Diese Rollen
­sind aber erst in der
Renaissance entstanden.“
– Christina von Braun,
Kulturwissenschaftlerin
es sich mit der Balance zwischen dem Menschen
vor der Kamera und dem hinter der Kamera ver­
hält. Und wie man mit den Mitteln umgeht, die
einem hinter der Kamera zur Verfügung stehen.
Der Fotografierte ist viel passiver. Als Fotogra­
fin hat man in gewisser Weise einen Vorteil dem
Angeblickten gegenüber, weil man sich hinter
der Kamera verstecken kann. Die Person, die an­
gesehen wird, steht hingegen ziemlich nackt da.
NM Das beziehe ich eins zu eins auf den Zuschauer im
Theater. Die Sänger machen sich nackt und zeigen
­sowohl stimmlich als auch menschlich ihre Wahrheit.
Im Zusammenhang mit Wahrheit und Blick ist Leoš
­Janáčeks Oper Die Sache Makropulos ein spannender
Anknüpfungspunkt. Es geht darin um die Lüge von
der ewigen Jugend als dem anbetungswürdigen golde­
nen Kalb. Der Vater der Protagonistin Elina Makro­
pulos war Alchemist und hat eine Rezeptur entwickelt,
die das Leben um 300 Jahre verlängern kann. An sei­
ner damals 16-jährigen Tochter hat er das erfolgreich
getestet. Das ist die Vorgeschichte. Wenn die Opern­
handlung einsetzt, sind bereits mehr als 300 Jahre ver­
gangen. Durch all diese Zeiten hindurch war Elina eine
wunderschöne und berühmte Sängerin. Wir treffen auf
sie unter dem Namen Emilia Marty in einem Zustand
großer Kälte und Abgeklärtheit. Eine große Liebesge­
schichte hat sie einst beendet. Der Verfall des Mannes
war unausweichlich. Sie hatten ein gemeinsames Kind,
in den kommenden Jahrhunderten kamen wohl einige
andere Nachkommen hinzu.
CvB Ist sie des Lebens oder der Blicke müde?
NM Elina alias Emilia Marty lebt in einem Niemands­
land ohne einen sinnvollen Grund für ein Weiterleben.
Nur in ihrer Kunst scheint sie noch zu atmen. Sie ist
eine ausgestellte Person, nur auf der Bühne lebt sie
wirklich. Und dort darf und kann sie sein. Die Wahrheit
der Menschen hat sie entlarvt, sie existiert nur noch im
größtmöglichen Moment des Aus-sich-heraus-„Schrei­
ens“. Interessant ist, dass sie den Blick sucht und zu­
gleich ablehnt. Als fühlendes Wesen kann sie nur in ih­
rer Kunst wahrhaftig existieren, denn Beziehungen zu
Menschen können ihr nichts mehr geben. Die Liebe,
Mutterschaft, selbst das Sterben hat für sie keine Rele­
vanz. Die Blicke der Männer verachtet sie zutiefst. Be­
gehren, Lust, alles eine Chimäre. Die Wirkung des Mit­
tels lässt nach. Sie ist 337 Jahre alt. Ihr Körper ist kalt,
wie der einer Toten, aber sie lebt. Also muss sie unbe­
dingt an das Papier mit der Rezeptur kommen. Aber
als sie es findet, will sie es nicht mehr. Sie kommt zu
dieser erlösenden Erkenntnis, die sinngemäß lautet:
Wie gut ihr es doch habt, dass es euch etwas bedeutet,
ob etwas gelingt oder nicht, ob das Essen schmeckt
oder nicht! Dass ihr die Dinge des Lebens spüren könnt!
Wenn ihr nur wüsstet, wie gut es ist, dass euch manch­
mal der frühe Tod von dieser Welt nimmt!
CvB Das klingt paradox und großartig: eine Komposition,
eine Erzählung, in der eine schöne Frau das Ende des
weiblichen Betrachtet-Werdens zelebriert. Die nur noch in
dem Blick lebt und sich ihm gleichzeitig entzieht. Sie wird
also vom Objekt zum Subjekt. Ich kenne einige Künstle­
rinnen, die genau damit spielen und die Blickmacht der
anderen unterwandern. Etwa durch fotografische Selbst­
porträts, auf denen sie nicht zu erkennen sind. Das Ge­
sicht ist bedeckt, das Bild ist verschwommen, oder sie zei­
gen dem Betrachter den Rücken.
HS Wenn ich jemanden durch die Kamera an­
schaue, entscheide ich – natürlich im Rahmen der
Situation – wie diese Person auf dem Foto wirkt.
In Ihrem Fall, Frau Michael, ist es vielleicht an­
ders, weil Sie entscheiden können, wie Sie wirken?
NM Die Wirkung der Musik ist nicht manipulierbar. Es
geschieht einfach etwas mit Ihnen. Den Blick auf die Auf­
führung – also die Inszenierung dessen, was angeschaut
werden soll – können Sie in jeder Form beeinflussen.
CvB Das würde bedeuten, dass nicht das betrachtete Ob­
jekt der Blickmacht ausgesetzt ist, sondern der Betrach­
ter. Jedenfalls im Kino, der Oper, dem Theater. Ich glaube
allerdings nicht, dass sich der Zuschauer ganz so leicht
durch die Augen manipulieren lässt. Irgendetwas von die­
ser alten Urteilsfähigkeit scheint doch im Blick erhalten
geblieben zu sein.
NM In unserem Medium, dem Theater oder dem Mu­
siktheater, wird die Emotion über das gesprochene
Wort oder den gesungenen Ton übertragen, das ideali­
ter angefüllt ist mit Intention. Es geht daher gar nicht
so sehr um das Blicken, beziehungsweise nur in dem
größeren Zusammenhang der Inszenierung. Natürlich
kann man durch Inszenierung manipulieren, lenken
oder versuchen zu führen – auch zu verführen. Aber
doch kann man den Inhalt kaum verraten.
Fotografie Heji Shin
„Wenn ich jemanden
durch die Kamera an­
schaue, entscheide ich –
im Rahmen der Situation
– wie diese Person auf
dem Foto wirkt.“
– Heji Shin, Fotografin
CvB Wenn Sie auf der Bühne stehen, spielt es aber doch
eine Rolle, dass es ein Publikum gibt, das Sie sieht und be­
trachtet, oder nicht? Gibt es nicht auch so etwas wie Lust
am Gesehen-Werden? Man hat Schaulust oft mit dem
Sexual­akt verglichen. Aber bei vielen Frauen hat der Blick
heute eher mit wechselnden Rollenspielen zu tun. Mit den
Möglichkeiten der Maskerade. Gerade Darstellerinnen in­
szenieren oft das Gesehen-Werden. Marlene Dietrich war
Meisterin darin – sie war es, die die Fäden in der Hand be­
hielt. Nach ihr kamen noch viele andere.
NM Es ist natürlich von Bedeutung, dass ein Publikum
anwesend ist. Aber ich habe nicht das Gefühl, einem In­
dividuum oder diesem „bewaffneten Auge“ gegenüber­
zustehen. Die Spannung eines körperlichen Raumes,
des Publikums als eines körperlichen Wesens, als Ener­
gie, das ist das Wesentliche und das Entscheidende.
CvB Manchmal bildet das Publikum einen kollektiven
Körper, das stimmt. Der einzelne wird mitgerissen von den
Gefühlen der anderen. Aber manchmal ist die Reaktion
auch ganz uneinheitlich. Der eine lacht, wo dem anderen
die Tränen kommen. Ich stelle es mir schwierig vor, vor ei­
nem heterogenen Publikum zu spielen und zu singen.
NM Ich habe da keine expliziten Erwartungen. Für
mich gibt es keine falschen oder richtigen Reaktionen.
Eine, also jede Reaktion ist immer gewünscht und da­
mit richtig. Das Individuum im Publikum, die Frage
danach, wer mich gerade anschaut, die darf keine Rolle
spielen. Dann wäre ich nicht bei mir und nicht bei der
jeweiligen Vorstellung, sondern würde privat Erwar­
tungshaltungen kultivieren.
CvB Die bildende Künstlerin hat die Möglichkeit, den an­
deren auf unterschiedliche Weise und mit unterschiedli­
chen Mitteln anzusprechen. Welche Rolle, Ulrike Theus­
ner, spielt der Betrachter für Sie?
UT Während ich ein Bild mache – Tuschezeichnun­
gen und gegenständliche, figurative Arbeiten – gibt
45
es meine subjektiven Empfindungen. Aber wenn
der Betrachter das Bild ansieht, spiegelt er sich
selbst darin. Deshalb möchte ich es immer offen
lassen, was in dem jeweiligen Bild gesehen wer­
den kann. Ich gebe Hilfestellung, indem ich einen
Titel setze oder es beschreibe, aber diese Offen­
heit, die Möglichkeit sich selbst zu spiegeln, finde
ich sehr wichtig. Genauso wichtig wie zwischen­
menschliche Spiegelungen. Ich kann Nadja Michaels­­
Vorstellung, dass das Publikum zu einem einzigen
Auge verschmilzt, übrigens sehr gut nachvollzie­
hen. So ein ähnliches Gefühl hatte ich auf dem
Laufsteg. Aber kann man die Blicke auf der Büh­
ne ähnlich ausblenden? Für ein Mannequin ist das
ja ziemlich einfach. Es muss fast nichts machen,
keine Emotionen geben. Das Angesehen-Werden
ist hier keine künstlerische Arbeit. Wenn ich ein
Bild male, bin ich in meinem geschützten Atelier
und kann dann hinterher entscheiden, ob ich es
den Blicken der Menschen aussetze oder nicht.
Und wenn es dann irgendwo hängt, bin ich aus
dem Spiel.
46
„Für Emilia Marty kommt
es schließlich zu diesem
erlösenden Satz, der
sinngemäß lautet: Wie gut
ihr es doch habt, dass es
euch etwas bedeutet, ob
etwas gelingt oder nicht!“
– Nadja Michael, Sopranistin
NM Bei uns gibt es den beschriebenen Atelier-Prozess
auch, aber wir haben ihn vorverlegt. Das heißt, es gibt
so unendlich viele Prozesse, bevor ich die Bühne betre­
te und einen Ton entstehen lasse. Der Blick in die No­
ten, das Lesen, dann das Üben, Proben, Memorieren,
eventuell muss man in einer Fremdsprache singen – so
vieles geschieht, noch bevor man auf irgendein anderes
Individuum trifft und die eigene Kunst „ausgestellt“
wird. Selbst nach den ersten Begegnungen mit der Au­
ßenwelt wird dann noch endlos geprobt. Erst in einer
kleinen Runde, dann in einer größeren, dann auf der
Bühne, und irgendwann kommt die Situation der Vor­
stellung. Wenn ich dort angelangt bin, ist jeglicher äu­
ßere Blick auf mich und mein Spiel vergessen. Und nur
dann kann ich mich frei in der Partie und der Rolle be­
wegen und vor allem freie Töne produzieren. Ich bin in
dieser Hinsicht sicher auch besonders „besessen“.
CvB Ich frage mich gerade: Warum, glauben Sie, hat die
Münchner Oper eigentlich vier Frauen zusammengeführt,
damit sie sich über das Sehen unterhalten?
HS Das wäre mir gar nicht aufgefallen ...
CvB Ein „Frauentreffen“ ist nicht ganz zufällig angesichts
des Themas, das hier verhandelt wird. Erst seit der Renais­
sance wird Männlichkeit durch das Betrachten und Weib­
lichkeit durch das Betrachtet-Werden definiert. Vorher
war der weibliche Körper nie unbekleidet zu sehen. Ausge­
nommen Göttinnen oder Allegorien, also imaginäre Frau­
en. Der männliche Körper dagegen wurde gerne nackt ge­
zeigt. In der griechischen Antike repräsentierte er die
Norm, das Gesetz, eben die nackte Wahrheit. Mit der
Renaissance wird das Auge technisch aufgerüstet. Es ent­
steht zunächst die Zentralperspektive, wo es einen Sehen­
den gibt, und alles andere zum Objekt dieses Blickes wird.
Es folgen Camera obscura, Teleskop und Mikroskop, die
die Macht des Auges erweitern. Und zwei Jahrhunderte
später wird die Fotografie erfunden. All diese Techniken
werden als Dominanzstrategien gedacht und mit Männ­
lichkeit gleichgesetzt. Deshalb geht die Einführung der
Fotografie auch mit einer zunehmenden Entkleidung des
weiblichen Körpers einher. Wir denken das Nackte gerne
in Kategorien von Freiheit und Emanzipation. In Wirk­
lichkeit soll der entkleidete weibliche Körper die Macht
des Blicks zelebrieren. Weil Frauen nicht sehen, sondern
gesehen werden sollten, waren die meisten Kunstakade­
mien für sie verschlossen. Aber in den letzten 100 bis 150
Jahren begannen Frauen, einen eigenen und widerspensti­
gen Umgang mit der Macht des Blicks zu entwickeln. Es
gab schon sehr früh Fotografinnen. Die Fotografie war in
gewisser Weise der Moment, wo das Sehen neue Bahnen
betrat – und diese führten jenseits der alten Geschlechter­
dichotomie. Auch die Oper setzt sich mit diesen neuen,
vom Sehen geprägten Geschlechtercodes auseinander.
NM Für mich existiert der beobachtende Blick in der
Oper nur als Teil eines musikdramatischen Gesamtkunst­
„Beim Modeln muss man
sich wirklich entscheiden,
ob man lieber auf der Seite
des „bewaffneten Auges“
oder auf der Seite der
Ausgelieferten steht.“
– Ulrike Theusner, Bildende Künstlerin
werks. Ich begreife ihn also immanent und nicht losge­
löst. Wie gesagt, für mich geht alles vom Ton aus. Musik,
Schwingung, „unmanipulierbares Material“ begreife ich
als den Ursprung, um den sich alles andere herum entwi­
ckelt – sagen wir in einer unbestechlichen Wahrheit.
CvB Es stimmt, dass die singende Stimme, die Stimme
überhaupt, im Vergleich zum Blick unterschätzt wird – üb­
rigens auch in visuellen Medien wie dem Kino. Was die
Stimme vom Körper mitteilt, wie sehr sie uns faszinieren
oder abstoßen kann, wird kaum bewusst. Oder es wird für
eine Selbstverständlichkeit gehalten, über die man nicht
zu reflektieren braucht.
NM Genau! Der Blick ist so manipulierbar. Aber der
Ton ist real. Er trifft, geht durch alles hindurch. Wir le­
ben in einer Zeit der Äußerlichkeiten. Jeder hat Bilder
von sich und anderen im Kopf. In meinem Metier habe
ich das große Glück, mit einer Substanz umzugehen,
die im Kern nicht manipulierbar ist!
CvB Da bin ich mir nicht so sicher. Seitdem die Sprache
verschriftet wurde, hat sich das Sprechen gewandelt. Das
alphabetische Schriftsystem ist eine Domestizierungsma­
schine, mit der Sprache und Stimme verändert wurden.
Die Stimme ist keineswegs so ursprünglich und unverän­
derbar, wie wir alle denken. Es gab vielleicht so etwas wie
eine „ursprüngliche“ Oralität, bevor sich die Schrift des
Sprechens und der Stimme bemächtigt hatte. Die Gestal­
tung des Gesprochenen durch die Schrift gilt vor allem für
Kulturen mit Alphabetschrift. Das Alphabet überführt
Laute in visuelle Zeichen, das Gesprochene wird an die
Zügel der Schrift genommen. In Schriften, die nicht aus
Lautzeichen, sondern zum Beispiel aus Piktogrammen be­
stehen, bewahrt das Sprechen seine eigene Welt. Schrift
und Sprache entwickeln sich unabhängig voneinander. Bei
uns hingegen gibt es – vor allem seit der allgemeinen Al­
phabetisierung – fast nur eine sekundäre Oralität, eine
Mündlichkeit nach der Schrift. Und diese sekundäre Ora­
47
CvB Das ist vielleicht der Trick dabei: Etwas so oft zu
wiederholen, bis es als Wahrheit hingenommen wird.
NM … und dadurch irgendwann auch nicht mehr manipulieren zu müssen und so endlich zur eigenen Wahrheit vorzudringen – wie Emilia Marty.
Nadja Michael gilt als eine der vielfältigsten und ausdrucksstärksten Sopranistinnen weltweit. Ihr Repertoire reicht von Monteverdis Poppea (Poppea et Nerone) bis hin zu Montezuma in Wolfgang
Rihms Die Eroberung von Mexiko, und umfasst ebenso Partien wie
Leonore (Fidelio), Marie (Wozzeck), Venus/Elisabeth (Tannhäuser),
Lady Macbeth (Macbeth), sowie die Titelpartien in Salome, Tosca,
Iphigénie en Tauride und Manon Lescaut. An der Bayerischen
Staatsoper gab sie bereits 2004 ihr Debüt als Ottavia in David
Aldens Kultinszenierung von Monteverdis L’incoronazione di
­
­Poppea. 2008/09 sang sie die Lady Macbeth in Martin Kušejs Neu­
inszenierung von Verdis Macbeth. In gleich zwei Interpretationen
des Medeastoffes verlieh Nadja Michael der Titelfigur ein aufregendes Profil: so in der Neuinszenierung von Giovanni Simone Mayrs
­Medea in Corinto an der Bayerischen Staatsoper und in Luigi
­Cherubinis Médée am Brüsseler Théâtre Royal de la Monnaie und
am Pariser Théâtre des Champs-Elysées.
Foto Candy Welz
lität gilt natürlich auch für die Oper: Sie ist eine von Text
und Notensystem geschaffene Oralität, ein von der Schrift
geformter Gesang.
NM Wie ergeht es eigentlich blinden Menschen in dem
Zusammenhang?
CvB Viele sind große Opernanhänger! Blinde gehen auch
gerne ins Kino, weil sie finden, dass dort die Geräusche
und die Stimmen besser bearbeitet sind als im Hörstück.
Die Geräusche wirken echter. Es ist interessant, dass der
technisch bearbeitete Ton als echter gilt. Bei ihrer Entstehung galt die Fotografie übrigens auch als Medium einer
untrüglichen Wahrheit. Heute scheint die „Echtheit“ kein
Thema mehr für die Fotografie zu sein.
HS Ich finde diese Vorstellung ziemlich kitschig.
Den „authentischen Menschen“ vor der Kamera
gibt es nicht. Ich glaube auch nicht, dass man die
„echte“ Person oder den „echten“ Augenblick
zeigen kann. Für mich ist Fotografie interessant,
wenn sie etwas verdeckt, eher Fragen stellt als
Antworten gibt.
NM Ich jedoch glaube sehr an diesen authentischen
Moment. Man kann sehr deutlich erkennen, ob ein Bild
lebt und Tiefe hat. Natürlich funktioniert die kommerzielle Fotografie nach anderen Gesetzmäßigkeiten.
Aber auch hier haben wir die Phänomene der Supermodels, denen es gelingt, selbst in der glattesten
Inszenierung eines Werbesujets Persönlichkeit zu
­
transportieren. Ich habe es häufig erlebt, dass Fotografen diesen Moment wahrnehmen und der sich im
Foto beglückend abbildet.
HS Für mich ist das eher die manipulative
Macht der Fotografie. Wenn sich jemand vor der
Kamera unwohl fühlt, wird zwar alles schwieriger, aber auch das kann ich als Fotografin manipulieren oder inszenieren. Es gibt Fotos, da habe
ich jede Bewegung, jeden einzelnen Blick vorgegeben. Aber das interessiert mich nicht. Was mir
allerdings auffällt, ist ein ganz bestimmter Blick
bei sehr jungen Leuten, besonders bei Fotomodellen. Sie blicken durch mich als Fotografin
hindurch, als würden sie gar nicht angesehen.
CvB Vielleicht hat dieses „Nicht-zurück-Schauen“ genau
damit zu tun, dass sich die jungen Leute sehr wohl darüber im Klaren sind, dass sie angeguckt werden.
HS Vielleicht hängt es mit dem Alter zusammen. Die Älteren sind sich bewusster über das
Schauen und Anschauen und reflektieren viel
mehr darüber.
UT Die jungen Leute, die viel vor der Kamera stehen, haben ja oft ganz bestimmte Blicke abgespeichert, die immer funktionieren. Deswegen ähneln
sich Blicke auf den Bildern, und das wird in der
Masse gesehen langweilig. Man fragt sich dabei
schon, was das noch mit Wahrheit zu tun hat.
Ulrike Theusner studierte an der Weimarer Bauhaus-Universität
sowie an der École des Beaux Arts in Nizza. Ihr Werk umfasst Grafiken, Zeichnungen, Malerei, Installationen und Fotografie. Auch
mit Musik beschäftigt sie sich intensiv. Sie stellt ihre Werke in
zahlreichen Einzel- und Gruppenausstellungen in Europa und den
USA aus. Ulrike Theusner lebt in Berlin und New York. Für die
Bayerische Staatsoper gestaltet Ulrike Theusner in der Spielzeit
2014/15 die Plakate.
Mehr über Heji Shin und Christina von Braun auf S. 8
Mit bestem Dank an den Zoo Berlin, wo Nadja Michael von Heji Shin
fotografiert wurde.
Die Sache Makropulos
Oper in drei Akten
Von Leoš Janáček
Premiere am Sonntag, 19. Oktober 2014,
Nationaltheater
STAATSOPER.TV: Live-Stream der Vorstellung auf
www.staatsoper.de/tv am Samstag, 1. November 2014
58
Weitere Termine im Spielplan ab S. 93
Wim Wenders, AA Centre in Paris, Texas, 2001, Lightjet Print, 160 x 125 cm, 1 AP | Edition von 6 + 2 AP, Courtesy Wim Wenders und Blain Southern, London © Wim Wenders
PIN.Party und
Benefizauktion
am Samstag, den
22. November 2014
in der Pinakothek
der Moderne
in München
INFORMATION 089 18930 95 0 und www.pin-freunde.de
ARBEITEN von Franz Ackermann, Georg Baselitz, Silvia
Bächli, Lynda Benglis, Natalie Czech, Rineke Dijkstra,
Jacqueline Humphries, Günther Förg, Sven Johne, Uwe
Kowski, Albert Oehlen, Martin Parr, Arnulf Rainer, Rolf
Sachs, Fiete Stolte, Thomas Struth, Norbert Tadeusz, Gillian
Wearing, Charlie White, Ben Willikens und vielen anderen
VORBESICHTIGUNG ab 8. November 2014
in der Pinakothek der Moderne
Onlinegebote unter: http://paddle8.com/auctions/pin
ArtPrivat | Partner und Versicherer
Forschungsprojekt Bayerische Staatsoper
1933 – 1963
Folge 5
1937 – Die
Pläne der
National­
sozialisten ­
für die
Münchner
Oper
Clemens Krauss wird auf Wunsch Hitlers als
Generalmusikdirektor installiert. Richard
Strauss’ Oper Friedenstag wird uraufgeführt.
Clemens Krauss (Unbekannter Zeichner). Quelle: Personalakt
Nr. 289, Bayerisches Hauptstaatsarchiv, Bestand Intendanz­
Bayerische Staatsoper
ist bekannt − und die „Münchener Oper“ von Bedeutung. In seiner Zeit als Postkartenmaler in München
zählte das Nationaltheater zu Hitlers bevorzugten Motiven. Nun plante er für dieses Haus eine „Vorbildrolle“
für das Deutsche Reich. Die gleichgeschaltete Presse beschrieb den Plan als große Tat des Regimes für die sogenannte „Kunststadt“ München und argumentierte, dass
das neue Leitungsteam die „künstlerische Qualität“ heben sollte; wenn Ensemble, Orchester und Repertoire
dann auf dem von Hitler geforderten „Niveau“ angekommen wären, sollte die Staatsoper in ein von Hitler
eigenhändig entworfenes neues großes Opernhaus einziehen. Als Standort war Haidhausen geplant, in etwa
an der Stelle, wo heute das Kulturzentrum Gasteig seinen Platz hat. Von diesem Opernhaus sollte eine große
Prachtstraße bis zum Marienplatz führen und das Opernhaus somit zu einem zentralen Fixpunkt im Münchner
Stadtbild machen. Im Gegensatz zu den personellen Änderungen wurden diese Bauvorhaben nie verwirklicht.
Zum 1. Januar 1937 wurde auf persönlichen
Wunsch Hitlers der österreichische Dirigent Clemens
Krauss als Generalmusikdirektor und Leiter des Bereichs Oper an die Bayerischen Staatstheater berufen.
Zuvor war er von 1929 bis 1935 als Direktor der Wiener
Staatsoper und von 1935 bis 1936 als Direktor der Berliner Staatsoper tätig gewesen. Generalintendant der
Bayerischen Staatstheater seit 1934 und damit Vorgesetzter von Krauss war Oskar Walleck, ein überzeugter
und linientreuer Parteigenosse der NSDAP. Krauss
brachte ein Leitungsteam von Vertrauten aus Berlin und
Wien mit: Oberspielleiter Rudolf Hartmann und der
Bühnenbildner Ludwig Sievert kamen fest ans Haus,
dazu Kraussʼ Vertrauter Erik Maschat als Leiter des
Künstlerischen Betriebsbüros.
Schon vor der ersten Aufführung wurde deutlich,
welchen Stellenwert diese Personalie haben sollte − so
schrieb die linientreue Presse:
Eine Aufführung der Walküre gibt am 6. Januar den
festlichen Auftakt zur neuen Ära in der Hauptstadt
Die Bayerische Staatsoper beauftragte in der
Jubiläumsspielzeit 2013/14 ein Forschungsteam der
Theaterwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München damit, die Geschichte des
Hauses von 1933 bis 1963 zu untersuchen. Auch in
dieser Spielzeit gibt MAX JOSEPH kontinuierlich
einen Einblick in den Stand der Recherchen. D
­ iese
Ausgabe präsentiert einen Ausschnitt aus dem
aktuellen Forschungsschwerpunkt: Anhand von
Archivalien aus dem Bayerischen Hauptstaatsarchiv wird der Beginn der Intendanz von Clemens
Krauss und dessen enge Verflechtung mit dem
NS-Regime rekonstruiert.
60
Die Berufung von Clemens Krauss als
­strategischer Schritt des NS-Regimes
Ab 1933 instrumentalisierte Adolf Hitler die Oper ­gezielt
für nationalsozialistische Propaganda: Die Parteitage
der NSDAP in Nürnberg wurden traditionell mit einer
Festaufführung von Richard Wagners Die Meistersinger
von Nürnberg im Opernhaus eröffnet − allerdings zu
Hitlers Ärger oft vor halbleeren Reihen. Viele Parteigrößen mussten von der Gestapo aus den umliegenden
Wirtshäusern in die Oper eskortiert werden. Neben
Nürnberg waren für Hitler vor allem die Bayreuther
Festspiele − seine enge Beziehung zu Winifred Wagner
der Bewegung.
(31.12.1936, aus: „Erfüllungen und Verheißungen. Die Bayerische Staatsoper
in der Spielzeit 1936“. Zeitungsartikel von Heinrich Stahl, Zeitung
­unbekannt, in Krauss II.2: Presseausschnitte, Pressenotizen, Gastspiele
1937-1939) [Quelle dieses und aller weiteren Zitate: Bayerisches
­Hauptstaatsarchiv, Bestand Intendanz Bayerische Staatsoper,
Personalakten Nr. 289 (Clemens Krauss) sowie Nr. 541 (Richard Strauss)]
Dass es eine „Ära Krauss“ werden sollte, stand also schon
von vornherein fest und damit nicht zur Diskussion.
Krauss unterschrieb seinen hochdotierten Vertrag und
verpflichtete sich in einem später eingeforderten „Gelöbnis der Gefolgschaftsmitglieder öffentlicher Verwaltungen
und Betriebe“, seine …
[…]Dienstobliegenheiten gewissenhaft und
uneigennützig zu erfüllen und die Gesetze und
sonstigen Anordnungen des nationalsozialistischen
Staates zu befolgen.
(08.06.1937, Niederschrift von Krauss‘ Erklärung vor der Generalintendanz
der Bayerischen Staatstheater, in Krauss II.1: Allgemein)
Das Programm von Krauss und seinen Mitarbeitern wurde Ende Dezember 1936 in einer Pressekonferenz vorgestellt und sollte − wie die Presse glorifizierte − eine
„Renaissance der Münchener Oper“ einleiten. Demnach
war es mit etwa zehn Neueinstudierungen pro Jahr das
Ziel von Clemens Krauss,
[…]die Münchener Oper im Sinne ihrer alten Tradition
weiterauszubauen, die alte Glanzzeit wiederzubringen
und im Rahmen seiner Arbeit ein Ensemble von
Sängern, Chor, Orchester und Bühnentechnik
zusammenzustellen, das später einmal würdig sei,
in das vom Führer geplante große neue Münchener
Opernhaus einzuziehen.
(31.12.1936, „Renaissance der Münchener Oper. Generalmusikdirektor
Krauß entwickelt sein Arbeitsprogramm – Etwa zehn Neueinstudierungen
im Jahr“. Zeitung und Autor unbekannt, in Krauss II.2: Presseausschnitte,
Pressenotizen, Gastspiele 1937-1939)
Die aus heutiger Sicht sehr hohe Zahl von zehn Neueinstudierungen pro Spielzeit war für die damalige Zeit eine enorme Reduktion. Allerdings wurde der Titel „Neueinstudierung“ beziehungsweise „Neuinszenierung“ oft schnell vergeben, häufig genügte eine Umbesetzung oder ein neues
Bühnenbildelement, um eine Vorstellung als Premiere zu
deklarieren. Der Begriff der Regie hatte damals eine völlig
andere Bedeutung als heute, es wurde damit eher ein Aufgabenbereich zwischen Arrangeur und Inspizient beschrieben. Mit Krauss und Hartmann sollte sich dies nun ändern:
Für jede Neueinstudierung sollten jeweils vier ganze Wochen Probenzeit zur Verfügung stehen. Nach Eigenaussagen
der Beteiligten ging es darum, die gesammelten Kräfte des
Hauses ganz in den Dienst eines Werkes zu stellen. Der Beruf des Regisseurs wurde nun als künstlerische Aufgabe definiert, allerdings noch nicht im heutigen Sinne als (Co-)Autor des Theaterabends. Der Regisseur sollte die Oper im
scheinbaren Sinne des Autors und der Handlungszeit des
jeweiligen Werkes im Rahmen einer sogenannten „zeitgemäßen Darstellung“ verwirklichen. Die Nationalsozialisten
erfanden für diese Art der vordergründig unpolitischen Regie den Begriff „Werktreue“ – im Übrigen ein Terminus, der
sich bis heute als pauschalisierendes Schlagwort und vermeintliche Gegenposition zum sogenannten „Regietheater“
erhalten hat und weitgehende Übereinstimmung von Theater- und Inszenierungstext, also von der Stückvorlage und
der Umsetzung auf der Bühne einfordert.
Text Rasmus Cromme, Dominik Frank, Katrin Frühinsfeld
61
Auf seiner Antrittspressekonferenz 1936 in München äußerte sich Clemens Krauss in diesem Sinne. Er wies zwar
darauf hin, dass die Aufführung (und nicht die Partitur)
das Werk sei, wollte diese jedoch „zeitentsprechend“, das
heißt in vermeintlich originaler historischer Ausstattung
realisieren:
Diese Auszeichnung der Mitglieder des Münchner
Zu dem Aufbau eines entsprechenden Spielplanes ist
Nach zwei Jahren seiner Münchner Tätigkeit konnte
Krauss als weiteren Erfolg die Etablierung der Staatsoper
als künstlerisch und verwaltungstechnisch eigenständige
Institution durch die Abschaffung der Generalintendanz
verbuchen, mithin seine Beförderung zum Opernintendanten und Generalmusikdirektor in Personalunion. Der
Alt-Parteigenosse Oskar Walleck − übrigens der einzige
deutsche Intendant, der schon vor 1933 in die NSDAP eingetreten war − wurde entlassen, um die Beförderung und
Machtausweitung des Nicht-Parteimitgliedes Clemens
Krauss möglich zu machen. De facto fehlte Krauss zwar
das formale Dokument der NSDAP-Migliedschaft, er zeigte sich jedoch stets linientreu und fungierte somit als perfektes „künstlerisches Aushängeschild“ der Nationalsozialisten. An diesem Beispiel wird die Strategie der nationalsozialistischen Kulturpolitik deutlich: Letztlich ging es
darum, sich mit scheinbarer Liberalität und der vorgeblichen Devise „Qualität vor Parteitreue“ als vorrangig
kunstsinnig zu inszenieren und somit bei Künstlern und
intellektuellem Publikum subtile, aber wirkungsvolle Propaganda zu betreiben. Ausgestattet mit einem beeindruckenden Machtzugewinn, von Publikum und NSDAP geliebt, konnte Krauss am Ende des Jahres 1938 in einer Bekanntmachung an die MitarbeiterInnen der Staatsoper
davon schreiben, den „vom Führer gewiesenen Zielen“ nähergekommen zu sein (siehe Faksimile „Bekanntmachung“, linke Seite).
die möglichste Vollkommenheit der Aufführungen und
eine zeitentsprechende Darstellung nötig. Die
musikalischen Kunstwerke müssen, erfaßt aus der Zeit
ihrer Entstehung, neugestaltet und neu gesehen
werden. Man darf nie vergessen, daß nicht die
Partitur das Werk sei, sondern die Aufführung.
In diesem Sinne betrachte ich es als meine Aufgabe,
Werke, die ewige Kunstwerke in sich tragen, in
vorbildlicher Werktreue neuzugestalten, mit
erkennendem Eindringen in die Zeit, in der das Werk
geschaffen worden sei.
(31.12.1936, „Renaissance der Münchener Oper […]“)
„Bekanntmachung“ von Clemens Krauss, gerichtet an die Mitarbeiter der
Bayerischen Staatsoper zum Jahreswechsel 1938 / 39
Quelle: Personalakt Nr. 289, Bayerisches Hauptstaatsarchiv,
Bestand Intendanz Bayerische Staatsoper
Als musikalische Säulen etablierte Krauss neben den
Repertoire-Klassikern Mozart, Wagner und Verdi auch
den Zeitgenossen Richard Strauss, dessen bis heute
­andauernde Würdigung als „Hausgott“ der Bayerischen
Staatsoper hier ihren Anfang nahm. In der oben erwähnten Pressekonferenz äußerte sich Krauss über diese Komponisten:
Ohne diese Meister ist ein Theater nicht zu denken
und daher will ich damit beginnen, diese
Meisterwerke neu aufzuführen, in neuer Besetzung,
im neuen Gewande und mit einer grundsätzlich neuen
Auffassung.
Heil ­
Hitler! Ihr sehr ergebener Adolf Wagner
(05.02.1937, Der Bayerische Staatsminister des Innern an
GMD Prof. Clemens Krauss, in Krauss II.1: Allgemein)
Die Uraufführung von Richard Strauss’ Oper
Friedenstag
Offensichtlich hatten Krauss und seine Mitarbeiter mit
dieser Strategie der scheinbar unpolitischen Historisierung von Oper sowohl Erfolg beim Publikum als auch bei
ihren Auftraggebern, den Funktionären des NSDAP-Staates. Neben der weit überdurchschnittlichen
finanziellen Ausstattung der Staatsoper gab es immer
­
wieder Extra-Gratifikationen für die Künstler. Dazu
zählten etwa die Einladung zu einem Empfang beim
„Führer“ persönlich in Berlin für Krauss, Hartmann und
die Star-Sänger Viorica Ursuleac, Hildegarde Ranczak,
Hans Hermann Nissen und Julius Patzak, oder Ex­traGagen für eine besonders gelungene Premiere, beispielsweise jene von Verdis Aida (31.01.1937): Zusammen mit
dem Geld schickte der Bayerische Innenminister Adolf
Wagner ein Schreiben an Krauss, welches dessen Bemühungen für das von Hitler gewünschte vorbildliche Opernensemble Tribut zollte:
Plakat zur Uraufführung. Quelle: Sonderpublikation der Bayerischen
Staatsoper Die Münchener Uraufführung der Richard Strauss Oper
Friedenstag, Eine Rückschau mit Bildern (UA 24.07.1938), S. 22
Ensembles ist eine Auszeichnung für Sie.
Forschungsprojekt
Als einen der Höhepunkte seiner Intendanz plante Clemens
Krauss die Uraufführung von Richard Straussʼ Oper
­Friedenstag, die er selbst musikalisch leitete. Das Verhältnis
von Richard Strauss zum Nationalsozialismus war mehr als
ambivalent [vgl. dazu auch den Beitrag von Hartmut
­Zelinsky in der Festspiel-Ausgabe 2014 von MAX JOSEPH,
S. 114 ff]: Einerseits wurde Strauss als Präsident der Reichsmusikkammer zum Rücktritt gezwungen, andererseits war
er ein künstlerisches Aushängeschild des nationalsozialistischen Regimes, vor allem an der Bayerischen Staatsoper.
Hier kamen auch seine beiden späten Einakter Friedenstag
(24.07.1938) und Capriccio (28.10.1942) zur Uraufführung,
Letzterer sogar mit einem Libretto von Clemens Krauss
selbst. Schon die Tatsache, dass Friedenstag in München −
und nicht im auf Strauss-Uraufführungen abonnierten Dresden − seine Uraufführung feierte, gibt zu denken. Die Ver-
Bayerische Staatsoper 1933 – 1963
Kraussʼ Mitgliedsausweis für den Reichskultursenat.
Quelle: Personalakt Nr. 289, Bayerisches Hauptstaatsarchiv,
Bestand Intendanz Bayerische Staatsoper
mutung liegt nahe, dass es bei der Premiere anlässlich der
Opernfestspiele 1938 − dem Jahr des „Münchner Abkommens“ − darum ging, das nationalsozialistische Deutschland
als „Wahrer des Friedens“, gleichzeitig aber als kampfbereite und „ehrliebende“ Nation darzustellen. Ebenso sollte damit die Rolle der „Münchener Staatsoper“ als Aushängeschild und „Lieblingshaus“ des Führers gestärkt werden.
Paradoxerweise stammen die Grundidee und Entwürfe des Librettos zur Oper Friedenstag − obwohl als Verfasser der österreichische Theaterwissenschaftler Joseph
Gregor firmiert − aus der Zusammenarbeit zwischen
Richard Strauss und Stefan Zweig, welcher aufgrund seiner
jüdischen Herkunft im nationalsozialistischen Deutschland
Arbeits- und Aufführungsverbot hatte.
Anhand dieser Uraufführung lassen sich klar neue ästhetische Tendenzen in der Oper während des Nationalsozialismus ableiten. Zum einen liegt das Sujet der NS-Ideologie zumindest nicht fern: Der Kommandant einer belagerten Stadt im Dreißigjährigen Krieg würde eher die ihm anvertraute Festung mitsamt ihrer Bewohner sprengen, als
sich dem Feind zu ergeben. Selbst die Klagen des Volkes
und der verzweifelte Schrei nach Brot lassen ihn nicht in
seiner Überzeugung wanken. Am Ende bringt der Westfäli-
Szenenbild Friedenstag. Foto: Hanns Holdt. Quelle: Sonderpublikation der
Bayerischen Staatsoper Die Münchener Uraufführung der Richard Strauss
Oper Friedenstag, Eine Rückschau mit Bildern (UA 24.07.1938), S. 18
Die Interpretation von Friedenstag im nationalsozialistischen Sinne lieferte das Sonderheft der Bayerischen
Staatsoper in dienstbeflissenem Gehorsam gleich selbst:
Ehre, Treue und Glauben! Wenn ein ganzes Volk sich
nach diesen Idealen ausrichtet, ist es nicht verwunderlich, wenn auch seine schöpferischen Meister von
ihrer Kraft inspiriert werden. So schuf Richard
Strauss mit Friedenstag die erste Oper, die aus dem
Geist nationalsozialistischen Ethos geboren ist.
MODE
BE AUT Y
LIFEST YLE
MUSIK
(Adolf Rettich: „Friedenstag. Ein Kunstwerk unserer Zeit“ aus
Sonderpublikation der Bayerischen Staatsoper
Die Münchener Uraufführung der Richard Strauss Oper Friedenstag,
Eine Rückschau mit Bildern (UA 24.07.1938). S.10, in Richard Strauss I.)
Expressionistische Ästhetik im Frühwerk Ludwig Sieverts:
Bühnenbildentwurf zu Judith von Friedrich Hebbel, 1914. Quelle:
Ludwig Sievert: Lebendiges Theater. München: Bruckmann, 1944, S. 64
sche­Friede als Deus ex machina das unverhoffte Happy
End, die verfeindeten Kommandanten fallen sich in die
Arme, alle feiern den Frieden. Trotz der Friedensbotschaft
steht also die Opferbereitschaft und Treue des namenlosen,
prototypisch deutschen Kommandanten im Vordergrund.
Die Inszenierung von Rudolf Hartmann und das
Bühnenbild von Ludwig Sievert zeigten einen symbolistisch überhöhten Realismus. Aus ästhetisch-politischem
Blickwinkel sehr interessant: Sievert, der in seiner Zeit in
Freiburg, Mannheim und Frankfurt mit vollendet expressionistischen Bühnenbildern Furore gemacht hatte, wurde
während seines Engagements an der Bayerischen Staatsoper
zum konservativen Naturalisten und fügte sich damit den
ästhetischen Vorlieben Hitlers und des NS-Staates. Die
Bühne zeigte das Innere einer Festung und war wie die Kostüme für über 200 Mitwirkende realistisch, detailgetreu und
individuell ausgeführt. Hier wird Krauss‘ Anspruch deutlich, die Neuinszenierungen mit großem Aufwand und großer Akkuratesse zu realisieren. Ebenso akkurat gestaltete
sich nach Zeitungsberichten auch Hartmanns Regie: Die
Choristen wurden malerisch über die Stufen und Podeste
des Bühnenbildes verteilt und als Individuen inszeniert.
Das Ziel war folglich (und scheinbar im Widerspruch zum
Volks-Begriff der Nationalsozialisten), nicht die einförmige
Masse, sondern eine große Zahl von Einzelschicksalen zu
präsentieren. Auf der anderen Seite lassen die Aufführungsfotos mit auf der Bühne zusammengequetschten Choristen
an eine Mischung aus Ritterfestspielen und NSDAP-Aufmarsch denken. Spätestens, wenn sich zum großen Finale
die Wolken öffnen, die Sonnenstrahlen durch das zerstörte
Dach der Festung fallen und die Bühne in goldenes Licht
tauchen, fügt sich die Ästhetik in die allgegenwärtige Inszenierung der NS-Ideologie, welche neben der Verklärung der
kleinbürgerlichen „heimatlichen“ Lebenswelt vor allem auf
die In-Szene-Setzung von Größe, Macht, Bombast und „germanischem Heldentum“ abzielt.
Es bleibt festzuhalten, dass die Intendanz Krauss die politischen und ästhetischen Forderungen des Nationalsozialismus bediente. Wie sich dies über das erläuterte Beispiel
Friedenstag hinaus im Einzelnen manifestierte und ob es
an der Bayerischen Staatsoper auch künstlerischen und
politischen Widerstand gegen den Nationalsozialismus
gab, werden die weiteren Forschungen zeigen.
Dr. Rasmus Cromme ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Studiengangskoordinator an der Theaterwissenschaft München.
Dominik Frank arbeitet als Theaterpädagoge, Regisseur und Lehrbeauftragter an der Theaterwissenschaft München.
Katrin Frühinsfeld studiert an der LMU Theaterwissenschaft, Neuere
deutsche Literatur und Englische Literaturwissenschaft und ist als
studentische Hilfskraft im Forschungsprojekt tätig.
Internationale Tagung „Theater unter NS­-Herrschaft“
Das Team des Forschungsprojekts „Bayerische Staatsoper
1933-1963“ reist im Oktober 2014 zur Konferenz „Theater
unter NS-Herrschaft: Begriffe, Praxis, Wechsel­wirkungen“,­
die vom Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien veranstaltet wird, und gibt
mit mehreren Vorträgen Einblicke in ­Methodik und
­Forschungsergebnisse des Münchner ­Projekts. Themen
der Tagung sind der Theaterbegriff der Nationalsozialisten, Struktur und Institutionalisierung des Theatersystems im „Dritten Reich“, nationalsozialistische ideologische Überformung und die Reaktion von Künstlern und
Entscheidungsträgern zwischen ­Konformität, Anpassung
und Widerstand.
A M M A R I E N P L AT Z
IN MÜNCHEN
W W W. LU DW I G B E C K . D E
Sofies Blick
Visio Dei
Antike Sehtheorie
Was heißt Sehen? Dies versuchten Philosophen bereits seit der Antike zu verstehen. Eine Auswahl an Sehtheorien
in Wort und Bild, zusammengestellt von dem ­Philosophen Robert Ziegler, gezeichnet von Gian Gisiger.
Licht und Sicht sind für das antike Denken von gleicher Natur. Sehen ist daher bald ein mildes Feuer,
das vom Auge ausstrahlt (Platon, um 428–348 v. Chr.), bald ein Auftreffen kleiner Abbilder der Dinge
auf dem Auge (Epikur, um 341–271 v. Chr.).
66
Wenn der Mystiker hofft, zur Schau Gottes zu gelangen, bekommt er mehr, als er erhofft hatte:
Gott schaut zurück, und er schaut sich und den Schauenden mit dessen eigenem Auge an
(so Meister Eckhart, 1260–1328).
67
Phänomenologie (Edmund Husserl, 1859–1938, Maurice Merleau-Ponty, 1908–1961)
René Descartes (1596–1650)
Eine geometrische Welt, ohne Licht und Farbe, trifft auf ein Auge, das sie dank einer ­­
„natürlichen Geometrie“ entziffert und interpretiert – so begründet Descartes die ­­
naturalistische Idee des Sehens.
68
Für die Phänomenologie kann der Mensch nur etwas sehen, weil er nie alles sieht, sondern die Welt
stets nur „abgeschattet“ wahrnimmt – eine Welt, die ihn immer schon angeht und anspricht.
69
70
www.roeckl.com
Ein Gefängnis, in dem ein Wächter in der Mitte die Gefangenen stets sehen kann, diese ihn ­aber
nie: das ist nach Foucault der Traum der sich disziplinierenden Gesellschaft – bis jeder den Wächter
in sich trägt.
Robert Ziegler ist promovierter Philosoph und lehrt an der
Julius-­Maximilians-Universität Würzburg.
Gian Gisiger ist Grafiker und Illustrator. Als Mitarbeiter des
Bureau Mirko Borsche gestaltete er lange für MAX JOSEPH
die Kulturtipps.
Michel Foucault (1926–1984)
175
Jahre
Leoš Janáček komponierte
eine Sprache der Körper –
­erklärt der Dirigent Tomáš
Hanus im Interview.
Mehr
als
Worte
Die Werke von Leoš Janáček faszinieren und begleiten Tomáš
­Hanus seit früher Jugend. Der an der Janáček-Akademie für Musik
und Darstellende Kunst in Brünn ausgebildete Hanus dirigierte
­regelmäßig an den Opernhäusern von Prag, Helsinki, Paris, Basel,
Dresden, Berlin, Paris und Lyon. Ab 2007 war er für zwei Spielzeiten Musikalischer Direktor des Nationaltheaters Brünn. Als Konzertdirigent arbeitet er mit Orchestern wie dem Bayerischen
Staatsorchester, dem Ensemble intercontemporain, dem Orchester
des Teatro Real in Madrid, der Camerata Salzburg und dem BBC
Symphony Orchestra. An der Bayerischen Staatsoper dirigierte er
bereits die Premierenserien von Rusalka und Hänsel und Gretel
sowie Jenůfa. Gemeinsam mit dem Verlag Bärenreiter erarbeitete
Hanus eine kritische Neuedition von Die Sache Makropulos, die bei
der Neuinszenierung dieser Oper an der Bayerischen Staatsoper
zum ersten Mal Verwendung findet.
72
MAX JOSEPH Leoš Janáček ist besonders für seinen
Umgang mit der menschlichen Sprache bekannt und dafür, wie er sie in Musik transformiert. Blicke Küsse Bisse
– Spielzeitthema der Bayerischen Staatsoper – sind Gesten und Interaktionen von Körpern jenseits der Worte.
Wie klingen diese in Janáčeks Musik?
TOMአHANUS Janáčeks Musik sagt weit mehr als
das, wozu Worte fähig wären. Natürlich ist sein Ausgangspunkt die Melodie der Worte. Doch er übertrifft
mit seiner Musik die Kapazität eines Wortes. Manchmal schafft er sogar bewusst einen Gegensatz – hässliche Worte treffen auf wunderschöne Musik. Und
ganz deutlich trägt die Musik der Figuren seiner Bühnenwerke bereits eine gewisse Körpersprache in sich.
MJ Wie schafft er diese „Körpersprache“ der Musik?
TH Janáčeks Musik wirkt nie kalkuliert. Ich könnte versuchen, es damit zu beschreiben, dass er sie
aus dem Inneren der Erde herausgerissen hat. Sie
ist pures Leben! Weil sie von den Abgründen der
Menschen spricht, den Höhen und Tiefen. Nicht im
philosophischen Sinne, nicht in der Theorie, sondern in der Praxis. Sie hat eine Wahrhaftigkeit, die
den Menschen als Ganzes denkt. Noch bevor Emilia
Marty in Die S
­ ache Makropulos die Szene betritt,
kann man an den ersten Tönen hören, dass etwas
Außerordentliches passieren wird. Man spürt schon
in der Musik die Figur, ihre Schwächen, aber zugleich auch eine unglaublich starke Persönlichkeit.
MJ Emilia Marty hat im Drama durch ihre Langlebigkeit
durchaus etwas Übernatürliches, Unmenschliches. Wie
macht Janáček sie menschlich?
TH Janáček war es wichtig, eine Figur nie in einen
vereinfachten Kontext zu stellen. Eine durch und
durch positive oder negative Figur findet man in
Die Sache Makropulos nicht. Er zeigt Menschen,
mit Fehlern, mit Schwächen, mit der Sehnsucht,
zu lieben und geliebt zu werden. Seine Musik ist
aus dem menschlichen Erleben gewachsen.
MJ Es wird oft vom psychologischen Realismus Janáčeks
gesprochen. Janáček nutzt die alltägliche Sprache, um einen Blick auf die innere Wahrheit einer Figur zu werfen.
Wonach sucht man da als Dirigent mit den Darstellern?
TH Über die Jahre, die ich mich mit Janáček befasse, ist mir bewusst geworden, dass es gefährlich
sein kann, auf der Bühne allzu eindeutige Gefühle
und Haltungen zu zeigen. In seinen Werken ist es
wie im Leben: Alles ist voller Widersprüche. Wenn
man Raum für die musikalische Aussage schafft
und sie nicht durch zu viele Erklärungen der szenischen Sprache blendet, dann fühlen sich die Zuschauer komischerweise eher dazu eingeladen, in
die Tiefe des Stücks zu gehen.
MJ Seinen sezierenden Blick auf die Wirklichkeit wirft er
nicht aus der Distanz eines Allwissenden.
Premiere Die Sache Makropulos
TH Absolut. Janáček wollte, dass man zumindest
Mitgefühl mit den Figuren hat, dass man sie liebt.
Er hat diese Emilia Marty mehr geliebt als der
Schriftsteller Karel Čapek, der sie in seiner Komödie erbarmungslos weiterleben lässt. Janáček lässt
sie sterben, weil er sie liebt. Und weil er will, dass
das Publikum sie liebt. Janáčeks Intuition war, dass
ihr Tod nicht nur eine Tragödie sein muss, sondern
auch eine Erlösung für sie sein kann.
MJ Allerdings gibt es in diesem Tod keine Verklärung, im
Gegensatz etwa zu Wagners Dramen. Dort stirbt einer für
den anderen. Marty hingegen stirbt einsam und allein.
TH In den Schlüssen aller Opern Janáčeks gibt
es – mit Ausnahme von Katja Kabanova – eine Art
von Apotheose. Zugleich ist immer eine starke
Ambivalenz zwischen Wort und Musik präsent.
Man hört die wunderschönste Melodie zu Martys
Aussagen wie: Das Leben hat keinen Sinn, für
mich existiert nichts mehr. Die letzten zehn bis
zwölf Minuten von Makropulos sind eine kaum zu
ertragende Aussage eines leidenden Menschen –
auch darüber, auf wieviel Ignoranz, Kälte, Stolz
und Erbarmungslosigkeit man unter Menschen
treffen kann. Dazu erklingt aber eine lyrische Musik, die sich bis zum Tod Martys steigert. In gewisser Weise ist offen gelassen, was da ausgedrückt
wird: Ewiges Leben nach 300-jährigem Leiden?
Das Ende des Leidens? Eine Apotheose dessen,
was man Liebe nennen kann oder Mitgefühl oder
Beziehung oder Leben?
MJ Hat das Leiden der Emilia Marty mit dem Faktor
Zeit zu tun oder war sie von Anfang an nicht fähig z­ ur
Liebe?
TH Wenn man Text und Musik befragt, kann man
sehen, dass sie am Anfang ein normales Leben geführt hat. Das scheinbar Monsterhafte in ihr, ihre
Gleichgültigkeit haben diese unendlichen Jahre der
Einsamkeit verursacht. Und die Einsicht, dass man
grundsätzlich immer nur zwei Sachen von ihr will:
Sex und Geld.
MJ Kann man gerade diese Erfahrung nicht auch in einem kürzeren Leben machen? Marty wird es ermöglicht,
ungeheuer lange jung und damit auch schön und begehrenswert zu sein. Das Problem liegt daher wahrscheinlich
nicht nur in den 300 Lebensjahren. Aber durch die 300
Jahre erlebt sie die Erfahrung, vor allem Objekt der Anbetung zu sein, wie durch die Lupe.
TH Genau. Wer den Zynismus, der so scharf ist,
über die Jahre immer intensiver mitbekommt, hat
wohl keine Kraft mehr, Mensch zu sein. Zumindest
ist das menschliche Dasein dadurch sehr gestört.
MJ Ist es nicht ein pessimistischer Schluss, wenn die Essenz des menschlichen Lebens, die Marty durchlebt, dazu
führt, dass man sterben will?
Tomáš Hanus
TH Nein, das empfinde ich nicht so. Für mich
e­ nthält der Schluss eine starke Geste der Menschlichkeit, weil Emilia mit ihrer eigenen Geschichte
versöhnt wird.
MJ Martys Existenz als Bühnendarstellerin spielt mit
dem virtuosen Wechsel der Identitäten und Masken. Unterscheidet die Musik maskierte Momente von solchen, in
denen die Maske plötzlich fällt?
TH Die erfolgreiche und souveräne Persönlichkeit
von Marty wird immer sensibler, wenn sie auf ihre
Kindheit oder Jugend angesprochen wird, und
wenn sie selbst darüber spricht. Janáček verwendet
in diesen Passagen die Viola d‘amore, und er lässt
sie in einer ungewöhnlich hohen Lage spielen, in
der sie ganz strahlend, im positiven Sinne dünn und
rein klingt – fast wie die Unschuld eines Kindes.
MJ Hat sich Janáček für das Thema Selbstbestimmtheit
der Menschen oder noch konkreter, Selbstbestimmtheit
der Frau interessiert?
TH In allen seinen Opern findet man Frauen, die
reifen, weil sie durch ihre vom Mann festgelegte
Rolle misshandelt wurden. Ich spreche nicht nur
von körperlicher Misshandlung. Frauen sind in den
Beziehungen und den sozialen Zusammenhängen,
die Janáčeks Opern behandeln, immer die Nummer
zwei. Janáček zeigt, wie falsch dieser Blick ist. Der
Akt der Selbstbestimmung, zu der sich die Frauen
durchringen, und sei es wie in Katja Kabanova auf
tragische Weise durch Selbstmord, ist in jeder
Oper zu spüren. Emilia Marty entscheidet am
Ende, ihr Leben nicht zu verlängern. Diese Freiheit, sich gegen das Schicksal zu wehren, und
gleichzeitig ein anderes Schicksal anzunehmen, ist
schon etwas Starkes.
Das Interview führten Miron Hakenbeck und Maria März.
Die Sache Makropulos
Oper in drei Akten
Von Leoš Janáček
Premiere am Sonntag, 19. Oktober 2014,
Nationaltheater
STAATSOPER.TV: Live-Stream der Vorstellung auf
www.staatsoper.de/tv am Samstag, 1. November 2014
Weitere Termine im Spielplan ab S. 93
73
Gemalte Augenblicke
Das menschliche Gehirn erschafft sich beim Sehen wie ein Künstler
ein eigenes Bild von der Welt. Auf welche Weise das geschieht, erklärt
der Wissenschaftspublizist Ernst Peter Fischer.
Wer ein Bild malt, muss dabei in kleinen Schritten vorgehen.
Ein Gesicht entsteht nicht in einem Pinselstrich. Linie für Linie, Punkt für Punkt und Rundung für Rundung muss der
Künstler auf die Leinwand setzen. Das menschliche Gehirn unternimmt etwas Vergleichbares, wenn es seine Augen in die
Welt hinausschauen und im Kopf dabei ein Bild entstehen lässt.
Dies sei demnach die Hypothese: Die Blicke auf die Dinge und
das dazugehörige Bild der Welt kommen durch ein malendes
Schauen im Gehirn zustande. Um diesen vielleicht überraschenden Gedanken verständlich machen und seinen wissenschaftlichen Hintergrund skizzieren zu können, muss man dem
Weg nachgehen, der vom Licht zum Sehen führt; muss der Kette der Signale folgen, die mit den im Auge eintreffenden Strahlen beginnt und mit dem bewussten Sehen endet. Die wichtigen Schaltstellen lassen sich dabei schon mit wenigen Worten
beschreiben. Wenn Licht ins Auge fällt, trifft es auf die Netzhaut und wird dort von Sehzellen aufgenommen. In ihnen
­befinden sich lichtempfindliche Strukturen, die als Fotorezeptoren bekannt und in der Lage sind, aus dem Lichtsignal ein
elektrisches Geschehen zu machen. In dieser neuen Form gelangt die visuelle Information in die Nervenzellen (Neuronen),
die zum Gehirn führen und sich in ihm bemerkbar machen. Das
Gehirn agiert dabei als ein zentrales Nervensystem. Die ankommenden elektrischen Ströme reizen die dort versammelten Nervenzellen. Es gilt zu verstehen, wie der Übergang von den Sehzellen auf der Netzhaut zu den Neuronen des Gehirns verläuft.
Der für die Hypothese des Malens entscheidende Vorgang
spielt sich an dieser Umschaltstelle ab, und ihm gilt daher unsere Aufmerksamkeit.
1
2
Ganglienzelle
rezeptives Feld
3 Licht
1
2
3
Ein rezeptives Feld besteht
aus Sehzellen, die hier als
Stäbchen zu sehen und die
mit einer einzelnen Nervenzelle verbunden sind. Diese
Nervenzelle, die auch
Ganglienzelle heißt, wird nur
dann aktiv werden und
Informationen an das Gehirn
weiterleiten, wenn das
Lichtmuster im rezeptiven
Feld auf sie zugeschnitten ist.
Manche Ganglienzellen
reagieren auf Lichtpunkte,
andere auf Linien, wobei
insgesamt geometrische
Muster erkennbar werden.
Sie sind den Elementen
vergleichbar, mit denen ein
Künstler ein Bild auf eine
Leinwand malt.
Der Trick: Nur eine Nervenzelle
Ein fundamentaler Trick der beiden Fensterlein im Kopf und
des ihnen angeschlossenen Gehirns besteht darin, nicht jede
einzelne lichtempfindliche Zelle der Netzhaut an je ein Neuron
zu koppeln, sondern nur eine ausgewählte Nervenzelle allein
mit der Verarbeitung der Sinnesmeldungen zu beauftragen.
Diese Nervenzelle heißt in der Fachsprache Ganglienzelle (siehe hierzu auch die Illustration). Was auf den ersten Blick riskant erscheint und die Gefahr in sich birgt, einige der Infor-
74
Rubrikentitel
Illustration
Yvonne Gebauer
75
Das von Menschen erblickte
Bild der Welt in ihrem Kopf ­
ist keine Fotografie, sondern
eine produktive Leistung ­
ihres Gehirns.
Tiefen des Gehirns, wobei die Geometrie zum Glück übersichtlich bleibt. Es gibt kreisförmige rezeptive Felder, und es gibt
Neuronen, die von Balken oder rechteckigen Flächen informiert
werden. Im Hirn können die Forscher sogar Zellen ausfindig
machen, die neben dem Muster auch noch erkennen können,
ob dieses ruht oder vorwärts beziehungsweise rückwärts bewegt wird. Die Lehrbücher präsentieren hier eine verblüffende
Vielfalt von Einsichten.
Die gemalte Welt
mationen zu verlieren, die das Auge erreichen, erweist sich
beim zweiten Hinschauen als Wunderwaffe. Sie wirkt gegen
das, was Bürger des 21. Jahrhunderts als Datenmüll nur allzu
gut kennen (und fürchten). Unser visuelles System macht seit
Millionen Jahren die Erfahrung, dass in der Welt zu viel gleichzeitig passiert und zu viele Informationen einströmen. Die große Kunst besteht also darin, die richtige Auswahl zu treffen.
Genau das versucht der im Auge beginnende Umschaltvorgang
von Sehzellen zu Sehneuronen, die schließlich gebündelt als
ein optischer Nerv das Auge verlassen und ins Gehirn ziehen.
Wie kann diese Auswahl gelingen? Die wunderbar einfache
Antwort steckt in dem Wort „Muster“. Tatsächlich bringen die
vielen Sehzellen die Ganglienzelle, der sie Meldung erstatten,
nur dann dazu, aktiv zu werden und dem Gehirn etwas zu melden, wenn das auftreffende Licht ihnen ein Muster präsentiert.
Die Sehzellen, die einem Ganglion zuarbeiten, bilden gewissermaßen seinen Empfangsbereich, für den die Fachwelt den
Ausdruck „rezeptives Feld“ benutzt (siehe Illustration). Rezeptive Felder aktivieren die angeschlossene Nervenzelle nur
dann, wenn sie bestimmte, geeignete Muster empfangen. Das
Gehirn erfährt also nicht alles, was das Auge erreicht, sondern
nur, welche Muster in den Empfangsfeldern beim Lichteinfall
auszumachen sind. Die Empfangsstrukturen halten sich dabei
strikt an geometrische Regeln. Sie können zum Beispiel für den
Empfang kreis- oder ringförmiger Formen angelegt sein. In diesen Fällen erhält das Gehirn Nachricht darüber, ob auf der Netzhaut etwa ein heller oder ein dunkler Lichtpunkt registriert werden konnte. Das Gehirn erfährt also nur, was die von den rezeptiven Feldern informierten und aktivierten Ganglienzellen ihm
mitteilen. Und diese Zellen werden genau dann elektrische Signale zum Gehirn weiterleiten, wenn sowohl die Form des rezeptiven Feldes als auch das in ihm wirkende Lichtmuster übereinstimmen. Es gibt beispielsweise kreisförmige Felder, die
dem Gehirn dann etwas melden, wenn die Zellen am Rand Licht
empfangen, während das Zentum unbeleuchtet bleibt. Es gibt
umgekehrt Felder, die dem Gehirn Lichteinfall nur melden,
wenn die Mitte des Zellenbündels beleuchtet wird, während es
am Rand dunkel bleibt. Man findet insgesamt eine Vielzahl von
rezeptiven Feldern beim Sehen. Und sie existieren nicht nur bei
Ganglienzellen, sondern auch beim weiteren Eindringen in die
76
Das vom Menschen erblickte Bild der Welt ist also keine Fotografie, sondern eine produktive Leistung seines Gehirns. Wer
die rezeptiven Felder vom ästhetischen Standpunkt der Geometrie aus betrachtet, wird sich erfreuen an den wunderbar
runden oder elegant geradlinigen Grundstrukturen des visuellen Systems. Dabei fällt auf, dass solche Formen in der eher
krumm gewachsenen Natur höchst selten sind. Der Mensch
konstruiert sich also sein eigenes Bild von der Welt, denn er
kann besonders gut das erkennen, was er selbst hergestellt hat.
Mit diesem Wissen um die Kreativität des visuellen Systems
können wir auch verstehen, was Menschen an Gemälden so
fasziniert. Ein Künstler vollzieht als bewussten Vorgang der
Bildgestaltung ja genau das, was jeder Einzelne von uns sehend unbewusst durchführt. Ein Gemälde visualisiert gleichsam, was im Gehirn angelegt und aus einem Menschen heraus
möglich ist. Campus Freunde
Sie verschenken eine Mitgliedschaft für die
Campus Freunde, wir verschenken vier Logenplätze!
Ernst Peter Fischer ist Professor für Wissenschaftsgeschichte an der Universität Heidelberg.
Er engagiert sich seit längerem für die Vermittlung
von naturwissenschaftlichen Erkenntnissen als
Teil der Allgemeinbildung. Unter anderem veröffentlichte er 2001 den Beststeller Die andere Bildung und bloggt auf scienceblogs.de.
Beschenken Sie sich oder Ihre Liebsten bis Ende 2014 mit einer Campus Freunde-Mitgliedschaft!
Als Dankeschön verlosen wir unter allen Schenkern 2 × 2 Plätze in der Premium-Circle-Loge für die Vorstellung
La forza del destino am 10. Mai 2015 mit Anja Harteros und Campus-Botschafter Jonas Kaufmann.
Weitere Informationen:
www.staatsoper.de/partner Rubrik: Fördervereine / Campus Freunde
Bei Fragen zur Mitgliedschaft wenden Sie sich bitte an: T 089.21 85 10 40 oder [email protected]
Portfolio
Ross Rawlings
Portfolio
Ross Rawlings, Charlotte
2010 / 2011
Worte. Berührungen. Blicke. Davon
nährt sich das Liebespaar. Wie weit
kann ich zum geliebten Wesen
vordringen? Können mich Worte
zum anderen führen? Oder sind die
Worte der Liebe nur Floskeln,
banal, tausendfach wiederholt,
weil es nicht anders sein kann, da
Liebe weder interessant noch
unterhaltsam ist, wie Roland
Barthes in seinen Fragmenten einer
Sprache der Liebe schreibt? Also
lieber nicht sprechen, nicht sagen,
wie sehr ich den anderen liebe, und
so das Geheimnis, die Sensation
bewahren? Bringen nur körperliche
Berührungen mich dem anderen
näher? Aber warum wenden wir
dann den Blick ab, schließen die
Augen? Würde mein Blick etwas
zerstören? Ross Rawlings’ Fotografien seiner Serie Charlotte aus den
Jahren 2010 und 2011, auf denen ­
der Künstler seine eigene Liebesbeziehung darstellt, werfen solche
Fragen auf. Die Blicke des Paares
gehen aneinander vorbei. Voller
Wissen um etwas Verlorenes. Sie
scheinen sich auch das Sprechen zu
verbieten: die Hände vor den Mund
gelegt, wie um die Verzauberung
nicht den gegenseitigen Vorwürfen
ausliefern zu müssen, oder der
Banalität. Im Rückblick ist ihre
Liebe gescheitert. Sie sind verloren
– füreinander, aber nicht für die
Liebe. Denn ihre Gesten und Blicke
wissen um deren Gefahren und
Möglichkeiten.
– SV
80
82
TV
erleben Sie ausgewählte
05.10.2014
STRAUSS – Die schweigsame Frau
opern- und Ballettaufführungen
01.11.2014
JAnáček – Die Sache Makropulos
live und kostenlos
11.01.2015
RATMAnSkY / PeTIPA – Paquita (Ballett)
auf www.staatsoper.de /tv
01.02.2015
DonIzeTTI – Lucia di Lammermoor
12.04.2015
DonIzeTTI – L’elisir d’amore
19.05.2015
SIMon / MALIPHAnT / BARTon – Der gelbe klang
(Ballett)
06.06.2015
86
2014
BeRG – Lulu
04.07.2015
DeBUSSY – Pelléas et Mélisande
Juli 2015
Live-Stream von den Münchner opernfestspielen (TBA)
2015
„Ich weiß,
wie ich aussehe“
Florian Deroubaix
ist 28 Jahre alt,
Physiotherapeut,
St. Pauli-Fan und
von Geburt an
blind. Seit knapp
drei Jahren ist er
in einer glücklichen Beziehung.
Im Interview mit
MAX JOSEPH
beschreibt er
seine Vorstellung
vom Visuellen
und was ihm
Äußerlichkeiten
bedeuten.
MAX JOSEPH Ab welchem Moment
wussten Sie, dass Sie verliebt sind in
Ihre Freundin?
FLORIAN DEROUBAIX Es war keine
Liebe auf den ersten Blick. Sie war
Patientin bei mir in der Praxis.
MJ Was ist Liebe auf den ersten Blick bei
Blinden?
FD Für jemanden, der nichts sieht,
kann die Stimme eines Menschen
ein erster Parameter sein. Die Parallele zu dem, was Sehende über das
Aussehen eines Menschen empfinden. Die Stimme ist das Erste, was
man auch aus der Ferne mitbekommt. Ob sich dann mehr daraus
ergibt, merkt man ja so oder so erst,
wenn man sich näher kommt, sich
riecht, fühlt, und so weiter.
MJ Hat Ihnen die Stimme Ihrer Freundin
gefallen?
FD Ja, natürlich. Wir haben uns aber
über Gespräche kennengelernt. Sie
war am Tag vor meinem Geburtstag
als letzte Patientin in der Praxis. Am
nächsten Nachmittag hat sie einen
selbstgebackenen Kuchen vorbeigebracht. Jemand, der sich für dich
abends noch in die Küche stellt nach
einem langen Tag, das ist schon ein
Zeichen der Wertschätzung. Der
Rest bahnte sich ganz langsam an.
MJ Ist Ihre Partnerin blind oder sehend?
FD Es gibt Partnerschaften von Blinden mit Blinden und von Blinden mit
Sehenden. Meine Partnerin sieht.
Ich gebe gern zu, dass das Annehmlichkeiten mit sich bringt. Das soll
nicht pragmatisch klingen, aber es
ist schön, wenn jemand beispielsweise Autofahren kann. Wenn beide
blind sind, verstehen sie aber einander in gewissen Situationen besser.
Das Blindsein war bei uns am Anfang manchmal Thema, es war nicht
ganz nachvollziehbar, warum gewisse Sachen schwierig sind für jemanden, der sieht oder nicht sieht. Zwei
Menschen, die in der gleichen Welt
leben, haben diesen Prozess nicht
zu bewältigen.
88
Interview Christiane Lutz
MJ Ihre Freundin lernt aber durch Sie ja
auch eine neue Welt kennen.
FD Eine neue Sichtweise auf die
Welt, so würde ich das formulieren.
Ich nehme die Dinge anders wahr,
ja. Beim Kochen bin ich derjenige,
der abschmeckt. Sie sagt, ich kann
das.
MJ Wo kollidieren Ihre Lebenswirklichkeiten im Alltag?
FD Sie versucht beispielsweise, mir
etwas zu reichen, ich guck nicht hin
und wir fassen aneinander vorbei.
Das ist aber dann eher komisch. Wir
nehmen uns beide nicht zu ernst.
„Das Thema
Äußerlichkeit
beschäftigt mich
natürlich. Auch,
weil ich mir
denke: Leute,
stellt euch nicht
so an.“
– Florian Deroubaix
MJ Unsere Welt ist über-visuell. Wer
sieht, ist ständig und überall mit optischen Reizen konfrontiert, die ihn beeinflussen, Klischees prägen, Erwartungen
an den Partner schüren. Beschäftigt Sie
das Thema Visualität und Äußerlichkeit
überhaupt?
FD Das beschäftigt mich natürlich.
Auch, weil ich mir denke: Leute,
stellt euch nicht so an. Es gab Zeiten, wo ich unter Äußerlichkeiten
gelitten habe, in der Pubertät zum
Beispiel, da hat man das breite
Kreuz noch nicht.
MJ Äußerlichkeiten sind Ihnen also
nicht weniger wichtig als sehenden
Menschen?
FD Doch, vielleicht schon. Aber
das liegt auch an mir als Mensch.
Ich kenne auch Blinde, die sehr genaue Vorstellungen davon haben,
wie ihr Partner aussehen soll. Wir
sind nicht frei davon. Manchen gefällt es zu wissen: Ich habe eine
blonde Freundin.
MJ Aber doch nur, wenn sie eine Vorstellung davon haben, wofür blond angeblich steht?
FD Man assoziiert bestimmte Dinge
mit Haarfarben, wie die Sehenden
auch. Aber es gibt auch die, die nur
nach inneren Werten gehen. Ich versuche, die gute Mitte zu finden. Ich
habe Vorstellungen von dem, was
ich an einer Frau mag. Ich fahre aber
89
kein Selektionsprinzip. Ich hatte
beispielsweise nie ganz dünne Frauen, sie hatten immer eine Körperlichkeit, Frau halt.
MJ Sie sind blind geboren. Können Sie
sich Visualität ausmalen?
FD Man sagt mir, ich hätte eine sehr
gute Vorstellung von den Dingen.
Ich bin sehr neugierig und kann viele Sachen erfühlen. Das einzige, was
nicht geht, sind Farben. Aber die
sind ja auch sehr assoziativ und
werden von sehenden Menschen
­
unterschiedlich wahrgenommen. In
Bezug darauf, was sie an Stimmung
ausdrücken. Ich lasse mir gern die
Farbe dazusagen, wenn mir jemand
etwas beschreibt, auch wenn ich sie
nicht erfühlen, erfahren kann. Aber
sie ­gehört dazu.
MJ Nach allem, was Sie wissen: Haben
Sie eine Lieblingsfarbe?
FD Schwarz und dunkle Farben.
Schwarz ist flexibel, das kann man
auf Feiern tragen. Und ich muss im
Job schon immer weiß anziehen.
MJ Können Sie etwas mit dem Kompliment anfangen: „Sie sind ein gutaussehender Mann“?
FD Wenn dem so ist! Jeder, der sagt,
dass ihm das Kompliment egal sei,
der lügt. Das bedeutet mir schon
was. Attraktiv zu sein bedeutet, anziehend sein. Das ist eine Aufwertung des Selbst.
MJ Wissen Sie denn, ob Sie nach gängigen Standards attraktiv sind?
FD Ich weiß, wie ich aussehe. Ich
weiß, dass ich nicht ganz klein bin
und etwas längere, dunkle Haare
habe. Aber ich weiß nicht, ob das
gut ist oder nicht.
MJ Wie treffen Sie optische Entscheidungen? Warum tragen Sie beispielsweise Bart?
FD Weil es bequemer ist. Ich komme
ursprünglich aus der linken Szene,
die mein Erscheindungsbild prägte.
Für mich waren Lederjacken immer
90
geiler als Sackos. Das ändert sich
gerade ein bisschen. Mein Spektrum erweitert sich. Wenn es von
meinem Lieblingsverein St. Pauli
jetzt auch ein Polo-Hemd gibt, warum nicht?
MJ Also ist es Ihnen wichtig, wie Sie
aussehen?
FD Es ist mir wichtig, etwas durch
mein Auftreten zu vermitteln. Dem
Manager ist es wichtig, dass man
sieht, in welcher Gehaltsklasse er
verkehrt, und mir ist es wichtig, dass
man sieht, welchen Fußballverein
ich mag. T-Shirts waren für mich
lange Zeit ein gutes Medium, um
Botschaften rauszuhauen. Da standen Sachen drauf wie: „Nazis raus!“,
„St. Pauli gegen Rechts!“
MJ Sie arbeiten als Physiotherapeut.
Was ist „der erste Blick“ bei der Arbeit?
FD Das ist wohl der Befund. Dazu
gehört ein Gespräch und ein Haltungsstatus, dazu fasst man die
Rückseite des Patienten von oben
bis unten an. Frauen ist es übrigens
tendenziell angenehmer, dass ich
blind bin. Die sagen: wenn schon
ein männlicher Therapeut, dann einer, der mich nicht beglotzt.
MJ Als Physiotherapeut haben Sie mit
Menschen zu tun, deren Schmerzpunkte
Sie mit den Händen erfühlen müssen.
Fällt Ihnen das leichter als Sehenden?
FD Wir haben vielleicht mehr Potenzial, müssen aber genauso lernen,
das Gefühlte zu interpretieren. Auch
ich habe schon in eine falsche Richtung gedacht, wir sind da nicht unfehlbar.
MJ Blinde werden in Filmen und in der
Literatur oft mit einer gewissen Erhabenheit ausgestattet. Sie können häufig
trotz ihrer Blindheit etwas erkennen, das
Sehende nicht erkennen. Haben sehende Menschen da verkitschte Vorstellungen vom Blindsein?
FD Das Klischee, dass ein Blinder
ein besserer Physiotherapeut sein
muss, weil er viel mehr fühlen kann,
das ist sehr präsent. Ein ganz
schlimmes Klischee ist aber: Blinde
Menschen würden andere Menschen kennenlernen, indem sie ihnen ins Gesicht fassen. Ich hatte mal
eine Patientin, die Prostituierte war.
Die sagte: „Was zwischen den
­Beinen passiert, ist eine Sache. Das
Gesicht ist ein wahnsinnig intimer
Bereich.“ Wenn das jemand sagt,
der von Berufs wegen die Balance
zwischen Zulassen und Abgren­
zung finden muss, hat das für mich
ein großes Gewicht. Wenn ich einer
Frau ins Gesicht fasse, ist das eine
Form von Zärtlichkeit und höchst
­intim. Mehr über die Autorin auf S. 8
Spielplan
Manchmal
ist das Leben
ein Solo.
19.10.14
–
25.01.15
Oper
Leoš Janáček
Die Sache Makropulos
Musikalische Leitung Tomáš Hanus
Inszenierung Árpád Schilling
Nadja Michael, Pavel Černoch, Kevin Conners, Tara Erraught, Heike Grötzinger,
John Lundgren, Dean Power, Gustáv Beláček, Peter Lobert, Reiner Goldberg
So
Mi
So
Mi
Sa
19.10.14
22.10.14
26.10.14
29.10.14
01.11.14
18:00 UhrPremiere
19:30 Uhr
18:00 Uhr
20:00 Uhr
18:00 Uhr auch im Live-Stream auf www.staatsoper.de/tv
Ausstattungspartner der
Bayerischen Staatsoper
Wolfgang Amadeus Mozart
La clemenza di Tito
Musikalische Leitung Oksana Lyniv
Inszenierung Jan Bosse
Daniel Behle, Kristīne Opolais, Angela Brower, Hanna-Elisabeth Müller, Serena Malfi,
Tareq Nazmi
Do 23.10.14 19:00 Uhr
Bernd Alois Zimmermann
Die Soldaten
Musikalische Leitung Kirill Petrenko
Inszenierung Andreas Kriegenburg
Christoph Stephinger, Barbara Hannigan, Okka von der Damerau, Hanna Schwarz,
Michael Nagy, Heike Grötzinger, Tareq Nazmi, Daniel Brenna, Kevin Conners, ­
Tim Kuypers, Christian Rieger, Wolfgang Newerla, Peter Tantsits, David Sitka,
Dean Power, Nicola Beller Carbone, Alexander Kaimbacher, Johannes Terne,
Matthias Bein, Manuel Adt, Eric Price, Frederic Jost, Niklas Mallmann
Karten
Tageskasse der Bayerischen Staatsoper
Marstallplatz 5
80539 München
Sofern nicht anders
angegeben, finden alle
Veranstaltungen im
Nationaltheater statt.
Zeit für Musik
Augsburg 102.1 | Hof 102.3 | Ingolstadt 88.0 | Lindau 87.6 | München 102.3 | Nürnberg 87.6
Passau 95.6 | Regensburg 97.0 | Würzburg 89.0 | Bayernweit im Digitalradio | Bundesweit digital
im Kabel | Europaweit digital über Satellit Astra 19,2 Grad Ost | Weltweit live im Internet
br-klassik.de
Fr 31.10.14
So 02.11.14
Di 04.11.14
19:30 Uhr
19:00 Uhr
19:00 Uhr
T 089 – 21 85 19 20
[email protected]
www.staatsoper.de
93
Giuseppe Verdi
Gioachino Rossini
Richard Strauss
Rigoletto
Il turco in Italia
Die Frau ohne Schatten
Musikalische Leitung Stefano Ranzani
Inszenierung Árpád Schilling
Musikalische Leitung Paolo Arrivabeni
Inszenierung Christof Loy
Musikalische Leitung Kirill Petrenko
Inszenierung Krzysztof Warlikowski
Joseph Calleja, Franco Vassallo, Ekaterina Siurina, Rafal Siwek, Nadia Krasteva,
Tim Kuypers, Christian Rieger, Mária Celeng, John Carpenter, Anna Rajah
Alex Esposito, Olga Peretyatko, Renato Girolami, Antonino Siragusa, Nikolay Borchev,
Marzia Marzo, Petr Nekoranec
Sa 08.11.14
Di 11.11.14
Fr 14.11.14
Fr 28.11.14 19:00 Uhr
Mo 01.12.14 19:00 Uhr
Fr 05.12.14 18:00 Uhr
Robert Dean Smith, Ricarda Merbeth, Deborah Polaski, Samuel Youn,
Hanna-Elisabeth Müller, Dean Power, Eri Nakamura, Wolfgang Koch, Elena Pankratova,
Tim Kuypers, Christian Rieger, Renate Jett, Golda Schultz, Elsa Benoit,
Heike Grötzinger, Rachael Wilson, Andrea Borghini, Evgeny Kachurovsky,
John Carpenter
19:30 Uhr
19:00 Uhr
19:00 Uhr
Sa 20.12.14
Di 23.12.14
Sa 27.12.14
Giuseppe Verdi
Wolfgang Amadeus Mozart
Nabucco
Die Zauberflöte
Musikalische Leitung Paolo Carignani
Inszenierung Yannis Kokkos
Musikalische Leitung Dan Ettinger
Inszenierung August Everding
Ambrogio Maestri, Roberto de Biasio, Vitalij Kowaljow, Paoletta Marrocu,
Anna Malavasi, Goran Jurić, Golda Schultz, Matthew Grills
Günther Groissböck, Charles Castronovo, Tareq Nazmi, Ana Durlovski, ­
Hanna-Elisabeth Müller, Golda Schultz, Tara Erraught, Okka von der Damerau,
Tölzer Knabenchor, Christian Gerhaher, Mária Celeng, Alexander Kaimbacher,
Francesco Petrozzi, Ivan Michal Unger, Ingmar Thilo, Wolfgang Grabow,
Johannes Maximilian Klama, Walter von Hauff, Markus Baumeister,
Christoph Stephinger
Do 13.11.14
So 16.11.14
Fr 21.11.14
19:00 Uhr
19:00 Uhr
19:00 Uhr
Giacomo Puccini
Manon Lescaut
Musikalische Leitung Alain Altinoglu
Inszenierung Hans Neuenfels
Anna Netrebko, Markus Eiche, Jonas Kaufmann, Roland Bracht, Dean Power,
Christian Rieger, Ulrich Reß, Okka von der Damerau, Alexander Kaimbacher,
Evgeny Kachurovsky
Sa
Mi
Mo
Do
So
Do
So
15.11.14
19.11.14
24.11.14
27.11.14
30.11.14
04.12.14
07.12.14
19:00 UhrPremiere
19:00 Uhr
19:00 Uhr
19:00 Uhr
19:00 Uhr
19:00 Uhr
17:00 Uhr
Sa
Di
Do
So
06.12.14
09.12.14
11.12.14
14.12.14
18:00 Uhr
19:00 Uhr
18:30 Uhr
16:00 Uhr
Giacomo Puccini
17:00 Uhr
17:00 Uhr
16:00 Uhr
La bohème
Musikalische Leitung Dan Ettinger
Inszenierung Otto Schenk
Anita Hartig, Golda Schultz, Wookyung Kim, Andrei Bondarenko, Andrea Borghini,
Nicolas Testé, Christian Rieger, Peter Lobert
Fr 23.01.15 20:00 Uhr
Di 27.01.15 19:00 Uhr
Sa 31.01.15 18:00 Uhr
Gaetano Donizetti
L’elisir d’amore
Musikalische Leitung Asher Fisch
Inszenierung David Bösch
Ekaterina Siurina, Charles Castronovo, Roman Burdenko, Ambrogio Maestri,
Mária Celeng
Mo 29.12.14 19:00 Uhr
Mi 31.12.14 18:00 Uhr
Sa 03.01.15 18:00 Uhr
Wolfgang Amadeus Mozart
Le nozze di Figaro
Musikalische Leitung Ivor Bolton
Inszenierung Dieter Dorn
Gerald Finley, Véronique Gens, Angela Brower, Luca Pisaroni, Anita Hartig,
Georg Zeppenfeld, Heike Grötzinger, Alexander Kaimbacher, Kevin Conners,
Peter Lobert, Elsa Benoit, Anna Rajah, Marzia Marzo
Mo
Fr
Mo
Mi
08.12.14
12.12.14
15.12.14
17.12.14
18:30 Uhr
19:00 Uhr
18:30 Uhr
18:30 Uhr
Wolfgang Amadeus Mozart
Don Giovanni
Musikalische Leitung Constantinos Carydis
Inszenierung Stephan Kimmig
Christopher Maltman, Ain Anger, Erin Wall, Charles Castronovo, Véronique Gens,
Alex Esposito, Golda Schultz, Tareq Nazmi
Georges Bizet
Engelbert Humperdinck
Carmen
Hänsel und Gretel
Musikalische Leitung Omer Meir Wellber
Nach einer Produktion von Lina Wertmüller
Musikalische Leitung Tomáš Hanus
Inszenierung Richard Jones
Tareq Nazmi, Andrea Borghini, Yonghoon Lee, Gábor Bretz, Alexander Kaimbacher,
Dean Power, Eri Nakamura, Angela Brower, Clémentine Margaine, Golda Schultz
Sebastian Holecek 25. / 26.11. / 04.01. nachmittags, Markus Eiche 01. / 04.01. abends,
Michaela Martens 25. / 26.11., Sabine Hogrefe 01. / 04.01., Tara Erraught 25. / 26.11. /
04.01. nachmittags, Angela Brower 01. / 04.01. abends, Hanna-Elisabeth Müller 25.
/ 26.11. abends 04.01. nachmittags, Eri Nakamura 01. / 04.01. abends, Wolfgang
Ablinger-Sperrhacke 25. / 26.11., Kevin Conners 01. / 04.01. abends, Rainer Trost
04.01. nachmittags, Marzia Marzo, Mária Celeng
Fr 19.12.14
Mo 22.12.14
Fr 26.12.14
Di
Mi
Do
So
So
25.11.14
26.11.14
01.01.15
04.01.15
04.01.15
94
19:00 Uhr
19:00 Uhr
18:00 Uhr
14:00 Uhr
19:00 Uhr
19:00 Uhr
19:00 Uhr
18:00 Uhr
Sa 10.01.15
Di 13.01.15
Fr 16.01.15
18:00 Uhr
19:00 Uhr
19:00 Uhr
Gioachino Rossini
Guillaume Tell
Musikalische Leitung Dan Ettinger
Inszenierung Antú Romero Nunes
Michael Volle, Yosep Kang, Goran Jurić, Evgeniya Sotnikova, Günther Groissböck,
Kevin Conners, Enea Scala, Christian Rieger, Krassimira Stoyanova, Jennifer Johnston
So 18.01.15 18:00 Uhr
Mi 21.01.15 19:00 Uhr
So 25.01.15 17:00 Uhr
gefördert durch
95
Ballett
John Neumeier
Solisten und Ensemble des Bayerischen Staatsballetts
Bayerisches Staatsorchester
Die Kameliendame
Musik Frédéric Chopin
Musikalische Leitung Michael Schmidtsdorff
Solisten und Ensemble des Bayerischen Staatsballetts
Bayerisches Staatsorchester
24.10.14
25.10.14
22.11.14
23.11.14
29.11.14
19:30 Uhr
19:30 Uhr
19:30 Uhr
18:00 Uhr
19:30 Uhr
Mikhail Fokine / Bronislawa Nijinska / Terence Kohler
Les Ballets Russes
Musik Nikolai Rimski-Korsakow, Francis Poulenc, Peter I. Tschaikowsky
Musikalische Leitung Myron Romanul
Solisten und Ensemble des Bayerischen Staatsballetts
Bayerisches Staatsorchester
Di
28.10.14 19:30 Uhr
John Neumeier
Ein Sommernachtstraum
Musik Felix Mendelssohn Bartholdy, György Ligeti, Drehorgelmusik
Musikalische Leitung Michael Schmidtsdorff
Solisten und Ensemble des Bayerischen Staatsballetts
Bayerisches Staatsorchester
Fr
So
So
So
Do
So
So
Paquita
Musik Ludwig Minkus, Edouard-Marie-Ernest Deldevez u.a.
Musikalische Leitung Myron Romanul
Fr
Sa
Sa
So
Sa
Marius Petipa, Alexei Ratmansky
07.11.14
09.11.14
09.11.14
21.12.14
25.12.14
28.12.14
28.12.14
96
19:30 Uhr
15:00 Uhr
19:30 Uhr
18:00 Uhr
18:00 Uhr
15:00 Uhr
19:30 Uhr
Sa
Di
Do
Di
Fr
Do
Fr
So
13.12.14
16.12.14
18.12.14
30.12.14
02.01.15
08.01.15
09.01.15
11.01.15
19:30 UhrPremiere
19:30 Uhr
19:30 Uhr
19:30 Uhr
19:30 Uhr
19:30 Uhr
19:30 Uhr
18:00 Uhr auch im Live-Stream auf www.staatsoper.de/tv
John Cranko
Romeo und Julia
Musik Sergej Prokofjew
Musikalische Leitung Robertas Šervenikas
Solisten und Ensemble des Bayerischen Staatsballetts
Bayerisches Staatsorchester
Sa 17.01.15 19:30 Uhr
Do 22.01.15 19:30 Uhr
Sa 24.01.15 18:00 Uhr
Matinee der Heinz-BoslStiftung / Junior Company
So 16.11.14
So 23.11.14
11:00 Uhr
11:00 Uhr
Konzert
PARTNER DES BAYERISCHEN STAATSORCHESTERS
campus
Porträtkonzert des
Opernstudios
Seit 1841
Gesang Matthew Grills / Anna Rajah
2. Akademiekonzert
Mi 22.10.14
Antonin Dvořák / Sergej W. Rachmaninow
Gesang Rachael Wilson / Petr Nekoranec
Musikalische Leitung Gianandrea Noseda
Violine David Schultheiß
Fr
Mo 17.11.14
Di 18.11.14
20:00 Uhr
20:00 Uhr
12.12.14
19:30 Uhr
19:30 Uhr
Künstlerhaus
Künstlerhaus
Norbert Graf, Simone Sandroni
2. Kammerkonzert
Bayerisches Staatsballett II –
Lauda
Ottorino Respighi / Gabriel Fauré / Maurice Ravel
Musik und Musikalische Leitung Gavin Bryars
Sopran Aga Mikolaj
Ensemble des Bayerischen Staatsballetts II
The Gavin Bryars Ensemble
So 23.11.14
11:00 UhrAllerheiligen Hofkirche
Fr 14.11.14
Sa 15.11.14
Adventsmusik in St. Michael
OperaBrass
Die Blechbläser der Bayerischen Staatsoper
Orgel Frank Höndgen
Sa 13.12.14
20:00 Uhr
St. Michael
3. Akademiekonzert
Johannes Brahms / Alexander Zemlinsky
Musikalische Leitung Kirill Petrenko
Klavier Gerhard Oppitz
Sopran Adrianne Pieczonka
Bariton Michael Volle
Mo 05.01.15 20:00 Uhr
Di 06.01.15 20:00 Uhr
20:30 Uhr
20:30 Uhr
St. Michael Uraufführung
St. Michael
Arienabend des Opernstudios
Opernstudio der Bayerischen Staatsoper
So 23.11.14
20:00 Uhr
Cuvilliés-Theater
1. Kammerkonzert der
Orchesterakademie
Orchesterakademie des Bayerischen Staatsorchesters
Fr
28.11.14
20:00 UhrAllerheiligen Hofkirche
Hauptsponsor
der Orchesterakademie
3. Kammerkonzert
Erlebnistag
Ludwig van Beethoven / Claude Debussy / Robert Schumann
So 30.11.2014 10:00 Uhr
So 18.01.15
11:00 UhrAllerheiligen Hofkirche
ATTACCA-Opernabend
ATTACCA – Jugendorchester des Bayerischen Staatsorchesters
Kinderchor der Bayerischen Staatsoper
Solisten des Opernstudios
Mo 15.12.14
98
19:00 UhrPrinzregententheater
…und vieles mehr* finden Sie in München bei
RADSPIELER
*Tisch, Schrank, Bett und alles, was eine Wohnung schön macht.
F. Radspieler & Comp. Nachf. · Hackenstraße 7 · 80331 München
Telefon 089 -23 50 98-0 · Fax 089 -26 42 17
www.radspieler.com
Extra
Premierenmatinee
Manon Lescaut
So 02.11.14
MALEREI DES 18. JAHRHUNDERTS
11:00 Uhr
FOTOGRAFIE VOR 1900
AUS DER SAMMLUNG DIETMAR SIEGERT
Lucia di Lammermoor
So 18.01.15
VENEDIG SEHEN…
11:00 Uhr
Operndialog
Die Sache Makropulos
Teil 1: So
Teil 2: Mo
26.10.14
27.10.14
10:00 Uhr
18:00 Uhr
Capriccio-Saal
Capriccio-Saal
02.11.14
03.11.14
10:00 Uhr
18:00 Uhr
Capriccio-Saal
Capriccio-Saal
Teil 1: So
30.11.14
10:00 Uhr
Teil 2: Mo
01.12.14
18:00 Uhr
Ort wird auf www.staatsoper.de
bekannt gegeben
Capriccio-Saal
Die Soldaten
Teil 1: So
Teil 2: Mo
Manon Lescaut
Montagsrunde zu …
Zuschauer diskutieren gemeinsam mit Dramaturgen und Gästen die Themen einer
Neuinszenierung
Die Sache Makropulos
Mo 10.11.14
20:00 Uhr
Capriccio-Saal
Mo 08.12.14 20:00 Uhr
Capriccio-Saal
Manon Lescaut
Ballett extra: Proben zur
Premiere von Paquita
Ensemble und Ballettmeister des Bayerischen Staatsballetts Sa
06.12.14 20.00 Uhr Probenhaus, Platzl 7
100
09.10.2014–02.02.2015
NEUE PINAKOTHEK
KUNSTAREAL MÜNCHEN
Augenblicke der
Muße
Die Mitarbeiter der Oper em­p­fehlen,
was sie bezaubert und bewegt.
ALPIN-ORIENTALISCHES
MÄRCHEN
Von Lea Heutelbeck, Leiterin
der Videoabteilung
Wo, wenn ich nicht in den Alpen, kann
ein neuer Blick-Winkel auf die Dinge
entstehen? Den Gipfel einmal erklommen, wirken die Dörfer im Tal so klein,
das Treiben so weit weg. Genauso muss
das auch König Ludwig II gesehen haben. Er erbaute ab 1869 ein Königshaus
auf dem Schachen am Fuß des Wettersteinmassivs in 1.866 Metern Höhe. Der
Aufstieg kann nur zu Fuß von Elmau
über die Wettersteinalm oder durch die
Partnachklamm über den Kälbersteig
erfolgen. Das kostet Zeit und Anstrengung. Aber es lohnt sich!
Oben angekommen, beeindruckt mich
nicht nur die imposante Lage des Königshauses; auch das Innere hält eine
Überraschung bereit. Das Erdgeschoss
ist – wie erwartet – komfortabel im alpinen Design gestaltet. Als ich jedoch
das Obergeschoss betrete, versinke ich
sofort in ein orientalisches Märchen.
Plötzlich stehe ich in einem prachtvollen türkischen Saal, geschmückt mit
Wandornamenten, bestickten Hockern,
kostbaren Teppichen und einem Springbrunnen in der Mitte. Die bunt bemalten
Fenster verhindern dabei jeden Blick
nach draußen. Das alles macht das Königshaus am Schachen zu einem wirklichen Kurzurlaub für alle Sinne!
Königshaus am Schachen, geöffnet von Mai
bis Oktober, Führungen täglich 11.00, 13.00
und 15.00 Uhr, www.schloesser.bayern.de
JANE EYRE – ROLE MODEL
Von Anna Rajah, ­Sopranistin,
Mitglied im Opernstudio
102
Der Roman Jane Eyre von Charlotte
Brontë war bei seinem Erscheinen ein
­literarisches Ereignis. Seit meiner Kindheit inspiriert mich die innere Kraft
­dieser jungen Frau. Jane Eyre ist eine
Waise, wird von ihren Verwandten schikaniert und schließlich in ein Internat
abgeschoben. Dort schließt sie Freundschaft mit einem tuberkulosekranken
Mädchen, dem sie bis zu dessen Tod
nicht von der Seite weicht. Jane Eyre beginnt bald im Haus des mysteriösen Mr.
Rochester zu arbeiten, der sich in sie
verliebt. Als er ihr einen Heiratsantrag
macht, stimmt sie zu. Doch sie findet heraus, dass Rochester seine geisteskranke Frau auf dem Dachboden versteckt:
Eine Heirat wäre illegitim. Jane verlässt
Rochester voller Verachtung. Später erfährt sie, dass seine Frau im Wahn das
Haus in Brand gesetzt hat und Rochester
bei dem Versuch, sie zu retten, das Augenlicht verlor. Das berührt sie. Sie kehrt
zu ihm zurück, und die beiden heiraten.
Jane Eyre verkörpert für mich eine
unerschrockene, reflektierte junge Frau.
Und Charlotte Brontë, die den Roman
1847 noch unter dem geschlechtsneutralen Pseudonym „Currer Bell“ veröffent-
lichen musste, verrät mit dem Originaltitel – Jane Eyre. An Autobiography – dass
wir hier auch über sie selbst lesen.
Charlotte Brontë, Jane Eyre, aus dem
Englischen von Andrea Ott, Goldmann Verlag,
München 2011 (Original 1889; Erstveröffentlichung der Übersetzung 2001], 9,99 €
FRAUEN. KRIEG. LUSTSPIEL
Von Theresa Schlichtherle,
Spielleiterin
1914 und 2014: Zwei Jahreszahlen, die
in direktem Zusammenhang miteinander
stehen. Europa gedenkt des Beginns des
Ersten Weltkriegs. Gleichzeitig brennen
östlich unseres Kontinents die Krisenherde. Die eigene kriegerische Vergangenheit zwingt Europa, jede Art von Hilfeleistung genau zu überdenken. Was ist
richtig, was falsch? Trotz aller Versuche,
solche Traumata zu verarbeiten, steht
der Mensch jeder neuen Krisensituation
als Anfänger gegenüber. Inwiefern berührt mich die Vergangenheit, inwiefern
die Kriege, zwar vor der europäischen
„Haustür“, doch tausende Kilometer weit
weg? In meinem 2014 haben das nicht
Gedenkstunden fühlbar gemacht, sondern die Lektüre des Theaterstücks
Frauen. Krieg. Lustspiel, von Thomas
Brasch Ende der 1980er Jahre verfasst.
Zwei Frauenfiguren leben sich von Berlin an die Front, von Verdun nach Berlin.
Die Verarbeitung des Geschehenen vollzieht sich durch Schichten des Bewusstseins wie durch Generationen, sodass bald nicht mehr klar ist, wann die
Erlebnisse stattgefunden haben: 1914,
1924 oder 1984? Einzelschicksale öffnen die Diskussion über historische Ereignisse und den subjektiven Blick darauf, über das Kriegerische im Menschen
an sich und darüber, was es mit uns
macht: „ [ … ] und dann steht die Wahrheit da. Deine oder meine.“
Thomas Brasch, Frauen. Krieg. Lustspiel,
­Suhrkamp Verlag (Edition Suhrkamp),
­Frankfurt am Main 1989, antiquarisch
­erhältlich
Kulturtipps
KINDHEIT IM SPIEGEL
Von Jakob Spahn, Solocellist des
Bayerischen Staatsorchesters
Als ich ins Kino ging, um mir den neuen
Film von Richard Linklater anzuschauen, wusste ich nicht, was mich erwarten
würde. Boyhood – knappe drei Stunden,
die Geschichte eines amerikanischen
Mittelschichtsjungen. Eine Reise durch
seine Kindheit bis zum Collegealter. Der
Protagonist Mason lebt mit seiner
Schwester bei der Mutter, die in wechselnde Männerbeziehungen verstrickt
ist. Dies ist für die Kinder mit Umzügen
und schwierigen Anpassungsleistungen verbunden, da die Beziehungen regelmäßig – auch gewalttätig – scheitern. Der leibliche Vater, selbst noch auf
der Suche nach Stabilität und Reife,
bleibt nur bedingt Bezugsperson. Trotz
aller Probleme bahnen die Kinder sich
ihren eigenen Weg. Der Film wurde im
Zeitraum von zwölf Jahren gedreht. Man
kann beobachten, wie sich die Schauspieler in Echtzeit verändern. Es geht
also auch um Zeit, deren Wahrnehmung
und Vergänglichkeit. Das macht den
Film so authentisch. Durch intime Momentaufnahmen, die eigene Erinnerungen wecken, entsteht unweigerlich Empathie für die Hauptfigur Mason. Die
Geschichte wirkt wie ein Spiegel aller
Kindheiten überall auf der Welt. Durch
sein offenes Ende lässt der Film Raum
für eigene Gedanken, und auch nach
drei Stunden Kino hätte ich gerne noch
weiter zugeschaut.­
Boyhood, USA 2014, Regie und Drehbuch:
Richard Linklater, Darsteller: Ellar Coltrane,
­Patricia Arquette, Ethan Hawke, Lorelei
­Linklater
NONKONFORMIST
Von Jens van Bommel, Leiter
des Malersaals, Werkstätten
Bayerische Staatsoper
Mal abgesehen von „schnödem Hunger“ – etwas Aufregendes oder emotional Berührendes zu erschaffen ist sicherlich der primäre Antrieb der meisten Künstler. Vermutlich ist auch der
Wunsch groß, etwas zu hinterlassen,
wenn man selbst nicht mehr physisch
anwesend ist. So steht es jedenfalls in
den Biografien, die ich schon immer so
gerne gelesen habe. Die Beschreibungen Stefan Zweigs über Amerigo Vespucci oder Joseph Fouché verfolgten
mich schon als Jugendlicher bis in den
Schlaf. Sie, werter Leser, kennen die
Anziehung solcher Bücher sicherlich
auch. Doch das allein reichte mir bald
nicht mehr. Ich wollte Texte über Anarchos, Nonkonformisten, die nicht nur
genial waren, sondern auch ungewöhnlich. Nach Jahren mit Geschichten über
echte und erfundene Menschen hatte
ich dann das Glück, auf Karte und
­Gebiet zu stoßen. Mein Interesse für
Malerei und Geografie brachte mich zu
Michel Houellebecqs schräger Geschichte über den Künstler Jed Martin.
Ich habe sie verschlungen wie einst
Zweig und kürte sie zur einsamen Nummer eins meiner inneren Biografienliste.
Ob auch Michel Houellebecq damit etwas Aufregendes oder emotional Berührendes erschaffen hat, können Sie
nur herausfinden, wenn Sie das Buch
selbst lesen. Viel Spaß!
Michel Houellebecq, Karte und Gebiet,
­Dumont Verlag, Köln 2011, 9,99 €
Jani Leinonen, Chiquita & Elovena, 2009, Acrylic on printed canvas, 130 x 100 cm, Photo Vilhelm Sjöström
MAX JOSEPH 2
Vorschau
Auf BLICKE folgen …
Kusse
Sopranistin Diana Damrau und Regisseurin Barbara Wysocka –
Premiere Lucia di Lammermoor
Themenkonzerte des Bayerischen Staatsorchesters
MJ 2 2014-2015 erscheint am 22.1.2015
BOGNER HAUS MÜNCHEN
Residenzstraße 15
bogner.com
München
Residenzstrasse 6
089 238 88 50 00
Düsseldorf
Martin-Luther-Platz 32
0211 135 40 92
Frankfurt
Grosse Bockenheimerstr. 13
069 219 96 700
Hamburg
Neuer Wall 39
040 430 94 90
Wien
Am Kohlmarkt 4
01 535 30 53
Akris Boutique auf
www.akris.ch
Herunterladen