Auszug aus dem Buch

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Geisteswissenschaft
Johannes Doll
Zwischen HipHop und Kommerz
Identitätskonstruktionen im amerikanischen und im
deutschen HipHop
Magisterarbeit
Zwischen Widerstand und Kommerz – Identitätskonstruktionen
im amerikanischen und im deutschen HipHop.
Magisterarbeit
zur
Erlangung der Würde
des Magister Artium
der Philologischen, Philosophischen und Wirtschafts- und
Verhaltenswissenschaftlichen Fakultät der
Albert-Ludwigs-Universität
Freiburg i. Br.
vorgelegt von
Johannes Doll
aus Lahn-Wetzlar
WS 2005/06
Hauptfach Soziologie
Zwischen Widerstand und Kommerz – Identitätskonstruktionen
im amerikanischen und im deutschen HipHop.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung: „HipHop – and it don’t stop“
3
2. Über Castells’ Theorie der drei Identitätsformen
5
2.1
Soziale Bewegungen
7
2.2
Die Konstruktion von Identität
7
2.3
Die drei Typen der Identitätsbildung
9
2.4
Identität in der Netzwerkgesellschaft
10
2.5
Einordnung in die zeitgenössische Identitätsforschung
12
2.6
Anmerkungen zum methodischen Vorgehen
15
2.7
Anmerkungen zur Auswahl und zur Notation der Texte
18
3. HipHop als Konstruktion von Identität – Definition,
Paradigmen und Themen
20
3.1
HipHop als Form der Konstruktion von Identität
20
3.2
„Keep it real“ – Authentizität und Wettbewerb in der HipHop-Kultur
23
3.3
Themen der Rap-Musik
25
3.4
Definition von HipHop und Rap
26
4. US-amerikanischer HipHop
4.1
28
„Ich weiß noch genau, wie das alles begann…“ – Die Geburt der
HipHop-Kultur
4.2
28
4.1.1
Die Bürgerrechtsbewegung und ihre Folgen
29
4.1.2
Das Ghetto
30
Kurze Geschichte des amerikanischen HipHop
4.2.1
Die Old School
32
32
4.2.1.1 Die erste Phase der Old School
32
4.2.1.2 Die Zulu Nation
34
4.2.1.3 Die zweite Phase der Old School
35
4.2.1.4 Von Old School zu New School
37
1
4.2.2
4.3
4.4
Die New School
38
4.2.2.1 Eastcoast
38
4.2.2.2 Westcoast
39
4.2.3
Die neunziger Jahre
41
4.2.4
Das neue Jahrtausend
43
Analysen amerikanischer Rap-Lieder
44
4.3.1
Grandmaster Flash and The Furious Five – „The Message” (1982)
44
4.3.2
Public Enemy – „Fight the power” (1989)
50
4.3.3
Tupac – „Changes“ (1996)
56
4.3.4
Immortal Technique – „Harlem Streets“ (2003)
63
Vergleich der Identitätskonstruktionen im amerikanischen Rap
5. HipHop in Deutschland
66
68
5.1
Kulturimport aus den USA
68
5.2
Kurze Geschichte des deutschen HipHop
69
5.3
5.4
5.2.1
Die Alte Schule der deutschen HipHop-Kultur
69
5.2.2
Deutscher HipHop wird kommerziell erfolgreich
71
Analysen deutscher Rap-Lieder
73
5.3.1
Advanced Chemistry – „Fremd im eigenen Land“ (1992)
73
5.3.2
Cora E. – „Schlüsselkind“ (1996)
79
5.3.3
Freundeskreis – „Esperanto“ (1999)
84
5.3.4
Brothers Keepers – „Adriano (Letzte Warnung)” (2001)
88
5.3.5
Sido – „Mein Block“ (2004)
94
Vergleich der Identitätskonstruktionen im deutschen Rap
98
6. Schlussbetrachtung: kollektive Identitätskonstruktionen im
amerikanischen und im deutschen HipHop
7. Literatur- und Quellenverzeichnis
100
103
2
1.
Einleitung: „HipHop - And it don’t stop…”
Fährt man mit dem Zug in eine deutsche Großstadt wie Berlin oder Hamburg ein, so kann
man nur die Augen verschließen, um der Begegnung mit der HipHop-Kultur zu entgehen:
während der Einfahrt stechen dem Reisenden riesige Buchstabengebilde, „Graffiti“, ins
Auge, die die Bahnlinie zu beiden Seiten säumen. Graffiti gelten als allgegenwärtige Zeichen der Großstadt und sind der wohl berüchtigtste Ausdruck einer Jugendkultur, die zwischen Kommerzialisierung und Untergrund oszilliert – der HipHop-Kultur.
Diese Kultur, vor mehr als dreißig Jahren in den vor allem von Schwarzen bewohnten
Ghettos New Yorks entstanden, bedeutet mehr, als den öffentlichen Raum mit plakativen
Schriftzügen oder Figuren zu bemalen. Die Graffiti-Malerei ist nur ein Teil der Bewegung
namens HipHop, die sich selbst als Kultur auffasst und bezeichnet und, neben Techno, als
„die Jugendbewegung der neunziger Jahre [gilt]. HipHop ist das Lebensgefühl der Großstadtkids“ (Henkel/Wolff 1996:11). Neben Graffiti formen Rap, DJing und Breakdance in
der allgemein üblichen Definition von HipHop die anderen Ausdrucksformen dieser Kultur, die untermauert ist von dem oben zitierten, umfassenden Lebensgefühl, das sich nicht
nur bei „Großstadtkids“ finden lässt. Die Populärkultur bietet Jugendlichen viele verschiedene Identifikationsmöglichkeiten, doch gibt es „eine kulturelle Zeitströmung, die als neuer Mainstream das Leben in den und außerhalb der Musikcharts wesentlich prägt: der HipHop als Lebensentwurf, der Rap als die dazugehörige Artikulationsform“ (Wagner
1999:231).
Seit der Entstehung des HipHop in den 70er Jahren in der South Bronx, einem Stadtteil
New Yorks, findet man diese Kultur nach über dreißigjähriger Geschichte nahezu global
verbreitet wieder. Kaum ein anderes musikalisches Genre hat eine solche Persistenz auf
dem Musikmarkt bewiesen wie Rap, die Musikform der HipHop-Kultur. Oft wurde sie für
tot erklärt, doch Rap-Musik zeigte sich immer wieder fähig, neue Stile und Themen zu
finden und auf diese Weise dem Puls der Zeit nahe zu bleiben.
Nicht nur auf dem Musikmarkt ist die HipHop-Kultur allgegenwärtig, sondern auch als
weitverzweigte Jugendkultur mit eigenen Ritualen, Normen und Praktiken: mittlerweile
finden sich weltweit verschieden ausgeprägte HipHop-Kulturen, die ihre landesspezifischen Eigenheiten ausgebildet haben, aber auch immer noch aus dem gleichen Fundus
schöpfen, und zwar aus der Herkunft und Geschichte dieser Musik und Kultur aus New
York. Vor allem die Popularität des Breakdance in den frühen Achtzigern, transportiert
von Filmen wie „Wild Style“ oder „Beatstreet“ sowie von zahlreichen Show-Auftritten
3
verschiedener Tänzer in Film, Fernsehen und auf öffentlichen Veranstaltungen, sorgten für
ein weitreichendes Interesse Jugendlicher verschiedenster Bevölkerungsgruppen an der
HipHop-Kultur. Es gibt Ausprägungen dieser Kultur im Iran, in Nigeria, in Japan, in südamerikanischen Ländern und an vielen anderen Orten der Welt, die alle den aus New York
kommenden HipHop in sich aufgenommen und mit ihren eigenen kulturellen Traditionen
vermengt haben. So entstand weltweit das facettenreiche Bild der verschiedenen Szenen
des HipHop, die sich historisch der Herkunft dieser Kulturform aus den USA bewusst sind,
aber auch auf eine eigene Weise neu definieren. In Europa haben sich in fast allen Ländern
beachtliche eigenständige HipHop-Szenen entwickelt und vor allem in Frankreich, Italien
und Deutschland ist die landesspezifische Weise dieser Kultur mittlerweile sehr stark ausgeprägt und hat vom kommerziellen Erfolg her auf den nationalen Musikmärkten zu den
amerikanischen Produktionen aufgeschlossen. Seitdem Rap-Musik in der Populärkultur
eine wichtige Strömung darstellt, bewegt sich die HipHop-Kultur in dem Spannungsfeld
zwischen dem Mainstream, dessen Teil sie mittlerweile ist, und dem Untergrund, aus welchem sie stammt. Anders ausgedrückt: HipHop bewegt sich zwischen Widerstand und
Kommerz.
Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit dem Aspekt der Identitätskonstruktion im musikalischen Medium der HipHop-Kultur, der Rap-Musik. Sie untersucht, wie sich verschiedene Gruppen und Einzelkünstler inszenieren, auf welches kulturelle Material sie
zurückgreifen und welche Inhalte und Themen behandelt werden. Ich möchte hierzu auf
verschiedene Vertreter verschiedener Zeitspannen und Örtlichkeiten innerhalb der Geschichte des HipHop zurückgreifen, sie in ihren Aussagen, Meinungen und ihren Selbstbildern vergleichen und Gemeinsamkeiten und Differenzen herausarbeiten. Ich werde mich
auf einige Vertreter der amerikanischen und der deutschen HipHop-Szene beschränken, sie
in ihren Texten untersuchen und herausstellen, wie sie sich selbst in ihren Liedern darstellen, gegen wen sie sich wenden und wofür sie einstehen bzw. welche Forderungen, Kritiken oder Anregungen sie ihren Zuhörern geben wollen - kurz gesagt: wie und woraus wird
in diesen Liedern Identität konstruiert?
Den soziologischen Zugang zu dieser Thematik möchte ich mit der Theorie von Manuel
Castells nehmen, wie sie im zweiten Band seiner Trilogie „Netzwerkgesellschaft“ zu finden ist. Diese Theorie wird in ihren Grundaussagen im zweiten Kapitel vorgestellt werden,
gefolgt von einigen methodischen Bemerkungen. Daran anschließend möchte ich das theoretische Modell der Identitätskonstruktion, wie Castells es entwickelt hat, in den weiteren
Kapiteln verschiedenen Liedtexten von Rap-Musikern zugrundelegen und in den dort ge4
troffenen Aussagen die Konstruktionen von Identität mit dem Modell von Castells zu fassen versuchen.
Diese Arbeit kann sich von ihrem Umfang her nur einer gezielten Auswahl von HipHopLiedern widmen. Die mittlerweile existierende Fülle an Liedmaterial, die dieser Kultur
zuzuschreiben ist, erfordert eine Auswahl einiger herausragender Gruppen bzw. Lieder. Ich
möchte nicht auf die Masse der Rap-Lieder eingehen, sondern mich mit einer kleinen
Auswahl begnügen, die mir in ihrer Aussagekraft und in ihrer Wichtigkeit für die gesamte
Kultur relevant erscheinen. Diese Auswahl wird Gruppen aus verschiedenen Phasen der
Rap-Musik behandeln, sowohl amerikanische Rapper und Rap-Gruppen (Kap. 3), als auch
Künstler, die in Deutschland ansässig sind (Kap. 4), sollen untersucht und in ihrer Selbstinszenierung und ihren Identitätskonstruktionen analysiert und untereinander zu verglichen
werden.
Den Schlusspunkt dieser Arbeit bildet der Vergleich der amerikanischen Rap-Texte mit
den Texten der deutschen Rap-Musik: hier sollen die Identitätskonstruktionen der verschiedenen Künstler in ihren Unterschieden oder auch Ähnlichkeiten dargestellt werden.
Meine Hypothese, mit der ich mich dieser Arbeit zugewendet habe, lautete, dass in den
meisten Texten Identitäten konstruiert werden, die entweder Widerstand gegen die herrschenden Institutionen und Normen der Gesellschaft ausdrücken oder eine Veränderung
der Gesellschaft anstreben.
2.
Über Castells’ Theorie der drei Identitätsformen
Die Theorie zur Konstruktion von Identität, wie sie Manuel Castells im zweiten Band seiner Trilogie „Die Macht der Identität“ vorgestellt hat, erscheint mir in seiner dargestellten
Typologie der verschiedenen Ursprünge von Identität ein gutes Instrumentarium zur Anwendung auf die Rap-Musik zu sein. Ich möchte die in den von mir gewählten Liedern
getroffenen Aussagen mit Hilfe der Typologie von Castells untersuchen und herausfinden,
welchen Typus von Identität der jeweilige Künstler konstruiert. Hierzu möchte ich vorneweg die Theorie von Castells in ihren Grundzügen vorstellen.
Nachdem Castells im ersten Band mit dem Titel „Das Informationszeitalter I – Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft“ die historische Entwicklung der Technologie nachzeichnet, münden seine Überlegungen in der These, dass sich die Kommunikation und damit die
Kultur der Menschen grundlegend verändert haben: „Es lässt sich als historische Tendenz
festhalten, dass die herrschenden Funktionen und Prozesse im Informationszeitalter zu5
nehmend in Netzwerken organisiert sind. Netzwerke bilden die neue soziale Morphologie
unserer Gesellschaften, und die Verbreitung der Vernetzungslogik verändert die Funktionsweise und die Ergebnisse von Prozessen der Produktion, Erfahrung, Macht und Kultur
wesentlich.“ (Castells 2001:527) Zwar habe es Netzwerke auch schon vorher gegeben,
doch der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft mache die soziale Organisation in Form von
Netzwerken für die gesamte gesellschaftliche Struktur maßgeblich. Die Teilnahme oder
Nicht-Teilnahme an Netzwerken und die Dynamik und Hierarchisierung der Netzwerke
untereinander sind für Castells die entscheidenden Ursprünge von Machtverhältnissen und
sozialem Wandel. Die Netzwerkgesellschaft ist aber nicht nur durch diese Transformation
gekennzeichnet, sondern auch durch das Aufleben sozialer Gegenbewegungen. Diese Gegenbewegungen, die Castells in der Konstruktion von kollektiven Identitäten verortet, bilden einen Gegenpol zu der Machtverschiebung hin zum Raum der Ströme der Netzwerke,
der exklusiv von den Eliten genutzt wird und einen Großteil der Menschen in die Peripherie verbannt und marginalisiert.
Im zweiten Buch seiner Trilogie, das den Titel „Die Macht der Identität“ trägt, fokussiert
Castells seinen Blick auf die sozialen Bewegungen und auf die Politik, wie sie sich aus
dem Zusammenspiel von Globalisierung, der Macht der Identität und den staatlichen Institutionen ergeben. Neben der kapitalistischen Globalisierung und dem Aufstieg der Netzwerkgesellschaft sei ebenso „der Aufschwung machtvoller Ausdrucksformen kollektiver
Identität“ (Castells 2003:4) ins Rollen geraten, welche sich gegen Globalisierung und
Kosmopolitismus stemmen und auf ihren Ansprüchen der kulturellen Eigenart und der
Eigenverantwortlichkeit für ihr Leben und ihre Lebenswelt beharren. Castells geht von
einem Konflikt zweier entgegen gesetzter Trends in der global-gesellschaftlichen Sphäre
aus: auf der einen Seite der Trend zur Globalisierung und auf der anderen Seite der Trend
zur Konstruktion von Identität aus Sinn-Quellen, welche dem Trend der Globalisierung
kritisch oder sogar ablehnend gegenüberstehen (vgl. ebd.:3). Die zunehmende Polarisierung von Netzwerk und Identität stellt die Kernthese der Theorie von Castells dar.
In diesem Feld nähert sich Castells dem Hauptthema dieses zweiten Bandes: verschiedene
Ausdrucksformen kollektiver Identität werden untersucht und im Kontext der Netzwerkgesellschaft analysiert. Die Bandbreite der Untersuchungsgebiete reicht von progressiven
Bewegungen wie des Umweltschutzes bis hin zu stark reaktiven Bewegungen, wie etwa
christlicher oder islamischer Fundamentalismus. Im Folgenden möchte ich kurz die Definition von sozialen Bewegungen wiedergeben.
6
2.1
Soziale Bewegungen
Eine soziale Bewegung definiert Castells als „zielgerichtete soziale Handlungen, deren
Ergebnis in Sieg oder Niederlage die Werte und Institutionen der Gesellschaft transformiert“ (Castells 2003:5). Castells kategorisiert soziale Bewegungen durch drei Prinzipien:
Erstens: Soziale Bewegungen geben sich ihre Identität selbst: dies bezeichnet die Selbstdefinition der Bewegung, also als was sie sich darstellt und wen sie repräsentiert. Sie müssen
in ihren eigenen Begriffen verstanden werden: „sie sind, was sie sagen, dass sie sind. Ihre
Praxen – vor allem ihre Diskurspraxen – sind ihre Selbstdefinition.“ (ebd.:77; Hervorheb.
i.O.). Dieser Ansatz entlastet Castells davon, die Aussagen interpretieren zu müssen und
sich eine Darstellung des Bewusstseins der sozialen Bewegungen anzumaßen. Worin die
Beziehung zwischen der Bewegung, ihrer Praxis und ihrer Werte einerseits und den sozialen Prozessen andererseits, in welche die soziale Bewegung eingebettet ist, besteht, ist eine
weitere zu erkundende Sache.
Zweitens: Soziale Bewegungen haben einen Gegner: der Hauptfeind der Bewegung wird
bezeichnet und ausdrücklich kenntlich gemacht.
Drittens: Soziale Bewegungen verfolgen ein gesellschaftliches Ziel; hiermit ist die Vision
einer sozialen Ordnung oder Organisation, also eine Transformation der aktuellen Gesellschaft, gemeint, welche die Bewegung durch kollektives Handeln erreichen möchte.
Zudem folgen soziale Bewegungen keiner vorbestimmten Richtung, sie können sowohl
revolutionär als auch konservativ sein, oder beides gleichzeitig oder keins von beidem.
Nach Castells gibt es aus Sicht der Analyse keine „guten“ oder „schlechten“ sozialen Bewegungen: sie sind als „Symptome unserer Gesellschaften“ (ebd.:77) zu verstehen, sie sind
Anzeichen für soziale Konflikte und Widerstände und auch für sozialen Wandel. Sie haben
Auswirkungen auf die gesellschaftlichen Strukturen, mit verschiedener Intensität und verschiedenen Ergebnissen.
2.2
Die Konstruktion von Identität
Castells setzt die Definition, dass „Identität […] die Quelle von Sinn und Erfahrung für die
Menschen“ (Castells 2003:8) sei. Identität ist für Castells der Prozess „durch den ein sozialer Akteur sich erkennt“ (Castells 2001:23): gemeint ist die Sinnkonstruktion der sozialen
Akteure aufgrund eines oder mehrerer kultureller Attribute, die Priorität vor anderen Attri7
buten haben und so soziale Beziehungen auf der Grundlage dieser Attribute definieren.
Hierdurch unterscheidet sich der Identitätsbegriff von dem der Rolle: Rollen ergeben sich
aus normativen Arrangements von Individuen und Gesellschaft. Identitäten hingegen sind
für die Handelnden viel stärkere Quellen von Sinn dadurch, dass diese Quellen im Zuge
der Individuation konstruiert und internalisiert werden – „einfach gesagt organisieren Identitäten Sinn, während Rollen Funktionen organisieren“ (Castells 2003:9). Die Konstruktion
von Identität ist nach Castells also vor allem von der Eigenleistung der Individuen abhängig. Nur durch diese individuelle Selbstkonstruktion im Verlauf der Individuation, also der
eigenen Persönlichkeitsentwicklung, ist es möglich, dass Identitäten „für die Handelnden
selbst und aufgrund ihrer selbst Quellen von Sinn“ (ebd.) sein können.
Sinn versteht Castells als „die symbolische Identifikation des Ziels einer Handlung durch
die sozial Handelnden“ (ebd.); er stellt die Hypothese auf, dass in der Netzwerkgesellschaft
der zentrale Bezugspunkt von Sinn eine primäre Identität ist, eine Identität, die den anderen Identitäten einen Rahmen vorgibt und über Zeit und Raum hinweg selbsterhaltend ist.
Mit diesem Ansatz folgt er teilweise der Identitätstheorie Eriksons, jedoch hat Castells
dabei vor allem kollektive Identitäten im Blickfeld, um welche sich Menschen gruppieren.
Für Castells steht es außer Frage, dass aus soziologischer Perspektive alle Identitäten konstruiert sind. Gefragt werden muss viel mehr nach den Bausteinen und Materialien, aus
denen Identität konstruiert wird, also welche spezifischen kulturellen Grundlagen, traditionellen Überlieferungen oder auch individuellen Visionen in die Bildung von Identität einfließen. Diesem schließt sich die weit interessantere Frage an, wie diese sozialen Determinanten in je spezifischer Weise von Individuen und Gruppen ausgewählt, verarbeitet und
angeordnet werden. Castells formuliert die Hypothese, dass „im Allgemeinen der symbolische Inhalt einer Identität und ihr Sinn für diejenigen, die sich damit identifizieren oder
sich außerhalb von ihr verorten, weitgehend dadurch bestimmt wird, wer eine kollektive
Identität zu welchem Zweck konstruiert“ (ebd.). Identitätskonstruktionen sind demnach
immer von Machtverhältnissen geprägt, sie müssen immer im Zusammenhang mit ihrer
jeweiligen gesellschaftlichen Stellung, aus der heraus sie sich konstruieren, gesehen werden. Der symbolische Inhalt und der Sinn einer Identität werden zu einem bestimmten
Nutzen der Ein- und Ausgrenzung konstruiert. Nach diesen Vorüberlegungen geht Castells
zum wichtigsten Teil seiner Theorie über, in welchem er drei Pole der Macht und damit
drei Ursprünge für Identität vorschlägt.
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