Im zweiten Teil geht es um Fragen von Kultur, Integration, Akkulturation, Assimilation, Separation. 2.1 Was ist "Kultur“? (Vgl. Dieter Götze in Reimann u.a. (1994): Gastarbeiter, S 68ff. (“Kultur pauschal”) Auf den ersten Blick scheint ein so strikt kognitiv gefasster Kulturbegriff nicht besonders geeignet, um Akkulturationsfragen von Gastarbeitern zu erörtern, denn er beinhaltet ja, dass in einer gegebenen Gesellschaft jede einzelne Person eine andere Kultur hat. Die Weiterentwicklung dieses Gedankens gestattet aber trotzdem eine Anwendung des Begriffes auf das hier interessierende Problem. Ein beträchtlicher Teil der Kultur, die eine Person verwendet, ist nämlich fremdbezogen, d.h. ihre Standards und ihre Erfahrungen beruhen z.T. auf dem was sie meint, wie die anderen Mitglieder ihrer Gesellschaft ihrerseits ihre Erfahrung strukturiert haben, auf ihrer Auffassung von deren Wahrnehmungs-, Urteils- und Handlungsstandards. In diesem Sinn kennt jedes Individuum verschiedene, mehr oder weniger unterschiedliche Standards (sog. "Privatkulturen") - und zwar mehr oder weniger genau -, die es in wechselnden Situationen dann auch wechselnd einsetzt im Umgang mit verschiedenen anderen Personen oder Dingen. Diese von der einzelnen Personen jeweils eingesetzte Kultur ist ihre jeweilige "Arbeitskultur", oder - wie es P. CAWS abstrakter formuliert hat - eine Kombination von "operationalem" und "repräsentationalem" Kulturmodell. Die Anzahl der dem Individuum verfügbaren möglichen Arbeitskulturen korreliert positiv mit der Größe und der Komplexität der Gesellschaft, in der es lebt. Innerhalb dieser möglichen Arbeitskulturen entwickelt sich wiederum eine mehr oder minder verallgemeinerte Vorstellung von den Standards ("generalisierten Kulturen"), die man generell all denjenigen zuschreibt, mit denen regelmäßig und über längere Zeit hinweg interagiert wird. Diese verallgemeinerten Vorstellungen weisen ihrerseits in dem Maße in dem sie allmählich den wechselnden Umständen entsprechend verändert werden, um ihren Planungswert für die Bewältigung zukünftiger Situationen und Schwierigkeiten zu steigern, eine zunehmende Tendenz zur Konvergenz auf. In dieser Weise kann sich ein hochgradiger Konsens entwickeln, sowohl in bezug auf die generalisierten Kulturen, die die Gesellschaftsmitglieder einander individuell zuschreiben, als auch bezüglich des Inhalts der Arbeitskulturen, die sie jeweils benutzen, um die wechselseitigen Interaktionen zu leiten und zu beurteilen. In dem Maße, in dem eine solche Konvergenz und Übereinstimmung vorliegt, ist es möglich, von der "öffentlicben Kultur" einer Gruppe oder Gesellschaft zu sprechen - dem, was allgemein in der Ethnologie, Kulturanthropologie und Soziologie pauschal als "Kultur" bezeichnet wird. Das Ausmaß, dem eine solche öffentliche Kultur vorliegt, variiert im allgemeinen mit dem Grad der Differenzierung, die die jeweilige Gesellschaft aufweist. In Gesellschaften mit einer einfacheren sozialen Ordnung kann diese Kultur umfassender sein und den größeren Teil Handlungen der Gesellschaftsmitglieder strukturieren. Demgegenüber neigen größere, komplexer aufgebaute und differenzierte Gesellschaften dazu, eine gemeinsame öffentliche Kultur aufzuweisen, die relativ wenige Situationen und Handlungsbereiche abdeckt; die meisten Situationen werden mit Hilfe separater öffentlicher Kulturen der einzelnen sozialen Gruppierungen ("Subkulturen") geregelt, die unter Umständen sogar ziemlich weit voneinander abweichen können. 2.2. Akkulturation und Assimilation Nach dieser Klärung kann nun auch 'versucht werden, die Zusammenhänge etwas genauer zu bestimmen, die sinnvoller Weise als "Akkulturation", bzw. als "Assimilation" bezeichnet werden können. Gar nicht so selten werden Akkulturation und Assimilation als Synonyme benutzt (Endruweit 1975, S. 229), was zu erheblichen argumentativen Verwirrungen auch in der eher sozialwissenschaftlich orientierten 1 Literatur über Gastarbeiter führt. Es empfiehlt sich daher, zwischen den beiden Sachverhalten auch begrifflich klar zu unterscheiden. Beides sind Prozessbegriffe, sie definieren graduell ablaufende Vorgänge. Assimilation und Akkulturation sind als solche Prozesse zwar miteinander verknüpft, aber nicht voneinander abhängig. Dabei ist Assimilation der Prozess, durch den Personen unterschiedlicher ethnischen und/oder rassischer Herkunft zu einer umfassenden Interaktion und Teilnahme am Alltagsleben einer Fremdgruppe gelangen, ohne dass die von der letzteren verschiedene -Herkunft eine Rolle mehr spielt. Eine vollständige, abgeschlossene Assimilation bedeutet also faktisch die durchgängig hergestellte Mitgliedschaft in einer bisherigen Fremdgruppe. Unmittelbarer Kontakt der sich assimilierenden Person mit der Fremdgruppe, die positive Orientierung gegenüber dieser Gruppe und die Akzeptanz durch diese ist also Voraussetzung . für den Assimilationsprozess. Er wird damit zumeist auch ein individueller Vorgang sein, da ganze Gruppen zum einen noch über Verbindungen zu anderen Gesellschaften (v.a. ihre Herkunftsgesellschaft) verfügen, zum anderen sehr viel schwieriger als solche Gruppe von der Fremdgruppe akzeptiert werden. Assimilation findet typischerweise einseitig, gerichtet auf eine - i.d.R. dominante - Fremdgruppe hin statt und beinhaltet grundsätzlich auch eine Veränderung, bzw. Übernahme der kulturellen Standards, Muster und Werte. Der amerikanische Soziologe MILTON M. GORDON (1964, s. 71) sieht den Assimilationsprozess durch sieben Variablen abgedeckt, wobei seiner Meinung nach Assimilation endgültig vollzogen ist, wenn a) eine vollständige Übernahme der kulturellen Muster der Residenz- bzw. der Fremdgesellschaft stattgefunden hat; b) in großem Umfang an den Primärgruppen der Residenzgesellschaft (Klubs, Vereinen, etc.) teilgenommen wird; c) in starkem Maße Zwischenheiraten (intermarriage, Konkubium) stattfinden; d) sich ein "Wir"- Gefühl ausschließlich auf der Grundlage der Residenz- oder Fremdgesellschaft entwickelt hat; e) keine Vorurteile feststellbar sind; f) Diskriminierungen fehlen; g) Wert- und Machtkonflikte auf der genannten Basis nicht vorliegen. (Die Frage ist, ob denn diese vollständige Angleichung (= zu 200% Österr. sein) gewünscht wird bzw. angestrebt werden soll?) Sicherlich sind nun diese sieben Variablen nicht als gleichgewichtigzu beurteilen, sie stellen jedoch einen brauchbaren Maßstab für diemögliche Beurteilung tatsächlich ablaufender Assimilation dar. Als wichtigster Faktor ist (im Anschluss an MÜHLMANN 1964, S.139 f.; 1969, S. 13 f.) das "Bewusstsein der Gruppenzugehörigkeit" zu beurteilen. Diese vierte Variable, die ja eine Identifikation mit der Fremdgruppe beinhaltet, ergänzt sich notwendig durch die entsprechende Bereitwilligkeit eben dieser Fremdgruppe, ohne die Assimilation nicht stattfinden kann. Wie auch andere Variablen geht diese Veränderung des "Wir"- Gefühls zumeist allmählich vor sich und kann über Zwischenphasen führen, in der keine eindeutige Zugehörigkeitsorientierung seitens der betreffenden Personen feststellbar ist und eine Art Schwebezustand eintreten kann, insbesondere dann, wenn die Haltung der aufnehmenden Fremdgruppe gegenüber den zu assimilierenden Personen ambivalent ist. Assimilation ist nun mit Akkulturation insofern verknüpft, als Akkulturation eine Voraussetzung für Assimilation ist: mindestens einige kulturelle Standards einer Fremdgruppe müssen von der Gruppe oder den Personen, die Akkulturation erfahren, aufgenommen werden. Auch hier liegt ein Prozess vor, und direkter Kontakt zwischen den Personen und Gruppen, die verschiedene Kulturen aufweisen, gilt ebenfalls als notwendige Bedingung. Anders als Assimilation von Personen an die Kultur einer Fremdgruppe, muss Akkulturation als ein potentiell in zwei Richtungen verlaufender Vorgang angesehen werden, als eine zweiseitige Beziehung. 2 Akkulturation ist konsequenterweise auch nicht lediglich an Einzelindividuen gebunden, sondern kann durchaus zwei soziale Gruppen unterschiedlicher Aggregatsebene, bis hin zu ganzen Gesellschaften, betreffen. Personen oder Gruppen, die sich in einem Akkulturationsprozess befinden, müssen aber keineswegs eine positive Orientierung gegenüber der Fremdgruppe aufweisen, von der sie einzelne kulturelle Elemente übernehmen, geschweige denn sich mit ihr identifizieren. Ebenso wenig ist auf der anderen Seite eine auch nur minimale Akzeptanz seitens der Fremdgruppe gegenüber der akkulturierenden Person oder Gruppe erforderlich. Diese zwei Aspekte machen auch deutlich, warum Akkulturation - auch hier abweichend von Assimilation - durchaus unabhängig von Dominanzverhältnissen einer Seite gegenüber der anderen verlaufen kann. Für die Bestimmung der Art und des Umfangs, sowie der Richtung in die Akkulturationsprozesse verlaufen, sind allerdings Dominanzbeziehungen, wenn sie in einem bestimmten Fall vorliegen, durchaus von Interesse. Auf diese zuletzt genannten Sachverhalte ist besonders hinzuweisen, denn sie sind für die hier behandelte Thematik von Bedeutung (TESKE und NELSON 1974, S. 358). 1.2 Assimilation, Integration, Differenz, Diversität Vgl. Zeitschrift für Pädagogik 1/94 Migration – kulturelle Vielfalt Einige vertiefende Betrachtungen über das gegenwärtige Verständnis der Begriffe Assimilation, Integration, Differenz und Diversität, die wir im Hinblick auf die Folgen der multikulturellen Gesellschaft für Bildung und Erziehung für zentral halten, drängen sich hier auf. Hinter den Begriff der Assimilation, der im konventionellen Modell der multikulturellen Gesellschaft implizit als Pfeiler einer gelungenen, konfliktfreien Multikulturalität vorausgesetzt wird, sind Fragezeichen zu setzen. Es ist empirisch nachgewiesen, dass bei einheimischen Binnenwanderern bei weitem nicht in allen Fällen eine Assimilation stattfindet, wie sich anhand des Indikators "Beherrschung der Lokalsprache" in verschiedenen schweizerischen Situationen zeigen lässt. Natürlich besitzen die Angehörigen verschiedener Sprachregionen ein gemeinsames, überregionales Zusammengehörigkeitsgefühl. Aber sprachliche und kulturelle Unterschiede 'können zwischen den vier Sprachgruppen schwerwiegend sein: der imaginäre "Röstigraben" und das physisch existierende Gotthard-Massiv sind die gängigen Metaphern dafür. Zudem können zahlreiche zweisprachige, bikulturelle Inseln, vor allem entlang der Sprachgrenzen sowie in zwei- und dreisprachigen Territorien (z. B. Wallis, Graubünden), als Beispiele für das Beibehalten eigener Sprachen und Kulturen angeführt werden; dort sind denn auch pragmatische Lösungen der exolingualen Kommunikation entwickelt worden (LÜDI/PY 1996; WINDISCH 1992); eine gegenseitige Assimilation findet nicht statt, und trotzdem wird kommuniziert; die Integration ist gegeben, der inneren Stabilität wird im großen und ganzen kein Abbruch getan. Auf die Einwanderer bezogen: Es ist ebenfalls empirisch nachgewiesen, dass Integration in wichtigen Bereichen, z.B. in der Arbeitswelt, nicht notwendigerweise mit Assimilation einher geht. Eine geringe Assimilation bei gleichzeitiger Bindung an die eigene Herkunftskultur führt wiederum nicht zwangsläufig zur Ghettobildung (ALLEMANN-GHIONDA/MEYER SABINO 1992). Es kann nicht in Abrede gestellt werden, dass sich Ghettos bilden können und dass das ein gesellschaftliches Übel ist. Vielmehr spricht einiges für eine andere Gewichtung der Begriffe Integration und Assimilation: Integration und Assimilation bedingen sich nicht notwendig gegenseitig, sondern Integration unter Beibehaltung von Bindungen zur Herkunftskultur, ohne oder mit beschränkter Assimilation, ist möglich. 3 Der Zusammenhang zwischen Integration und Assimilation wurde von der Ethnizitätsforschung im Vergleich zur Migrationssoziologie unter veränderten Prämissen diskutiert. Nicht die Assimilation einer Migrantenminderheit an die Kultur einer Residenzgesellschaft steht beim Ethnizitätsansatz im Vordergrund, sondern die Frage, ob Integration unter gleichzeitiger Reproduktion der Herkunftskultur und der ethnischen Bindung möglich sei und empirisch festgestellt werden könne. Die kulturalistische Perspektive hat in der Ethnologie zum ethnozentrierten Ansatz geführt. der wiederum allzu häufig die Form einer paternalistischen Betonung des exotischen und somit letztlich zur Ghettoisierung beigetragen hat: eine negative Erbschaft. In der Pädagogik bestehen die Distorsionen ebenfalls in der Betonung des exotischen, folkloristischen. Die Couscous-Pädagogik, wie eine gewisse, den "Ausländer" als Reinkarnation des “bon sauvage” feiernde Variante der "interkulturellen Pädagogik" in Frankreich genannt wird, wirkt nicht integrierend sondern segregierend. Wenn der assimilatorische Ansatz wegen seiner universalistischen, ethnozentrischen Basis nicht haltbar ist (der nie ausgesprochene Grundgedanke ist: die Kultur der Residenzgesellschaft ist überlegen, folglich haben sich Zu- und Einwanderer zu assimilieren), so erscheint auch der Ethnizitätsansatz aus heutiger Sicht als höchst problematisch. Trotzdem kann aus der Betonung der Ethnizität eine positive Erbschaft festgehalten werden: nämlich die Vorstellung, dass Minderheiten und Migranten ihre eigenen Kulturen haben (für die assimilationistische Migrationsforschung keine Selbstverständlichkeit!). und dass ihre Gleichwertigkeit untereinander und im Verhältnis zu den Kulturen der Residenzgesellschaft denkbar ist. Dabei wird zu definieren sein, was das Spezifische an den Kulturen der eingewanderten Minderheiten tatsächlich ist. Die Rückbesinnung vieler Minderheiten, einschließlich der Migranten auf ihre angestammte Sprache und Kultur, kann auch als ein Ausdruck der verstärkten Akzeptanz jeglicher Ausprägung von Diversität in der zeitgenössischen Gesellschaft gelesen werden. Unübersehbar sind die Analogien zwischen den Versuchen, den Platz der Kulturen in der multikulturellen Gesellschaft jenseits von Hierarchien und Wertungen neu zu definieren, und postmodernen Diskursen über die Vielfalt möglicher Identitäten. Mit der Genugtuung, festzustellen, dass die Multikulturalismus-Diskussion in eine allgemeine Diskussion einfließt und somit gewissermaßen ein Ghettodasein verlässt, ist es jedoch nicht getan. Ungelöst bleibt die Frage nach den ethischen Implikationen des Kulturrelativismus (zugegeben: ein universalistisches Kriterium). Aussagen wie das für einen Teil der pädagogischen Diskussion folgenreiche Axiom des Europarates, „jede Kultur hat eigene Spezifitäten, die es zu respektieren gilt (Europarat), zeigen heute ihre ganze theoretische und praktische Unzulänglichkeit, weil sie zwei fundamentale Konflikte verdrängen; zum einen den sozio-ökonomischen Konflikt, unter Umständen auch den politischen Konflikt, die dazu führen, dass die Ethnien der Migranten in nordwesteuropäischen Einwanderungsgesellschaften kulturell kaum als konkurrenz-, ja nicht einmal als gesprächsfähig betrachtet werden. Zum anderen den Konflikt zwischen dem Imperativ, alle Kulturen als gleichwertig anzuerkennen und dem anderen Imperativ, Werte aufrechtzuerhalten, die aus westlicher, also vom Christentum und von der Aufklärung geprägter Sicht, unverzichtbar sind, aber nicht in allen Kulturen der Welt als höchste Weite anerkannt werden: Wir denken an die Menschenrechte, an die Gleichstellung der Geschlechter, an die soziale Gerechtigkeit, an Demokratie -und die Aufzählung könnte durch weitere Werte ergänzt werden wie Umweltschutz usw. In der Suche nach einem ethisch vertretbaren Umgang mit kultureller Vielfalt, einer Suche, die Konflikten und Widersprüchen nicht ausweicht, sondern sich ihrer annimmt, scheint uns die gegenwärtige Fragestellung in bezug auf die multikulturelle Gesellschaft zusammengefasst zu sein. 4 Integrative Pädagogik "Interkulturelles Lernen betrifft sowohl die österreichischen wie auch die ausländischen Schüler. Interkulturelles Lernen soll Lehrer und Schüler dazu befähigen, sich selbst und die anderen genauer wahrzunehmen und Unbekanntem gegenüber offener zu sein. Dieses Verständnis kann ( ... ) als Basis für ein friedliches Zusammenleben in einer multikulturellen Gesellschaft dienen." (BMUK, Zl. 13.121124113/89) Interkulturelle Erziehung fordert das Einbeziehen aller Gruppen, deshalb, steht Integration. integrative Pädagogik im Zentrum der Überlegungen. Gemeinsam leben heißt: voneinander lernen, einander kennen lernen, wissen, woher der andere kommt, wie es dort aussieht, was dort wichtig ist, was anders ist, was gleich ist. Miteinander leben heißt: Erfahrungen sammeln, helfen und sich helfen lassen. Miteinander lernen heißt: mit der eigenen Kultur umgehen lernen, die eigene Kultur besser verstehen und sie in Relation zur anderen, fremden setzen können. Miteinander - nicht nebeneinander heißt Einbeziehung der Mehrheit-, ist Grundlage und Voraussetzung für gemeinsame Zukunftsbewältigung. "Interkulturelle Pädagogik ist eine Form sozialen Lernens, die im Rahmen der Menschenrechte die kulturelle Vielfalt aufgreift und den Menschen in seiner Individualität über Prozesse der Annäherung zu Akzeptanz und Toleranz führt." So "wird multikulturelles Leben als Wechselwirkungsprozess zwischen Angehörigen verschiedener Kulturen möglich", ein Prozess, "der personale und soziale Identität achtet und Basis für gesellschaftliche Integration gibt." (Stoik, OECD/CERI, 1991) Boos-Nünning (PI - Wien, Tagungsbericht, 1988) spricht davon, dass interkulturelle Erziehung stufenweise geschieht. Geht es zunächst um die Wahrnehmung der anderen Kultur und die Relativierung der eigenen, so stellt der zweite Schritt Toleranz und Akzeptanz der Sinnhaftigkeit der Kulturen dar. Erst in der dritten Stufe kann die andere Kultur als prinzipiell gleichwertig verstanden werden. In dieser Abfolge ist die Erfahrung von Fremdheit zu akzeptieren. Erst in der vierten Stufe kann es gelingen, Elemente der anderen Kultur für die eigene zu akzeptieren. Interkulturelle Pädagogik kann nicht an die Stelle von Gesellschaftspolitik treten. Sie wendet sich -programmatisch - gegen die Segregation ausländischer Kinder-, ihre Bildungsinhalte müssen sich an interkulturellen Situationen in multikulturellen Gesellschaften orientieren (vgl. Zimmer, S. 114) Wenn interkulturelle Erziehung der Förderung von Platzierungschancen auch ausländischer Kinder dienen soll, dann muss sie sich gegen Segregation und kulturelle Überformung wenden; Integration darf nicht Assimilation heißen. Es erscheint wichtig in diesem Zusammenhang auf die Persönlichkeitsentwicklung, die Identitätsbildung, junger Menschen zu sprechen zu kommen. Identität ist generell ein Problem jedes Menschen in modernen Gesellschaften. Einerseits geht es um persönliche Identität, um die Einmaligkeit des Individuums, andererseits um soziale Identität, die die Zugehörigkeit des einzelnen zu verschiedenen Bezugsgruppen regelt. Die Fähigkeit zwischen den Polen Balance halten zu können liegt darin, die (vgl. Krappmann 1975, S 97ff.) folgenden Grundfähigkeiten zu entwickeln: Empathie, Rollendistanz, Ambiguitätstoleranz und Kommunikationsfähigkeit. Der Aufbau und die Förderung dieser Fähigkeiten sind als Grundlage gegen Ethnozentrismus und Fremdenfeindlichkeit zu sehen, gegen die "Kultur des Habens" und gegen den strukturellen Rassismus in Europa. 5 Schneider, Wohlfahrt u.a. Fremdheit überwinden Opladen 1990 1. Die Begriffe „Kultur" und „Identität" im Rahmen einer Konzeption interkultureller Bildungsarbeit Dem Konzept des „interkulturellen Lernens" liegt ein bestimmte. Verständnis der Begriffe Kultur und Identität zugrunde, worüber wir uns im folgenden Klarheit verschaffen wollen. Zwar wird dieser Klärungsprozess durch eine Vielzahl von Definitionen erschwert, er bleibt uns aber letztlich nicht erspart, weil durch ihn Ziele, Inhalte und Methoden interkultureller Bildungsarbeit festgelegt werden. 1.1 Einige Thesen zum Kulturbegriff An dieser Stelle soll keine kritische Bestandsaufnahme erfolgen, wie die Begriffe Kultur und Identität in der soziologischen, anthropologischen oder psychologischen Literatur verwendet werden, es sollen nur jene Momente des Kultur- und Identitätsbegriffs umrissen werden, die für unser Verständnis von interkultureller Bildung erforderlich sind. Kultur ist in einen gesellschaftlichen Zusammenhang eingebettet In der deutschen Geistesgeschichte wurde Kultur vielfach im Gegensatz zum Begriff „civilisation" auf geistige Kultur reduziert, die gleichsam über den materiellen und sozialen Zusammenhängen schwebt. Wesentliche Bereiche und auch Ausdrucksformen von Kultur entstehen jedoch in der Auseinandersetzung mit den materiellen Lebensbedingungen einer Gesellschaft. Je nach Stand der Produktionsverhältnisse (technologische Entwicklung, Organisationsformen der Arbeit etc.) entwickeln sich wiederum andere Interaktions-, Kommunikations- und Organisationsformen des gesellschaftlichen Lebens. So ist eine vorherrschend bäuerliche Produktionsform mit anderen Familienstrukturen verbunden als die Lohnarbeit in industrialisierten Gesellschaften. Die materiellen Reproduktionsformen wirken sich in unterschiedlicher Weise auf die Norm- und Wertbildung, auf die Bewusstseinsformen, also auf die geistige Kultur und die sozialen Zusammenhänge aus. Umgekehrt beeinflussen z.B. Wissenschaft und Technologie die Produktionsbedingungen, was sich in technischen Neuerungen, veränderten Arbeits- und Qualifikationsanforderungen, Produktionsneuerungen oder einem anderen Konsumverhalten und Lebensstandard niederschlägt. Kultur findet daher ihren Niederschlag a)in den Produktionsverhältnissen, d.h. in den Produktionsmitteln, der gesellschaftlichen Form der Arbeit, den Produkten etc.; b) in den sozialen und politischen Verhältnissen, in denen Menschen ihren gesellschaftlichen Verkehr untereinander gestalten und regulieren (Normen, Werte. Riten, Bräuche, Sitten, Recht, Gesetze, Institutionen, Parteien etc.). c)in den geistigen Äußerungen (Wissenschaft, Religion, Kunst, Sprache, Literatur etc.. Kultur ist Ergebnis menschlicher Erkenntnis- und Gestaltungsfähigkeit Die Gesamtheit der ökonomischen, politischen, sozialen und geistigen Lebensverhältnisse in einer Gesellschaft sind Ausdruck eines bestimmten historisch erreichten Niveaus kultureller Schaffenskraft des Menschen. 6 Diese Gestaltungsfähigkeit des Menschen geht letztlich auf seine grundlegende Fähigkeit zur Symbolisierung zurück. Durch ein komplexes System symbolischer Deutungen eignet er sich seine Umwelt an, begreift Sachverhalte; setzt sich zu anderen in Beziehung, verständigt sich, schafft die ideellen Grundlagen für materielle und soziale Veränderungen und umgekehrt. Kultur entsteht dabei nicht als Leistung eines einzelnen Genies, eines Erfinders, Wissenschaftlers, Politikers etc., wie eine bestimmte Variante der Geschichtsschreibung glauben machen will. sondern sie ist Ergebnis einer Kooperation. Theorien, Erfindungen oder Entdeckungen setzten nie voraussetzungslos am Nullpunkt an; sie knüpften vielmehr an bereits Erkanntem, Erfundenem oder Entdecktem an. „Die Erfindung des mechanischen Webstuhls setzte nicht nur die Kenntnisse bestimmter Gesetze und einfacher Maschinen voraus, sondern entsprach auch den Bedürfnissen der europäischen Industrie; die Entdeckung Amerikas wäre ohne die Erfindung des Kompasses unmöglich gewesen". (Leiris 1979, S. 97 f.) Kultur- ist prozesshaft und unabgeschlossen Im Zuge der Umgestaltung der materiellen Lebensbedingungen infolge technologischer Entwicklungen mitsamt der Veränderung, der die lebendige und vergegenständlichte Arbeit unterliegt, sind auch Kommunikation, soziale Beziehungen und andere Lebensäußerungen einem Wandel unterzogen, ist auch das gemeinsam geteilte System symbolischer Bedeutungen einer ständigen Revision unterworfen. Kultur ist auch aus diesem Grund nicht statisch, sondern prozesshaft und unabgeschlossen. Dabei darf man nicht dem Irrtum verfallen, die technologische Entwicklung zöge autoasiatisch einen vollständigen Wertewandel nach sich. Vielfach überleben Traditionen aus anderen historischen Epochen, so daß manchmal noch ein Nebeneinander alter und neuer Wertsysteme, Ideologien etc. zu beobachten ist oder sogar Rückgriffe auf längst abgeschaffte Konventionen erfolgen.' Ein Beispiel dafür ist die jüngste Entwicklung im Iran, wo im Zuge der Reislamisierung u.a. der Chador zur Verschleierung der Frau wieder eingeführt wurde und Frauen die Prügelstrafe angedroht wird, wenn sie gegen diese Vorschrift verstoßen. Ethnozentrismus und Kulturrelativismus sind gleichermaßen abzulehnen Wenn in einer Kultur ein bestimmter historischer Entwicklungsstand einer Gesellschaft zum Ausdruck kommt, so kann man etwa die vorherrschende bäuerliche Alltagskultur eines türkischen Migranten aus Südostanatolien und die Alltagskultur eines Industriearbeiters aus dem Ruhrgebiet keinem einheitlichen Vergleichsmaßstab unterwerfen. Wertungen, die die eine Kultur als der anderen überlegen charakterisieren wollen, werden insbesondere von Ethnologen immer wieder hinterfragt: „Große Erfindungen und Entdeckungen, technische Ausrüstung, politische Macht; all dies sind wohl Gründe für den Stolz des Weißen auf seine Überlegenheit; es bleibt jedoch zumindest zweifelhaft, ob durch diese Errungenschaften das Maß an Zufriedenheit für die Gesamtheit der Menschheit gewachsen ist. Wer könnte tatsächlich behaupten, daß der Pygmäe, der in den Tiefen der kongolesischen Urwälder jagt, ein weniger menschengemäßes Leben führt als der europäische oder amerikanische Fabrikarbeiter?" (Leiris 1979, S. 72) Ethnozentristische Haltungen, die eine Kultur zum alleinigen Maßstab erheben, sind daher abzulehnen. Umgekehrt meinen wir, daß ein Kulturrelativismus unhaltbar ist, der die existierenden Kulturen gleichberechtigt nebeneinander reiht, ohne über ein Bewertungskriterium zu verfügen. Wie wichtig ein kritischer Maßstab zur Überprüfung beispielsweise politischer Kulturen ist, zeigen die Bewertungen des Nationalsozialismus oder des Apartheidsystems. Wir sehen uns daher einem ständigen Balanceakt ausgesetzt, bei dem sowohl Akzeptanz als auch Distanz verlangt werden. Akzeptanz heißt, die eigene Kultur 7 nicht zu verleugnen und die Kultur der Migranten zu respektieren. Distanz beinhaltet auf der Grundlage emanzipatorisch-humanistischer Werte, die eigene wie die andere Kultur kritisch zu sehen.2 Kultur wird im Prozess der Sozialisation tradiert Kultur hat sinnstiftende und identitätsbildende Funktionen. Sie dient der Deutung des gesellschaftlichen Lebens und der Orientierung menschlichen Handelns. Sie wird jeweils nachwachsenden Generationen im Prozess der Erziehung und Sozialisation vermittelt. Dieser Prozess läuft jedoch nur partiell bewußt ab. Denkmuster und Verhaltensweisen werden unbewusst aufgenommen und verinnerlicht. Darunter sind wiederum Denkmuster und Handlungsleitlinien, die von den Heranwachsenden selbst nicht erprobt wurden und daher nicht mit eigenen Erfahrungen korrelieren. Das kann bedeuten, daß Teile der gesamten und unreflektiert übernommenen Anschauung mit der Wirklichkeit nicht (mehr) übereinstimmen, aber als gedankliche Stereotypen immer wieder angebracht werden. Dies ist insbesondere für die Vorurteilsbildung von besonderer Bedeutung. Der Heranwachsende befindet sich einerseits in einer passiven Rolle, in der er Objekt eines Erziehungsvorgangs ist, dem er sich unterzuordnen hat, andererseits in einer aktiven Rolle, in der er tradierte Denk- und Handlungsmuster aufnimmt und evtl. von der Norm abweichend verarbeitet. Die Tradierung von Kultur verläuft daher nicht reibungslos, indem das identische Kulturgut von einer zur anderen Generation vermittelt wird, sondern erfährt en den jeweils individuellen Aneignungsformen Umdeutungen und Veränderungen. Der Prozess der Erziehung und Sozialisation ist in die spezifische Struktur der Gesellschaft eingebunden. Je nach dem Grad der Partizipation am gesellschaftlichen Reichtum, den Besitzverhältnissen, dem sozialen Status, politischer Einflussnahme und Macht differieren Ideologie, Wette, Normen, Bildung der einzelnen Individuen. Kultur fällt anders aus, je nach der Zugehörigkeit ihres Trägers zu einer gesellschaftlichen Gruppe, Elite, Schicht, Klasse, Kaste etc.. Auch aus diesem Grunde ist es unsinnig, von einer einheitlichen oder sogar national einheitlichen Kultur zu sprechen, etwa von „der deutschen" oder „der türkischen" Kultur. Selbst die gemeinsame Sprache weist in Begriffsbildung und Lexik, in grammatischen Strukturen, in der Art der Vertextung und Aussprache sowohl regionale als auch schichtspezifische Unterschiede auf. Kultur ist nicht national eingrenzbar Kulturvermischungen, Prozesse der Berührung und des Ineinanderübergehens von Kulturen fanden durch internationale Wanderungsprozesse immer statt. Die Zivilisation, auf die die „westliche Welt" so stolz ist, entstand dank zahlreicher Beiträge aus Ländern, die heute den so genannten „Entwicklungsländern" zugerechnet werden: „Das Alphabet z.B. ist zuerst von semitischen Gruppen in der Nähe der Halbinsel Sinai den Phöniziern übermittelt worden, dann auf die Griechen und Römer übergegangen und hat sich schließlich in den nördlichen Teilen Europas verbreitet. Unser Zahlensystem ist - genau wie die Algebra arabischen Ursprungs. Die ersten Astronomen treten in Chaldäa hervor, und der Stahl wurde in Indien oder Turkestan erfunden. Der Kaffee stammt aus Äthiopien, Tee, Porzellan, Schießpulver, Seide, Reis und der Kompass kamen aus China zu uns ..." (Leiris 1979, S. 10 f.) Auch in der jüngeren Geschichte gibt es genügend Beispiele (Polen im Ruhrgebiet, Franzosen oder Amerikaner in der Besatzungszeit), die auf solche wechselseitigen kulturellen Beeinflussungen hinweisen. Heute gilt das umso mehr, weil durch Massenkommunikation zusätzliche Beeinflussungsmöglichkeiten gegeben sind. 8 Kultur ist daher nicht national eingrenzbar. Sie entsteht durch die wechselseitige Beeinflussung zwischen verschiedenen Völkern. Kultur als „die Kultur, Kultur als großes integratives Muster" gibt es nicht. (Lipp 1979, S. 452) 1.2 Der Kulturbegriff in bildungspolitischen Strategien Die Diskussion des Kulturbegriffs verweist uns schließlich auf den gesellschaftlichen Zusammenhang, in dem Kultur bzw. Kulturen immer eingebettet sind. Im Fall interkultureller Bildungsarbeit handelt es sich um das spezifische wechselseitige Verhältnis zwischen „Kulturen" des Aufnahmelandes und „Kulturen" der Zugewanderten. Die Kulturen der Migranten stoßen nie auf einen herrschaftsfreien Raum, sondern bekommen durch die Aufnahmegesellschaft ihren jeweils besonderen gesellschaftlichen Standort zugewiesen, der vor allem durch die Anwerbepolitik und die Ausländergesetzgebung festgeschrieben ist. Die Geschichte der staatlichen Anwerbe- und Arbeitsmarktpolitik zeigt, daß der Migrant in der Regel nur Teil eines disponibel einsetzbaren Arbeitskräftereservoirs war/ ist.3 Je nach Bedarf werden Gesetze, Verordnungen und Bestimmungen erlassen, die den Zustrom bzw. die Rückkehr ausländischer Arbeitskräfte regulieren sollen. Gefordert ist der Migrant in seiner Funktion als Arbeitskraft; seine Bedürfnisse als Ehepartner/ in, Vater/ Mutter, Familienmitglied, seine politischen, sozialen und kulturellen Interessen sind eher störende Begleitumstände, die notgedrungen hingenommen, aber - wenn möglich - ausgespart (z. B. das Wahlrecht) oder ignoriert werden. Sie kommen nur insofern in Betracht, als sie die reibungslose Einbindung in den gesellschaftlichen Verkehr behindern.' Darüber hinaus steht die Ausländerpolitik seit jeher unter der Prämisse, daß die Bundesrepublik Deutschland kein Einwanderungsland sei, was für den Migranten entweder kulturelle Assimilation und unter Umständen Einbürgerung oder Rückkehr bzw. zeitliche Befristung des Aufenthaltes bedeutet. Diese politischen Vorgaben führten in der Pädagogik zu vermiedenen Konzepten. An erster Stelle standen kompensatorische Modelle, die das Ausländerkind, den Jugendlichen oder Erwachsenen als Defizitwesen begriffen, dem durch stützende Maßnahmen die Anpassung an herrschende Normen und Handlungsmuster erleichtert werden sollte .b Dieser Art von Ausländerpädagogik lag - wenn auch oft nicht bewußt reflektiert - ein Deutungsmuster zugrunde, das die herrschende Norm, etwa die Erziehungsstile, das Leistungsdenken in der Schule, die Sprache, die Organisationsformen des gesellschaftlichen Lebens, die Institutionen etc. als all gemeingültig und nicht hinterfragbar überlegenes System deklarierte, an das sich die Migranten anzupassen hatten. Die Norm der anderen wurde ausgespart, war es offensichtlich nicht wert, für einen Vergleich und Austausch in Betracht zu kommen Die Werte des Aufnahmelandes wurden wie selbstverständlich über die de: Einreisenden gesetzt, was wiederum Fremdbestimmung und Kolonialisierung de Lebenswelten der Migranten zur Folge hatte. Der Kulturbegriff, der hier zum Tragen kam, ging von der Überlegenheit der Aufnahmegesellschaft aus, so daß des Minorität nicht nur Rechtsvorschriften, sondern darüber hinaus Verhaltensnormen vorgegeben wurden. Ideologisch wurden solche Assimilationsbestrebungen vielfach mit der beschwörenden Formel von der Gefahr „nationaler Überfremdung" legitimiert. Das andere Extrem pädagogischen Handelns ging von der „Andersartigkeit" und .,Fremdheit der Lebensweisen" der Migranten aus und benutzte diese Argumente, um Separation oder Ausschluss der Zugewanderten von Institutionen, Rechten. Wohnquartieren, Bildungseinrichtungen etc. der Aufnahmegesellschaft zu rechtfertigen.' Hierbei unterscheiden wir zwei Positionen: 9 Die einen sahen im „Fremden" und „Besonderen" einen Grund für die „Unverträglichkeit der Kulturen". Kultur wurde vielfach mit „nationaler Identität" und räumlicher Einbindung in das Herkunftsland verbunden, so daß der Erhalt ..kultureller Identität" letztlich nur durch die Rückkehr in die Heimatländer gewährleistet war.' Die anderen begriffen die Wahrung „kultureller Identität" als Chance des Migranten zur eigenen Stabilisierung, als „Refugium", um sich gegen Verletzungen. Demütigungen und Benachteiligungen durch die Aufnahmegesellschaft zu Schutzen. Sie unterstützten die Bildung .,ethnischer Wohnquartiere", von denen sie sich eine Stärkung des Selbstbewusstseins und eine bessere Voraussetzung für eine anschließende Selbstbehauptung, Interessendurchsetzung und Integration in die Aufnahmegesellschaft versprachen." Die Vertreter solcher Konzepte übergehen allerdings vielfach den Tatbestand, daß die „Ausländerviertel" nie auf einem freiwilligen, selbstgewählten Zusammenschluss von Bewohnern gleicher Nationalität beruhen, sondern Ergebnis einer bestimmten Wohn- und Sanierungspolitik sind."' Die Bewohner dieser Viertel bilden keineswegs einen homogenen (kulturellen) Block, sondern stammen meistens aus unterschiedlichen Regionen ihrer Herkunftsländer und sind daher auch unterschiedlichen Traditionen, Bräuchen, Normen, Werten etc. verpflichtet. Im Vergleich zum Herkunftsland hat sich für viele Migranten der Lebensstil verändert. So läßt z. B. der durch Schichtarbeit geprägte Tagesablauf in der Regel wenig Zeit und Muße für ein reges Gemeinschaftsleben. Der Alltag eines türkischen Industriearbeiters unterscheidet sich daher nicht wesentlich von dem seines deutschen Kollegen. Die gleiche Nationalität oder der gemeinsame Ausländerstatus sind nicht unbedingt identitätsstiftende und stabilisierende Momente oder eine hinreichende Grundlage für ein Gemeinschaftsleben. Begriffe wie „nationale" oder „ethnische" Kultur, die von Vertretern der oben beschriebenen Positionen oft angeführt werden, unterstellen allerdings, Kultur sei ein fest umrissenes, geschlossenes. einheitliches Gebilde. Sie gehen von Kulturen als klar unterscheidbaren und abgrenzbaren Einheiten im Sinne vom ..Eigenen" und ..Fremden" aus Eine dritte Variante pädagogischer Strategie, die vielfach mit dem Begriff der ..Integration unter Beibehaltung der kulturellen Identität" verbunden war, suchte nach einer Kompromissformel zwischen Anpassungsstrategien und dem Zugeständnis an die Migranten, Elemente der „Heimatkultur" bewahren zu dürfen. Letzteres sollte beispielsweise im muttersprachlichen Unterricht in der Schule oder irrt Fach Religion geleistet werden. Dieses Konzept musste zwangsweise definieren, was an der fremden Kultur erhaltenswert schien, was davon übernommen und was ausgeklammert werden konnte. Auch hier ging man von dem Konstrukt einer fest umrissenen „nationalen" Kultur als einer definierbaren Größe aus." Zusammenfassend kann man sagen, daß allen drei Konzepten, also sowohl dem der Assimilation, der Separation als auch dem der Integration ein Kulturbegriff zugrunde liegt, der Kultur als eine fest umrissene, geschlossene Einheit mit genau definierbaren Merkmalen festlegt. Die Kultur der Migranten ist in diesem Zusammenhang immer die fremde Kultur, die entweder vereinnahmt, ausgeschlossen oder nach den Maßstäben des Aufnahmelandes partiell zugelassen wird. Auf der Ebene subjektiver Wahrnehmung erscheint „das Fremde" vielfach als das Exotische, Unvergleichbare. Einmalige, das vom eigenen Weltbild abweicht, daher entweder ignoriert oder umgekehrt zur Schau gestellt wird. Etwa in Form der Folklore, Eilkultur oder des Kunsthandwerks. lm Begriff „Kulturkonflikt", der schließlich auf individueller Ebene die Zerreißprobe des Migranten zwischen der Kultur des Aufnahme- und des Herkunftslandes bezeichnet, spiegelt sich dieser fragwürdige 10 Kulturbegriff ebenfalls wieder, der auf das „Phantom einer geschlossenen, einheitlichen Innenwelt des Individuums" rekurriert. (Auernheimer 1984, S. 23) Miteinander leben - aufeinander zugeben, Frauen aus vielen verschiedenen Kulturen lernen sich gegenseifig kennen und Überwinden mehr und mehr ihre Ängste und Unsicherheiten (Foto: Fischer) 1.3 Multikulturalität als gesellschaftliches Strukturmerkmal Alle geschilderten Modelle, wie auch immer ihre politische Intention ausfällt, sind mehr oder weniger bewußt ein Zugeständnis an die Multikulturalität unserer Gesellschaft, d. h. an das faktische Vorhandensein von Angehörigen verschiedener Länder und unterschiedlicher ökonomischer, politischer, sozialer und kultureller Herkunft. Multikulturalität als Ergebnis internationaler Wanderungsbewegungen beschränkt sich nicht nur auf ein Land, sondern ist weltweit festzustellen. Wie so oft reagiert das Bildungswesen erst im nachhinein, also mit zeitlicher Verzögerung, auf bereits eingetretene gesellschaftliche Veränderungen. Statt aber Multikulturalität als Strukturmerkmal vor allem hoch industrialisierter Gesellschaften zu begreifen, wollen es viele Politiker auf ein Übergangs- Phänomen reduzieren, wobei sie die These vertreten, die nicht integrationswilligen Ausländer seien irgendwann in ihre Herkunftsländer zurückgekehrt und die nachwachsende Generation, die sich zum Verbleib entschlossen habe, sei assimiliert.12 In Bezug auf hoch industrialisierte Gesellschaften ist Multikulturalität ein Ergebnis internationaler Wanderungsprozesse, in deren Gefolge Menschen aufgrund ökonomischer oder politischer Notlagen Zuflucht in Ländern suchen, wo sie sich eine neue Existenzgrundlage erhoffen. In Bezug auf Länder der so genannten Dritten Welt ist Multikulturalität vielfach Ergebnis kolonialistischer Einflussnahme, ein Faktum, das in der Diskussion im Fach Ausländerpädagogik vielfach aus dem Blickwinkel gerät. 13 Viele noch heute herrschende Einschätzungen über fremde Kulturen sind in Werken von Europäern über außereuropäische Kulturen nachzulesen, die die „Rassenideologie des deutschen Kolonialismus" begründeten. Sie gingen oft von einem quasi natürlichen Kulturgefälle der Völker aus, einem Begriff von minder- und höherwertigen Kulturen, der sich später in der Ideologie einer Herrenrasse des Nationalsozialismus fortsetzte. '° Eine multikulturelle Gesellschaft zeichnet sich daher nicht bloß durch eine Ansammlung beziehungslos nebeneinander stehender „ethnischer Gemeinden" aus, sondern durch Herrschafts- und Abhängigkeitsstrukturen, die in der ökonomischen, sozialen und politischen Stellung der Minoritäten zum Ausdruck kommen. 11 1.4 Einige Thesen zum Identitätsbegriff ,.Wenn du mit Mitgliedern einer Gruppe zusammen bist, die deine Kultur teilen, musst du nicht darüber nachdenken, denn ihr alle seht die Welt in gleicher Weise, und ihr alle wisst im großen und ganzen, was ihr voneinander zu erwarten habt. Jedoch, einer fremden Gesellschaft direkt ausgesetzt zu sein, verursacht im allgemeinen ein störendes Gefühl der Desorientierung und Hilflosigkeit, das ,Kulturschock` genannt wird." (Bock, zitiert nach Greverus 1978, S. 11) Menschen, die aufbrechen, in einer anderen Region ihres Landes oder in einem anderen Land zu leben und zu arbeiten, werden im Verlauf dieses Prozesses mit einem Spektrum von Verhaltenserwartungen konfrontiert, das sich zwischen Stabilität („Kulturelle Identität wahren!") und Veränderung („Sich den neuen Lebensgewohnheiten anpassen!") bewegt. Das dramatische Wort vom „Kulturschock" mag dem Erleben des einzelnen in dieser Situation entsprechen und drückt dann das Erschütternde und Bedrohliche an dem Konflikt aus, in den Migranten kommen können. Die Ausführungen zum Kulturkonzept haben allerdings gezeigt, daß Kultur nicht als monolithischer Block verstanden werden darf, wie es z. B. in dem Zitat von Bock unterstellt wird. Einerseits verlaufen Kommunikation und Interaktion in der „eigenen" Kultur nicht einfach reibungslos. Zum anderen muß der „Konflikt" bei der Migration in eine andere Gesellschaft nicht unbedingt derart gravierend sein. So kann etwa bei einer Binnenwanderung vom Land in die Großstadt der „Konflikt" stärker sein als bei der anschließenden Migration von der Großstadt im Heimatland in die ausländische Großstadt. Mailand und Köln weisen da vielleicht weniger Unterschiede auf als Mailand und ein sizilianisches Dorf bzw. Köln und ein Eifeldorf. Allzu schnell wird in gängigen Vorstellungen im Bereich der Ausländerpädagogik die Theorie vom zwangsläufigen Kulturkonflikt übernommen", wobei der Konflikt aber stets einseitig bei den Migranten verortet wird. Dem „Kulturschock" wird dabei automatisch ein „Identitätsverlust" zugeordnet. Jeder Kulturbegriff setzt ein bestimmtes Menschenbild voraus und beeinflusst so die Theorie und Praxis der (interkulturellen) Bildungsarbeit. Bei dem in diesem Zusammenhang häufig verwendeten Begriff „Identität" geht es in der Regel um das Verhältnis zwischen Veränderungs- und Stabilitätszumutungen, die an Migranten gerichtet werden; um die Vorstellungen, was dabei in den Menschen vorgeht (Deutung, Erklärung) und was in ihnen vorgehen sollte (Ziele): Für interkulturelles Lernen ist entscheidend, daß sich die hier engagierten Mitarbeiter/ innen ihre eigenen Vorstellungen von Identität bewusst machen: ihr eigenes, in die alltägliche Praxis einwirkendes Verständnis von „Identität" wahrnehmen, sich der Voraussetzungen und Konsequenzen bewußt werden und entsprechend handeln. Deutungen von Pädagogen über „die Realität" von Ausländern mögen gut gemeint sein, wenn sie sich gegen eine ausländerfeindliche Politik richten. Wird dabei aber nicht leicht den Migranten die Last der Verhältnisse als „Identitätsarbeit" aufgebürdet? Geraten nicht allzu oft die Bedingungen der „Identitätsprobleme", auf die sich Lösungsversuche richten müssten, in den Hintergrund? Der Ansatz bei der durch Kulturkonflikte entstandenen Identitätskrise mag empathisch gedacht sein. Er kann jedoch schließlich die Rechtfertigung für eine reaktionäre Ausländerpolitik bieten, die ebenso „wohlmeinend" die Migranten vor diesen Problem „bewahren" will und sie daher zur Rückkehr in ihr „Heimatland" auffordert. Ein Beispiel dafür ist die Rezeption der kulturanthropologischen Vorstellung von „Basispersönlichkeit" im Zusammenhang mit der Identitätsbildung ausländischer Kinder, wie sie etwa bei Schrader/Nikles/Griese 16 zum Tragen kommt. 12 Sie gehen aus von einer statischen, unverrückbaren Identität, die, einmal „gefunden", den Menschen im Kontakt mit einer anderen Kultur unweigerlich zum „Fremden macht". Die Differenzierung der Identitätsbildungsprozesse entsprechend dem Einreisealter der Kinder wurde nicht nur im Rahmen der Ausländerpädagogik angewandt, sondern auch von Politikern als „wissenschaftliche" Begründung für eine restriktive „Nachzugspolitik" benutzt. Der Begriff „Identität" ist ein hypothetisches Konstrukt Der metatheoretische Begriff „Identität" ist inzwischen weithin in den Wortschatz des Alltags übernommen und popularisiert worden. „Identität" ist eines der internationalen „Plastikwörter"" geworden: ein ungenaues, inhaltsarmes Schlüsselwort, das Experten und Politiker als Dietrich zum Alltag der Allgemeinheit dient und, versehen mit einem mehrheitsfähigen Anspruch, Menschen zum Schweigen bringt. In der Literatur zur Ausländerarbeit wird häufig der Eindruck erweckt, als handele es sich bei „Identitätskrisen" bzw. -konflikten" um „bedauernswerte Ereignisse" bei Menschen, die aus einer „fremden" oder „ganz anderen" Kultur mit einem mehr oder weniger festen Grundbestand an „Identität" in die Bundesrepublik kommen, um aufgrund dieser ihrer „Identität" hier „natürlich" in „Konflikt" zu geraten mit „der Kultur" des Aufnahmelandes. „Identität" wäre demnach eine Eigenschaft, die Menschen bei der Anpassung an eine fremde Kultur behindert, oder ein legitimer Besitz, der Menschen geraubt wird. Entsprechend richten sich sehr schnell politisches bzw. pädagogisches Handeln auf „Hilfen" zur Wahrung oder Beeinflussung dieser „Identität". 1e nach der vorherrschenden Vorstellung von dem, was „Identität" ist und worauf die Intervention abzielen soll, wird „Identität" dann „stabilisiert" als Widerstand gegen die assimilatorischen Tendenzen des Aufnahmelandes. „restauriert" als Hilfe zur Rückkehrförderung oder „verändert" im Sinne eines Abbaus aller „hinderlichen" Eigenschaften zur Integration in die Aufnahmekultur. „Identität" ist aber nicht „etwas", das man „erwerben", „haben" oder „verlieren" kann. Der Begriff ist vielmehr ein hypothetisches Konstrukt, ein Vorstellungsmodell, das zur Erklärung einer Realität dienen soll. Dieses theoretische Instrument zur Analyse von Wirklichkeit darf nicht mit der analysierten Wirklichkeit gleichgesetzt und verwechselt werden. Diejenigen, die „naiv" von „Identität" reden, als gebe es sie wie die Paragraphen des Ausländergesetzes und die Beamten im Ausländeramt, müssen sich vorwerfen lassen, daß sie damit die Probleme zudecken und ihre Lösung behindern. Das heißt konkret, daß die betroffenen Menschen in bedrohliche Situationen gebracht werden: Diskriminierung aufgrund einer besonderen „Ausländer-Identität", zusätzliche Abhängigkeit infolge von programmatischen „Förderprogrammen", Zwang zur Rückkehr ins Herkunftsland für den Fall, daß die „Identität" die falsche ist und nicht in die Aufnahmegesellschaft passt. Der Begriff„ Identität" bezieht sich auf Probleme des Menschen im Verhältnis zu sich selbst Das Thema „Identität" muß aus der Verengung als „Ausländerthema' gelöst werden. Der geradezu inflationäre Gebrauch des Wortes, auch im wissenschaftlichen Kontext, läßt außerdem kaum noch ein genau zu bestimmendes Problem hinter diesem Vokabular erkennen. „Identität" bezeichnet eher diffus einen großen Teil der Orientierungsschwierigkeiten heutiger Menschen und ist damit vermutlich ein Symptom für ein zentrales Problem unserer Gesellschaft. 13 Die phänomenologische Wissenssoziologie" beschreibt „Identität" als Problem, das aus dem geschichtlichen Wandel der lebensweltlichen Erfahrungen resultiert: Die Ausdifferenzierung in spezialisierte Funktionsbereiche bringt es mit sich, daß Menschen in modernen Gesellschaften Mitglieder vieler verschiedener „Teilwelten" sind, die unterschiedlich strukturiert und zum Teil an gegensätzlichen Zielen orientiert sind. Diese „Pluralisierung der Lebenswelten" bringt das Individuum in Spannung zwischen den eigenen Bedürfnissen einerseits und den Erfordernissen spezialisierter Institutionen, die der individuellen Selbstverwirklichung keinen Raum bieten, auf der anderen Seite. „Identitätsbildung" wird damit in den Bereich des „Privaten" verwiesen, der aber ebenfalls fortwährendem Wandel unterworfen ist. Damit ist die Identität des modernen Menschen von einer „permanenten Identitätskrise" begleitet, die quasi „eingebaut" ist in die moderne Gesellschaft. Während also in der Ausländerpädagogik „Identität" meist als Problem von zugewanderten Menschen definiert wird (die dazu mit ihrem Problem den Inländern zum Problem würden), verdeutlicht die Sichtweise der phänomenologischen Soziologie, daß es sich generell um ein Problem eines jeden Menschen in jeder modernen Gesellschaft handelt. Was verstehen wir in pädagogischer Perspektive unter „Identität"? Zum einen bezeichnet „Identität" ein soziales Prinzip: als „persönliche Identität'' die Einmaligkeit des Individuums, seine lebensgeschichtliche Kontinuität im Wandel; als „soziale Identität" die Zugehörigkeit des einzelnen zu verschiedenen Bezugsgruppen. Zum anderen meint „Identität" ein psychisches Organisationsprinzip: „Ich-Identität" bezeichnet die Fähigkeit, zwischen „persönlicher" und „sozialer Identität" zu vermitteln, das heißt, zwischen den Polen „Einzigartigkeit" und „Normalität" zu balancieren. An dieser Stelle mag die zusammenfassende Formulierung H. Bausingers zur Definition ausreichen: „Das analytische Konstrukt der Identität bezeichnet die Fähigkeit des einzelnen, sich der Kontinuität seines Lebens und damit auch seiner ,Einmaligkeit' über alle Wechselfälle und Brüche hinweg bewußt zu bleiben. Die Ich-Identität wird dabei überhaupt erst sichtbar und verständlich in ihrer sozialen Dimension. Die individuelle Fähigkeit zur Identität ist von der Gesellschaft her organisiert und begrenzt. Identität ergibt sich aus den Interaktionen mit den anderen. Will der einzelne sich als identisch erfahren, so muß er sein eigenes Verhalten und die Erwartungen der anderen in eine ausgewogene Beziehung bringen; er muß gesellschaftlichen Ansprüchen genügen, darf sich aber dabei nicht aufgeben - er muß also auch in der Lage sein, Erwartungen zu enttäuschen. Dies ist dann ohne Verlust des sozialen Kontaktfeldes möglich, wenn er seine eigenen Ziele und Verhaltensnormen mit denen der anderen koordiniert, wenn er sich also bis zu einem gewissen Grade mit anderen identifiziert." (Bausinger 1982, S. 11) „Identität" hat eine räumliche Dimension Begriffsbildungen wie z. B. „kulturelle Identität" oder „regionale Identität" signalisieren, daß „Identität" als konkretes gesellschaftlich-historisches Phänomen auch an die Raumdimension gebunden ist. Räumliche Bedingungen (Landschaft, Klima, Architektur, Wohnraum) sind für die Gestaltung von „Identität" ein nicht zu unterschätzender Faktor. Für die weithin vom Raum unabhängig agierenden modernen komplexen Gesellschaften (s. u.) hat das regional-räumliche Prinzip zunehmend an Bedeutung verloren. Mobilität -und das heißt auch Migration hat Lebens- und Kulturhorizonte aufgehoben und neue gegründet. Im selben Maße wurde „Heimweh" als „Raumweh" zu einem Faktor des Problems menschlicher Identität. „Heimat" als räumlicher Aspekt von „Kultur" und „Identität" wird romantisierend-folkloristisch aufgegriffen, obwohl es diese „Heimat" nur noch problematisch als gefährdete Möglichkeit gibt. Dies ist durchaus der Kontext, in dem auch „kulturelle Identität" beschworen wird: Ersatz für „Verlorenes". 14 Aber auch vordem hat „kulturelle Identität" im Sinne von Regionalität nie nur Eigen-Sinn, also Autonomie bedeutet, sondern ist immer entscheidend durch z. B. ökonomische Erfordernisse „von außen" geprägt worden: Produkt eines historischen Prozesses. Jeggle und Korff haben das sehr plausibel für den „Zillertaler Regionalcharakter" gezeigt: „Die Zillertaler sind Zillertaler geworden - eine Region hat ihr Wesen den Wünschen der Fremden untergeordnet und sich aus ökonomischer Notwendigkeit den Ansprüchen der Besucher angepasst" (Jeggle 1981, S. 19). Solche Prozesse sind bis heute weltweit zu beobachten. Besonders aufschlussreich für ein Verständnis interkulturellen Lernens dürfte der Tourismus aus den Industrieländern in die Herkunftsländer bzw. -regionen der Arbeitsmigranten sein. Regionale Zugehörigkeit war immer und ist bis heute auch eine Machtfrage. Gerade im Zusammenhang mit der Arbeitsmigration gilt es daher „aufzupassen, daß nicht Räumliches benutzt wird, um Soziales zu verschleiern" (Jeggle 1981, S. 20). Man spricht z. B. von „Türken" und meint „Unterschicht". Nur zu leicht ist „kulturelle Identität" als Förderziel benannt, wo es politisch-gesellschaftlich darum geht, Menschen von Lebensmöglichkeiten in dieser Gesellschaft auszugrenzen. Immer wieder wird „kulturelle Identität" gefördert, um die Rückkehrmöglichkeiten und -wahrscheinlichkeiten von Ausländern zu erhöhen, selten aber, damit z. B. Spanier als Spanier in der Bundesrepublik leben können. Pädagogik hat also zum einen davon auszugehen, daß Menschen (nicht nur) heute fähig sein bzw. werden müssen, sich von ihrem Raum „leidend und schmerzlich, aber erfolgreich trennen zu können" (Jeggle 1981, S. 27). Die „Heimat", in der ich aufgewachsen bin, mag das Paradies bedeuten, aber, wie Canetti für seine eigene Geschichte der Vertreibung aus Rumänien und Wanderung durch verschiedene Länder sagt: „Es ist wahr, daß ich wie der früheste Mensch durch die Vertreibung aus dem Paradies erst entstand." (Canetti 1979, S. 319) Die andere Seite: „Menschen werden umgesetzt und verunsichert, ihnen wird der Halt genommen, und ihr Unglück, ihre Leiden sind der beste Beweis dafür, daß jener Mensch auf Rädern vielleicht ein Ziel eiskalter ökonomischer Kalkulationen und menschenverachtender Machtpolitik ist, daß aber der Verlust der Heimat eine schmerzliche Trennung bedeutet, die nicht jeder in jedem Fall aushält." (Jeggle 1981, S. 28) Ebenso, wie es zur Subjektwerdung gehört, die Heimatregion verlassen zu können, nicht in ihr oder an sie gekettet zu sein, so gehört dazu auch und zunächst, daß der Mensch in einer Region zu Hause ist. Und dazu gehört nicht die Beschwörung einer „kulturellen" oder wie immer bezeichneten „Identität", sondern die Angemessenheit der Lebensbedingungen, unter denen Menschen in einer Gesellschaft aufgenommen sind. Für die moderne mobile Gesellschaft wie auch für die Arbeitsmigranten gilt gleichermaßen diese Dialektik von territorialer Gebundenheit und Freiheit. Pädagogen tun gut daran, die unheimliche Gefährdung zu sehen und sich dennoch nicht vor den ideologischen „Identitätskarren" spannen zu lassen. Identitätskonzepte sind immer in ihrem geschichtlich-gesellschaftlichen Kontext zu betrachten. Es ist selbstverständlich, daß für die Entwicklung von Identitätskonzepten das gleiche gilt wie für die (auch wissenschaftliche) Beschäftigung mit anderen Themen: Sie wird unter konkreten geschichtlich-gesellschaftlichen Bedingungen betrieben und wirkt in diese Situation hinein. Ebenso selbstverständlich wird dieser Kontext oft aus der Reflexion ausgeblendet, und auch das hat Konsequenzen. Voraussetzungen wie Konsequenzen müssen von Pädagogen bedacht und berücksichtigt werden. Gerade die viel zitierte „Multikulturalität" einer Gesellschaft und damit verbundene Ziele und Interessen haben die Theoriebildung zum Thema „Identität" angeregt und wesentlich beeinflusst. Dazu als Beispiel zwei für uns einflussreiche Theorieströme: Erik H. Erikson, von dessen Arbeiten viele Pädagogen in Deutschland beeinflusst wurden, entwickelte in den 40er Jahren seine Identitätstheorie vor dem Hintergrund von Erfahrungen der eigenen Emigration und des kulturellen Wandels. Er schreibt selbst: „So hat es sich ergeben, daß wir uns gerade zu einem 15 geschichtlichen Zeitpunkt mit der Identität beschäftigen, da diese problematisch geworden ist. Und zwar beginnen wir damit in einem Lande, in dem sich eben aus den durch die Einwanderer importierten Identitäten eine Super-Identität bilden will; und der Zeitpunkt unseres Unternehmens ist der der rasch wachsenden Mechanisierung, welche die im wesentlichen bäuerlichen und patriarchalischen Identitäten auch in den Ursprungsländern aller dieser Einwanderer zu vernichten droht." (Erikson 1976, S. 278). Nicht zuletzt Arbeitsmigration und Fremdenfeindlichkeit sowie Anpassung an die industriell-kapitalistische Arbeitswelt in den USA zwischen 1890 und 1930 waren z. B. die Hintergründe, auf denen die Identitätstheorien des Symbolischen Interaktionismus entstandenes. Das gesellschaftliche Interesse an Anpassung und Kontrolle hat die Theoriebildung maßgeblich beeinflusst und spiegelt sich wohl auch in der Vorstellung der „Balance" von Eigen- und Fremderwartungen wider. Es geht bis heute um den Konflikt zwischen geforderter Anpassung und dem Widerstand dagegen. Von daher ist die historische Bedingtheit von Identitätskonzepten auch für unser Verständnis zu konkretisieren. In der aktuellen Situation dominiert die Form der privaten „individuellen Identität" Die Ausbildung von „Identität" wird in modernen komplexen Gesellschaften wie der Bundesrepublik in den Bereich des „Privaten" verwiesen. Die „Pluralisierung der Lebenswelten" stellt dem Individuum eine Vielzahl von Möglichkeiten vor Augen, zwischen denen es vorgeblich wählen kann. Die daraus erwachsenden Ansprüche auf Mündigkeit, Selbstverantwortlichkeit und mehr Bewusstheit und Kompetenz gegenüber dem eigenen Leben können aber schon im privaten Bereich allenfalls ansatzweise realisiert werden. Diese Ansprüche des Individuums können grundsätzlich über den privaten Bereich hinausweisen, bleiben aber aus dem öffentlich-institutionellen Bereich ausgegrenzt. Real bleibt das Individuum von der Kontrolle der gesellschaftlichen Lebensbedingungen ausgeschlossen, hat aber die Last der Verhältnisse in der Ausbildung einer „individuellen Identität" zu tragen. Objektive Ohnmacht wird also mit subjektiven Allmachtsillusionen kombiniert und damit verdeckt. In dieser Form der .,individuellen Identität" erleben Menschen den Widerspruch zwischen Individuum und Gesellschaft, den sie nur schwer noch als historisch bedingt begreifen können. So kann das Individuum nur die Flucht in die Privatheit antreten, denn Freiheit ist demnach nur gegen die Gesellschaft möglich. Genau betrachtet können die Möglichkeiten der Selbstverwirklichung also nur genutzt werden, wenn sie als gesellschaftlich vermittelte gesehen werden. Freiheit, Selbstbestimmung und Autonomie können nicht privat gegen die Gesellschaft erreicht werden, sondern nur in gemeinschaftlichem Handeln, wie etwa die neuen sozialen Bewegungen zeigen und wie es auch in der Tendenz der Selbstorganisation ausländischer Gruppen deutlich wird. Die Form der „Identität" muß über die Dialektik von Individuum und Gesellschaft bestimmt werden. Bei Außerachtlassen dieser Dialektik gerät „Identität" entweder zum Diktat der Anpassung (vgl. „Assimilation") oder zur maßlosen Überlastung des Individuums mit den gesellschaftlichen Verhältnissen („Bewahrung kultureller Identität"). „Identität" muß als dynamisch-dialektische Kategorie verstanden werden Im heutigen historisch-gesellschaftlichen Kontext nimmt der Zwang einer einzigen verbindlichen Wirklichkeits- und Identitätsdefinition auf den einzelnen ab. „Identität" ist also auch inhaltlich notwendigerweise als dynamische Kategorie zu begreifen. Entsprechend diesem Verständnis betont die Diskussion um „Identität" einen Spielraum als Chance, wobei sowohl die objektiven Angebote wie die subjektiven Möglichkeiten variieren und im Fluss sind. Dieser Prozess geht aber mit Verunsicherung einher und mündet nicht einfach in die „Konstruktion" von 16 „Identität"; er ist vielmehr als ein ständiges „Umbauen" zu verstehen, welches das Risiko des Scheiterns einschließt. Gegen ein statisches Identitätsverständnis ist immer wieder die Dynamik betont worden."' Dennoch scheint „Identität" häufig als Lösung verstanden zu werden, die sich in einer im Fluss befindlichen Gesellschaft als Verlockung anbietet: eine feste Position des Individuums zu gewinnen. Diese Illusion spiegelt die Belastung des Individuums durch die Flexibilität und Dynamik und sein Bedürfnis nach Entlastung. Ein gesellschaftlich zu verstehender Identitätsbegriff hat aber notwendigerweise die Dynamik der Gesellschaft „in sich". Die Verwendung des Begriffs muß daher dieser Dynamik Rechnung tragen und „Identität" als Bezeichnung des Problems verstehen. Diesem dynamischen Verständnis von „Identität" entspricht ihr dialektischer Charakter. „Identität", soll sie nicht tautologisch-trivial sein, bezeichnet ja gerade die Einheit in der Komplexität und Differenz. Identität im Lebenslauf ist nur möglich als eine Veränderung. Das wichtige am Begriff einer dynamischen „Identität" ist daher, daß er auf eine Kontinuität in der Diskontinuität abzielt, auf ein Gleichbleiben in und gerade durch Veränderung. Das bedeutet für Migranten, daß sie ihre „Identität" nur „sichern" können, wenn sie von der Aufnahmegesellschaft wie von ihrer Herkunftsgesellschaft nicht auf die alternative „Bewahrung oder Assimilation" festgelegt sind, sondern von den objektiven und subjektiven Bedingungen her - riskieren können. Neues aufzunehmen und an Altem festzuhalten. Für Mitglieder der Aufnahmegesellschaft Bundesrepublik gilt nun das gleiche: Sie können ihre „Identität" nur „erhalten", wenn sie subjektiv und objektiv die Realität der Multikulturalität wahrnehmen und akzeptieren können. Das schließt Konflikte ein, bedeutet aber, daß Konflikte in ihrer beidseitigen Bedingtheit verstanden werden können. Die politische Aussage z. B., die Bundesrepublik sei kein Einwanderungsland, setzt gegen die gesellschaftliche Realität eine Behauptung von Macht, die adäquate Wahrnehmung und adäquates Verhalten verhindern will. Durch die verordnete und akzeptierte Ausblendung der Realität der Migranten verdrängen Einheimische ihre eigenen Probleme mit der Dynamik gesellschaftlich-internationaler Entwicklung und müssen sie auf die Migranten projizieren. Wer aber die eigene Unsicherheit und Angst vor Fremden weder sich noch den anderen eingestehen kann, kommt wahrscheinlich nicht umhin, sich bedroht zu fühlen und Feindbilder zu entwickeln. Erst wenn Einheimische und Migranten die dialektische Beziehung untereinander sehen, können sie daran arbeiten und „Identität" als „Gleichbleiben in und durch Veränderung" erleben. Der Begriff„ Identität" kann, wenn überhaupt, im Kontext interkulturellen Lernens nur in kritischer Absicht verwendet werden „(...) viele Bildungskonzepte gehen nach wie vor davon aus, eine widerspruchsfreie, ausbalancierte Identität zu erreichen, sei ein erstrangiges und lohnenswertes Ziel. Aus einem wissenschaftlichen, zeit- und gesellschaftsbedingten Modell der 50er und 60er Jahre, aus einer Metasprache, sind reale gesellschaftliche Ansprüche und Ansprüche an sich selbst geworden." (Copray 1988, S. 19) Der Identitätsbegriff hat sich als ambivalent erwiesen. Es erscheint deshalb problematisch, ihn weiterhin zu verwenden, zumindest im alltagsprachlichen Umgang und in der pädagogischen Praxis. Im Kontext interkulturellen Lernens dürfte der entscheidende Punkt sein, daß es hierum die Situation „zwischen" den Kulturen geht, und genau diese Situation mit ihren Widersprüchlichkeiten und Konflikten wird mit dem Begriff der „Identität" leicht und oft zugedeckt. Bei interkulturellem Lernen tun wir gut daran, in den Gruppen sehr sorgfältig an diesen Widersprüchen zu arbeiten und erfahrungsnah herauszuarbeiten, wie persönliche Lebensgeschichte und die politökonomische Entwicklung zusammenhängen. Es gilt, wirkliche Unterschiede zu akzeptieren wie wirkliche Gemeinsamkeiten zu erkennen, und ebenso, 17 eingeredete Unterschiede und Gemeinsamkeiten in ihrem ideologischen Zusammenhang zu durchschauen und ihre Abwehrfunktion zu brechen. Eine Sensibilisierung in diese Richtung könnte verhindern, daß Ohnmacht in Resignation umkippt oder Feindbilder verstärkt. Im Laufe des Prozesses einer Gruppe kann daraus immer mehr die Erkenntnis wachsen, daß jeder Mensch Ausländer wie Inländer - in sich seine Würde und Kraft hat: nicht nur Defizite, sondern vor allem Kompetenzen. „Identität" könnte in diesem Sinne dann ein Kampfbegriff sein, der ein Potential des Widerstandes gegen Diskriminierungs- und Vereinnahmungsversuche bezeichnet. In interkulturellen Bildungsprozessen könnten Menschen die lebensweltlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse in ihren Verflechtungen entdecken: sich selbst als Individuum in Beziehung zu anderen Individuen und im Verhältnis zu Gesellschaft und Politik. Aus solchen Lernprozessen könnte Kraft zu einem Widerstand erwachsen, der sich ebenso gegen latenten und manifesten Rassismus in der Gesellschaft richtet wie gegen eigene Feindbilder und verdeckte rassistische Einstellungen. Eine solche „Identitätsarbeit" wäre gleichzeitig immer auch „Realitätsarbeit"2`, deren Ziel Solidarität zur Herstellung gerechterer Verhältnisse und Lebensbedingungen für Ausländer und Inländer ist. Anmerkungen 1 vgl. Nestvogel 1987, 65 2 vgl. Frankenberg; Menzler 1984, 157 3 vgl. Dohse 1981, 316 ff. (Insbesondere bei der hier beschriebenen staatlicher, Durchsetzung des Inländerprimats wird deutlich, welche gesetzlichen Verordnungen, wie z. B. die Arbeitserlaubnisverordnung zur Kanalisierung und Regulierung des Zustroms ausländischer Arbeitskräfte auf dem Arbeitsmarkt erlassen werden) 4 Insbesondere in der Regulierung des Familiennachzugs kommt das begrenzte. Interesse von Staat und Wirtschaft an einer gezielten Rekrutierung von Arbeitskräften zum Ausdruck; ebenda 344 ff. 5 Der Bayern-Bericht '79 formuliert beispielsweise als wichtigstes Ziel, die „möglichst spannungsfreie Eingliederung ausländischer Familien in unsere Gesellschaft bei gleichzeitiger Erhaltung der kulturellen Identität sowie der damit verbundenen Rückkehrfähigkeit" Vgl. Bayern-Bericht 1979, 30. 6 vgl. Kula 1986, 244 ff. 7 ebenda, 254 8 vgl. Bayern-Bericht, a. a. O., 29 9 G. Elwert diskutiert dieses Phänomen ausgehend von der These, ob unter bestimmten Bedingungen eine „gesellschaftliche Integration durch Binnenintegration" erfolgen kann. Vgl. EI wert 1982, 717 ff. 10 vgl. Berger 1983, 125 ff. 11 H. R. Laurien (1982): „Wenn es darum geht, türkische Lieder, türkische Geschichte im europäischen Zusammenhang einzubeziehen, dann ist das durch die Lehrpläne gewährleistet. Nut gehen einige Lehrer noch weiter. Die Sorge, es muß deutsche und türkische Geschichte ge lehrt werden, als gleichrangige Lerninhalte. Und da sage ich: Wir können den Kindern nich halb Ankara hier bieten. So ein multikulturelles Konzept, das sechs, sieben Kulturen einbe zieht, führt zu einer Mischmarmelade, in der man eigenes nicht mehr erkennt." zitiert nach O. B. Kula, a. a. O., 264. 12 vgl. Richter, a. a. O., 118 13 vgl. Nestvogel, a. a. 0., 64 14 ebenda, 66 15 vgl. Czock / Radtke 1984, 38 - 44. 16 vgl. Schrader/Nikles/Griese 21979, 187 ff.. 17 vgl. Pörksen 1988. 18 vgl. Berger / Luckmann 1969; Berger / Berger /Kellner 1975. 19 vgl. Brumlik 1973, 120 ff. 20 vgl. etwa Krappmann 1969. 21 vgl. Meueler 1987, 61 ff. 18 Kultur und Identität – europäische Bürgerschaft; eine pädagogische Herausforderung Otto Stoik Von dem, was man heute denkt, hängt das ab, was morgen auf den Straßen und Plätzen gelebt wird. (José Ortega y Gasset) 1. Was wir über Kultur vermitteln? Gail Robinson, ein amerikanischer Forscher auf dem Gebiete multikultureller Erziehung, berichtet, dass Lehrer/innen auf die Frage: „Was bedeutet für Sie Kultur?“ Antworten geben, die drei Kategorien zuzuordnen sind: Ergebnissen, Ideen und Verhaltensweisen. 1.1 Elemente von Kultur sind: Ergebnisse (Produkte) Ideen Verhaltensweisen Literatur Auffassungen Brauchtum Volkskunst Werte Gewohnheiten Kunst Institutionen (Bildung, Familie, Wirtschaft, Erziehung, ...) Sich zu kleiden Musik Von Menschen Geschaffenes (Kleidung, Plastiken, Gegenstände, Geräte, etc.) Sich zu ernähren; Art der Nahrung; Art und Weise des Essens, ... Freizeitverhalten Norbert Elias beschreibt in seinem Buch: „Über den Prozess der Zivilisation“ (2 Bde, 6. Aufl., Frankfurt a. M. 1978/79) wie diese Elemente von Kultur dem Menschen wie selbstverständlich werden. Im Buch „Experiential Activities for Intercultural Learning“ (Intercultural Press, INC.) liefert H. Ned Seelye einen Rahmen dafür, multikulturelle Kommunikationsweisen zu entwickeln. Damit zeigt er eine Vorgangsweise, die darauf hinweist, dass Verhalten kulturell beeinflusst wird. Die im folgenden genannten Ziele sind in Anlehnung an seine „sieben Ziele zur kulturellen Unterweisung“ (für Schüler aus anderen Kulturkreisen) formuliert. 19 1.2 Zielsetzungen bei der Vermittlung von Kulturelementen: 1. Bei Schülern/Studierenden das Verständnis fördern für die Tatsache, dass jedes menschliche Verhalten kulturell erworbenes (überformtes) Verhalten ist (kultureller Relativismus). 2. Verständnis zu entwickeln für soziale Variable wie Alter, Geschlecht, soziales Milieu, Lebensraum, u.a. Diese Variablen beeinflussen die Art und Weise wie Menschen denken, sprechen, sich verhalten (sozialer Relativismus). 3. Mehr Bewusstsein über herkömmliches (ganz selbstverständliches) Verhalten in Alltagssituationen der Ziel-Kultur (Mehrheitskultur) schaffen. 4. Die Bedeutungen von Wörtern und Redewendungen in der Ziel-Kultur klären und die Aufmerksamkeit dafür schärfen. 5. Verallgemeinerungen über die Ziel-Kultur beurteilen und relativieren zu können; dafür hilfreiche Bedingungen zu schaffen. 6. Informationen über die Ziel-Kultur ausfindig zu machen und einzuordnen. 7. Die intellektuelle Neugier der Schüler/Studierenden auf die Ziel-Kultur zu fördern und sie zu Empathie mit den Menschen der Ziel-Kultur anzuhalten. Im Besonderen sollen Lehrer/innen diese sieben Zielsetzungen im Auge behalten, wenn sie Unterricht planen und halten. Diese Ziele sollen mit folgenden Prinzipien verbunden sein: 1.3 Prinzipien für (interkulturellen / multikulturellen / multiethnischen / mehrsprachigen / europäischen) Unterricht sind: 1. Über die Sprache, die die Schüler lernen (Fremdsprache / Zweitsprache), den Zugang zur jeweiligen Kultur ermöglichen. 2. Jede Stunde die Begegnung mit kulturellen Verhaltensweisen anbieten. 3. Schüler beim Erwerb der notwendigen sozio-ökonomischen / -kulturellen Kompetenzen unterstützen. 4. Schülern ein Verständnis / Bewusstsein vermitteln sowohl hinsichtlich der eigenen als auch der anderen Kultur(en). 5. Anzuerkennen, dass nicht jedes Lernen über Kultur gleichzeitig mit Verhaltensänderung verbunden ist. Nur Bewusstsein und die Toleranz gegenüber kulturellen Einflüssen kann das eigene und das Verhalten anderer verändern. 2. 21. Jahrhundert - In Europa verschieben sich Grenzen: Am Beginn des 21. Jahrhunderts, in dem sich Europa zusammenschließt anstatt sich auseinander zu reißen, wie es im vergangenen Jahrhundert geschehen ist, könnte man diese 20 Aussage über Europa treffen: „Eine Nation (Europa) ist eine Gesellschaft, die sich durch Ehrlichkeit über ihre Vergangenheit und durch gemeinsame Verständigung über ihre Nachbarn zusammenschließt.“ Erst 1988 hat der EU - Ministerrat erklärt, dass „die europäische Dimension in der Erziehung (...) das Gefühl der europäischen Identität bei den jungen Menschen verstärken und ihnen den Wert der europäischen Zivilisation deutlich machen kann.“ Eine europäische Bürgerschaft war bis zum Vertrag der Europäischen Union nicht formell geschaffen. Dieser Vertrag wurde erst in Maastricht am 7. Februar 1992 unterzeichnet. Damit ist die Unionsbürgerschaft anerkannt worden (vgl. Artikel 8). Das Erziehungssystem soll für diese Bürgerschaft (aus)bilden. Erziehung zur europäischen Bürgerschaft sollte das Erfahren, das Erleben der europäischen Dimension und das Hineinwachsen in diesen europäischen Kontext mit einschließen. Erst das ermöglicht jedem/r Bürger/in die Teilnahme auf der europäischen Bühne. In den europäischen Staaten jedoch sind kaum ernsthafte Bemühungen zu verspüren sich mit Bürgerschaft in Europa zu auseinander zu setzen. Deshalb können wir nur schwer sagen, dass sich junge Menschen in Europa als Europäer betrachten. Junge Menschen nehmen für sich eine eher schwach ausgeprägte europäische Identität wahr. Erst wenn Europa mit allen seinen vielfältigen, ja verschiedenartigsten europäischen Identitäten gesehen wird, mit viel weniger definierten Grenzen und mit Offenheit gegenüber den Nachbarn und Nachbarländern, deren Meinungen und Lebensstilen, dann wird eine europäische Bürgerschaft ein sehr viel stärkeres Ideal sein, für das es lohnt danach zu streben. „Aber wir sind noch nicht am Ziel – wir sind dazu gerade erst aufgebrochen!“ (A. Ross, 1999, CICEConference, London; CICE – Children’s Identity and Citizenship in Europe) 3. Warum ist „Europäische Bürgerschaft“ zunehmend mehr ein Thema? Nationale Wahlen zeigen es immer wieder: Die politische Führer benötigen „die Grenzen“ um von ihren Wählern bestätigt zu werden. Deren Legitimität und Macht stammen von den vermuteten Identitäten und vom Zusammenhalt, den ein Nationalstaat bietet. Junge Menschen sehen dies offener; nationaler Zusammenhalt ist nicht zwingend. Erziehung zur europäischen Bürgerschaft, Erziehung zur Demokratie, ist in der Tat keine einfache Bekräftigung alter Vorgehensweisen. Wir müssen heute die jungen Mitmenschen 21 für verschiedenste Arten von Partizipation erziehen. Wir müssen eine andere Art von Demokratie – direkte Demokratie - vermitteln. Europäische Staats- bzw. Staaten Bürgerschaftserziehung ist komplex, verlangt Engagement und muss Identifikation mit Europa auslösen (können). Die Idee der mehrfachen Identität ist eine starke, eine überzeugende. Weil die alten Sicherheiten schwanden, weil die Bevölkerung Europas viel stärker als verschieden, als vielfältig wahrgenommen wird; weil sie als mehr voneinander abhängig, als mehr regional wahrgenommen wird; weil Menschen sich mehr der Ungleichheit bewusst werden, der verschiedenen ethnischen Kategorien, der sozialen Integration und der Ausgrenzung, weil Fremdenfeindlichkeit wächst und stärker öffentlich ausgetragen wird - deshalb sind wir fähig die Vielfalt verschiedenartigster Identitäten in sozialen Kontexten zu sehen. In vielen Situationen ziehen wir ein bestimmtes Bündel von Identitäten vor, in vielen anderen ganz andere. „Moderne Identität ist ein reflexives Projekt in einer reflexiv gewordenen Gesellschaft. (...) sie bleibt an die Inhalte der wichtigsten Lebensbereiche und damit auch an die sozialen Beziehungen gebunden. (...) Die von Erikson dargestellten Schlüsselbegriffe Vertrauen, Autonomie, Initiative, Kompetenz und Identität (...) haben sich auch als wesentliche Dimensionen der gesellschaftlichen Strukturen erwiesen. (...) Identität ist das Ziel beim Entwurf von Lebensstilen.“ (P. Lohauß, Moderne Identität und Gesellschaft, Opladen, 1995, S 215 ff.) „Eine der Herausforderungen denen wir bei der Erstellung eines Curriculums in den nächsten Jahrzehnten begegnen ist die Art und Weise, wie wir kulturelles und soziales Lernen definieren bzw. festlegen, das sich in diesem komplexen Gesellschaftssystem (wie es Europa wird) als geeignet erweist.“ (vgl. A. Ross, CiCe a.a.O.) 4. Was bedeutet Identität? Unterscheiden wir zunächst zwischen Ähnlichkeit und Verschiedenheit. Beides sind Grunderfahrungen menschlichen Lebens. Deshalb verhalten wir uns freundlich, wenn wir mit Leuten zusammen sind, die uns selbst ähnlich sind, und weniger freundlich – distanziert -, wenn sie sich stark von uns unterscheiden. Ähnlichkeit und Differenz können an bestimmten Merkmalen und durch verwandte sichtbare Zeichen erkannt werden., werden aber auch durch Meinungen, Interessen, Lebensumstände u.a. ausgedrückt bzw. bestimmt. Die Wahrnehmung von Ähnlichkeit bzw. von Differenz gibt Antworten auf Fragen wie: „Wer bin ich? Und wer bist du?“ Es ist sowohl ein Beitrag zur Entwicklung des eigenen Selbst und der Ich-Identität als auch zur Wahrnehmung der Identität der anderen. 22 Selbst und Identität sind dynamische Systeme und hängen vom sozialen Kontext ab. Im Selbst-Konzept wirken zwei Komponenten – das persönliche Selbst und das kollektive Selbst (der anderen). Beide hängen von der Selbstinterpretation, vom Selbstbewusstsein, der Selbstachtung, dem Selbstvertrauen, der Selbstbeurteilung, vom Selbstbild ab. Das personale Selbst versteht sich als einmalige Selbstinterpretation, das kollektive Selbst versteht sich als mit den anderen austauschbar. Deshalb können wir über Identität sagen: Identität beschreibt ein Individuum im gegebenen sozialen Kontext. Ich-Identität hängt vom personalen Selbst als einzigartige Persönlichkeit ab; soziale Identität bezieht sich auch auf die Person unter den Bedingungen sozialen Lebens. In modernen Gesellschaften kann die Selbst- und Fremddarstellung der Person als dialektisches Prinzip verstanden werden. Norbert Elias unterscheidet zwischen Wir-Identität und Ich-Identität. In den letzten zweihundert Jahren ist Ich-Identität immer bedeutsamer geworden. Je mehr wir die Vielfältigkeit von Lebensstilen und Verhaltensweisen in unseren Gesellschaften bewusst wahrnehmen, desto mehr stoßen wir auf Ich-Identität. Es ist wichtig die Wechselbeziehung zwischen Ich-Identität und Wir-Identität zu unterstreichen.; Identität ist die Balance zwischen beiden, eine Balance zwischen persönlichen Bedürfnissen und den sozialen Erwartungen. 4.1 Fähigkeiten um Identität zu entwickeln und zu wahren: Um diese Fähigkeiten zur Balance umsetzen zu können weist L. Krappmann (Soziologische Dimensionen der Identität, Stuttgart, 1975) auf vier Verhaltensweisen hin: • Empathie • Rollendistanz • Ambiguitätstoleranz und • Kommunikationsfähigkeit Diese Fähigkeiten ermöglichen es einer Person sich sowohl mit sich selbst als auch mit dem anderen in sich selbst auseinander zu setzen. Moderne Identität ist ein „Ich-Ideal“. Menschen, die über die Schlüsselfähigkeiten (vgl. Erikson) verfügen, können mit deren Hilfe gelungene Persönlichkeit werden. „Ich liebe meine Heimat zu sehr um Nationalist zu sein“ (Albert Camus in einem Brief an einen Freund) 4.2 Kultur und Identität 23 Was wir uns im Erziehungsprozess bewusst machen sollten: Kultur ist uns bewusst aber in weitaus höherem Umfang unbewusst. Ich möchte das mit einem Eisberg – Kulturkonzept veranschaulichen: Das Eisberg-Kulturkonzept: Bildende Kunst bewusst Theater Klassische Musik Moderne Musik Volkstänze Spiele Kochen Bekleidung Mode Sport Wasseroberfläche Begriffe der Bescheidenheit - Begriff der Schönheit unbewusst Ideale der Kindererziehung Kosmologie - Verhältnis zu Tieren - Regeln der Erbfolge Arten von vorrangigen / unterdrückenden Beziehungen Definition der Sünde - Begriff der Gerechtigkeit Brüche im „den Hof machen“ - Motivation zur Arbeit - Tempo bei der Arbeit Begriffe der Führerschaft - Begriffe der Sauberkeit - Entscheidungsarten in verschiedenen Gruppen Beziehung zu Krankheiten - Einstellung gegenüber Hilfsbedürftigen Methoden der Problemlösung - geistige Beweglichkeit gegenüber sozialen Schichten Verhältnis zu Älteren, Jüngeren, Andersgeschlechtlichen, Vorgesetzten, Menschen anderer sozialer Schichten; Umgangsformen in den verschiedenen sozialen Milieus - Begriff des „Ego“ Beziehung zur Vergangenheit und Zukunft - Definition der Geisteskrankheit Arten von Freundschaften - Zeiteinteilung - Arten der visuellen Wahrnehmung Bevorzugung von Wettbewerb und Zusammenarbeit - Körpersprache Grad der gegenseitigen gesellschaftlichen Beeinflussung Einstellung gegenüber Jugendlichen - Begriff der Logik unbewusst Arten der Gefühlsverarbeitung - Gesichtsausdrücke Einteilung des Lebensraumes Und viel viel mehr ... 24 Der größte Teil von Kultur ist uns unbewusst. Wir werden uns erst in Situationen, wenn wir damit konfrontiert werden, dieser Elemente bewusst und können sie reflektieren. Sonst halten wir kulturell Geprägtes als für natürlich weil selbstverständlich. Aufgabe von Lehrer/innen sollte es sein, sich mit diesen Elementen von Kultur auseinander zu setzen, sie in spezifische Kontexte zu bringen und somit ein neues Bewusstsein zu vermitteln bzw. zu ermöglichen. Junge Menschen sollten sich damit in ihrem täglichen Lebens auseinandersetzen. Dabei könnten wir die Eltern der Schüler/innen zu gemeinsamer Kulturarbeit einladen. 4.3 Materialien zur Thematisierung von Kultur und Identität Sehr wichtig sind einfache und konkrete Beispiele, die im täglichen Leben bearbeitet werden können und für die Schule zur Verfügung stehen. Das Material des Comenius Projekts „Das sind wir 2“ (ein interkulturelles Lernprojekt für Jugendliche in Europa; Anne Frank Haus, Amsterdam 1999) bietet Lehrer/innen die Möglichkeit Aspekte des Lebens der Heranwachsenden zu arbeiten. Das Material setzt sich in einer umfangreichen Lern- und Arbeitskartei, Video und Zeitschrift mit folgenden Themenbereichen auseinander: • Idole und Ideale • Aussehen und Äußerlichkeiten • Liebe und Freundschaft • Zukunft und Perspektiven 5. Zusammenfassung: Fünf wichtige Aspekten in kultureller und staatsbürgerlicher Erziehung und Bildung – für eine Erziehung zu europäischer Staats – Bürgerschaft: 1. Kulturelle Bildung und Erziehung sind ein wichtiger Teil von Lehre und Unterricht, ob sie nun in eigenen Fächern oder als Unterrichtsprinzip Umsetzung finden. 2. Erziehung auf der Basis sozialer Werte (Verantwortung, Toleranz, Zusammenleben, Umweltschutz, ...) ist bedeutsam, so dass Schüler/innen sich der Welt um sie herum bewusst und verantwortliche Bürger Europas werden können. 3. Auf Werten basierende Erziehung sollte durch schülerzentrierte Methoden verwirklicht werden: Projektarbeiten, gemeinsame Kooperation in vielfältigen Lernsituationen, Gruppenarbeit, offener Unterricht, etc. Dabei sollen die Schüler/innen in einer Atmosphäre von Vertrauen, Autonomie und Selbstverwirklichung arbeiten können. 25 4. Beurteilungssysteme und Beurteilungsmethoden sollen die Schüler zu Selbstbewertung und Selbsteinschätzung (der individuellen und auch der Gruppenleistungen) befähigen; nicht nur als wichtigen Teil der Evaluation ihrer Arbeit, sondern als zentralen Kern von Staatsbürgerschaftserziehung, damit sie sich der Werte bewusst werden nach denen sie selbst und ihre Mitmenschen beurteilt werden. 5. Mehr Aufmerksamkeit sollte dem „geheimen Lehrplan“ in allen Bereichen des Bildungssystems geschenkt werden. Lehrer/innen und Schulaufsicht sollten den Bildungsprozess und die systemischen Bedingungen von Schule untersuchen. Das verlangt Kommunikation zwischen den Schulpartnern. Kulturelle Bildung und Erziehung – Erziehung zur europäischen Staats- Bürgerschaft -hat mit Wissen und mit Fähigkeiten zu tun. Um als freie und verantwortliche Menschen in einer demokratische Gesellschaft leben zu können, müssen wir uns damit – mit der europäischen Identität - auseinander setzen. Dann sind wir gemeinsam in der Lage den Prozess der Herausbildung einer europäischen Persönlichkeit zu leisten. Wir sollten bei diesem Prozess an die Worte Jaques Delors denken: „Wenn wir das neue Haus Europa bilden, dann müssen Herz und Wissen gleichwertige Partner sein.“ 26 27