Kosten der Wirtschaftskrise und Risiken ihrer Bekämpfung

Werbung
Spotlight
Kosten der Wirtschaftskrise und Risiken ihrer Bekämpfung
Das Platzen der US-Immobilienblase im Jahr 2007 stürzte die
Welt in eine tiefe Finanz- und
Wirtschaftskrise. Um die Gefahr
einer Depression im Stil der
1930er-Jahre zu bannen, setzten
Staaten, Zentralbanken und internationale Organisationen auf
massive Interventionen. Die
Massnahmen im fiskal- und geldpolitischen Bereich konnten die
Weltwirtschaft und die Finanzmärkte in der kurzen Frist stabilisieren. Allerdings zeigen sich zunehmend Risiken und Nebenwirkungen der Interventionen sowie
die Langfristfolgen der Krise.1
1 Der vorliegende Beitrag gibt ausschliesslich die persönliche Meinung des Verfassers wieder. Für einen ausführlichen Beitrag, in dem zusätzlich die handelspolitischen
und investitionspolitischen Krisenbekämpfungsmassnahmen diskutiert werden, siehe: Thomas A. Zimmermann, The Dangerous Rise of Economic Interventionism;
www.zimmermann-thomas.ch, Veröffentlichungen.
Dr. Thomas A.
­Zimmermann
Universität St. Gallen
­(SIAW-HSG) und Staats­
sekretariat für Wirtschaft
SECO, Bern
www.zimmermannthomas.ch
Die Zahlungsunfähigkeit Griechenlands wurde zwar zunächst dank europäischen Hilfsmassnahmen abgewendet,
doch stehen dem Land harte Zeiten bevor. Sogar der Verkauf von Inseln wurde zur Aufbesserung der Staatsfinanzen
Bild: Thomas A. Zimmermann
vorgeschlagen. Im Bild: Mykonos.
Die geplatzte Immobilienblase in den USA
im Jahr 2007 und die anschliessende Destabi­
lisierung des Finanzsektors drohten die Welt­
wirtschaft in eine tiefe Krise zu stürzen.
­Besonders der Zusammenbruch der amerika­
nischen Investmentbank Lehman Brothers
im Herbst 2008 führte zu einem panikartigen
Ausverkauf an den Finanzmärkten. Unter
dem Druck, ihre Liquidität zu erhöhen und
ihre Verschuldungsniveaus zurückzufahren,
sahen sich etliche Finanzmarktakteure ge­
zwungen, Vermögenswerte zu veräussern.
Dies führte zu einem starken Druck auf die
Preise von Immobilien sowie immobilienbe­
zogenen Schuldtiteln, Aktien und Rohstoffen.
Die sinkenden Vermögenspreise verstärkten
ihrerseits den Druck auf die Bilanzen von
Banken und Haushalten, denen – bei unver­
änderten nominalen Verbindlichkeiten – zu­
nehmend die Überschuldung drohte. Dies
wirkte sich wiederum dämpfend auf die Kre­
ditvergabe der Banken sowie auf das Kon­
sumverhalten der privaten Haushalte – und
damit auf die Nachfrage – aus. Um diesen de­
flationären Teufelskreis zu durchbrechen,
griffen Staaten, Zentralbanken und interna­
47 Die Volkswirtschaft Das Magazin für Wirtschaftspolitik 7/8-2010
tionale Organisationen zu einem umfang­
reichen Mix massiver Interventionen.
Rasche Lockerung der Geldpolitik
Besonders rasch reagierte die Geldpolitik
auf die verschlechterte wirtschaftliche Lage.
Etliche Notenbanken reduzierten schon ab
Mitte 2007 ihre geldpolitischen Zinssätze
schnell auf teilweise historisch tiefe Niveaus.
So senkte etwa die Bank of England ihren
Leitzins auf 0,5% – und damit auf das tiefste
Niveau seit ihrer Gründung im Jahr 1694.
Da die Zinsen bereits vor Ausbruch der
Krise nicht sonderlich hoch waren, war das
Zinssenkungspotenzial rasch ausgeschöpft.
Einige Notenbanken – darunter jene der USA,
Englands und der Schweiz – griffen deshalb
zu Massnahmen der quantitativen Locke­
rung. Sie kauften beispielsweise Wertpapiere
staatlicher oder privater Schuldner, was in der
Regel zu einer Ausweitung der Geldmengen
und teilweise zu einer Vervielfachung der Bi­
lanzsummen der Zentralbanken führte. Die­
ser Effekt lässt sich an der längerfristigen Ent­
wicklung der monetären Basis in den USA
Spotlight
Grafik 1
Entwicklung der monetären Basis am Beispiel der USA, 1. Januar 1918–1. Mai 2010
In Mrd. USD
2200
2000
1800
1600
1400
1200
1000
800
600
400
200
2010
2002
1995
1988
1981
1974
1967
1960
1953
1946
1939
1932
1925
1918
0
Quelle: Federal Reserve Bank of St.Louis, Zimmermann/Die Volkswirtschaft
Kasten 1
Weitere Massnahmen
zur Krisenbekämpfung
Weitere Massnahmen wurden während der
Krise von diversen Stellen getroffen, um eine
Stabilisierung der Märkte herbeizuführen.
Im Bereich der Buchführungsstandards
haben die zuständigen internationalen Gremien IASB und FASB auf dem Höhepunkt der
Krise Aufweichungen der Mark-to-Market-Regel beschlossen. Diese Bilanzregel verpflichtet Finanzinstitute normalerweise dazu,
Wertpapiere nach ihrem Marktpreis zu bewerten. Sie hatte bei illiquid gewordenen «toxischen» Wertpapieren wie immobilienbesicherten Schuldverschreibungen zu einer Abwärtsspirale aus massiven Abschreibungen,
Notverkäufen und sinkenden Preisen sowie
einer Verschlechterung der Bankbilanzen geführt. Mit der unter politischem Druck erfolgten Aufweichung der Mark-to-Market-Regel konnte dem Verkaufs- und Preisdruck sowie der Verschlechterung der Bankbilanzen
auf dem Papier entgegengewirkt werden.
Weiter wurde versucht, die Abwärtsspirale
an den Finanzmärkten durch bestimmte Handelsverbote – so z.B. durch ein Verbot gewisser Leerverkäufe – zu bremsen.
Schliesslich wurde auch mittels handelsund investitionspolitischen Massnahmen, die
nicht frei von protektionistischen Elementen
sind, eine wirtschaftliche Stabilisierung angestrebt.
2 Vgl. IWF (2010), Fiscal Monitor, S. 85.
3 Vgl. IWF (2009), Fiscal Implications of the Global Economic and Financial Crisis, S. 39.
4 Vgl. IWF (2010), Strategies for Fiscal Consolidation in
the Post-Crisis World, S. 18.
(vgl. Grafik 1) eindrücklich illustrieren. Diese
stieg von rund 871 Mrd. US-Dollar im Au­
gust 2008 sprunghaft auf 2141 Mrd. US-Dol­
lar im Februar 2010 an und ist seither nur
leicht gesunken (2033 Mrd. US-Dollar am 1.
Mai 2010)
Weitere Lockerungen der monetären Be­
dingungen erfolgten durch veränderte Reser­
veanforderungen und Änderungen bei der
Häufigkeit sowie den Konditionen von Offen­
marktgeschäften (u.a. längere Laufzeiten, tie­
fe­re Anforderungen an die hinterlegten
Sicher­­heiten). Auf internationaler Ebene wur­
den Swap-Fazilitäten zwischen Zentralbanken
eingerichtet oder ausgebaut, um die Fremd­
währungsliquidität sicherzustellen. Aus­ser­
dem wurden die Mittel des Internationalen
Währungsfonds (IWF) gestärkt. Teilweise
kam es zu Devisenmarktinterven­tio­nen.
Stark expansive Fiskalpolitik
Neben der Geldpolitik wurde insbesonde­
re die Fiskalpolitik zur Krisenbekämpfung
aktiv. Hier standen Konjunkturprogramme
und Rettungsmassnahmen für den Finanz­
sektor sowie angeschlagene Industrien im
Vordergrund.
Konjunkturpolitisch kamen auf der Aus­
gabenseite zusätzliche oder vorgezogene In­
frastrukturinvestitionen sowie sektorspezi­
fische Hilfen wie Verschrottungsprämien für
Autos oder Unterstützung für Hausbesitzer
zum Einsatz. Daneben wurden Transfer­
programme gestärkt oder ausgebaut, z.B.
durch verlängerte Kurzarbeit. Einnahmen­
seitig erfolgten Entlastungen durch Steuerer­
leichterungen für Unternehmen und private
Haushalte. Neben diesen diskretionären
48 Die Volkswirtschaft Das Magazin für Wirtschaftspolitik 7/8-2010
Massnahmen stützten vor allem die automa­
tischen Stabilisatoren die Wirtschaft, etwa
durch den krisenbedingten Rückgang der
Steuereinnahmen und Sozialversicherungs­
prämien sowie durch Mehrausgaben der So­
zialversicherungen.
Die Fiskalpolitik engagierte sich jedoch
nicht nur in der Konjunkturförderung, son­
dern vor allem bei Stützungsmassnahmen
für den Finanzsektor. In den Industrielän­
dern wurden hierfür in erheblichem Umfang
Mittel mobilisiert und Risiken vom Finanz­
sektor zum Staat transferiert. Zu den Instru­
menten gehören – neben staatlichen Garan­
tien für Bankverbindlichkeiten – auch der
Kauf von illiquiden Wertpapieren, staatliche
Kapitalbeteiligungen an Finanzinstituten so­
wie weitere Massnahmen, die teilweise in Zu­
sammenarbeit mit den Zentralbanken er­
griffen wurden. In den Schwellenländern
bedurfte es in der Regel keiner oder nur ge­
ringer Mittel zur Finanzsektorstabilisierung.
Aktuelle Schätzungen des IWF2 gehen
­davon aus, dass die Bruttoverschuldung der
­Industrieländer unter den G-20-Staaten zwi­
schen 2007 und 2015 von rund 78% auf
117% des BIP steigen wird – ein in Frie­
denszeiten nie erreichtes Verschuldungsni­
veau. Von dieser Zunahme in Höhe von rund
39,1 Prozentpunkten entfallen ca. 19,2 Pro­
zentpunkte auf Einnahmeausfälle (Ver­
mögenswertverluste und tiefere Gewinne),
8,2 Prozentpunkte auf das Zins-WachstumsDifferenzial, 4,5 Prozentpunkte auf Konjunk­
turprogramme, 4 Prozentpunkte auf Kre­
ditgewährungen und 3,2 Prozentpunkte auf
unmittelbar ausgabenwirksame Stützungs­
massnahmen für den Finanzsektor. Nicht
enthalten sind die bislang nicht ausgabenwirk­
samen Eventualverbindlichkeiten aus staat­
lichen Kreditgarantien. Neben den fiskalund geldpolitischen Massnahmen wurden
auch Buchführungsstandards und Handels­
regeln geändert. Einige Staaten griffen über­
dies zu handels- und investitionspolitischen
Massnahmen (siehe Kasten 1).
Erfolgreiche kurzfristige
­Stabilisierung…
Wenngleich es für eine endgültige Beur­
teilung noch viel zu früh ist, kann man den
ergriffenen Massnahmen zugutehalten, dass
sie in der kurzen Frist zu einer Stabilisierung
der Märkte und einer Wiederbelebung der
Wirtschaft geführt haben: Der deflationär
wirkende Teufelskreis aus Notverkäufen, sin­
kenden Vermögenswerten und Insolvenzen
konnte vorerst durchbrochen werden. Der
Preiszerfall von Immobilien, Aktien, Roh­
stoffen und Schuldtiteln wurde aufgehalten
und teilweise umgekehrt. Die Wirtschafts­
Spotlight
Kasten 2
Die Eurokrise und die Interventionen
Im Frühjahr 2010 führte die Sorge um die
hohe Staatsverschuldung einiger südeuro­
päischer Staaten (Portugal, Italien, Griechenland und Spanien) zu Turbulenzen an den Obligationenmärkten. Insbesondere die Angst
vor einer Zahlungsunfähigkeit Griechenlands,
welches seine zuvor geschönten Defizitzahlen
stark nach oben korrigieren musste, liess die
Renditen griechischer Staatstitel stark ansteigen. Dadurch verschlechterten sich die
Finan­zierungs­bedingungen zusätzlich. Befürchtungen vor einer Ansteckung weiterer
Staaten führten auch bei den Titeln anderer
Staaten zu einem Renditeanstieg sowie zu
­hohem Druck auf den Euro an den Devisenmärkten.
Vor diesem Hintergrund griffen die EUStaaten zu Rettungsmassnahmen. So hat die
EU im April gemeinsam mit dem IWF einen
Rettungsplan für das hoch verschuldete Griechenland ausgearbeitet. Gemäss Kritikern
stellen die Massnahmen einen Verstoss gegen
die No-Bail-out-Regel des EU-Vertrages dar.
Im Mai ging die EU angesichts des anhaltenden Drucks der Finanzmärkte auf die Eurozone noch einen Schritt weiter, indem sie
ein Massnahmenpaket zugunsten der finanzschwachen EU-Staaten verabschiedete. Hierzu weitete sie bereits bestehende, für EULänder ausserhalb der Eurozone vorgesehene
Hilfen auf Mitglieder der Währungsunion aus
und erhöhte zugleich den entsprechenden
Finanz­rahmen von 50 auf 60 Mrd. Euro. Zudem soll eine Zweckgesellschaft unter Aufsicht der EU-Kommission im Namen aller
16 Euroländer Geld an den Finanzmärkten
aufnehmen und als Kredit an finanzschwache
Mitgliedstaaten weitergeben können. Hierfür
ist ein Finanzrahmen von 440 Mrd. Euro vorgesehen. Weiter gewährt der Internationale
Währungsfonds (IWF), der als monetäre Institution eigentlich für Zahlungsbilanzhilfen
und nicht für Bud­get­hil­fen zuständig wäre,
Finanzhilfen in ­Höhe von bis zu 250 Mrd. Euro. Im Gegenzug müssen die EU-Länder Portugal und Spanien zusätzliche Massnahmen
zur Haushaltssanierung ergreifen.
Die Europäische Zentralbank (EZB) flankiert diese Bemühungen, indem sie die Bereitschaft zum Kauf von Anleihen verkündet
hat.
Die ergriffenen Massnahmen stellen in
mehrfacher Weise eine Abkehr von den Prinzipien dar, welche bislang für die Eurozone
postuliert wurden. Dies betrifft zum Einen die
Anleihekäufe der EZB und zum Anderen die
faktische Aufgabe des No-Bailout-Prinzips innerhalb der Währungs­union. Gerade mit der
Aufgabe dieses Prinzips wird letztlich aber
«nur» die bereits in der Vergangenheit eher
halbherzige Einhaltung der fiskalpolitischen
Disziplin fortgeschrieben: So erfüllten einzelne Länder bereits beim Eintritt in die Währungsunion die Maastricht-Kriterien nur dank
kreativer Massnahmen. Und auch der vielbeschworene Stabilitäts- und Wachstumspakt
wurde in der Praxis wenig stringent umgesetzt. Zu oft übten die Staaten gegenseitige
Nachsicht bei ihren fiskalpolitischen Verfehlungen.
entwicklung wurde stabilisiert und die Re­
zession in den meisten Ländern überwun­
den. Auch der Anstieg der Arbeitslosigkeit
fiel relativ moderat aus. Im Handel kam es
bislang nicht zu unkontrolliert eskalierendem
Protektionismus. Dies alles ist keine Selbst­
verständlichkeit.
…mit längerfristigen Kosten und Risiken
Nebst diesen positiven Wirkungen sind
die Interventionen aber auch mit erheblichen
längerfristigen Kosten und Risiken auf ver­
schiedenen Ebenen verbunden – mikroöko­
nomisch, makroökonomisch und politisch.
Daneben zeigen sich immer deutlicher die
langfristigen Folgen der Finanz- und Wirt­
schaftskrise. Krisenhafte Zuspitzungen sind
auch weiterhin nicht auszuschliessen.
Mikroökonomische Risiken:
Anreize zu Fehlverhalten
Mikroökonomisch wurde mit den Kon­
junkturpaketen teilweise struktureller An­
passungsbedarf verschleppt – insbesondere
dort, wo Hilfen sektorspezifisch ausgerichtet
wurden und in Branchen mit chronischen
Überkapazitäten flossen (z.B. in der Auto­
mobilindustrie). Es ist anzunehmen, dass da­
durch Verzerrungen und Effizienzverluste bei
Produktion, Konsum und Faktorallokation
entstanden sind und das Produktivitäts­
wachstum gebremst wurde. Das steigende
Engagement des Staates bei Unternehmen
geht zudem einher mit einem Risiko der po­
litischen Beeinflussung und des Missma­
nagements.
Durch die Rettungsmassnahmen im Fi­
nanzsektor wurde ein erhebliches Potenzial
für Moral Hazard geschaffen. Jene Finanz­
institute, die in den Boomjahren dank tiefer
Zinsen ihre Verschuldungsquote und ihre Bi­
lanzsumme besonders aggressiv ausweiteten,
haben mittlerweile «Systemrelevanz» erlangt.
Da ihr Untergang gesamte Volkswirtschaften
gefährden könnte (Too-Big-To-Fail-Problematik), verfügen sie heute über eine implizite
Staatsgarantie. Die Aussicht auf hohe Gewin­
ne bei gleichzeitiger Übernahme von Risi­ken
und Verlusten durch den Staat steigert – zu­
sammen mit den in die Kritik geratenen Ver­
gütungsmodellen – die Risikofreude im Fi­
nanzsektor über das ökonomisch effiziente
Mass hinaus. Ein vergleichbares, ebenfalls
«makrorelevantes» Moral-Hazard-Problem
stellt sich mit dem faktischen Bail-out Grie­
chenlands für die Fiskaldisziplin in der EU.
Makroökonomische Risiken:
Staatsschulden als Hauptproblem
Makroökonomisch bergen die stark ge­
stiegenen Staatsschulden erhebliche Risiken.
49 Die Volkswirtschaft Das Magazin für Wirtschaftspolitik 7/8-2010
Während die Konjunkturstimulierungs- und
Rettungsmassnahmen bei Ausbruch der Kri­
se noch vergleichsweise kostengünstig durch
neue Schulden finanziert werden konnten,
rücken nun Bedenken bezüglich der Rück­
zahlbarkeit der Schulden in den Fokus der
Investoren. Die Sorge um Staatsbankrotte hat
sich in einem rasanten Renditeanstieg bei
den Staatsanleihen südeuropäischer EuroMitgliedsländer – insbesondere Griechen­
land – niedergeschlagen. Aufgrund bestehen­
der Ansteckungsrisiken und Unsicherheiten
über die Folgen für den gemeinsamen euro­
päischen Währungsraum wurde aus der
Griechenland-Krise rasch eine «Eurokrise» –
mit einem stark sinkenden Eurokurs an den
Devisenmärkten. Die europäische Schulden­
krise hat ihrerseits neue Interventionen her­
vorgerufen, mit denen der vor Kurzem noch
für undenkbar gehaltene Umbau der Euro­
zone zur Transferunion erzwungen wurde
(siehe Kasten 2).
Die Schuldenlage ist indessen nicht nur in
einzelnen Ländern der Eurozone, sondern
auch in anderen Industriestaaten – wie Ja­
pan, Grossbritannien und den USA – prekär.
Zwar verfügen diese Staaten über gewisse
Vorteile, wozu allgemein eine an die natio­
nalen Bedürfnisse anpassbare Geldpolitik ge­
hört. Zusätzlich profitieren die USA vom Re­
serve- und Safe-Haven-Status des US-Dollars
und der damit verbundenen Seigneurage. Ja­
pan kommt seine geringe Auslandsverschul­
dung zugute, während Grossbritannien einen
Vorteil aus den langen Laufzeiten seiner Ob­
ligationen zieht. Gleichwohl können negative
Reaktionen der Finanzmärkte auch bei den
Schulden und Währungen dieser Länder
künftig nicht ausgeschlossen werden.
Bis zum Jahr 2050 hält der IWF sogar ei­
nen Anstieg der durchschnittlichen öffent­
lichen Verschuldung der G-20-Industrielän­
der in Regionen von rund 300% des BIP für
denkbar.3 Hierfür sind hauptsächlich die er­
warteten Ausgaben in den Bereichen Ge­
sundheit und Pensionen verantwortlich.
Schätzungen gehen davon aus, dass sich der
Barwert der alterungsbezogenen Zusatzaus­
gaben auf das Zehnfache der Kosten für die
Bekämpfung der Finanz- und Wirtschafts­
krise beläuft.4
Welches sind die Optionen zum Schuldenabbau?
Damit stellt sich die Frage, wie längerfris­
tig eine Rückführung der öffentlichen – und
auch privaten – Schuldenberge in den Indus­
trieländern erfolgen soll. Zwar wird allseits
vehement beteuert, dass eine Monetisierung
und Reduktion durch Inflation keine Option
darstelle. Umgekehrt ist aber unklar, welche
Alternativen bestehen: Wachstumsseitig sind
in den Industrieländern keine Wunder zu er­
Spotlight
Kasten 3
Markt- oder Staatsversagen
als Krisenursache?
Für den Ausbruch der Krise werden in der
öffentlichen Diskussion insbesondere die risikoreichen Geschäfte von Investmentbanken
und «Spekulanten», die Kreditvergabepolitik
im US-Immobiliensektor, das Versagen der
Rating-Agenturen sowie die Vergütungs­
systeme des Finanzsektors verantwortlich gemacht. Unbestreitbar handelt es sich hier um
Fehlleistungen der Märkte und ihrer Akteure.
Einseitige Schuldzuweisungen sind jedoch
fehl am Platz, da diese Krisenursachen teilweise durch staatliche Politiken begünstigt
wurden. Für andere Krisenursachen sind vor
allem die Staaten verantwortlich. Eine Diagnose tut not, wenn die Fehler der Vergangenheit in Zukunft vermieden werden sollen.
Zu den Elementen des «Staatsversagens»,
welche die Krise mit ausgelöst haben, werden
je nach wirtschaftspolitischem Standpunkt
gezählt:
– Dauerhaft sehr tiefes Zinsniveau nach dem
Platzen der Technologieblase;
– Fehlende Anpassungsfähigkeit der Geld­
politik in der Eurozone an die nationalen
Bedingungen mit der Folge von Immobi­
lienblasen (z.B. Spanien) und Verschuldungsexzessen (z.B. Griechenland);
– Steuerliche Bevorteilung der Fremdkapitalfinanzierung gegenüber der Eigenkapitalfinanzierung in zahlreichen Ländern mit
der Folge von erhöhter Verschuldung (z.B.
bei der Immobilien- und Unternehmens­
finanzierung);
– Politisch motivierte Wohnbauförderung in
den USA;
– Implizite Staatsgarantie für die US-Hypothekenfinanzierer Fannie Mae und Freddie
Mac;
– Fragmentierte US-Finanzmarktaufsicht;
– Starkes Wachstum der Staatsverschuldung
in zahlreichen Industrieländern;
– «Kartellistische» Nichtdurchsetzung des
Stabilitätspaktes in der Eurozone, einschliesslich grosszügiger Handhabung der
Maastricht-Kriterien bei Beitritten;
– Regulierungswettbewerb unter Finanzplätzen;
– Bindung der Währung von Überschussländern (insbesondere China, Golfstaaten) an
den US-Dollar mit der Folge internationaler Ungleichgewichte;
– Staatliche Engagements im Finanzsektor.
5 Die Literatur hat indessen auch nicht-keynesianische
­Effekte von Haushaltskonsolidierungen nachgewiesen.
In diesen Fällen führen die Sparmassnahmen nicht zu
sinkenden, sondern zu keinen oder gar steigenden Einkommenseffekten; vgl. Ardagna Silvia (2004): Fiscal
Stabilizations: When Do They Work and Why, European
Economic Review, Bd. 48, Nr. 5, S. 1047–1074.
6 Die Primärbilanz klammert die Zinszahlungen auf die
­bestehenden Schulden aus. Durchschnittlich müsste sich
die Primärbilanz zwischen 2010 und 2020 somit von
einem durchschnittlichen Defizit in Höhe von 4,9% in
Richtung eines Überschusses von durchschnittlich 3,8%
verbessern. Vgl. IWF, Fiscal Monitor, S. 28.
7 Zu geldpolitischen Aspekten des Exits aus der Krisen­
bekämpfung siehe IWF, Exiting from Crisis Intervention
Policies (2010), sowie IWF, Exiting from Monetary Crisis
Intervention Measures – Background Paper (2010).
warten. Abgesehen von den Exporten in die
wachsenden Schwellenländer dürften sich
die Nachfragekomponenten Konsum und
Investitionen angesichts der demografischen
Entwicklungen, der Bilanzsanierungen von
Banken und Haushalten sowie industrieller
Überkapazitäten verhalten entwickeln. Auch
der Beitrag des Staates zur Nachfrage dürfte
gering ausfallen, wenn die notwendigen
Haushaltssanierungen über Ausgabenkür­
zungen vorgenommen werden – zumal dann,
wenn dies in mehreren grossen Ökonomien
gleichzeitig erfolgt.5 Steuererhöhungen wür­
den umgekehrt die wirtschaftliche Aktivität
lähmen. Allenfalls in den produktiveren, ex­
portorientierten Ländern der Eurozone wie
Deutschland könnte dank des tiefen Eurozo­
nen-Einheitszinses sowie des tiefen Euro­
kurses ein Sonderboom ausgelöst werden,
der aber neue Risiken bergen würde.
Haushaltskonsolidierung
als wichtigste Herausforderung
Wollten die Industrieländer bis zum Jahr
2030 nur schon eine Verschuldungsquote
von 60% des BIP (Maastricht-Kriterium)
erreichen, bedürfte es gemäss IWF einer Ver­
besserung der Primärbilanz der öffentlichen
Haushalte zwischen 2010 und 2020 um
durchschnittlich 8,7 Prozentpunkte des BIP
sowie einer Stabilisierung während des fol­
genden Jahrzehnts.6 Dies wäre wohl nur
durch eine Rückführung der Ausgaben für
soziale Sicherheit, Alterssicherung und
Krankheit, weitere Ausgaben- und Subven­
tionskürzungen sowie eine Erhöhung der
Steuereinnahmen unter Verbreiterung der
Steuerbasis möglich. Dauerhaft müssten
zudem Mechanismen wie die Schulden­
bremse Anwendung finden. Inwiefern eine
solche längerfristige Rosskur politisch mög­
lich ist, steht auf einem anderen Blatt: Die
geringe Popularität, mögliche Konjunktu­
reinbrüche im Konsolidierungszeitraum, das
demo­grafische Umfeld sowie Zinsrisiken
könnten einen Strich durch die Rechnung
machen.
Angesichts dieser Umstände bringen Skep­
tiker dem bestehenden Papiergeld- und Kre­
ditsystem zunehmend Miss­trauen entgegen.
Sie befürchten, dass die öffentlichen und pri­
vaten Schuldenberge durch eine inflationär
wirkende Politik abgetragen werden könnten.
Zudem ist unklar, welche Nebenwirkungen
von der präzedenzlosen geldpolitischen Lo­
ckerung noch ausgehen werden. Während ein
«Exit» aus der monetären Konjunkturstüt­
zung technisch machbar erscheint, bleibt die
Frage nach der diesbezüglichen Bereitschaft
und dem Timing in den grossen Industrielän­
dern bislang offen.7
50 Die Volkswirtschaft Das Magazin für Wirtschaftspolitik 7/8-2010
Politische Konsequenzen der Krise
Die Krise hat auch politische Folgen. Un­
mittelbare Risiken für die politische Stabilität
ergeben sich in Ländern, in denen unpopu­
läre Massnahmen ergriffen werden müssen.
Der Wegfall der Abwertungsmöglichkeit in
Südeuropa führt zu einem schmerzhaften
Druck auf Löhne und Preise (interne Abwer­
tung), wenn die Konkurrenzfähigkeit wieder
hergestellt werden soll. Reduzierte öffentliche
Leistungen und Steuererhöhungen werden
zu zusätzlichen Entbehrungen führen. Ob
die betroffenen Regierungen über ausrei­
chende politische Unterstützung verfügen
werden, um die notwendige Konsolidie­
rungsdauer durchzustehen, ist offen.
Auch international drohen im Gefolge der
Krise politische Spannungen und Verschie­
bungen. Dies gilt zunächst für die Eurozone:
Dort werden die Verteilungskämpfe zuneh­
men, was die Wirtschafts- und Währungsu­
nion dauerhaft unter Druck setzt. Generell
dürfte sich der internationale Verteilungs­
kampf verschärfen.
Sofern sich das robuste Wachstum der
weniger verschuldeten und demografisch dy­
namischeren Schwellenländer fortsetzen
sollte, ist ausserdem mit einem weiteren Aus­
einanderdriften des Wachstums von Schwel­
len- und Industrieländern zu rechnen. Da­
raus dürften längerfristig Verschiebungen in
den politischen Kräfteparallelogrammen von
West nach Ost und von Nord nach Süd resul­
tieren. Hieraus könnten sich wiederum neue
wirtschaftliche Belas­tungen für die Industri­
eländer ergeben – ­etwa im Fall einer Erosion
der Kaufkraft westlicher Währungen oder
beim Zugang zu Rohstoffen.
Schliesslich sind auch die indirekten poli­
tischen Folgen der Krise zu beachten: Das
Vertrauen in die Marktwirtschaft hat im Zuge
der Finanz- und Wirtschaftskrise schweren
Schaden genommen – ungeachtet der Tatsa­
che, dass die Krise zu einem erheblichen Teil
auch auf Staatsversagen zurückgeführt wer­
den kann (siehe Kasten 3). Ursächlich für den
Vertrauensverlust in die marktliche Ordnung
sind insbesondere die Ereignisse im Finanz­
sektor: Wo Gewinne privatisiert und Verluste
durch Krisen und Rettungsmassnahmen so­
zialisiert werden, werden grundlegende Vor­
stellungen von Verantwortlichkeit und Ge­
rechtigkeit verletzt. Beides sind aber
Grundvoraussetzungen für nachhaltigen
wirtschaftlichen Erfolg und für eine zielfüh­
rende Wirtschaftspolitik. Hier lasten schwere
psychologische Hypotheken auf den Re­
formen, welche in den nächsten Jahren anzu­

gehen sind.
Herunterladen