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Schizophrenie
Steffen Moritz, Eva Krieger, Francesca Bohn, Ruth Veckenstedt
2.1
Epidemiologie – 8
2.2
Diagnostik und Differenzialdiagnostik – 8
2.2.1 Typologische vs. dimensionale E­ inteilungen der schizophrenen
­Symptomatik – 12
2.2.2 Komorbidität – 14
2.2.3 Neuropsychologische Auffälligkeiten – 14
2.3
Ätiologische Modelle – 15
2.3.1 Genetische Einflüsse und Umweltaspekte – 15
2.3.2 Hirnstrukturelle Besonderheiten – 16
2.4
Wahn – 16
2.4.1
2.4.2
2.4.3
2.4.4
Was ist Wahn? – 16
Probleme des Wahnbegriffs – 17
Verbreitung von Wahnideen – 19
Interkulturelle Unterschiede und zeitgeschichtlicher Wandel
von Wahninhalten – 19
2.4.5 Beziehung von Wahn und Halluzinationen – 20
2.5
Behandlung der Schizophrenie – 21
2.5.1
2.5.2
2.5.3
2.5.4
Antipsychotika (Neuroleptika) – 21
Verhaltenstherapie bei Schizophrenie – 24
Verhaltenstherapie und Antipsycho­tika als komplementäre Ansätze – 27
Andere therapeutische Ansätze – 27
2.6
Metakognitive Therapie als neue Behandlungsmethode – 28
2.6.1 Metakognitives Training für schizophrene Patienten (MKT):
»Making-of« – 28
2.6.2 Wieso MKT+? – 29
2.6.3 Bisherige Befunde – 29
Literatur – 32
S. Moritz et al., MKT+,
DOI 10.1007/978-3-662-52998-0_2, © Springer-Verlag GmbH Deutschland 2017
2
2
8
Kapitel 2 · Schizophrenie
2.1
Epidemiologie
Unabhängig von Kultur und ethnischer Zugehörigkeit er­
krankt ca. 1 % der Bevölkerung einmal im Leben an einer
Schizophrenie (oft auch als schizophrene Psychose oder
auch nur Psychose bezeichnet); die Inzidenz liegt nach ei­
ner Metaanalyse bei 15,2:100.000 Personen im Jahr
(McGrath et al. 2008). Obwohl eine Untergruppe von Pa­
tienten nur einmal im Leben erkrankt und manchmal etli­
che Jahre zwischen den einzelnen Krankheitsepisoden
verstreichen, stellt die Psychose für viele Patienten eine
lebenslange Bürde dar, welche die Lebensqualität – oft
auch der Angehörigen – erheblich reduzieren kann und
mit hohen sozioökonomischen Kosten einhergeht (Ken­
nedy et al. 2014). Die Suizidrate bei Patienten mit Schizo­
phrenie ist nach neueren Schätzungen zwar nach unten
korrigiert worden (Hor u. Taylor 2010), liegt aber mit ca.
5 % immer noch um ein Vielfaches höher als in der Nor­
malbevölkerung.
Das Krankheitsbild Schizophrenie ist regional, kultu­
rell und kontinental keineswegs so gleichförmig wie die
weltweit recht einheitliche Prävalenzrate suggeriert. Seit
Langem ist bekannt, dass die Erkrankungsraten in Groß­
städten weitaus höher sind als auf dem Land, was neben
urbanem Stress auch bekannten verschlimmernden Fakto­
ren wie Drogen geschuldet ist, deren Verfügbarkeit in der
Großstadt deutlich größer ist. Interkulturelle Vergleichs­
studien sprechen dafür, dass die paranoide Form der
­Schizophrenie, welche von Verfolgungsideen und Halluzi­
nationen gekennzeichnet ist, in westlichen Industrielän­
dern häufiger vorkommt als in Entwicklungsländern. Auf
interkulturelle Unterschiede bezüglich der Wahnthemen
wird in 7 Abschn. 2.4.4 näher eingegangen.
Männer und Frauen erkranken ungefähr gleich häufig.
Ein epidemiologischer Überblick weist ein Verhältnis von
1,4:1 zwischen Männern und Frauen nach (McGrath et al.
2008; Ochoa et al. 2012). Frauen erkranken im Durch­
schnitt später (1. Manifestationsgipfel zwischen dem 25.
und 35. Lebensjahr; 2. Manifestationsgipfel zwischen dem
45. und 49. Lebensjahr) als Männer (Manifestationsgipfel
zwischen dem 20. und 25. Lebensjahr). Meist vergehen
mehrere Jahre bis zur (stationären) Behandlung, die Dauer
der unbehandelten Psychose wird u. a. mit einem schlech­
teren Ansprechen auf die Behandlung in Zusammenhang
gebracht (Penttilä et al. 2014; Perkins et al. 2005). Aller­
dings werden Zusammenhänge mit der Dauer der unbe­
handelten Psychose nicht von allen Studien bestätigt (Craig
et al. 2000; Ho et al. 2003) und teilweise kontrovers disku­
tiert (Rund 2013).
2.2
Diagnostik und Differenzialdiagnostik
. Tab. 2.1 stellt die diagnostischen Kriterien der Diagnose­
systeme International Classification of Diseases der Weltge­
sundheitsorganisation (ICD-10; Dilling et al. 2000) und
Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders
(DSM-5; APA 2013) einander gegenüber. Die heutige Syn­
dromatik der Schizophrenie erinnert ein wenig an ein alt­
ehrwürdiges Gebäude, dessen Erbauer und unterschied­
liche Bewohner über die Jahre ihre Spuren hinterlassen
haben. Der Grundriss des Gebäudes (Typologie; aufgege­
ben im DSM-5, beibehalten in der ICD-10) wurde Ende
des 19. Jahrhunderts von Emil Kraepelin gezeichnet. Die
gegenwärtige »Einrichtung« (Leitsymptomatik) stammt
von Kurt Schneider, der die Möblierung des ersten großen
Innenarchitekten, Eugen Bleuler, mehr oder weniger gänz­
lich hinauswarf. Bleuler verewigte sich immerhin als Tauf­
pate (seine Bezeichnung »Gruppe der Schizophrenien«
wurde später in den Singular »Schizophrenie« umbe­
nannt). Schneiders Syndromatik wurde seither nur noch
um wenige Stücke, u. a. aus dem Positiv-Negativ-Konzept
(vor allem von Nancy Andreasen), ergänzt. Der Vorbehalt
Karl Jaspers, wonach echter Wahn nicht verstehbar sei
(1913, S. 89), hat die ICD-10 und bis zur 4. Auflage auch
das DSM geprägt, indem bizarrer Wahn eine besondere
diagnostische Wertigkeit erhielt.
Die Schizophrenie nach der Definition bzw. Operatio­
nalisierung im DSM-5 (APA 2013) hat, wie angedeutet,
nur noch wenig mit Eugen Bleulers ursprünglichem Kon­
zept gemein (Kety 1980). Lediglich die Assoziationsstö­
rungen im Sinne formaler Denkstörungen sind von seinen
vier Grundstörungen, abgekürzt den 4 A’s (Ambivalenz,
Autismus, Assoziationsstörungen und Affekt), diagnos­
tisch verblieben (. Tab. 2.1). Bleulers Entwurf wurde gera­
dezu auf den Kopf gestellt: Symptome, die er für akzesso­
risch bzw. sekundär hielt, wie Wahn und Halluzinationen,
machen den heutigen Kern des Syndroms aus.
Um bei der Metapher zu bleiben: Wie bei einem alten
Haus ist einiges verblieben, was nicht mehr ganz zeitgemäß
ist und nach gängiger Expertenmeinung eigentlich in die
Rumpelkammer der Psychiatrie gehört. So ist die Dia­gnose
Schizophrenia simplex (. Tab. 2.2), welche nur recht un­
spezifische Symptome einschließt, zwar noch in den Dia­
gnoseleitlinien enthalten, aber äußerst umstritten. Die
ICD-10 rät explizit von der Vergabe dieser Diagnose ab, im
DSM-5 ist sie gar nicht mehr vorhanden.
Die Subtypen der Schizophrenie nach ICD-10 sind in
. Tab. 2.2 dargestellt. Das DSM-5 unterscheidet mittler­
weile, wie dargelegt, keine Subtypen mehr, da die Sympto­
me von Patienten häufig zwischen verschiedenen syndro­
malen Bildern wechseln oder überlappende Symptome
vorhanden sind.
9
2.2 · Diagnostik und Differenzialdiagnostik
..Tab. 2.1 Gegenüberstellung der diagnostischen Kriterien für Schizophrenie nach DSM-5 (295.xx) und ICD-10 (F20.0–F20.3)
Diagnostische Kriterien nach DSM-5
Diagnostische Kriterien nach ICD-10
–
Allgemeine Kriterien für die paranoide, die hebephrene, die katatone und die undifferenzierte Schizophrenie:
A. Charakteristische Symptome: mindestens zwei der folgenden,
jedes bestehend für einen erheblichen Teil einer einmonatigen
Zeitspanne (oder kürzer, falls erfolgreich behandelt).
­Mindestens eines dieser Symptome muss (1), (2) oder (3) sein:
1.Wahn
2.Halluzinationen
3. Desorganisierte Sprechweise (z. B. häufiges Entgleisen oder
Zerfahrenheit)
4. Grob desorganisiertes oder katatones Verhalten
5. Negativsymptome (z. B. verminderter emotionaler Ausdruck
oder reduzierte Willenskraft/Avolition)
G1. Während der meisten Zeit innerhalb eines Zeitraumes von
mindestens einem Monat (oder während einiger Zeit an den
meisten Tagen) sollte eine psychotische Episode mit entweder
mindestens einem der unter 1. aufgezählten Syndrome,
­Symptome und Anzeichen oder mit mindestens zwei der unter
2. aufgezählten Symptome und Anzeichen bestehen.
1. Mindestens eines der folgenden Merkmale:
a. Gedankenlautwerden, Gedankeneingebung, Gedankenentzug oder Gedankenausbreitung
b. Kontrollwahn, Beeinflussungswahn, Gefühl des Gemachten,
deutlich bezogen auf Körper- oder Gliederbewegungen oder
bestimmte Gedanken, Tätigkeiten oder Empfindungen;
Wahnwahrnehmung
c. Kommentierende oder dialogische Stimmen, die über die
­Patienten reden oder untereinander über ihn diskutieren,
oder andere Stimmen, die aus bestimmten Körperteilen
kommen
d. Anhaltender kulturell unangemessener, bizarrer oder völlig
unrealistischer Wahn, wie der, das Wetter kontrollieren zu
können oder mit Außerirdischen in Verbindung zu stehen
2. Oder mindestens zwei der folgenden Merkmale:
a. Anhaltende Halluzinationen jeder Sinnesmodalität, täglich
während mindestens eines Monats, begleitet von flüchtigen
oder undeutlich ausgebildeten Wahngedanken ohne deutliche affektive Beteiligung oder begleitet von lang anhaltenden überwertigen Ideen
b. Neologismen, Gedankenabreißen oder Einschiebungen in den
Gedankenfluss, was zu Zerfahrenheit oder Danebenreden führt
c. Katatone Symptome wie Erregung, Haltungsstereotypien
oder wächserne Biegsamkeit (Flexibilitas cerea), Negativismus, Mutismus und Stupor
d. »Negative« Symptome wie auffällige Apathie, Sprachverarmung, verflachte oder inadäquate Affekte. (Es muss sichergestellt sein, dass diese Symptome nicht durch eine Depression
oder eine neuroleptische Medikation verursacht werden.)
B. Soziale/berufliche Leistungseinbußen: Für eine erhebliche
Zeitspanne seit dem Beginn der Störung sind einer oder mehrere zentrale Funktionsbereiche wie Arbeit, zwischenmenschliche
Beziehungen oder Selbstfürsorge deutlich unter dem Niveau,
das vor dem Beginn erreicht wurde (oder, falls der Beginn in der
Kindheit oder Adoleszenz liegt, wird das zu erwartende Niveau
der zwischenmenschlichen, geistigen oder beruflichen Leistungen nicht erreicht).
–
C. Dauer: Zeichen des Störungsbildes halten durchgehend für
mindestens 6 Monate an. Diese 6-monatige Periode muss mindestens einen Monat mit Symptomen (oder weniger, falls erfolgreich behandelt) umfassen, die das Kriterium A (d. h. floride
Symptome) erfüllen, und kann Perioden mit prodromalen oder
residualen Symptomen einschließen. Während dieser prodromalen oder residualen Perioden können sich die Zeichen des
Störungsbildes auch durch ausschließlich negative Symptome
oder zwei oder mehr Symptome manifestieren, die im Krite­
rium A aufgelistet und in einer abgeschwächten Form vorhanden sind (z. B. seltsame Überzeugungen, ungewöhnliche
­Wahrnehmungserlebnisse).
siehe G1
2
10
Kapitel 2 · Schizophrenie
..Tab. 2.1 (Fortsetzung)
2
Diagnostische Kriterien nach DSM-5
Diagnostische Kriterien nach ICD-10
D. Ausschluss von Schizoaffektiver Störung, depressiven oder
bipolarer Störung mit psychotischen Merkmalen: Eine Schizoaffektive Störung und eine depressive oder bipolare Störung mit
psychotischen Merkmalen wurden ausgeschlossen, da entweder (1) keine Episode einer Major Depression oder Manie gemeinsam mit den floriden Symptomen aufgetreten ist oder (2),
falls affektive Episoden während der floriden Phase aufgetreten
sind, ihre Gesamtdauer im Vergleich zur Dauer der floriden und
residualen Perioden kurz war.
G2. Häufigste Ausschlusskriterien:
1. Wenn die Patienten ebenfalls die Kriterien für eine manische
Episode (F30) oder eine depressive Episode (F32) erfüllen,
müssen die oben unter G1.1. und G1.2. aufgelisteten Kriterien
vor der affektiven Störung aufgetreten sein.
E. Ausschluss von Substanzeinfluss/medizinischem Krankheitsfaktor: Das Störungsbild ist nicht Folge der physiologischen Wirkung einer Substanz (z. B. eine Substanz mit Missbrauchspotenzial oder ein Medikament) oder eines medizinischen Krankheitsfaktors.
2. Die Störung kann nicht einer organischen Gehirnerkrankung
(im Sinne von F00–F09) oder einer Alkohol- oder Substanzintoxikation (F1x.0), einem Abhängigkeitssyndrom (F1x.2) oder
einem Entzugssyndrom (F1x.3, F1x.4) zugeordnet werden.
F. Beziehung zu einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung: Bei
einer Vorgeschichte mit einer Autismus-Spektrum-Störung oder
einer Kommunikationsstörung mit Beginn im Kindesalter wird
die zusätzliche Diagnose einer Schizophrenie nur dann gestellt,
wenn mindestens einen Monat lang (oder weniger, falls erfolgreich behandelt) zusätzlich zu den anderen erforderlichen
Symptomen einer Schizophrenie auch ausgeprägte Wahn­
phänomene oder Halluzinationen vorhanden sind.
–
Leitsymptome der paranoiden Schizophrenie sind
Wahn und Halluzinationen, welche in 7 Abschn. 2.4 näher
erläutert werden. Ergänzend zu den Angaben in . Tab. 2.2
wird im Folgenden auf zwei der häufigsten Syndrome nä­
her eingegangen: die hebephrene Schizophrenie und das
schizophrene Residuum.
Gemeinsam mit dem inadäquaten Affekt (vor allem
Lachen in Situationen, in denen dies unangemessen ist,
durchgängige Albernheit) stellen formale Denkstörungen
die Kardinalmerkmale des desorganisierten oder hebe­
phrenen Syndroms dar. Anders als bei den inhaltlichen
Denkstörungen (Wahn) zeichnen sich formale Denkstö­
rungen durch Defizite in der Sprachbildung aus, die in
negative und positive Symptome unterteilbar sind. Im
Falle des bizarren Wahns zeigt sich gelegentlich jedoch
eine Überschneidung (Moritz et al. 2001a). Beispiele für
posi­tive formale Denkstörungen sind Danebenreden und
Assoziationslockerung: Der Patient trifft den Gesprächs­
gegenstand nicht voll oder verliert den roten Faden
­während des Gesprächs (z. B. erkennbar durch plötzliche
Themensprünge seitens des Patienten oder bei der sinn­
entstellenden oder konkretistischen Interpretation von
Sprichwörtern), ohne dass dies auf Aufregung oder man­
gelnde Bildung zurückgeht. Auch die Verwendung einer
»Privatsprache« und agrammatikalischen Redeweise bis
hin zum sog. »Wortsalat« können vorkommen. Bei den
negativen formalen Denkstörungen liegen Denkblocka­
den vor, die vom Patienten gelegentlich wahnhaft im Sin­
ne eines Gedankenentzugs interpretiert werden. Die
­Symptome können sich bis zum Mutismus, d. h. zur
­Weigerung oder Unfähigkeit zu sprechen, steigern.
Affektverflachung ist ein Kernmerkmal der sog. Nega­
tivsymptomatik, welche vor allem bei der residualen Form
der Schizophrenie auftritt. Der Begriff Affektverflachung
ist irreführend, da oft nur die mimische Expression des
Affekts reduziert ist, während das innere Gefühlsleben
oder andere Modalitäten des Ausdrucks (z. B. Schreiben)
keinesfalls verarmt sein müssen. Das Symptom kann auch
durch extrapyramidale Medikamentennebenwirkungen
hervorgerufen oder verstärkt sein, wurde aber bereits in
der präneuroleptischen Ära beschrieben. Es bedarf weite­
rer Klärung, ob es sich bei bestimmten negativen Sympto­
men, z. B. Avolition, nicht in Wirklichkeit um depressive
Phänomene wie Antriebslosigkeit handelt und je nach
­Primärdiagnose dieselben Erscheinungen unterschiedli­
che Namen erhalten (Moritz et al. 2016c).
Die sog. Positivsymptome wie Wahn (eine vertiefende
Darstellung erfolgt in 7 Abschn. 2.4) und Halluzinatio­
nen besitzen ein besonderes Gewicht bei allen diagnosti­
schen Überlegungen. Speziell Ich-Störungen werden als
charakteristisch für die Schizophrenie erachtet. Hiermit
ist keinesfalls eine Störung des Ichs im Sinne einer Persön­
lichkeitsstörung gemeint, sondern eine subjektive Durch­
lässigkeit der Ich-Grenzen, verbunden mit dem Verlust
von Privatheit: Der Patient hat den Eindruck, seine
­Gedanken seien für andere Personen hörbar (Gedanken­
11
2.2 · Diagnostik und Differenzialdiagnostik
..Tab. 2.2 Kurzdarstellung der schizophrenen Subtypen nach ICD-10
Subtyp nach ICD-10
Merkmale
Paranoide Schizophrenie (F20.0)
Die allgemeinen Schizophreniekriterien müssen erfüllt sein, Wahnphänomene oder (akus­
tische) Halluzinationen stehen im Vordergrund, andere Merkmale wie Desorganisation und
Negativsymptomatik bestimmen nicht das Symptombild.
Hebephrene Schizophrenie (F20.1)
Verflachter oder inadäquater Affekt sowie desorganisierte Sprache und Verhalten stellen
Kernmerkmale dar.
Katatone Schizophrenie (F20.2)
Das Erscheinungsbild ist gekennzeichnet von motorischer Unbeweglichkeit, welche sich in
Katalepsie (einschließlich wächserner Biegsamkeit) oder Stupor äußert, oder aber in über­
mäßiger motorischer Aktivität, die autonom ist und nicht durch äußere Reize beeinflusst wird.
Negativismus (grundloser Widerstand gegenüber allen Aufforderungen oder ein Beibehalten
einer starren Haltung gegenüber Versuchen, bewegt zu werden), aber auch Befehlsautomatismus (automatische Befolgung von Anweisungen), Haltungsstereotypien und Mutismus
­( Weigerung oder Unfähigkeit zu sprechen) kommen vor.
Undifferenzierte Schizophrenie
(F20.3)
Es werden die allgemeinen Kriterien für Schizophrenie, aber nicht jene für den paranoiden,
desorganisierten oder katatonen Typus erfüllt. Zudem kann die Diagnose auch gestellt
­werden, wenn die Symptome so zahlreich sind, dass die Kriterien für mehr als eine der Subgruppen erfüllt werden.
Schizophrenes Residuum (F20.5)
Negativsymptome wie Affektverflachung, psychomotorische Verlangsamung, Passivität und
Initiativenmangel, Sprachverarmung und geringe nonverbale Kommunikation herrschen vor.
Die allgemeinen Kriterien für eine Schizophrenie (F20.0–F20.3) müssen in der Vergangenheit
erfüllt gewesen sein, sind aber zurzeit nicht nachweisbar. Positive oder desorganisierte
­Symptome können vorhanden sein, sind aber nicht stark ausgeprägt.
Postschizophrene Depression
(F20.4)
Die allgemeinen Schizophreniekriterien müssen während der letzten 12 Monate erfüllt gewesen sein, Symptome sind aktuell allerdings nicht nachweisbar; eines der Kriterien F20 G1.2a, b,
c oder d muss aber noch vorhanden sein. Die Kriterien für eine (leichte) depressive Episode
(F32) sind erfüllt.
Schizophrenia simplex (F20.6)
Eine schleichende Progredienz der folgenden Symptome muss mindestens während des
letzten Jahres vorhanden sein: deutlicher Abfall der beruflichen oder schulischen Leistungs­
fähigkeit, allmähliches Auftreten und Verstärkung der Negativsymptomatik. Die ICD-10 nennt
noch deutliche und anhaltende Veränderungen in einigen früheren Persönlichkeitsmerkmalen, die sich z. B. in Interessenverlust und sozialem Rückzug äußern. Die allgemeinen Schizophreniekriterien (G1-Kriterien, . Tab. 2.1) sind nicht erfüllt.
lautwerden) oder von außen eingegeben (Gedankenein­
gebung). Handlungen werden als gemacht bzw. fremd­
gesteuert erlebt. Einen Überblick über die verschiedenen
Ich-Störungen liefert . Tab. 2.3. Eine besondere Form der
Durchlässigkeit der Ich-Grenzen ist die sog. GedankenHandlungs-Fusion, die jedoch eher für das Vorliegen
­einer Zwangsstörung als einer Schizophrenie spricht.
­Hierunter fallen Befürchtungen, wonach schlimme Ge­
danken (z. B. Befürchtungen, den eigenen Kindern etwas
anzutun) unweigerlich entsprechende Handlungen her­
beiführen.
Obwohl sich ICD-10 und DSM-5 in vielen Aspekten
gleichen, sind einige wichtige Ausnahmen zu beachten. So
ist das Zeitkriterium in der ICD-10 kürzer gewählt als im
DSM-5: Eine Schizophrenie kann hier bereits diagnosti­
ziert werden, wenn die Symptomatik einen Monat lang
besteht, während beim DSM-5 Anzeichen der Störung
mindestens 6 Monate andauern müssen. Dies ist insbeson­
dere bei Forschungsstudien zu beachten, die nicht nur we­
gen der US-amerikanischen Führungsposition in vielen
Forschungsbereichen, sondern auch aufgrund seiner bes­
seren Handhabbarkeit eher am DSM-5 orientiert sind. Bei
der klinischen Diagnostik wird dagegen hierzulande fast
ausschließlich die ICD-10 verwendet. Ein weiterer Unter­
schied zwischen den Diagnosesystemen betrifft die schizo­
type Störung (ICD-10). Diese heißt im DSM-5 »schizotype
Persönlichkeitsstörung« und wird, anders als in der ICD10, nicht den schizophrenen Spektrumsstörungen zuge­
rechnet, sondern unter den Persönlichkeitsstörungen ge­
führt. Die Kriterien dieser früher auch als »latente Schizo­
phrenie« bezeichneten Vorform sind recht unterschied­
lich. Insbesondere die ICD-10 führt eine Reihe recht
unspezifischer Symptome auf wie kalter Affekt, zwanghaf­
tes Grübeln oder Anhedonie, während Symptome der
schizotypen Persönlichkeitsstörung im DSM-5 quasi Mi­
niatursymptome der Schizophrenie darstellen (Argwohn
2
12
Kapitel 2 · Schizophrenie
..Tab. 2.3 Ich-Störungen
2
Formen der Ich-Störung
Definition
Ich-Störungen im Denken
Gedankenausbreitung
Die eigenen Gedanken dringen subjektiv nach außen und werden so für andere wahrnehmbar, bis hin zum Gefühl des Gedankenlautwerdens.
Gedankenentzug
Die Gedanken werden als von außen gestohlen oder entzogen erlebt. Das Gefühl, dass
frühere Erinnerungen durch äußere Manipulationen gelöscht werden, stellt einen
Spezialfall dieses Symptoms dar.
Gedankeneingebung
Bestimmte Gedanken werden durch eine fremde Instanz oder Macht eingegeben. Das
Denken wird als persönlichkeitsfremd und nicht meinhaft erlebt. Anders als bei Halluzinationen sind diese Gedanken stumm.
Ich-Störungen im Erleben und Handeln
Fremdbeeinflussungserlebnisse
Der Betroffene erlebt seinen Körper oder sein Handeln als von einer außen stehenden
Instanz oder Macht kontrolliert.
Derealisation
Die Umwelt erscheint nicht real bzw. unwirklich. Dieses Phänomen gehört nicht zu den
Ich-Störungen im engeren Sinne, kann aber begleitend auftreten.
Depersonalisation
Die eigene Person erscheint nicht real bzw. unwirklich. Dieses Phänomen gehört nicht
zu den Ich-Störungen im engeren Sinne, kann aber begleitend auftreten (s. Leube u.
Pauly 2008, S. 486). Das Symptom ist auch bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung
weitverbreitet.
vs. Wahn, ungewöhnliche Wahrnehmungserfahrungen vs.
Halluzinationen).
Sofern nicht wenigstens einmal im Leben eindeutige
positive Symptome vorhanden waren, ist das Vorliegen
­einer Schizophrenie aus der Sicht der meisten Experten
äußerst fragwürdig, obwohl die Diagnose einer Schizo­
phrenie genau genommen auch ohne positive Symptome
gestellt werden darf. Hingegen lassen Ich-Störungen, Hal­
luzinationen und Wahnideen jeden erfahrenen Kliniker
sofort an eine Schizophrenie denken und sind damit von
besonderem heuristischem Wert. Gleichwohl ist Vorsicht
geboten: Keines der Symptome der Schizophrenie ist
­pathognomonisch (Carpenter et al. 1973), d. h. kommt
ausschließlich bei dieser Störung vor. Überdies sind die
Kernsymptome der Schizophrenie wie Halluzinationen
und Wahn je nach Studienlage mit bis zu 28 % Prävalenz
in der Normalbevölkerung weitaus häufiger als das Stö­
rungsbild Schizophrenie selbst (de Leede-Smith u. Barkus
2013; Freeman 2006, 2007; Moritz u. Larøi 2008).
Differenzialdiagnostisch sind delirante Zustände nach
z. B. Alkoholentzug, akute Intoxikationen und Hirnstö­
rungen zu beachten. Wenngleich seit der Einführung der
Diagnose »schizoaffektive Schizophrenie« (Kasanin 1933)
das Vorliegen affektiver Symptome eine Schizophrenie
nicht ausschließt, sollte bei schwerwiegenden affektiven
Störungen, insbesondere wenn diese den psychotischen
Symptomen vorangingen, eher eine Diagnose aus dem af­
fektiven Formenkreis erwogen werden, die durch den Zu­
satz »mit psychotischen Symptomen« ergänzt werden
kann (z. B. F32.3 Schwere depressive Episode mit psycho­
tischen Symptomen). Auch die Inhalte der psychotischen
Symptome können differenzialdiagnostische Hinweise
geben, z. B. finden sich Themen wie Schuld (subjektiv ge­
rechte Strafe für früheres Fehlverhalten) oder Verarmung
eher bei Depression; Verschwörungsideen (subjektiv un­
berechtigte Opferrolle) sind charakteristisch für Schizo­
phrenie.
2.2.1
Typologische vs. dimensionale
­Einteilungen der schizophrenen
­Symptomatik
Während die ICD-10 sowie das DSM bis zur 4. Auflage
typologisch angelegt sind bzw. waren, setzt sich in der
­Forschung seit Mitte der 1980er-Jahre zunehmend eine
syndromale und dimensionale Sichtweise durch. In der
aktuellen Version des DSM-5 wurden die Subtypen der
Schizophrenie daher nun gestrichen. Beginnend mit Ar­
beiten u. a. von Peter Liddle (1987) ist man immer mehr
vom Positiv- vs. Negativtypuskonzept der Schizophrenie
abgerückt, welches noch zwei sich weitestgehend aus­
schließende Syndrome annahm, deren Pole durch Wahn
und Halluzination vs. Affektverflachung und Sprachverar­
mung gebildet werden. Gegen das Typuskonzept spricht
u. a. die mangelnde zeitliche Stabilität der schizophrenen
13
2.2 · Diagnostik und Differenzialdiagnostik
..Tab. 2.4 Ergebnis einer metaanalytisch gewonnenen Zuordnung der Symptome der Positive and Negative Syndrome Scale (PANSS)
zu psychopathologischen Dimensionen. (Nach van der Gaag et al. 2006)
Positiv
P1 Wahnideen
Desorgani­
sation
–
+
+
P5 Größenwahn
+
P6 Misstrauen/Verfolgungswahn
+
+
+
P7 Feindseligkeit
+
N1 Affektverarmung
+
N2 Emotionaler Rückzug
+
N3 Mangelnde Beziehungsfähigkeit
+
N4 Passiver/apathischer sozialer Rückzug
+
–
N6 Mangelnde Spontaneität und Redefluss
+
+
+
N7 Stereotypes Denken
G1 Sorge um körperliche Integrität
+
+
+
G2 Angst
+
G3 Schuldgefühle
+
G4 Gespanntheit
+
G5 Manieriertheit und Positur
+
G7 Motorische Verlangsamung
+
G8 Fehlende Kooperationsbereitschaft
+
+
+
+
G10 Desorientiertheit
+
G11 Aufmerksamkeitsschwäche
+
G12 Mangelnde Urteils- und Einsichtsfähigkeit
+
G13 Störung der Willensbildung
+
+
+
G14 Verminderte Impulskontrolle
+
G15 Selbstbezogenheit
G16 Aktiver sozialer Rückzug
+
+
G6 Depressivität
G9 Ungewöhnliche Denkinhalte
Emotionale Belas­
tung (»emotional
distress«)
+
P4 Erregung
N5 Erschwertes abstraktes Denkvermögen
Erregung
(»excitement«)
+
P2 Formale Denkstörungen
P3 Halluzinationen
Negativ
+
+
+
+
+
+
Anmerkung: Die fünf Faktoren der PANSS werden gebildet, indem man jeweils die Items, die positiv auf dem jeweiligen Faktor laden
(gekennzeichnet mit einem +) addiert und die Itemwerte subtrahiert, die negativ auf dem jeweiligen Faktor laden (gekennzeichnet
mit einem –).
2
14
2
Kapitel 2 · Schizophrenie
Symptomatik. So kann es vorkommen, dass ein Patient zu
Beginn der Behandlung ausschließlich positive Symptome
aufweist, nach deren Abklingen jedoch affek­tive und nega­
tive Symptome hervortreten. Die Symptomatik fluktuiert
somit nicht nur quantitativ, sondern unterliegt deutlichen
qualitativen Schwankungen. Das Typuskonzept wurde
nachhaltig auch durch eine Studie von Nancy C. Andrea­
sen und Kollegen (1990) erschüttert, eine seiner ursprüng­
lichen Verfechterinnen, die bei mehr als drei von vier Pati­
enten Mischbilder fand. Nur wenige Fälle konnten eindeu­
tig einem Typus zugewiesen werden. Schließlich zerfällt
die schizophrene Symptomatik, gemessen z. B. durch die
Positive and Negative Syndrome Scale (PANSS; Kay et al.
1989), in vielen Faktorenanalysen nicht in zwei, sondern
wenigstens in drei, zumeist sogar in fünf Faktoren (Wood­
ward et al. 2014). Positiv- und Negativsyndrom bilden wei­
terhin die tragenden Säulen dieses mehrdimensionalen
Modells. Daneben kristallisiert sich mindestens ein weite­
rer Faktor heraus: Die Desorganisation, die sich vor allem
aus formalen Denkstörungen und inadäquatem Affekt zu­
sammensetzt (auch der bizarre Wahn lädt auf diesem Fak­
tor in faktorenanalytischen Studien; Moritz et al. 2001a). In
den 1980er-Jahren wurden formale Denkstörungen je nach
Konzept entweder dem Positiv- oder Negativtypus zuge­
ordnet. Die Desorganisation passt am ehesten zum hebe­
phrenen Typus nach Kraepelin (. Tab. 2.2).
. Tab. 2.4 zeigt alle 30 in der PANSS (siehe auch 7 Anhang) enthaltenen Items/Symptome und deren faktoren­
analytische Zuordnung gemäß einer auf 5.769 Datensätzen
beruhenden Validierungsstudie von Mark van der Gaag
und Mitarbeitern (2006). Neben Positivsymptomatik, Ne­
gativsymptomatik und Desorganisation finden sich noch
ein Erregungsfaktor und der Faktor emotionale Belastung.
Während Positivsymptome diagnostisch weiter leitend
sind und im Fokus der Behandlung stehen, werden Desor­
ganisation und Negativsymptomatik, insbesondere aber
emotionale Probleme (Byrne u. Morrison 2014; Finn et al.
1990; Kuhnigk et al. 2012; Moritz et al. 2016a; Rosenheck
et al. 2005), von vielen Patienten subjektiv als belastender
erlebt und sollten daher klinisch unbedingt stärker als bis­
her berücksichtigt werden. In der vorliegenden Neuauflage
des MKT+ wird affektiven Störungen und Selbstwertpro­
blemen entsprechend mehr Raum gegeben.
2.2.2
Komorbidität
Viele Patienten mit Schizophrenie weisen zusätzliche psy­
chiatrische Diagnosen (Komorbiditäten) auf. Bei mindes­
tens 50 % der Betroffenen sind Depressionen zu finden,
auch Angsterkrankungen sind häufig (Achim et al. 2011;
Buckley u. Hwang 2015; Buckley et al. 2009). So wird die
Prävalenz von Panikstörungen bei Patienten mit Schizo­
phrenie auf 15 %, von posttraumatischen Belastungs­
störungen auf 21 % geschätzt. Substanzmittelmissbrauch
bzw. -abhängigkeit finden sich bei etwa der Hälfte der Pa­
tienten (Buckley u. Hwang 2015; Buckley et al. 2009). Auch
somatische Erkrankungen liegen häufig vor, bleiben ange­
sichts der klinischen Dominanz psychotischer Symptome,
welche die Aufmerksamkeit des Personals oft gänzlich
bindet, jedoch oft unentdeckt.
2.2.3
Neuropsychologische Auffälligkeiten
Bei der Mehrzahl der Betroffenen sind zudem Beeinträch­
tigungen des kognitiven Funktionsniveaus (vor allem Ge­
dächtnisprobleme) nachweisbar (Heinrichs u. Zakzanis
1998; Keefe u. Fenton 2007; Moritz et al. 2004; Savla et al.
2013; Schaefer et al. 2013). Daher ist es für die Durchfüh­
rung der metakognitiven Therapie wichtig, sich auf Ein­
schränkungen der Informationsverarbeitungsgeschwin­
digkeit und des allgemeinen intellektuellen Niveaus sowie
Defizite der Merkfähigkeit einzustellen, indem die Ge­
schwindigkeit und Komplexität der Sprache dem Niveau
des Patienten angepasst werden. Bei Patienten mit kogni­
tiven Einschränkungen sollte eine langsame, klare und
einfache Sprache verwendet werden. Zudem soll die Nach­
haltigkeit durch die vielen Übungen und Merkblätter un­
terstützt werden. Neuropsychologische Defizite sind je­
doch, anders als von Kraepelin angenommen, der den
später abgelösten Begriff »Dementia praecox« (vorzeitige
Verblödung) prägte, weder progredient noch derart gra­
vierend, dass das Vollbild einer Demenz erreicht wird.
Auch nach Falkai und Mitarbeitern (2008) sprechen so­
wohl neuropsychologische als auch histologische Daten
gegen einen neurodegenerativen Prozess, vielmehr sei von
einer Hirnentwicklungsstörung auszugehen (siehe auch
Moritz et al. 2002a). Mangelnde soziale und geistige Stimu­
lation (viele Patienten besitzen kein tragfähiges soziales
Netzwerk, sind arbeitslos oder berentet und gehen keinen
Hobbys nach), Substanzmittelmissbrauch, (kurzfristige)
Nebenwirkungen anticholinerger Medikamente und Ben­
zodiazepine können im Einzelfall zu einem starken Nach­
lassen der intellektuellen Leistungsfähigkeit führen (dies
wurde früher oft als »Versandung« bezeichnet; ob auch
Antipsychotika zu kognitiven Defiziten führen ist derzeit
noch unklar, Hinweise dafür häufen sich aber; Ho et al.
2011). Als Gründe für sekundäre Defizite sind geringe
Testmotivation (Fervaha et al. 2014) sowie Ablenkung
durch Wahnideen, Stimmenhören und Grübeln unbedingt
zu berücksichtigen. Im Übrigen waren auch Kraepelin Fäl­
le bekannt, deren Symptomatik remittierte, ohne dass er
seine düstere Prognose einer grundsätzlichen Revision un­
terzogen hätte.
15
2.3 · Ätiologische Modelle
2.3
Ätiologische Modelle
Im folgenden Abschnitt werden wichtige Einflussfaktoren
bei der Entstehung von Schizophrenie dargestellt. Auf
­Annahmen zu beteiligten Neurotransmittern wird im Zu­
sammenhang mit der antipsychotischen Behandlung kurz
eingegangen.
2.3.1
Genetische Einflüsse
und Umweltaspekte
Zwillings- und Adoptionsstudien mit schizophrenen Pa­
tien­ten sowie Untersuchungen mit Kindern, deren Mütter
an Schizophrenie erkrankt waren und die von gesunden
Paaren adoptiert wurden, sprechen für eine teilweise gene­
tische Vermittlung der Schizophrenie. Auch Familienstu­
dien weisen in diese Richtung, wenngleich betont werden
muss, dass die Mehrzahl der Patienten keinen unmittelba­
ren Angehörigen mit Schizophrenie hat. Die Erblichkeit
der Störung wird von den meisten Experten zwischen 60
und 80 % geschätzt (z. B. Schwab u. Wildenauer 2013). Re­
lativierend muss jedoch eingeräumt werden, dass die Raten
in den Originalstudien teilweise deutlich auseinander­
klaffen und das schizophrene Spektrum manchmal recht
übereinschließend definiert wurde.
. Tab. 2.5 zeigt das Risiko, an Schizophrenie zu erkran­
ken, in Abhängigkeit des Verwandtschaftsgrades zum Er­
krankten. Die Zahlen stammen aus einer Übersichtsarbeit
von Gottesman (1991). Obwohl diese Daten schon recht alt
sind, gelten sie weithin als bestätigt und finden sich weiter­
hin in vielen Überblicksarbeiten (Hill u. Sahhar 2006;
Mehler-Wex u. Renner 2008; Tsuang 2000).
Seit Jahren wird nach sog. Kandidatengenen der Schi­
zophrenie geforscht, wobei nicht mehr ein einzelnes Gen
als Ursache vermutet wird, sondern eine Reihe sog. Sus­
zeptibilitätsgene, die im Zusammenspiel mit weiteren
­Faktoren die Entstehung der Störung begünstigen.
Es wird davon ausgegangen, dass es sich bei der Schi­
zophrenie um eine komplexe, polygene Störung handelt
(Schwab u. Wildenauer 2013). Eine aktuelle genomweite
Assoziationsstudie der Schizophrenia Working Group of
the Psychiatric Genomics Consortium (SWGPGC 2014)
identifizierte beispielsweise 108 potenzielle Risiko-Gen­
loci. Ripke et al. (2013) vermuten, dass 8.300 einzelne Nu­
kleotidpolymorphismen zum Risiko beitragen, an Schizo­
phrenie zu erkranken. Weiterhin fanden sie heraus, dass
bei einigen Erkrankten die Deletion oder auch Insertion
einer größeren Chromosomenregion eine essenzielle Rolle
bei der Krankheitsgenese spielen könnte. Nach Gershon
und Alliey-Rodriguez (2013) finden sich strukturelle Mu­
tationen (Mikrodeletionen oder Mikroduplikationen des
DNS-Stranges) bei 4–7 % der Patienten mit Schizophrenie,
..Tab. 2.5 Risiko, an Schizophrenie zu erkranken, in Abhängigkeit vom Verwandtschaftsverhältnis
Verwandtschaftsverhältnis
Risiko in %
Monozygote Zwillinge
48
Kinder zweier an Schizophrenie Erkrankter
46
Dizygote Zwillinge
17
Kinder eines an Schizophrenie Erkrankten
13
Geschwister
9
Halbgeschwister
6
Enkel
5
Nichten/Neffen
4
Vettern
2
Onkel/Tanten
2
Allgemeinbevölkerung
1
bipolarer Störung oder Autismus-Spektrum-Störung. Ob­
wohl einige Studien den Eindruck vermitteln, als seien die
Kandidatengene bereits identifiziert oder zumindest eng
eingekreist, ist die Befundlage insgesamt noch unüber­
sichtlich und inkonsistent. In den letzten Jahren haben sich
auch namhafte biologische Psychiater wie Timothy J. Crow
(2008) kritisch zu Wort gemeldet, die beklagen, dass ein­
zelne Befunde von Fachzeitschriften an breitere Medien
förmlich »durchgereicht« werden und hier dem Laien den
Eindruck von soliden Tatsachen vermitteln. Entgegen der
teilweise verbreiteten »Goldgräberstimmung« bei der
­Erforschung des Genoms sind die bisher gefundenen Ein­
zelabweichungen (ausgedrückt über das Odds-Ratio) tat­
sächlich eher klein. Eine Übersicht über den Stand der
Forschung bieten Schwab und Wildenauer (2013).
Neben dem unbestreitbaren, aber noch lückenhaft ver­
standenen Einfluss der Gene spielen psychosoziale Fakto­
ren eine große Rolle, wenngleich deren spezifischer Beitrag
zur Entstehung der Schizophrenie ebenfalls unklar ist.
Häufig genannte psychosoziale Risikofaktoren sind Urba­
nität (höheres Erkrankungsrisiko in Städten), Migrations­
hintergrund, soziale Isolation, Cannabiskonsum sowie
traumatische Lebensereignisse (van Os u. Kapur 2009). Ein
emotional geladenes Familienklima, geprägt von offener
Feindseligkeit aber auch Überfürsorge (»high expressed
emotions«, EE), und akute Stressoren wie Arbeitsplatz­
verlust oder Partnerschaftsprobleme stellen sowohl bei
Schizophrenie wie auch anderen psychiatrischen Erkran­
kungen weitere Risikofaktoren für einen Krankheitsaus­
bruch bzw. einen Rückfall dar (Kymalainen u. Weisman de
Mamani 2008).
2
2
16
Kapitel 2 · Schizophrenie
2.3.2
Hirnstrukturelle Besonderheiten
Mithilfe bildgebender Verfahren wurden Besonderheiten
in der Hirnstruktur von Patienten mit Schizophrenie viel­
fach nachgewiesen. Eine große Metaanalyse, welche die
Ergebnisse von 65 Studien an ersterkrankten Patienten mit
Schizophrenie zusammenfasst, berichtet eine Verminde­
rung des Gesamthirnvolumens von durchschnittlich 2,7 %
(Steen et al. 2006). Das durchschnittlich festgestellte Hip­
pocampusvolumen lag bei den Patienten 8 % unterhalb der
bei Gesunden gemessenen Werte. Eine neuere Metaana­
lyse von Adriano et al. (2012) zeigt, dass das Hippocam­
pusvolumen bei Ersterkrankten bilateral reduziert ist, bei
chronisch Erkrankten ist besonders der linke Hippocam­
pus verkleinert. Diese Ergebnisse stehen aufgrund der
Schlüsselrolle des Hippocampus für die Konsolidierung
von Gedächtnisinhalten im Einklang mit zahlreichen neu­
ropsychologischen Befunden, die mnestische Defizite bei
dieser Patientengruppe nachweisen konnten. Walter et al.
(2012) kritisieren jedoch, dass auch die antipsychotische
Medikation einen Einfluss haben könnte, sodass sich eine
bereits vorher bestehende Volumenreduktion durch die
Gabe von Antipsychotika womöglich verstärkt. Für die
Seitenventrikel findet sich eine deutliche Volumenvergrö­
ßerung bei Schizophrenie: Diese liegt bei ca. einem Drittel
bezüglich des linken und ca. einem Viertel bezüglich des
rechten Ventrikels und wird mit der Atrophie grauer Sub­
stanz in Zusammenhang gebracht. Auch andere subkorti­
kale Strukturen wie die Amygdala scheinen ein reduziertes
Volumen aufzuweisen.
Weiterhin konnte eine Metaanalyse Unterschiede
in der Dichte der grauen Substanz bei schizophrenen ge­
genüber gesunden Probanden feststellen (Glahn et al.
2008). Während sich in der Insula, im anterioren Cingu­
lum, ­
Parahippocampus, mittleren frontalen Gyrus,
postzen­tralen Gyrus und im Thalamus eine verringerte
Dichte der grauen Substanz bei Patienten mit Schizophre­
nie nachweisen ließ, ergaben sich im Striatum erhöhte
Dichtewerte. Einige Originalarbeiten fanden Assoziatio­
nen dieser Befundmuster mit der Gabe von Antipsychoti­
ka, sodass verschiedene der ermittelten Normabweichun­
gen sekundär bedingt sein könnten (Fusar-Poli et al. 2013;
Ho et al. 2011). Auch eine Alkoholabhängigkeit, die zu
Atrophie und weiteren kortikalen Störungen führen kann,
konnte nicht in allen Stu­dien als Einflussfaktor zweifels­
frei ausgeschlossen werden (Mathalon et al. 2003). Wie
bereits erwähnt, nimmt man mittlerweile bei Schizo­
phrenie keinen fortschreitenden neurodegenerativen
­Prozess mehr an, sondern geht davon aus, dass sich korti­
kale Veränderungen bereits prämorbid vollziehen und
danach stabilisieren (Koutsouleris et al. 2013). Eine aktu­
elle Metaanalyse (Shepherd et al. 2012) stellt die Ergebnis­
se systematischer Reviews zu strukturellen Veränderun­
gen bei chronisch sowie ersterkrankten schizophrenen
Patienten dar.
2.4
Wahn
2.4.1
Was ist Wahn?
Das Wort »Wahn« leitet sich von verschiedenen Wort­
stämmen ab, wobei das alt- und mittelhochdeutsche »wan«
für »leer« und »Vermutung« als wesentliche sprachliche
Wurzel gelten kann. Im allgemeinen Sprachgebrauch
taucht Wahn im Verb »wähnen« auf und bringt einen Ver­
dacht bzw. eine vermeintliche Erkenntnis zum Ausdruck.
Ebenso wie der Begriff »Schizophrenie« hat das Wort
»Wahn« Einzug in die Alltagssprache gefunden und ein
Eigenleben entfaltet. Allzu oft wird Wahn inflationär und
synonym für Verrücktsein, Spleen oder jegliche Form von
Fanatismus verwendet. Im DSM-5 wird Wahn definiert als
ŮŮ »eine feste Überzeugung, die trotz gegenteiliger
E­ videnz nicht verändert werden kann. Wahninhalte
reichen von Verfolgungswahn, Beziehungswahn,
­körperbezogenem Wahn und religiösem Wahn bis hin
zum Größenwahn. […] Manchmal ist die Unterscheidung zwischen einer Wahnidee und einer fixen Idee
schwierig. Sie hängt ab vom Ausmaß der Überzeugung, mit der die Ansicht trotz klarer Beweise gegen
ihren Wahrheitsgehalt beibehalten wird.«
(APA 2015, S. 117f.).
Auf eine kurze Formel gebracht, beinhaltet Wahn das ri­
gide, unbeirrbare Festhalten an falschen Überzeugungen.
Das auf Jaspers (1913; Diskussion bei Walker 1991) zu­
rückgehende Kriterium der »Unverstehbarkeit«, wonach
sich primärer, »echter« Wahn nicht auf biografische oder
andere Ursachen zurückführen lässt (Jaspers 1913, S. 89),
ist umstritten und in neueren Definitionen nicht mehr
enthalten (bis zur 4. Auflage des DSM kam bizarren
Wahnideen eine besondere diagnostische Wertigkeit zu).
Problematisch an Jaspers’ Unterscheidung zwischen
wahnhaften Ideen (aus seiner Sicht verständlich hervorge­
gangen aus Affekten, sensorischen Irritationen oder ver­
ändertem Bewusstsein) und echtem Wahn (aus seiner
Sicht psychologisch nicht weiter zurückzuverfolgen und
phänomenologisch »etwas Letztes«) ist, dass er eine echte
Operationalisierung schuldig bleibt. Während er einer­
seits pathogenetische Unterschiede annimmt, führt er an­
dererseits auch formale Aspekte wie Gewissheit ohne
­anfänglichen Zweifel als Merkmal echten Wahns an. Cer­
molacce et al. (2010) betonen in ihrer Übersicht, dass es
nach wie vor nicht gelungen sei, unverstehbaren oder bi­
zarren Wahn konsensuell zu definieren, und dass die Re­
liabilität des Merkmals entsprechend äußerst gering ist.
17
2.4 · Wahn
..Tab. 2.6 Verschiedene Formen des Wahns
Form
Beschreibung
Wahnstimmung
Der Betroffene erlebt seine Umgebung als verändert, unheimlich und befindet sich in einer Atmosphäre der
Erwartungsspannung. Typischerweise besteht eine abnorme Bedeutungszuweisung (Salienz) und Beziehungssetzung äußerer Geschehnisse auf die eigene Person. Auch positive Affekte wie Zuversicht und gehobene Stimmung bis hin zu Euphorie können sich einstellen. Diese Stimmungen sind häufig Nährboden für
neue oder Dünger bestehender diffuser Wahnideen, die später durch die sog. Wahnarbeit konkreter ausgestaltet werden.
Wahnwahrnehmung
Korrekte Sinneswahrnehmungen erhalten eine abnorme Bedeutung (meist im Sinne des Bezugs auf die
eigene Person) bzw. werden fehlinterpretiert.
Wahneinfall
Hierunter versteht man das plötzliche und unvermittelte Auftreten von wahnhaften Vorstellungen und Überzeugungen. Der Wahneinfall ist nicht immer klar von Intrusionen abzugrenzen.
Fixe Idee
Dieser Begriff wird uneinheitlich verwendet. Im Kern umfasst er aufdringliche, intrusive Gedanken desselben
Themas, die den Betroffenen nicht loslassen und fortwährend plagen. Häufig besteht Einsicht in den Krankheitswert des Symptoms.
Dass Wahnideen nicht aus »heiterem Himmel« kom­
men, sondern sich schleichend und im Anfangsstadium
noch reversibel über Tage bis Monate aufbauen, konnten
longitudinale Studien, u. a. von Klosterkötter (1992) zei­
gen. Im Durchschnitt vergehen ca. 85 Tage von ersten Ver­
änderungen der Wahrnehmung und Bewertung der sozia­
len Umwelt bis hin zu unverrückbaren Wahnideen. Schon
Klaus Conrad beschrieb in seinem Werk Die beginnende
Schizophrenie – Versuch einer Gestaltanalyse des Wahns
(1959) die Schizophrenie als eine sich aufbauende Erkran­
kung. Darin stellt er den aus seiner Sicht charakteristischen
Verlauf der Schizophrenie anhand einer detaillierten Ana­
lyse von 107 erkrankten Soldaten in den Kriegsjahren
1941/42 dar. Unter Berücksichtigung gestaltpsychologi­
scher Prinzipien entwickelte er ein Modell, welches den
Krankheitsverlauf in verschiedene Phasen gliedert. So
­erleben Betroffene zunächst eine Art »Lampenfieber«
­(genannt »Trema«). In der »Apophänen Phase« erhalten
alltägliche Dinge plötzlich eine Bedeutung und unabhän­
gige Sachverhalte werden in einen Zusammenhang gestellt.
Hier erfährt der Betroffene ein »Aha-Erlebnis«, und es ist
ihm nicht mehr möglich, die Dinge aus einer anderen Per­
spektive zu betrachten. Der Patient erlebt die Welt dann,
als drehe sich alles um ihn (»Anastrophé«). Die »Apoka­
lyptische Phase« stellt schließlich das Vollbild der Psy­chose
dar. Während der »Konsolidierung« tritt die abnorme Er­
lebniswelt zurück und nach dem Abklingen der Psychose
kommt es häufig zu dauerhaften Veränderungen der Per­
son (»Residualzustand«).
. Tab. 2.6 definiert verschiedene Formen von Wahn.
. Tab. 2.7 fasst typische Wahnideen zusammen, die, wie
. Tab. 2.8 zeigt, in Kombination auftreten können.
2.4.2
Probleme des Wahnbegriffs
Trotz des heuristischen Werts der Wahndefinition gibt es
unübersehbare Schwachstellen der drei zentralen Wahn­
kriterien Überzeugung, Unkorrigierbarkeit und inhalt­
liche Unmöglichkeit. So belegen nicht alle Betroffenen ihre
Überzeugungen mit einer Gewissheit von 100 %. Die Si­
cherheit, mit der eine Wahnidee verfochten wird, unter­
liegt starken, teilweise auch tageszeitlichen Schwankun­
gen. Zudem ist gelegentlich eine Art »doppelte Buchfüh­
rung« bei den Betroffenen zu beobachten, wobei sich ein­
ander ausschließende Bewertungen sprunghaft abwechseln
können. So kann der Oberarzt einerseits als Dämon und
die Station als Vorhölle verkannt werden, während im
nächsten Moment um ein Familiengespräch ersucht wird;
oder ein Betroffener geht seiner Arbeit als Verkäufer nach
trotz seiner Überzeugung, berühmt zu sein. Bereits Jaspers
(1913) beschrieb, dass sich Patienten häufig inkonsequent
verhalten, fast als ob die Betroffenen ihre Ideen selbst als
bloße Drohkulisse oder auch Arbeitshypothese betrachten.
(»Das Verfolgtsein dieser Kranken scheint dann nicht wie
das Erleben des wirklich Verfolgten zu sein, die Eifersucht
nicht wie die eines wirklich zur Eifersucht Berechtigten…«,
S. 88). Die Unkorrigierbarkeit, auf die in 7 Abschn. 3.3 aus­
führlicher eingegangen wird, ist ebenfalls nicht immer ab­
solut zu verstehen. Wenngleich die wenigsten Betroffenen
durch Beweise des Gegenteils sofort auf den Boden der
Tatsachen zurückgelangen, finden Anpassungen am
»Wahngebäude« statt, sofern bestimmte Vorhersagen nicht
eintreffen. Dies kann als besondere Form der Wahnarbeit
betrachtet werden. Ein Patient, der davon ausgeht, dass die
Polizei ihn an einem bestimmten Tag töten will, wird am
Folgetag möglicherweise behaupten, dass man ihn nur am
Leben ließ, um keinen Märtyrer zu schaffen. Solche Anpas­
2
18
Kapitel 2 · Schizophrenie
..Tab. 2.7 Verschiedene Inhalte des Wahns (S = Ideen treten sehr viel häufiger bei Schizophrenie als bei anderen Störungen auf )
2
Inhalt
Beispiel
1. Verfolgungswahn (Paranoia im engeren Sinne) (S)
»In meinem Haus ist eine Filmproduktionsfirma eingezogen. Die haben unsichtbare kleine Kameras in meinem Schlafzimmer angebracht und stellen die
Videos ins Internet.«
2. Größenwahn
»Aufgrund meines wirtschaftlichen Know-hows kann ich die Entwicklung an
den internationalen Börsen beeinflussen und werde ein Vermögen machen.«
3. Beziehungsideen (S)
»Ich hatte immer das Gefühl, dass der Wetterbericht der Tagesschau mir
­vorhersagte, wie mein Tag wird. Sonnenschein bedeutet dabei Glück, Regen
Unglück, …«
4. Schuld- und Versündigungswahn (im Zusammenhang mit Verfolgungswahn im Englischen auch als
»bad-me paranoia« bezeichnet; eher bei Depression)
»Ich bin verantwortlich für die verheerenden Erdbeben in Südeuropa, bei
denen viele Menschen zu Tode kamen. Ich hätte neulich nicht über Ausländer
schlecht reden dürfen.«
5. Kleinheitswahn/nihilistischer Wahn (eher bei
Depression)
»Ich bin vor Jahren erst geistig und dann auch tatsächlich gestorben; man hat
vergessen, meinen Körper in die Hölle fahren zu lassen.«
6. Dermatozoenwahn
»Da sind so kleine Insekten unter meiner Haut, die mich innerlich auffressen.«
7. Eifersuchtswahn
»Ich bin davon überzeugt, dass mein Mann fremdgeht. Wenn er morgens aus
dem Haus geht, dann fährt er meist gar nicht ins Büro, sondern trifft sich in
Wahrheit mit seiner Geliebten.«
8. Bizarrer Wahn (S)
»Ich bin der berühmte Terrorist Osama bin Logan und bereite die Ausweisung
aller Christen zum Mond vor.« (Patient hieß R. Logan)
9. Capgras-Syndrom (S)
»Meine Eltern benehmen sich seit geraumer Zeit komisch. Ich bin mir sicher,
dass sie eigentlich Zombies sind, von deren Körpern Roboter Besitz ergriffen
haben.«
..Tab. 2.8 Kombination verschiedener Wahnideen
Größenwahn
Beziehungsideen
Schuldwahn
Verfolgungswahn
»Der Geheimdienst will mich
vernichten, da ich ihren Funkverkehr mental abhören kann und
so zur Gefahr werde.«
»Überall sehe ich die Zahl 13, mir
droht Unheil durch die Illuminaten.«
»Ich bin ein zutiefst schlechter
Mensch. Gute Menschen werden mich
aufspüren und hinrichten.«
Größenwahn
–
»Ich glaube, ich bin als Deutschlands neuer Superstar ausersehen.« (Vor dem Schlafzimmer­
fenster wurde eine entsprechende Fernsehreklame an­
gebracht.)
»Ich habe Gott mit meinen Erfindungen herausgefordert und vor den
Menschen lächerlich gemacht. Er lässt
mich wie einst Mose 40 Jahre durch
die Welt irren, bevor ich Seelenfrieden
finden darf.« (religiöser Wahn)
sungen können zu ausgetüftelten Wahnsystemen führen,
die als eine Art Parallelrealität kaum noch zu »knacken«
sind. Das angreifbarste Kriterium betrifft die Unmöglich­
keit des Inhalts. Viele Wahnideen sind nicht völlig über­
prüf- und damit auch nicht falsifizierbar. Wahnideen ha­
ben zudem häufig einen realen Kristallisationskern, um
den sich der Wahn wuchernd rankt. Wenn weitere psy­
chiatrische S­ ymptome vorliegen (z. B. formale Denkstö­
rungen), die Überzeugung im krassen Missverhältnis zu
angeführten Beweisen steht und Denkinhalte und Verhal­
ten auseinanderklaffen (z. B. die Behauptung, ein Heiliger
zu sein, ohne entsprechend zu leben), darf der Verdacht auf
das Vorliegen eines Wahns als erhärtet gelten.
Eine radikale Neudefinition des Wahns forderte Man­
fred Spitzer (1989b). Er betrachtet Wahn als Spezialfall ei­
ner Ich-Störung. Wahn solle nicht als falsche Aussagen
über die Realität, sondern als richtige Aussage über das
eigene Erleben angesehen werden. Der Wahnkranke wür­
de Aussagen über objektive (d. h. intersubjektiv zugängli­
che) Phänomene so treffen wie über mentale Zustände
(z. B. »ich habe Schmerzen«), wo diese berechtigt und un­
zweifelhaft seien. Auch bei Wahnideen, die eher im Rah­
19
2.4 · Wahn
men einer Depression oder Manie zu beobachten sind, wie
Größen- und Kleinheitswahn fordert er, diese zunächst als
zutreffende Beschreibung des eigenen Erlebens zu betrach­
ten. Wenngleich sich der Vorschlag von Spitzer nicht
durchsetzen konnte, bietet er einen Zugang zum Verständ­
nis des Betroffenen und adressiert das nach wie vor unge­
löste Problem, welches das dritte Jasper’sche Wahnkrite­
rium aufwirft: Nicht jede Wahnidee ist streng genommen
falsifizierbar.
Zunehmend wird gefordert, die drei Kernmerkmale
von Wahn (Überzeugung, Unkorrigierbarkeit, Unmög­
lichkeit des Inhalts) durch qualitative Aspekte zu ergänzen.
Als weitere relevante Merkmale sind der Leidensdruck, das
Ausmaß und die Dauer der Beschäftigung sowie die Beein­
trächtigung in Verhalten und sozialen Interaktionen zu
berücksichtigen (Moritz u. Lincoln 2008). Je mehr eine
Überzeugung im Widerspruch zur Realität steht und ei­
nem gesellschaftlich gängigen Kanon von religiösen und
weltpolitischen Auffassungen widerspricht, die Leistungs­
fähigkeit des Betroffenen herabsetzt und Leidensdruck
hervorruft, desto stärker ist von einem behandlungsbe­
dürftigen Wahn auszugehen.
2.4.3
Verbreitung von Wahnideen
Wahnideen sind in der Allgemeinbevölkerung stärker ver­
breitet, als lange Zeit angenommen. Sie bewegen sich ver­
mutlich auf einem Kontinuum von leichtem Aberglauben
über verfestigte Überzeugungen bis hin zum behandlungs­
bedürftigen Wahn. Diese Sichtweise wird durch zahlreiche
epidemiologische Untersuchungen untermauert (Freeman
2006; Lincoln u. Keller 2008). Nach seriösen Schätzungen
weisen 1–3 % der Bevölkerung einen behandlungsbedürf­
tigen Wahn auf, während milde Formen bei 10–15 % der
Menschen nachweisbar sind. In einer eigenen Studie an
200 psychisch gesunden Personen bejahte ein Drittel der
Teilnehmer, an Gedankenübertragung und Telepathie zu
glauben (Moritz u. Andresen 2002), jede vierte Person be­
richtete über Erfahrungen mit dem Übersinnlichen. In USamerikanischen Untersuchungen sind die Prävalenzen für
psychosenahe Symptome in der Allgemeinbevölkerung
deutlich höher (Raine 1991). Der Großteil dieser Ideen ist
nicht behandlungsbedürftig und kann im Einzelfall sogar
zur Stabilisierung des seelischen Gleichgewichts beitragen
(z. B. der Glaube, der verstorbene Partner gehe als guter
Geist mit einem durchs Leben; feste Gewissheit, dass das
Schicksal es gut mit einem meine; Moritz u. Lincoln 2008).
In einigen Fällen kommt es jedoch zu einem Umschlag des
Quantitativen ins Qualitative, d. h., die Vorstellungen er­
reichen ein Ausmaß, welches es dem Betroffenen nicht
mehr erlaubt, die eigenen Rollen zu erfüllen und in Har­
monie mit seiner sozialen Umwelt zu leben. In diesem Fall
ist eine Behandlung angezeigt. Bei Fremd- oder Selbstge­
fährdung kann diese unter Umständen auch gegen den
Willen des Betroffenen erforderlich sein.
2.4.4
Interkulturelle Unterschiede
und zeitgeschichtlicher Wandel
von Wahninhalten
Zahlreiche Befunde kommen zu dem Schluss, dass Verfol­
gungswahn in westlichen Industrieländern häufiger anzu­
treffen ist als in Entwicklungs- und Schwellenländern. Die
Wahninhalte asiatischer, eher kollektivistisch und westli­
cher, eher individualistisch geprägter Kulturen unterschei­
den sich teilweise deutlich. In einer Vergleichsstudie wur­
den Patienten mit Schizophrenie in Tübingen, Wien und
Tokio untersucht (Tateyama et al. 1998). Während in allen
Städten fast 80 % der Patienten eher »negative« Wahnideen
aufwiesen (vor allem Verfolgungsideen), wurden bei ca.
25 % (teilweise parallel) »positive« Wahnideen beobachtet
(vor allem Größenwahn bezogen auf spezielle Fähigkeiten
und eine besondere Mission). Unterschiede ergaben sich
bezüglich der Inhalte. Paranoide Befürchtungen bezüglich
Vergiftung, Schuld und Religion waren in den europäi­
schen Städten deutlich häufiger anzutreffen. In Tokio wa­
ren paranoide Ängste, verleumdet zu werden, dagegen
mehr als doppelt so häufig im Vergleich zu Tübingen und
Wien, was die Autoren mit der eher gruppenorientierten
japanischen Wertekultur in Verbindung bringen, in der
Scham und Konformität eine große Rolle spielen.
Zudem ist ein interessanter historischer Trend in den
Industrieländern bezüglich der inhaltlichen Ausgestaltung
von Wahnideen zu beobachten (siehe z. B. Spitzer 1989a).
Hierauf wies bereits Jaspers (1913, S. 614) hin, der schreibt,
dass in früheren Zeiten Dämonomanie (Besessenheits­
wahn), Lykanthropie (Wahn der Tierverwandlung) und
Ähnliches häufiger war als bei Erscheinen seines Buches,
während u. a. drahtlose Telegrafie und andere technische
Entwicklungen im frühen 20. Jahrhundert eine große Rol­
le spielen bei der Ausgestaltung von Wahnideen (S. 191).
Während noch im 19. Jahrhundert personengebundene
Verfolgungsideen überwogen (Nachbar, Hexe), spielen In­
stitutionen eine immer bedeutendere Rolle (z. B. Polizei,
Terrororganisationen, Geheimdienste). An die Stelle von
Gott und Dämonen treten in atheistisch geprägten Kultu­
ren oder solchen mit eher metaphorischem Glaubensver­
ständnis zunehmend Geheimdienste und andere mächtige
Organisationen. Anders als bei vielen Angststörungen,
deren Themen weitestgehend unverändert um archaische
Ängste kreisen, reflektieren schizophrene Störungen Zeit­
geist, Kultur und technischen Wandel, wie eine Studie von
Steinebrunner und Scharfetter (1976) zeigte. Personen mit
einer Störung aus dem schizophrenen Formenkreis, die
2
20
2
Kapitel 2 · Schizophrenie
sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der psychiatrischen
Universitätsklinik Burghölzli (Zürich) in Behandlung be­
fanden, wurden mit einer Patientengruppe zur Mitte des
20. Jahrhunderts verglichen. Auffällig war neben einer Ab­
nahme des Größen- und des sexuellen Wahns und einer
deutlichen Zunahme hypochondrischer Wahnideen über
die Dekaden eine Tendenz zur inhaltlichen Verschiebung.
Es zeigte sich insbesondere eine Vermehrung von Ideen
technisch-physikalischen, toxischen und parapsychologi­
schen Inhalts sowie von Ideen, die sich mit staatlichen Or­
ganen, vor allem der Polizei, beschäftigen. Häufiger als
früher sind Verfolger heutzutage anonym. Wahnideen
spiegeln nach den Ergebnissen auch technische Errungen­
schaften wider (siehe auch Jaspers 1913, S. 191). Steine­
brunner und Scharfetter schreiben zu Verstrahlungsängs­
ten z. B. Folgendes:
ŮŮ »Während es sich in Gruppe I [Aufnahmen ab 1913]
aber ausschließlich um Röntgenstrahlen handelt, sind
es heute mehr magnetische und Laserstrahlen. Ebenfalls hat sich die Beziehung zum Telephon gewandelt:
früher ein Apparat, aus dem »die Stimmen« kamen,
tritt es heute in dieser Weise nicht mehr auf.
­(Steinebrunner u. Scharfetter 1976, S. 59).«
Die Studie untersuchte auch Wahnideen über die Lebens­
zeit. Abstammungswahn, wahnhafter Identitätswandel
und Liebeswahn scheinen Themen des jungen Erwachse­
nenalters (bis 30 Jahre) zu sein. Mit zunehmendem Alter
schränken sich die Wahnthemen auf den Verfolgungs-,
religiösen und hypochondrischen Wahn ein.
2.4.5
Beziehung von Wahn
und Halluzinationen
Ein weiteres charakteristisches Symptom bei Betroffenen
mit Schizophrenie sind Halluzinationen, vor allem Stim­
menhören. Das DSM-5 definiert Halluzinationen wie folgt:
ŮŮ »Halluzinationen sind wahrnehmungsähnliche Erfah-
rungen, die ohne adäquate externe Reize auftreten.
Halluzinationen erscheinen den Betroffenen eindeutig und klar, können durch die Betroffenen nicht kon­
trolliert werden und treten mit der gleichen Intensität
und Wirkung auf wie normale Wahrnehmungen […].
(APA 2015, S. 118).«
Häufig stülpen sich Wahnideen Halluzinationen als erklä­
render Überbau auf. Forscher wie Brendan A. Maher
(1974) halten Halluzinationen und andere ungewöhnliche
sensorische sowie neuropsychologische Störungen, für die
es keine Referenzerfahrungen gibt, sogar für die Kernstö­
rung der Schizophrenie. Wahn ist gemäß Maher ein ratio­
naler (normalpsychologischer) Erklärungsversuch des
ansonsten Unerklärlichen. In dieser extremen Formulie­
rung ist seine Theorie aus mehreren Gründen jedoch nicht
haltbar. In vielen Fällen, vor allem bei chronifiziertem
Wahn, fehlen Halluzinationen gänzlich. Schließlich gibt es
Betroffene, die gelernt haben, ihren Stimmen keine wahn­
hafte Bedeutung zuzuschreiben und diese als eine Art stö­
rendes »Grundrauschen« zu ignorieren. Neurologische
Störungen wie Hemineglekt (Halbseitenvernachlässigung,
bei der eine Körperhälfte praktisch nicht mehr wahrge­
nommen wird) gehen gelegentlich mit Derealisation und
einem sog. »Durchgangssyndrom« einher (z. B. wenn die
vernachlässigte Körperhälfte als Schwester verkannt wird,
die sich zu einem ins Bett gelegt hat); überdauernde wahn­
hafte Erklärungen sind aber selten. Weiterhin ist zu be­
zweifeln, ob unspezifische psychosomatische Beschwerden
(z. B. Magendrücken) am rationalsten mit radioaktiver
Vergiftung durch den russischen Geheimdienst oder
Schlafprobleme mit implantierten Störsendern zu erklären
sind. In einer Studie von Bell und Mitarbeitern (2008) wa­
ren nicht halluzinierende Patienten mit Wahn nicht von
gesunden Kontrollprobanden im Ausmaß sensorischer
Irritationen zu unterscheiden. Die Autoren gelangen zu
dem Schluss, dass abnormale Wahrnehmungen keine
zwingende Voraussetzung für Wahn darstellen.
In abgeschwächter Form ist Mahers Beobachtung je­
doch durchaus klinisch zutreffend: In vielen Fällen nähren
Halluzinationen den Wahn. Es gibt jedoch auch Fälle, in
denen Wahnideen Halluzinationen wiederum vorausge­
hen (Huschka 2005), da wahnhafte Ideen den Wahrneh­
mungsapparat und kognitive Bewertungsprozesse zuneh­
mend dominieren. So können halbakustische Gedanken,
wie sie auch bei vielen gesunden Personen vorkommen
(z. B. »Ohrwürmer« von Liedern), als sog. gemachte Ideen
oder sogar Stimmen fehlinterpretiert werden. Inwieweit
Halluzinationen echten Stimmen oder Geräuschen ähneln
oder Fehlattributionen starker, aber prinzipiell normaler
Kognitionen sind, ist derzeit noch in Diskussion (Moritz et
al. 2014c). Die obige Definition aus dem DSM-5 suggeriert,
dass Halluzina­tionen und echte Eindrücke praktisch nicht
diskriminierbar sind. Zweifel sind jedoch angebracht. In
einer Befragung an 45 Patienten mit Schizophrenie (82 %
Stimmenhörer), 55 Zwangspatienten (15 % Stimmenhö­
rer) und 60 Personen ohne psychiatrische Diagnose (15 %
Stimmenhörer) untersuchten wir die Übereinstimmung
von echten und eingebildeten Stimmen anhand von vier
Kerncharakteristika echter Stimmen (»four A’s«): Laut­
stärke (»acoustic«), Unkontrollierbarkeit (»autonomous«),
Fremdheit (»alien«) und Echtheit (»authentic«). Wenn hal­
luzinierte Stimmen echten Stimmen täuschend ähnlich
sind, so sollten diese als ähnlich laut, unkontrollierbar,
fremd und echt bewertet werden. Jedoch gab ca. jeder
zehnte Stimmenhörer an, die Stimmen nicht wirklich hö­
ren zu können (Moritz u. Larøi 2008). Dies lässt zumindest
21
2.5 · Behandlung der Schizophrenie
bei einigen Formen von Stimmenhören den vorsichtigen
Schluss zu, dass es sich um eine Art Behelfsbezeichnung
zur Etikettierung fremd erscheinender Gedanken handelt.
Etwa jeder zweite Stimmenhörer konnte die Stimmen kon­
trollieren. Nur eine Minderheit von 31 % der Patienten mit
Schizophrenie vermochte die halluzinierten nicht von ech­
ten Stimmen unterscheiden. Es stellt sich damit die Frage,
inwieweit Halluzinationen und Stimmenhören ein Prob­
lem der sensorischen Verarbeitung widerspiegeln oder
vielmehr auf (vorschneller) Bewertung und Fehlattributi­
on beruhen. Nach neuen Studien erleben im Übrigen auch
viele Patienten mit Zwang und Depression ihre intrusiven
Gedanken lauthaft, ohne dass hier Halluzinationen im en­
geren Sinne vorliegen (Moritz et al. 2014a; Moritz et al.
2014c).
2.5
Behandlung der Schizophrenie
2.5.1
Antipsychotika (Neuroleptika)
Störungen aus dem schizophrenen Formenkreis und hier
speziell die Positivsymptome werden pharmakologisch zu­
meist mit Antipsychotika bzw. Neuroleptika behandelt, die
auf das Dopaminsystem des Gehirns Einfluss nehmen.
Kleinster gemeinsamer und entscheidender Nenner dieser
heterogenen Klasse von Medikamenten ist die Blockade
mesolimbischer Dopaminrezeptoren. Diese Anfang der
1950er-Jahre eher zufällig entdeckten Substanzen haben die
Therapie der Schizophrenie entscheidend verändert und
ermöglichen einer Reihe von Patienten ein relativ normales
Leben. Zahlreiche Betroffene wurden vorher mit oft wir­
kungslosen und aus heutiger Sichtweise grausamen Metho­
den, gelegentlich als »harte Kuren« verklärt, behandelt. Bis
in die 1950er-Jahre war z. B. die Lobotomie, eine neurochi­
rurgische Intervention, zumindest in den USA bei Schizo­
phrenie verbreitet. Hierbei wurden Teile des Frontalhirns
zerstört. Eine von uns vergebene Diplomarbeit ergab, dass
die sog. Insulinschock-Therapie noch bis in die 1970erJahre durchgeführt wurde (Carillo u. Klein 2011).
Antipsychotika der ersten und
zweiten Generation
Die Neuroleptika der ersten Generation, auch typische,
konventionelle oder klassische Neuroleptika genannt
(z. B. Butyrophenone und Diphenylbutylpiperidine), blo­
ckieren vor allem mesolimbische und nigrostriatale
Dopamin­rezeptoren. Während der erste Mechanismus
eine Reduktion der Positivsymptomatik bewirkt, führt der
zweite ab einer Rezeptorbesetzung von ca. 70–80 % zu un­
erwünschten extrapyramidal-motorischen Störungen
(EPS; Kapur et al. 2000). Hierzu zählen parkinsonoide
Symptome wie Tremor (Ruhezittern, z. B. der Hände),
Akinese (u. a. mimische Reglosigkeit) und Rigor (zahnrad­
artige Tonuserhöhung der Muskulatur). Darüber hinaus
kann die von vielen Betroffenen als besonders quälend
erlebte Akathisie ­(Bewegungsdrang und innere Unruhe)
auftreten. Bei langfristiger Einnahme von typischen Neu­
roleptika treten bei ca. jedem 5.–10. Patienten sog. Spät­
dyskinesien auf, die vielfach irreversibel sind. Darunter
fallen Bewegungsstörungen im Gesichtsbereich (Zuckun­
gen, Schmatz- und Kaubewegungen) und unwillkürliche
Bewegungsabläufe der Extremitäten. Anders als die Früh­
dyskinesien werden die Spätdyskinesien häufiger von der
Umwelt als von den Betroffenen selbst wahrgenommen
und können Stigmatisierung und soziale Ausgrenzung
verstärken (7 Exkurs 2.1).
Die neue Generation von Antipsychotika, die sog. aty­
pischen Antipsychotika, deren erster Vertreter das
Clozapin war, wirkt ebenfalls auf das mesolimbische Do­
paminsystem. Die Bindungsaffinität für die nigrostriatalen
Dopaminrezeptoren ist bei den meisten neueren Präpara­
ten deutlich niedriger als bei typischen Neuroleptika, was
zu einer geringeren Rate von extrapyramidalen Nebenwir­
kungen führt. Viele atypische Substanzen besitzen zudem
einen Dopamin-Serotonin-Antagonismus. Dieser bewirkt
eine höhere Dopaminverfügbarkeit im Frontalhirn, die mit
einer günstigen Beeinflussung der negativen Symptomatik
in Verbindung gebracht wird.
Die auch aus marketingstrategischen Erwägungen
verfochtene Trennung von atypischen (modernen) vs. ty­
Exkurs 2.1: Dopaminhypothese
Die schon früh formulierte Dopaminhypothese der Schizophrenie führt die Positivsymptome auf eine Überaktivität dopaminerger mesolimbischer Bahnen zurück.
Die erweiterte Dopaminhypothese besagt, dass eine verminderte Aktivität des
frontokortikalen Dopaminsystems zu negativen Symptomen führt und sekundär
eine Überaktivität des mesolimbischen
Dopaminsystems erzeugt, wodurch die
charakteristischen positiven Symptome
der Erkrankung hervorgerufen werden.
Empirisch gestützt wird diese Annahme
durch die Wirksamkeit von Neuroleptika
auf Positivsymptome sowie Untersuchungen mittels Positronen-Emissions-Tomografie (PET; Laruelle 1998). Ebenfalls im
Einklang mit der Hypothese induziert die
Gabe von L-Dopa, z. B. bei der Therapie
des Morbus Parkinson, gelegentlich posi-
tive Symptome oder verstärkt bestehende
psychotische Erscheinungsbilder. Gleichzeitig wurde unter der Gabe dieser Präparate gelegentlich eine Linderung der negativen Symptomatik berichtet. Eine weitere Variante der Dopaminhypothese von
Kapur schreibt der Dysregulation des präsynaptischen Dopaminumsatzes eine
Schlüsselrolle zu (Howes u. Kapur 2009).
2
22
2
Kapitel 2 · Schizophrenie
pischen (älteren) Antipsychotika weist eine Reihe von
Schwierigkeiten auf, da extrapyramidale Nebenwirkun­
gen dosisabhängig auch unter atypischen Antipsychotika,
mit Ausnahme des Clozapins, vorkommen können und
die Überlegenheit bei der Behandlung der Negativsymp­
tomatik nicht für alle neueren Wirkstoffe belegt ist. Laut
einer Metaanalyse können nur die atypischen Antipsycho­
tika Clozapin, Olanzapin, Risperidon und Amisulprid für
sich beanspruchen, die Negativsymptomatik wirkungs­
voller als typische Präparate bei gleichzeitig niedriger Rate
motorischer Nebenwirkungen zu reduzieren (Leucht et al.
2009b). Die lange postulierte Annahme, dass atypische im
Gegensatz zu typischen Antipsychotika überdies zu Ver­
besserungen der kognitiven Leistungsfähigkeit führen,
musste im Laufe der Zeit relativiert werden. Ein ursprüng­
licher Vertreter dieser Annahme, Richard Keefe, hat ein­
geräumt, dass neuere Daten diese These erschüttern und
ein scheinbar geschlossenes Kapitel somit wieder geöffnet
werden muss. So ist beim Atypikum Clozapin bekannt,
dass es vermutlich aufgrund seiner intrinsischen anticho­
linergen Eigenschaften bei einigen Patienten in hohen
Dosierungen Gedächtnisprobleme hervorruft. In einer
sehr großen multizentrischen Studie (sog. CATIE Trial)
konnte kein substanzieller Unterschied bezüglich objekti­
ver neuropsychologischer Parameter zwischen konven­
tionellen und atypischen Präparaten nachgewiesen wer­
den (Keefe et al. 2007). Studien unserer Arbeitsgruppe
fanden wiederholt einen Zusammenhang zwischen der
Höhe der neuroleptischen Dosis von typischen Neurolep­
tika mit subjektiven kognitiven Beschwerden. Bei atypi­
schen Antipsychotika kam es unter höheren Dosen dage­
gen teil­weise sogar zu subjektiven Verbesserungen (z. B.
Moritz et al. 2002b).
Mit der Einführung des Antipsychotikums Aripipra­
zol, einem Dopaminpartialagonisten, welches sich dem
»Bauplan« bisheriger atypischer Antipsychotika entzieht,
und Amisulprid, welches nicht wie andere atypische Anti­
psychotika auf die 5-HT2-Rezeptoren wirkt, ist die Unter­
teilung atypisch vs. typisch weiter infrage gestellt worden.
Ältere Präparate wie Haloperidol kommen im klinischen
Alltag aufgrund ihrer Wirksamkeit je nach Zielsymptoma­
tik auch weiterhin zum Einsatz und unterscheiden sich vor
allem bezüglich ihres Nebenwirkungsspektrums von den
atypischen Antipsychotika. Die Unterschiede in der Wirk­
samkeit zwischen verschiedenen Antipsychotika erreichen
dagegen nur einen schwachen Effektstärkebereich (Leucht
et al. 2013).
Neben der klassischen und gut etablierten Dopaminhy­
pothese der Schizophrenie (7 Exkurs 2.1) wird zunehmend
auch anderen Neurotransmittern eine Bedeutung bei der
Entstehung der Störung zugesprochen. Besonders das glu­
tamaterge System, das in einem komplexen Wechselspiel
mit anderen Transmittersystemen und neurobiologischen
Vorgängen steht, gerät zunehmend in den Fokus der wis­
senschaftlichen Aufmerksamkeit (Gallinat et al. 2016).
Erste Hinweise diesbezüglich lieferte die Beobachtung,
dass bestimmte Antagonisten am Glutamatrezeptor (z. B.
Phencyclidin [PCP], Ketamin) bei Gesunden bereits nach
einmaliger Gabe schizophrenieähnliche Symptome, da­
runter Positiv- und Negativsymptome sowie kognitive Ein­
schränkungen, hervorrufen können (Gouzoulis-Mayfrank
2008; Javitt u. Zukin 1991).
Neuere Überlegungen zur Pathophysiologie der Schi­
zophrenie beschäftigen sich mit der glutamatergen Neuro­
transmission (Howes et al. 2015), und hier insbesondere
mit dem N-Methyl-D-Aspartat-Rezeptor (NMDA-Rezep­
tor), einem Subtyp des ionotropen Glutamatrezeptors, der
eine wichtige Rolle bei Neurokognition und -toxizität
spielt. Veränderungen der NMDA-Rezeptoren werden vor
allem mit der Negativsymptomatik in Verbindung ge­
bracht (Pilowsky et al. 2006). Die Glutamathypothese der
Schizophrenie besagt, dass vermittelt über eine glutama­
terge Unterfunktion oder ein gestörtes Gleichgewicht zwi­
schen dem (ekzitatorischen) Glutamat- und dem (inhibi­
torischen) GABA-System eine kortikale Minderaktivität
des Dopaminsystems, aber eine Überfunktion im Striatum
resultiert (Gallinat u. Gudlowski 2008). Multimodale Un­
tersuchungen mittels PET und Magnetresonanzspektros­
kopie (MRS) legen eine solche Interaktion zwischen Glut­
amat und Dopamin zumindest bei Gesunden nahe (Gleich
et al. 2015). Inwieweit Veränderungen des Glutamatsys­
tems tatsächlich Veränderungen des Dopaminsystems be­
dingen, oder aber erst durch diese verursacht werden, ist
nicht abschließend geklärt. Auf die Entwicklung einer me­
dikamentösen Therapie, die in den Glutamatstoffwechsel
der Patienten entsprechend modellierend eingreifen kann,
wird große Hoffnung gesetzt. NMDA-Rezeptoragonisten
(Glyzin, D-Serin, Sarkosin), die ergänzend zu Antipsycho­
tika gegeben wurden, zeigten in der Folge teilweise einen
Effekt auf die Negativsymptomatik (Tuominen et al. 2005).
Es gab daher Bestrebungen, sich diesen Umstand bei der
Suche nach neuen Therapieoptionen zunutze zu machen.
Schließlich wurde eine Reihe neuer Medikamente entwi­
ckelt wie Bitopertin, ein Glyzin-Wiederaufnahme-Hem­
mer, der die Aktivität des NMDA-Rezeptors beeinflusst.
Der erhoffte Effekt, insbesondere auf die Negativsympto­
matik, konnte bisher jedoch nicht erzielt werden (Hasan et
al. 2014). Trotz dieser empirischen Rückschläge erscheint
die Beschäftigung mit dem Glutamatsystem weiterhin aus­
sichtsreich (Goff 2014).
Außerdem wird seit Längerem die Beteiligung des
Transmitters Serotonin bei der Entstehung schizophrener
Symptome diskutiert. Für diese Annahme spricht zum ei­
nen, dass das Serotoninsystem an der Wirkung halluzino­
gener Drogen, wie LSD, beteiligt ist. Zum anderen inter­
agiert das Serotonin- mit dem Dopaminsystem, und viele
23
2.5 · Behandlung der Schizophrenie
Exkurs 2.2: »Medikamentencocktail«
Sofern hochpotente typische Präparate
(starke antipsychotische, aber gering
­sedierende Wirkung bei relativ hoher Rate
von extrapyramidalen Symptomen) verabreicht werden, ist die Beigabe von weiteren Pharmaka zur Sedierung (vor allem
niedrigpotente Neuroleptika und Benzodiazepine) sowie zur Reduktion extrapyramidal-motorischer Nebenwirkungen (vor
allem Anticholinergika) weitverbreitet.
Ein Problem anticholinerg wirksamer Anti-Parkinson-Mittel ist die potenziell nega-
der heutzutage eingesetzten Antipsychotika wirken auf
beide Systeme (Brandl et al. 2014).
Die Vorstellung, dass die Über- oder Unterfunktion ei­
nes einzelnen Systems die psychotische Kernsymptomatik
hervorruft, gilt als überholt. Stattdessen ist von komplexen
Wechselwirkungen unterschiedlicher Transmittersysteme
im Zusammenspiel mit äußeren Einflüssen wie Stress und
weiteren Umweltfaktoren auszugehen (7 Exkurs 2.2).
Wirksamkeit, Nebenwirkungen
und Medikamentenadhärenz
Im deutlichen Kontrast zu ihrer »gefühlten« starken Wirk­
samkeit belegen Übersichtsarbeiten insgesamt eine geringe
(Lepping et al. 2011) bis mäßige (Leucht et al. 2009a, 2013)
Verbesserung der Symptomatik durch Antipsychotika im
Vergleich zu Placebo, wobei Clozapin, Amisulprid, Olanza­
pin und Risperidon zu den wirksamsten Medikamenten
unter den 15 wichtigsten Antipsychotika zählen (für eine
Übersicht siehe Leucht et al. 2013). Je nach verwendetem
Kriterium sind bis zu 50 % aller Patienten therapieresistent
(Lambert u. Naber 2009, S. 46). Die meisten Experten
schätzen den Anteil auf ein Viertel bis ein Drittel. Thera­
pieresistenz manifestiert sich gelegentlich bereits bei der
Erstbehandlung, tritt jedoch häufiger im Laufe der weite­
ren Erkrankung auf. Risikofaktoren, die mit Therapieresis­
tenz in Verbindung gebracht wurden, sind eine lange
­Dauer der unbehandelten Psychose, wiederholte Rückfälle,
hirnstrukturelle Veränderungen, vorherrschende Nega­
tivsymptomatik, schwere komorbide psychische Erkran­
kungen, eine schlechte prämorbide Anpassung, Minder­
begabung sowie eine geringe initiale antipsychotische Re­
sponse (Lambert u. Naber 2009). Die Rückfallquote unter
Antipsychotika liegt bei 27 % und unter Placebo bei 64 %
nach einem Jahr (Leucht et al. 2012).
Anders als bei Antidepressiva oder Antidementiva, bei
denen eine heftige Diskussion über ihren generellen Nut­
zen bei Depression bzw. Demenz entbrannt ist, ist die Ef­
fektivität von Antipsychotika unbestritten trotz der mäßi­
gen Response-Rate bei einer Vielzahl der Betroffenen. Die
wenigsten Kritiker raten bei akuten, fremd- oder selbstge­
fährdenden Patienten ernsthaft zu einem vollkommenen
Medikationsverzicht, empfehlen jedoch eine möglichst
niedrige Dosis. Hierbei erhalten sie zunehmend auch von
namhaften Vertretern der biologischen Psychiatrie Unter­
tive Beeinflussung von Aufmerksamkeit
und Gedächtnis (Vinogradov et al. 2009),
wie sie auch beim Clozapin in hoher
­Dosierung und anderen cholinerg wirk­
samen Substanzen auftritt. Mono- statt
Polypharmazie ist anzustreben.
stützung. In einem aufsehenerregenden Interview mit der
New York Times wies Nancy C. Andreasen, u. a. ehemalige
Herausgeberin des renommierten American Journal of Psy­
chiatry, auf die Probleme von Antipsychotika hin und rät
zu einer möglichst niedrig dosierten Pharmakotherapie,
welche in Kombination mit der Behandlung von kogniti­
ven und sozialen Problemen erfolgen sollte (siehe auch Ho
et al. 2011).
Einer der wichtigsten Vorteile von Antipsychotika der
zweiten Generation ist die deutlich geringere Rate von
Spätdyskinesien und anderer extrapyramidaler Störungen.
Laut einer aktuellen Multiple-Treatments-Metaanalyse
von Leucht und Kollegen (2013) treten unter der Behand­
lung mit klassischen Substanzen bzw. Antipsychotika mit
höherer Affinität zum D2-Rezeptor wesentlich stärkere
extrapyramidal-motorische Nebenwirkungen als unter
Clozapin auf. Allerdings kann es unter der Gabe bestimm­
ter neuerer Präparate, vor allem Olanzapin, Zotepin und
Clozapin, zu schwerwiegenden metabolischen Verände­
rungen kommen, die u. a. zu starker Gewichtszunahme
(Leucht et al. 2013) und sogar Diabetes führen können.
Auch sexuelle Funktionsstörungen werden berichtet. Die­
se Nebenwirkungen führen zu einem oft ebenso starken
Leidensdruck wie die induzierten neurologischen Symp­
tome. Nebenwirkungen sind einer der Hauptgründe für
die unzureichende sog. Adhärenz der Patienten (früher oft
als Medikamentencompliance bezeichnet). Diese beträgt
auch nach Übersichtsarbeiten nur rund 50 % (Byerly et al.
2007). Einige Studien berichten sogar von einer Absetzrate
bis zu 75 % innerhalb von 18 Monaten, die unter neueren
Präparaten etwas geringer ist als unter den alten (Lieber­
man et al. 2005). Andere Ursachen für das Absetzen der
Medikamente gegen ärztlichen Rat oder die selbstständige
Änderung der Dosierung sind in der Störung selbst zu su­
chen. So nimmt eine Subgruppe von Patienten die Medi­
kation nach der Entlassung nicht weiter, weil sie sich für
gesund hält (mangelnde Krankheitseinsicht). Vergesslich­
keit ist bei ca. einem Drittel der Patienten laut Selbstaussa­
ge ein weiterer Einflussfaktor (Moritz et al. 2009a, 2013c).
In diesem Zusammenhang sind prospektive Gedächtnis­
störungen besonders relevant (das Erinnern, sich zu erin­
nern, z. B. Termine merken), die neben Problemen der
Neugedächtnisbildung (z. B. Wortlistenlernen) bei Men­
schen mit Schizophrenie wiederholt beschrieben wurden
2
24
2
Kapitel 2 · Schizophrenie
(z. B. Moritz et al. 2004). Solche Defizite sind vor allem bei
der großen Gruppe von Betroffenen zu beachten, die meh­
rere Psychopharmaka gleichzeitig einnehmen. Einige Pa­
tienten vergessen zudem das Rational der Verschreibung
und gehen fälschlicherweise davon aus, Antipsychotika
nur bei Bedarf einnehmen zu müssen oder die Dosis je
nach Stärke der Beschwerden eigenständig variieren zu
können. Auch »Krankheitsgewinn« spielt eine Rolle bei
einer Subgruppe von Patienten, bei denen Stimmenhören
z. B. eine soziale Funktion erfüllt oder die Wahnideen wie­
der herbeisehnen (Moritz et al. 2013c). Mangelnde Adhä­
renz ist jedoch kein spezifisches Problem psychiatrischer
Patienten im Allgemeinen und schizophrener Patienten im
Besonderen. Auch bei vielen somatischen und teilweise
lebensbedrohlichen Erkrankungen wie HIV ist die Absetz­
rate von Medikamenten hoch (WHO 2003).
Die Gabe von Depotneuroleptika, die mittlerweile
auch für die atypischen Antipsychotika verfügbar sind,
stellt gerade bei Vergesslichkeit und fluktuierender Adhä­
renz eine Alternative zur herkömmlichen Verabreichung
in Form von Tabletten dar. Depotneuroleptika, die von
einer großen Gruppe von Patienten gut akzeptiert werden
(Moritz et al. 2009a), werden jedoch weiterhin relativ sel­
ten appliziert (z. B. Heres et al. 2007).
Psychologische Wirkung von Antipsychotika
auf die schizophrene Symptomatik
Antipsychotika wirken entgegen früherer Auffassungen
meist innerhalb von wenigen Tagen (Agid et al. 2003) und
reduzieren zunächst Halluzinationen und im weiteren Ver­
lauf Wahnideen (Gunduz-Bruce et al. 2005). Durch die
Verminderung der Halluzinationen wird den Wahnideen
quasi der Boden entzogen (siehe hierzu auch die Ausfüh­
rungen zu Mahers Hypothese in 7 Abschn. 2.4.5). Aber
auch bei nicht schizophrenen Patienten ohne Halluzina­
tionen ist die Wirksamkeit belegt. Entsprechend werden
Antipsychotika zunehmend bei Patienten mit überwerti­
gen, fixen Ideen und gelegentlich wenig Krankheitsein­
sicht eingesetzt (z. B. bei einer Subgruppe von Patienten
mit einer Zwangsstörung), bei denen Halluzinationen eher
selten zu beobachten sind.
Während die biochemischen Eigenschaften von Anti­
psychotika weitgehend entschlüsselt sind, liegen die psy­
chologischen oder kognitiven Wirkmechanismen weiter­
hin im Dunkeln. Es mehren sich Hinweise, wonach die
Präparate Positivsymptome nicht etwa löschen, sondern
vor allem die Bewertung innerer und äußerer Vorgänge ver­
ändern. Patienten berichten von einer größeren Entrü­
ckung (»detachment«), Gefühlstaubheit und Gleichgültig­
keit unter Antipsychotika. Zentrale Aspekte des Wahns wie
der Grad der Überzeugung werden laut einer Studie von
Mizrahi und Kollegen (2006) dagegen kaum beeinflusst.
Die wahnhaften Ideen sind unter neuroleptischer Behand­
lung häufig weiter vorhanden, treten aber in den Hinter­
grund und dominieren nicht mehr das Verhalten und
­Erleben des Patienten. Laut Kapur (2003) liegt bei Schizo­
phrenie aufgrund des angenommenen Dopaminüber­
schusses eine abnorme Salienz vor, die bestimmten Objek­
ten der Wahrnehmung besondere Bedeutung verleiht. Do­
pamin ist seiner Ansicht nach »der Wind im ­Feuer der
Psychose«, der die Flammen anfacht, nicht aber verursacht.
In einer eigenen Untersuchung an schizophrenen
Stimmenhörern ließ sich eine signifikante negative Korre­
lation zwischen der Dosishöhe und der Lautstärke der
Stimmen nachweisen (Schneider et al. 2011). Dies stimmt
mit der Rückmeldung vieler Patienten überein, die Anti­
psychotika als kognitiv dämpfend beschreiben, was je nach
Patient positiv (vor allem Beruhigung des Denkchaos) bis
stark negativ (quälende Gefühlstaubheit) bewertet wird
(Moritz et al. 2009a, 2013a). Inwieweit Antipsychotika die
in 7 Kap. 3 beschriebenen charakteristischen Denkver­
zerrungen von schizophrenen Patienten wie voreiliges
Schlussfolgern günstig beeinflussen, ist bei der heutigen
schmalen Datenbasis nicht zu beantworten. Mehrere
­Studien fanden jedoch einen Zusammenhang zwischen
Urteilssicherheit und neuroleptischer Dosis: Patienten mit
höherer Medikamentendosis sind demnach in ihren Urtei­
len zweifelnder als Patienten mit niedriger Dosis (Andreou
et al. 2014), auch nach statistischer Kontrolle der Psycho­
pathologie (z. B. Moritz et al. 2003). Dies spiegelt auch das
subjektive Empfinden vieler Patienten wider (Moritz et al.
2013a).
Abschließend lässt sich feststellen, dass es derzeit keine
Alternative zu Antipsychotika bei der psychopharmakolo­
gischen Behandlung schizophrener Zustandsbilder gibt.
Angesichts des hohen Anteils von Patienten, welche die
Antipsychotika im Laufe der Behandlung absetzen, nicht
bzw. ungenügend auf die Präparate ansprechen (vor allem
persistierende Positivsymptomatik) sowie der kurz- und
langfristigen schweren Nebenwirkungen einiger Medika­
mente wird der Ruf nach komplementären psychologi­
schen Behandlungsstrategien, vor allem Verhaltensthera­
pie, zunehmend lauter. Verhaltenstherapeutische Maßnah­
men werden im klinischen Alltag jedoch weiterhin leider
selten eingesetzt (Bechdolf u. Klingberg 2014).
2.5.2
Verhaltenstherapie bei Schizophrenie
In den vergangenen Jahren wurden verstärkt verhaltens­
therapeutische Konzepte für die Schizophreniebehand­
lung entwickelt und evaluiert. Da viele Techniken der
kognitiven Verhaltenstherapie im MKT+ aufgegriffen
­
wurden (. Tab. 2.9), bitten wir um Verständnis, dass wir an
dieser Stelle nur kurz und relativ allgemein auf den verhal­
tenstherapeutischen Behandlungsansatz eingehen und den
25
2.5 · Behandlung der Schizophrenie
Leser auf die weiteren Kapitel (insbesondere 7 Abschn. 4.3
zu therapeutischen Strategien und 7 Kap. 5 zu den spezifi­
schen Anleitungen zum Einsatz der Therapieeinheiten)
verweisen möchten.
Erste verhaltenstherapeutische Behandlungsansätze
bei Schizophrenie reichen bis in die 1950er-Jahre zurück
und gehen u. a. auf den Psychiater Aaron T. Beck zurück,
einen der Begründer der kognitiven Verhaltenstherapie.
Die Inhalte der Verhaltenstherapie von Psychosen haben
sich im Laufe der Zeit erheblich gewandelt. Entwicklungen
und gesicherte neue Erkenntnisse wurden beständig in das
Repertoire aufgenommen. Standen in den 1970er-Jahren
noch Münzverstärkersysteme (Token Economy) im Vor­
dergrund, welche vor allem bei negativer und desorgani­
sierter Symptomatik zum Tragen kamen, wurde ab den
1980er-Jahren das Vulnerabilitäts-Stress-Modell fester
B estandteil der Therapieplanung. Die Befunde zum
­
­Expressed-Emotions-Konzept führten seit Ende der
1970er-Jahre dazu, Familie und Familienklima therapeu­
tisch stärker zu berücksichtigen. Auch kognitive und so­
zial-kognitive Befunde wurden integriert und in eigenen
Behandlungseinheiten aufgegriffen. Seit den 1990er-Jah­
ren liegt der Schwerpunkt auf kognitiven Ansätzen zur
Verminderung persistierender Positivsymptomatik. Viele
der neueren Bemühungen bei Psychose wurden maßgeb­
lich durch die Londoner Arbeitsgruppe um Philippa
­Garety und Elizabeth Kuipers vorangetrieben. Auch die
Arbeitsgruppe um Richard Bentall hat sich um die Verbrei­
tung dieses Ansatzes verdient gemacht. Während Verhal­
tenstherapie bei Schizophrenie mittlerweile in Groß­bri­tan­
nien in die verpflichtenden Behandlungsrichtlinien (NICE
Guidelines; National Institute for Health and Care Excel­
lence) aufgenommen wurde, vollzieht sich die Umsetzung
in der Bundesrepublik weiterhin eher schleppend. Promi­
nente Vertreter hierzulande sind die Arbeitsgruppen um
Andreas Bechdolf, Stefan Klingberg und Birgit Conradt,
Tania Lincoln sowie Roland Vauth und Rolf-Dieter Stieg­
litz. Nach wie vor sind allerdings fest implementierte ver­
haltenstherapeutische Behandlungsprogramme in Klini­
ken die Seltenheit. Historisch spielt in diesem Zusammen­
hang ein großer Psychotherapiepessimismus bei Schizo­
phrenie eine Rolle, der u. a. auf prägende Figuren und
Meinungsführer in der Psychiatrie wie Freud und Jaspers
zurückgeht. Während Freud die Schizophrenie, verein­
facht dargestellt, zwar für verstehbar, aber nicht psychothe­
rapierbar ansah, hielt Jaspers eines ihrer Leitsymptome,
den Wahn, für psychologisch unzugänglich (siehe auch
7 Abschn. 2.4). Eine noch in den 1980er-Jahren verbreitete
Annahme, wonach man die Wahnideen des Patienten
­weder bestärken noch kritisch hinterfragen sollte und ab­
wartete, bis die Medikamentenwirkung einsetzte, gilt mitt­
lerweile jedoch als obsolet (Lincoln 2014). Die Verhaltens­
therapie ist nunmehr in die Behandlungsrichtlinien der
Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie
und Nervenheilkunde (DGPPN; Gaebel et al. 2006) aufge­
nommen worden. Zudem wurde 2014 die PsychotherapieRichtlinie entsprechend angepasst. Psychotherapie ist nun
bei Schizophrenie, schizotypen sowie wahnhaften Störun­
gen uneingeschränkt indiziert (Gemeinsamer Bundesaus­
schuss 2014; Mehl u. Lincoln 2015).
Klingberg und Kollegen (2008) weisen zu Recht darauf
hin, dass unter der Bezeichnung »kognitive Verhaltensthe­
rapie für Psychosen« eine Vielzahl von Techniken subsu­
miert ist, wodurch eine konsensuelle Definition dieser
Behandlungsform erschwert wird. In . Tab. 2.9 werden
ohne Anspruch auf Vollständigkeit wichtige Techniken der
kognitiven Verhaltenstherapie für Psychosen aufgeführt
(siehe z. B. Vauth u. Stieglitz 2007; Lincoln 2014; Nelson
2010), die teilweise auch von anderen Therapieformen
übernommen wurden oder von diesen entlehnt sind.
Im Rahmen der Verhaltenstherapie werden mit den
Betroffenen alternative Interpretationen ihrer Empfindun­
gen entwickelt und bestehende Überzeugungen modifi­
ziert (kognitive Umstrukturierung). Neben der Erarbei­
tung eines Krankheitsmodells und der Ableitung eines
Veränderungsmodells werden auch psychoedukative Ele­
mente, Rollenspiele, Aktivitätenaufbau und Entspan­
nungstechniken in der Verhaltenstherapie für Psychose­
patienten aufgegriffen. Die verwendeten Techniken sind
vor allem der kognitiven Verhaltenstherapie von Depres­
sion und Angststörungen entliehen, wobei kognitive An­
sätze dominieren. Die Expositionsbehandlung, welche vor
allem bei Angststörungen höchst wirksam ist und das
Flaggschiff der Verhaltenstherapie darstellt, bedarf für Psy­
chosepatienten einer deutlichen Abwandlung und ist eher
als Realitätstestung zu bezeichnen. Die Realitätstestung
benötigt gründliche Vorbereitung, um wahnhafte Alterna­
tiverklärungen statt der erhofften korrigierenden Erfah­
rungen zu verhindern (Vauth u. Stieglitz 2007; Lincoln
2014). Fast alle Manuale und Behandlungsprogramme er­
wähnen in ihren Theorieabschnitten »voreiliges Schluss­
folgern«, »Theory of Mind« und andere Denkverzerrun­
gen. Diese werden aber anders als bei unserem Ansatz
selten direkt therapeutisch bearbeitet (siehe auch 7 Geleitwort zur 1. Auflage).
Eine Reihe von Metaanalysen bestätigt die Effizienz
von Verhaltenstherapie sowohl in direktem Vergleich mit
anderen therapeutischen Interventionen (Turner et al.
2014) als auch über die Wirksamkeit von Antipsychotika
hinaus (Burns et al. 2014; Sarin et al. 2011; Wykes et al.
2008) vor allem bei Patienten, die nicht oder nur ungenü­
gend auf diese ansprechen. Kuipers und Kollegen (2006)
berichten eine Gesamteffektstärke von d = .37 für persis­
tierende Symptomatik. In einer weiteren Metaanalyse wer­
den für die Positivsymptomatik Werte in derselben Höhe
berichtet (Wykes et al. 2008). Niedrigere Anspracheraten
2
26
Kapitel 2 · Schizophrenie
..Tab. 2.9 Wichtige Behandlungstechniken der kognitiven Verhaltenstherapie bei Psychosen. Einige dieser Techniken wurden von
anderen Therapieansätzen aufgegriffen oder aber diesen entliehen
2
Bausteine von Verhaltenstherapien bei Psychosen (in
alphabetischer Reihenfolge)
Verwendung/Berücksichtigung im MKT+
Abbau dysfunktionaler Copingstrategien (z. B. Gedan­ken­
unterdrückung) zugunsten funktionaler Strategien (z. B.
Achtsamkeitsübungen u. a. »detached mindfulness«,
Aufbau von stressreduzierenden Copingstrategien)
7 Therapieeinheit 4: Zuschreibungsstil
7 Therapieeinheit 9: Depression und Denken
7 Therapieeinheit 11: Umgang mit der Diagnose und Rückfallprophylaxe
(vor allem die Materialen zu Stressabbau)
Arbeit am Selbstwert (z. B. Herstellen von Zusammenhang Selbstwert und Psychose; Arbeit mit innerem
Kritiker und wohlwollendem Begleiter)
7 Therapieeinheit 9: Depression und Denken
7 Therapieeinheit 10: Selbstwert
Aufbau einer therapeutischen Beziehung
Vor allem 7 Therapieeinheit 1: Beziehungsaufbau und Anamnese
Entpathologisierung (»normalizing«)
Alle Therapieeinheiten
Erstellen eines individuellen Vulnerabilitäts-Stress-­
Modells unter Berücksichtigung von Anlagefaktoren,
Biografie, Ressourcen und Risikofaktoren, Ableitung von
möglichen aufrechterhaltenden Faktoren
7 Therapieeinheit 3: Erklärungsmodell
Erstellen einer Problemliste und Erarbeitung von
­Therapiezielen
7 Therapieeinheit 2: Einführung in das Metakognitive Therapieprogramm
Identifikation und Korrektur von Denkverzerrungen
sowie dysfunktionalen Überzeugungen
7 Therapieeinheiten 4–9 zu den Denkverzerrungen
Kognitive Umstrukturierung (Entwicklung alternativer
Bewertungen)
Alle Therapieeinheiten, insbesondere 7 Therapieeinheit 9: Depression
und Denken
Psychoedukation (u. a. Vermittlung des VulnerabilitätsStress-Modells)
Alle Therapieeinheiten, insbesondere 7 Therapieeinheit 3: Erklärungs­
modell und 7 Therapieeinheit 11: Umgang mit der Diagnose und Rückfallprophylaxe
Reduktion von Vermeidung und Sicherheitsverhalten
7 Therapieeinheit 5: Schlussfolgern
7 Therapieeinheit 11: Umgang mit der Diagnose und Rückfallprophylaxe
Rollenspiel
7 Therapieeinheit 5: Schlussfolgern
7 Therapieeinheit 7: Einfühlen
Rückfallprophylaxe und -management
(z. B. Erarbeiten von Frühwarnsymptomen, Erstellung
eines Notfallplans)
7 Therapieeinheit 11: Umgang mit der Diagnose und Rückfallprophylaxe
(z. B. mittels Einsatz der »gelben Karte«)
Selbstbeobachtungsübungen (Selbstbeobachtungs­
protokolle)
Alle Therapieeinheiten; insbesondere 7 Therapieeinheit 5: Schlussfolgern
Sokratische Gesprächsführung
Alle Therapieeinheiten
Stressreduktion und -bewältigung (Auswirkungen von
Stress auf Symptome, Stimmung und Verhalten sowie
Vermittlung von Entspannungsstrategien)
7 Therapieeinheit 11: Umgang mit der Diagnose und Rückfallprophylaxe
Training sozialer Fertigkeiten
7 Therapieeinheit 7: Einfühlen
Umgang mit/Interventionen bei depressiver Symptomatik (z. B. Einführung eines Teufelskreismodells; Aufbau
positiver Aktivitäten)
7 Therapieeinheit 9: Depression und Denken
Umgang mit/Interventionen bei Halluzinationen (z. B.
Re-Attribution von Stimmen)
7 Therapieeinheit 4: Zuschreibungsstil
Umgang mit/Interventionen bei Wahnideen (z. B. Hinterfragen der Gedanken mit Pro- und Kontra-Listen)
7 Therapieeinheit 5: Schlussfolgern
7 Therapieeinheit 6: Korrigierbarkeit
Verhaltensexperimente (vor allem Realitätstestung)
7 Therapieeinheit 5: Schlussfolgern
7 Therapieeinheit 6: Korrigierbarkeit
27
2.5 · Behandlung der Schizophrenie
berichten Mehl et al. (2015) in einer neueren Metaanalyse,
die schwache bis mittlere Effekte fand.
Eine große Studie (Garety et al. 2008) an 301 Patienten
mit kürzlich erfolgtem Rückfall, die entweder einer kogni­
tiven Verhaltenstherapie, Familientherapie (nach Kuipers)
oder Standardbehandlung (»treatment as usual«) zugewie­
sen wurden, ergab dagegen enttäuschende Ergebnisse. We­
der kognitive Verhaltenstherapie noch Familientherapie
waren in den Zielparametern wirksamer als die Standard­
behandlung. Selbst kurzfristig war keine Überlegenheit
nachweisbar. Die Autoren schränken aufgrund ihrer Er­
gebnisse die Kernindikation von kognitiver Verhaltensthe­
rapie auf Patienten ein, die medikamentenresistente Posi­
tivsymptome aufweisen. Wenngleich diese große Studie
früher berichtete positive Effekte nicht völlig egalisieren
und aufzehren wird, findet derzeit ein Umdenken statt1.
Überlegungen, wie die Wirksamkeit von kognitiver Ver­
haltenstherapie verbessert werden kann, sind in vollem
Gange. Das MKT+ stellt einen in diese Richtung weisen­
den Ansatz dar.
2.5.3
Verhaltenstherapie und Antipsycho­
tika als komplementäre Ansätze
Antipsychotika und Verhaltenstherapie sind keineswegs
»Rivalen«, sondern stellen komplementäre Behandlungs­
strategien dar. Während die neuroleptische Behandlung
dem Betroffenen einen gewissen Abstand zu seinen Ideen
verschafft, beabsichtigt die Verhaltenstherapie die kogni­
tive Umstrukturierung maladaptiver Bewertungen und
die Vermittlung von Copingstrategien. Angesichts der an­
gesprochenen Abbruchrate für Antipsychotika von etwa
50 % im Verlauf der Behandlung (Hutton et al. 2012), ist
ein wichtiges Ziel von Psychotherapie, die Einsicht der
­Patienten in die eigene Erkrankung und Behandlungsbe­
dürftigkeit zu erhöhen, was sekundär auch die Adhärenz
bzw. Medikamentencompliance stärken kann. Umgekehrt
fruchten psychotherapeutische Maßnahmen oft erst,
wenn die psychomotorische Erregung abgenommen hat.
Im Akutstadium kann dies meist durch die Gabe von Psy­
chopharmaka erreicht werden. Eine weitere Schwierigkeit
bei der Behandlung mit Antipsychotika ist die oft man­
gelnde Wirksamkeit auf Negativsymptomatik (Hanson et
al. 2010) und emotionale Probleme. Psychotherapeutische
1 Die Arbeitsgruppe um McKenna äußert sich recht kritisch und
pessimistisch über die kognitive Verhaltenstherapie bei Psychosen. Eine Metaanalyse von Lynch und Kollegen (2010) wurde von
Kingdon (2010) aufgrund methodischer Mängel in s­ einer Erwiderung zu Recht zurückgewiesen (»Lynching-Party«). Allerdings
­räumen auch Befürworter ein, dass die Wirksamkeit der kognitiven
Verhaltenstherapie bei Psychosen geringer ist als z. B. bei Angststörungen.
Ansätze wie das MKT+ können daher gute Ergänzungen
darstellen, da neben den klassischen Denkverzerrungen,
die mit der Entstehung und Aufrechterhaltung von Wahn­
symptomen in Verbindung gebracht werden, auch emo­
tionale Probleme wie Depression sowie niedriger Selbst­
wert behandelt werden.
2.5.4
Andere therapeutische Ansätze
Neben verhaltenstherapeutischen Bemühungen gibt es
zahlreiche alternative Ansätze, die auf verwandten, teilwei­
se jedoch auch vollkommen anderen ätiologischen Model­
len fußen. Das Spektrum in seiner vollen Breite darzustel­
len, übersteigt den Anspruch dieses Behandlungsmanuals.
Wir können daher an dieser Stelle nur kurz auf einige an­
dere Behandlungsmethoden eingehen mit der Bitte, die
Knappheit der Darstellung nicht als Maß der wahren Rele­
vanz und Verbreitung zu betrachten.
In Deutschland sind kognitive Remediationsprogram­
me, z. B. CogPack® (Marker 2003) oder auch mybraintrai­
ning® (erste Wirksamkeitsstudie bei Moritz et al. 2015),
verbreitet. Einige dieser Programmpakete sind seit den
1980er-Jahren im Einsatz. Das CogPack® ist ein Compu­
tertraining, mit dessen Hilfe kognitive Funktionen wie lo­
gisches Denkvermögen, Gedächtnis, Aufmerksamkeit und
Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit verbessert
werden sollen. Es besteht aus 64 Test- und Übungspro­
grammen, die insgesamt 334 Aufgabenvarianten umfas­
sen. Die Übungsserien, z. B. die sog. Olbrich-Serie, können
an das aktuelle Leistungsniveau des Teilnehmers angepasst
werden. Die Teilnehmer erhalten Rückmeldung über ihren
jeweiligen Leistungsstand und erzielte Trainingsfortschrit­
te, was sekundär zu einer Verbesserung der Selbstwirksam­
keit und der häufig subjektiv empfundenen kognitiven
Beeinträchtigungen beitragen kann. Bender und Ditt­
mann-Balzar (2008) kommen in ihrer Übersicht zur Wirk­
samkeit zu dem Schluss, dass im Vergleich zu anderen
Therapien »der Erfolg eines Trainings kognitiver Defizite
noch deutlich weniger empirisch belegt ist« (S. 597). Die
Behandlungsleitlinien der DGPPN (Gaebel et al. 2006)
rechnen kognitive Rehabilitationsprogramme (noch) nicht
zu den evidenzbasierten Therapiemethoden.
Eines der ältesten und in Deutschland am weitesten
verbreiteten psychologischen Interventionsprogramme ist
das Integrierte Psychologische Therapieprogramm bei schi­
zophren Erkrankten (IPT; Roder et al. 2006). Das Training
ist manualisiert und besteht aus 5 Unterprogrammen, die
sequenziell durchlaufen werden. Diese trainieren die
­Bereiche Neurokognition (Unterprogramm 1 und 2) und
soziale Interaktion (Unterprogramm 3–5). Das gesamte
Programm erstreckt sich über einen Behandlungszeitraum
von etwa 3 Monaten. Für das IPT gibt es zahlreiche Effek­
2
28
2
Kapitel 2 · Schizophrenie
tivitätsnachweise. Eine Metaanalyse von Roder und Kolle­
gen (2006), welche 30 publizierte Studien mit insgesamt
1.393 Patienten berücksichtigte, ergab eine Überlegenheit
des IPT gegenüber Kontrollgruppen in allen Parametern,
vor allem aber bezüglich neuropsychologischer Funktions­
bereiche. Bezüglich des psychosozialen Funktionsniveaus
erreichte das IPT kleinere Effekte. Mit der Integrativen
Neurokognitiven Therapie (INT) geht die Arbeitsgruppe
um Volker Roder und Daniel Müller neue Wege, indem der
IPT-Ansatz u. a. mit einem kognitiven Training auf Basis
des CogPack® kombiniert wird (Roder u. Müller 2013).
Familientherapeutische Ansätze haben sich in den al­
lermeisten Studien als effektiv erwiesen. Angehörigenund Familienprogramme gehören in der einen oder ande­
ren Form zum Standardrepertoire in der Behandlung von
Patienten mit Schizophrenie. Die Einbeziehung von Ange­
hörigen ist zentral, um das Verständnis für den psychisch
Kranken und dessen Symptome im persönlichen Umfeld
zu vergrößern und rückfallbegünstigende emotionale
Spannungen innerhalb der Familie zu vermindern (vor al­
lem »high expressed emotions«). Dieser Ansatz verspricht
außerdem, die Medikamentenadhärenz zu erhöhen und
Rückfällen vorzubeugen, indem die Wahrnehmung für
Prodromalsymptome (Veränderungen, die einem Rückfall
typischerweise vorausgehen) geschärft wird (Errichtung
eines »Frühwarnsystems«). Die präventive Wirkung auf
erneute Rückfälle, Senkung der Wiederaufnahmewahr­
scheinlichkeit und Steigerung der Medikamentenadhärenz
konnte in einer Metaanalyse (Pilling et al. 2002) bestätigt
werden. Für diese Studie wurden Familieninterventionen
berücksichtigt, die Psychoedukation, Training von Pro­
blemlösefähigkeiten, Krisenmanagement und/oder Part­
nertherapie vorsahen und wenigstens 6 Wochen dauerten.
Schließlich bieten die meisten psychiatrischen Kliniken
Psychoedukation an, welche sich nach der Metaanalyse von
Lincoln und Mitarbeitern (2007) bei aktiver Beteiligung der
Familie als wirksam für die Reduktion der Symptomatik
sowie die Vorbeugung von Rückfällen erwiesen hat. Primä­
res Ziel dieser Maßnahme ist die Aufklärung und Informa­
tionsvermittlung für Patienten und Angehörige bezüglich
des Störungsbildes (z. B. Symptome, Verlauf, Ursachen),
Behandlungsmöglichkeiten und Rückfallprophylaxe (u. a.
Identifikation von Frühwarnsymptomen). Zudem spielen
die Förderung der Behandlungsbereitschaft, Stärkung von
Problemlösestrategien und die Ermittlung von Ressourcen
sowie Stressbewältigung eine wichtige Rolle. Eine deutsche
Studie zeigt, dass die günstigen Auswirkungen von psycho­
edukativer Behandlung auch 7 Jahre später nachweisbar
bleiben (Bäuml et al. 2007).
Obgleich Studien belegen, dass Angebote, die Angehö­
rige einbeziehen, wie Familientherapie oder Psychoeduka­
tion besonders effektiv sind, legt eine eigene Befragung
von 80 Menschen mit Psychosen, die aus dem gesamten
Bundesgebiet rekrutiert wurden, nahe, dass solche Ange­
bote nur selten durchgeführt werden (Moritz et al. 2016a).
2.6
Metakognitive Therapie
als neue Behandlungsmethode
2.6.1
Metakognitives Training für schizo­
phrene Patienten (MKT): »Making-of«
Gemeinsam mit Kollegen aus Vancouver forscht unsere
Arbeitsgruppe seit 2001 aktiv zu kognitiven Entstehungs­
mechanismen schizophrener Symptome wie Wahn, Hallu­
zinationen und formalen Denkstörungen. Aus dieser Ar­
beit sind zahlreiche Veröffentlichungen zu voreiligem
Schlussfolgern, Unkorrigierbarkeit und Gedächtnispro­
blemen sowie überhöhter Urteilssicherheit für Fehlerinne­
rungen hervorgegangen. Der Hauptbeweggrund für die
Entwicklung dieses Programms war der Wunsch, das
­damals schon recht fundierte Wissen über die am Wahn
beteiligten kognitiven Faktoren in einem Therapieansatz
zu bündeln, welcher ohne viel Vorbereitung und techni­
schen Aufwand auskommt, um die nur schleppende Ver­
breitung psychologischer Behandlungsansätze bei Schizo­
phrenie voranzubringen. Mit der Sammlung von Therapie­
material wurde etwa 2003/2004 begonnen.
Im Jahr 2005 veröffentlichten wir das Metakognitive
Training für schizophrene Patienten (MKT). Das Grup­
pentraining steht im Internet kostenlos in vielen Sprachen
(Stand November 2016: 33 Sprachen) zur Verfügung:
www.uke.de/mkt. In acht Trainingseinheiten (Modulen)
werden Patienten mit Schizophrenie typische Denkverzer­
rungen und einseitige Problemlösestile (7 Kap. 3) spiele­
risch vor Augen geführt (Moritz et al. 2005). Zudem gibt es
zwei Z
­ usatzmodule, die sich verstärkt mit dem Thema
Selbstwert sowie dem Umgang mit Vorurteilen/Stigmati­
sierung aufgrund der Erkrankung beschäftigen. Diese
­Inhalte wurden ergänzt, weil sowohl die klinische Praxis
als auch die Forschung zeigten, dass der therapeutische
Bedarf der Patienten an dieser Stelle sehr groß ist (Brohan
et al. 2010; Moritz et al. 2016a). Das MKT wurde zunächst
als Gruppentraining konzipiert, welches möglichst zwei­
mal wöchentlich stattfinden sollte.
Die Module des Gruppenansatzes werden über PDFkonvertierte Powerpoint-Folien präsentiert. Die allerers­
ten Übungen waren fast 1:1 dem Stimulusmaterial unserer
Grundlagenforschungsstudien entliehen und zielten nach
kurzer Einleitung darauf ab, den Patienten die Fehlbarkeit
ihrer Bewertungen und Urteile zu demonstrieren, um mit­
telbar Zweifel zu säen und über »Aha-Erlebnisse« starre
Wahnideen und Überzeugungen von der Existenz von
Stimmen zu erschüttern. Über die Jahre wurde das Trai­
ning weiter verfeinert und um viele Übungen ergänzt. Das
29
2.6 · Metakognitive Therapie als neue Behandlungsmethode
Rational des Trainings, die Reduktion psychotischer Sym­
ptome durch »Begradigung« zugrunde liegender Denkver­
zerrungen, wurde den Patienten zunächst nicht explizit
mitgeteilt, da wir befürchteten, dass diese gekränkt reagie­
ren oder intellektuell überfordert sein könnten, wenn sie
mit Erkenntnissen der Grundlagenforschung konfrontiert
werden und ein allzu expliziter Bogen zur Symptomatik
geschlagen wird.
Die Akzeptanz des Trainings durch die Patienten war
von Beginn an sehr gut (7 Abschn. 2.6.3), wobei die Rück­
meldungen und Änderungsvorschläge der Teilnehmer zu
laufenden Revisionen geführt haben. So wurden Übungen,
die sich als langatmig oder unbeliebt herausgestellt haben,
entfernt. Uns fiel jedoch im Laufe der Zeit auf, dass einige
Patienten das Training als reinen Denksport betrachteten
und den Bezug zur Psychose allgemein und ihren persön­
lichen Symptomen im Besonderen nicht herzustellen ver­
mochten. Auch die Frage, was das Ganze denn soll, wurde
gelegentlich laut und seit 2006 dann auf einer eigenen Folie
pro Modul ­aufgegriffen und beantwortet. Entgegen unse­
rer initialen Befürchtung machten wir durchweg positive
Erfahrungen damit, den Patienten das Rational des Trai­
nings transparent zu machen und mit Fallbeispielen die
möglichen ­Konsequenzen von Denkverzerrungen auf psy­
chotische Symptome zu vermitteln. Hierdurch wird oft
eine leb­hafte Diskussion in der Gruppe angestoßen, bei der
die Teilnehmer eigene Erfahrungen austauschen. Da Pa­
tienten mit Schizophrenie in etwa 50 % der Fälle starke
Gedächtnisprobleme aufweisen, die vor allem das Neuler­
nen und weniger das Behalten bereits gelernten Materials
betreffen (Moritz et al. 2001b), erarbeiteten wir Merkblät­
ter mit Hausaufgaben, die die Nachhaltigkeit des Trainings
stärken sollten. Inspiriert durch die Fußballweltmeister­
schaft im eigenen Lande haben wir 2006 laminierte gelbe
und rote Karten im Training ausgegeben, die in den spezi­
fischen Anleitungen zur 7 Therapieeinheit 2 (Einführung
in das Metakognitive Therapieprogramm) in 7 Abschn. 5.1
vorgestellt werden und die Umsetzung der Lernziele im
Alltag befördern sollen. Das MKT+ ist aus diesem Grup­
penansatz hervorgegangen.
2.6.2
Wieso MKT+?
Das Gruppentraining hat sich bewährt, und es gibt eine
Reihe – auch unabhängiger – Belege für die Effektivität des
Trainings (7 Abschn. 2.6.3). Gleichzeitig reicht das Grup­
pentraining unseres Erachtens bei einigen Patienten nicht
aus, erzielte Änderungen langfristig zu verankern und ei­
nem erneuten Rückfall prophylaktisch entgegenzuwirken.
Gerade bei hoch psychotischen Patienten ist das Gruppen­
training nicht indiziert (Moritz et al. 2016b, Kommentar zu
der Metaanalyse von van Oosterhout et al. 2015). Zudem
setzt ein Gruppentraining aus Gründen von Zeit und Pri­
vatsphäre der Behandlung individueller Themen enge
Grenzen. Patienten mit Schizophrenie unterscheiden sich
außerdem sehr bezüglich ihrer Störungseinsicht, Wahnin­
halte und ihrem Grad der Überzeugtheit von ihren Ideen.
Es ist daher schwer möglich, in der Gruppe direkt über
individuelle Wahnthemen zu sprechen. Öffnen sich Pa­
tienten bezüglich ihrer Wahnideen, verhalten sich manche
Mitpatienten »unsolidarisch« und verständnislos. Nieder­
gelassene Kollegen baten uns außerdem, eine Variante für
die Einzeltherapie zu erstellen, da sich die Gruppenfolien
hierfür nicht optimal eignen. Den endgültigen Startschuss
für die Erarbeitung einer individualisierten Variante liefer­
te eine eher zufällige Begebenheit. Einer unserer Patienten
brach das Gruppentraining mit der Begründung ab, die
behandelten Themen seien für ihn nicht relevant. Er würde
nicht voreilig schlussfolgern und hätte keine der bespro­
chenen Denkverzerrungen. Ein Gespräch mit seiner Mut­
ter sowie die Verhaltensbeobachtung während der Grup­
pensitzungen zeichneten dagegen ein deutlich anderes
Bild: Der Patient wies viele Denkverzerrungen auf, war
sich dieser aber aufgrund mangelnder Introspektions­
fähigkeit (Metakognition) ungenügend bewusst. Hier h
­ ätte
eine angepasste, individuelle Therapie möglicherweise hel­
fen können. Weitere Erfahrungen zeigten, dass gerade
auch affektive oder Selbstwertprobleme besser im Einzel­
setting besprochen werden können, da diese häufig zu pri­
vat sind, um sie in der Gruppe zu thematisieren. Im MKT+
wurde der Bedarf der Patienten nach Bearbeitung affekti­
ver und Selbstwertthematiken aufgegriffen und in zwei
Trainingseinheiten umgesetzt (7 Therapieeinheit 9 »Depression und Denken« und 7 Therapieeinheit 10 »Selbstwert«).
Die im Gruppentraining thematisierten Denkverzer­
rungen bilden die theoretische Basis des MKT+. Das
MKT+ ist jedoch autonom (7 Abschn. 4.4.2, in dem eine
mögliche Kombination von Einzel- und Gruppen-MKT
besprochen wird). Die Therapie setzt bei kognitiven Ver­
zerrungen an (metakognitiver Teil) und schlägt dann die
Brücke zu psychotischen Symptomen. Im Gegensatz zum
Gruppentraining werden im MKT+ die erarbeiteten Er­
kenntnisse mithilfe bewährter verhaltenstherapeutischer
Techniken auf persönliche Probleme und Symptome über­
tragen und angewendet. Die Therapie wird durch eine
Anamnese eingeleitet, und auch die Erarbeitung eines in­
dividuellen Erklärungsmodells und einer Rückfallprophy­
laxe sind wesentliche Bestandteile des MKT+.
2.6.3
Bisherige Befunde
Eine Reihe von Studien hat die Akzeptanz und Wirksam­
keit des Metakognitiven Trainings untersucht. Die meisten
2
30
2
Kapitel 2 · Schizophrenie
dieser Untersuchungen evaluierten das Metakognitive
Gruppentraining (MKT) in der im Internet bereitgestellten
Fassung. Einzelne andere Arbeiten untersuchten entweder
eine verkürzte Version oder eine Kombination aus MKT
mit anderen Ansätzen. In den letzten Jahren wurden zu­
nehmend auch individualisierte Ansätze des MKT auf ihre
Wirksamkeit hin überprüft. Insbesondere das Individuali­
sierte Metakognitive Therapieprogramm (MKT+) oder
angepasste Gruppen-MKT-Module, welche auf die Be­
dürfnisse einzelner Patienten zugeschnitten wurden, wa­
ren Untersuchungsgegenstand.
Im Folgenden werden die uns bekannten Studien zu­
nächst in Hinblick auf die Akzeptanz des MKT und seine
Wirksamkeit auf Positivsymptome und kognitive Verzer­
rungen narrativ zusammengefasst. Am Ende jeden Ab­
schnitts folgen die Ergebnisse metaanalytischer Übersich­
ten (Eichner u. Berna 2016; van Oosterhout et al. 2015).
Sicherheit und Akzeptanz
Nachdem am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
eine Machbarkeitsstudie (Moritz u. Woodward 2007) viel­
versprechende Ergebnisse erbrachte, belegten weitere Stu­
dien die Sicherheit und Akzeptanz des MKT. Die bisheri­
gen Studien demonstrieren einhellig, dass das MKT von
den Patienten gut angenommen wird (Aghotor et al. 2010;
Balzan et al. 2014; Briki et al. 2014; Buonocore et al. 2015;
Erawati et al. 2014; Favrod et al. 2011, 2014; Ferwerda et al.
2010; Lam et al. 2014; Moritz et al. 2011a, 2011b, 2013b; So
et al. 2015; Ussorio et al. 2015). Die Teilnehmer berichte­
ten, das MKT habe ihnen Spaß bereitet, und ca. drei von
vier Teilnehmern würden es anderen Betroffenen weiter­
empfehlen. Obwohl Spaß am Programm sowie der subjek­
tive Nutzen selbstverständlich allenfalls sekundäre Ziel­
parameter darstellen, halten wir sie dennoch für essenziel­
le Voraussetzungen für eine erfolgreiche und nachhaltige
Behandlung der Zielsymptomatik. Menschen mit Psycho­
se weisen häufig Antriebsminderung und Affektverfla­
chung auf, die Risikofaktoren für eine geringe Adhärenz
und Änderungsmotivation darstellen.
In einer Metaanalyse von Eichner und Berna (2016), in
der 16 Studien berücksichtigt wurden, fand sich eine hohe
Effektstärke gegenüber einer Kontrollintervention bezüg­
lich der Akzeptanz seitens der Patienten (Hedges g = 0.84).
Hedges g-Werte können analog den Werten von Cohens d
interpretiert werden: 0.2 = schwacher Effekt, 0.5 = mittle­
rer Effekt, 0.8 = starker Effekt.
Wahnvorstellungen und Positivsymptome
Die meisten Studien konnten eine Symptomverbesserung
auf den Dimensionen Positivsymptomatik und Wahn
durch unsere metakognitiven Interventionen belegen. Le­
diglich eine Studie bildet eine Ausnahme (van Oosterhout
et al. 2014), auf die unten näher eingegangen wird. Das
beobachtete Ausmaß der Veränderung von Positivsympto­
men gegenüber Kontrollgruppen reicht von kleinen
(Aghotor et al. 2010) und mittleren (Briki et al. 2014;
­Favrod et al. 2014; Gawęda et al. 2015; Kumar et al. 2010;
Kuokkanen et al. 2014; Moritz et al. 2011b, 2013b), bis zu
großen Effektstärken (Balzan et al. 2014; Erawati et al.
2014; So et al. 2015). Faktoren, die zu den verschiedenen
Effektstärken beigetragen haben, betreffen unseres Erach­
tens vor allem Unterschiede in der Wahl der Zielparameter
(z. B. subjektive vs. objektive Erfassung von Wahn) sowie
des gewählten Designs (Wartekontrollgruppe vs. aktive
Kontrollgruppe).
Die Auswirkung auf die Schwere des Wahns oder ande­
re Dimensionen des Wahns (Moritz et al. 2011a), die mit der
Wahnskala der Psychotic Symptom Rating Scales (PSYRATS;
Haddock et al. 1999) und/oder Items der PANSS (Kay et al.
1989) erfasst werden, zeigt häufig höhere Effekte gegenüber
der Erfassung des gesamten Positivsyndroms. Während
­einige Studien eine Verbesserung sowohl auf der PANSS
wie auch der PSYRATS zeigen (u. a. Favrod et al. 2014; Fer­
werda et al. 2010; So et al. 2015), lässt sich in anderen eine
höhere Sensitivität der PSYRATS im Vergleich zur PANSS
finden (Moritz et al. 2011a; Moritz et al. 2013b). Aber auch
umgekehrte Ergebnismuster wurden einzeln berichtet
­(Briki et al. 2014; Moritz et al. 2011b). Diese Diskrepanzen
könnten partiell auf gewichtige Unterschiede zwischen den
beiden Skalen zurückgeführt werden. Die PSYRATS ist
feinkörniger und unterscheidet verschiedene Aspekte von
Wahn und Halluzinationen (wie Überzeugung und Belas­
tung), die in den PANSS-Items P1 (Wahnvorstellungen)
und P3 (Halluzinationen) zusammen­gefasst werden. Aller­
dings ist zu berücksichtigen, dass Patienten teilweise zu
Beginn einer Studie aufgrund mangelnder Krankheitsein­
sicht oder Misstrauen Symptome unterberichten. Dies
kann dazu führen, dass das Ausmaß der Symptomreduk­
tion nicht ausreichend/weniger stark abgebildet wird. Die
PSYRATS ist wahrscheinlich anfälliger für derartige Effek­
te als die PANSS, da das Rating der PSYRATS in höherem
Maß von Selbsteinschätzungen des Patienten determiniert
ist. Aus den genannten Gründen werden weitere kontrol­
lierte Studien mit einheitlichen Zielparametern benötigt,
um Effekte und Wirkungsgrad des MKT auf Positivsym­
ptome abschließend zu beurteilen.
Die meisten Studien befassen sich vor allem mit der
kurzfristigen Wirksamkeit des MKT: Veränderungen der
Symptome und kognitive Verzerrungen wurden lediglich
unmittelbar nach Beendigung der Intervention abgebildet.
Zwei Studien (Favrod et al. 2014; Moritz et al. 2013b) legen
darüber hinaus die langfristige Wirksamkeit des MKT
nahe (bis zu 6 Monaten nach der Intervention). Moritz und
Kollegen (2014b) konnten zudem sog. »Schläfereffekte«
3 Jahre nach der Intervention feststellen: Verglichen mit
der aktiven Kontrollgruppe zeigten die MKT-Teilnehmer
31
2.6 · Metakognitive Therapie als neue Behandlungsmethode
eine signifikante Verbesserung im PANSS-Gesamtscore
sowie bezüglich der Lebensqualität und des Selbstwertge­
fühls; zum Messzeitpunkt 6 Monate nach der Intervention
lagen in diesen Parametern noch keine derartigen Unter­
schiede zwischen den Gruppen vor.
Positive Auswirkungen auf die Symptome konnten
ebenfalls mit abgeänderten oder verkürzten Versionen des
MKT (Ross et al. 2011) wie dem Maudsley Review Training
Programme bzw. Reasoning Training (Waller et al. 2011)
festgestellt werden. Hierbei handelt es sich um ein compu­
tergestütztes Trainingsprogramm mit fünf Aufgaben,
­welche voreiliges Schlussfolgern und problemlösendes
Denken (»reasoning«) zum Inhalt haben. Zwei der fünf
Aufgaben orientieren sich an Modul 2 (voreiliges Schluss­
folgern) des MKT (eine Aufgabenstellung wurde direkt aus
dem MKT-Modul übernommen; eine andere aus der Stu­
die von Ross et al. (2011) wurde später in das MKT einge­
arbeitet). Eine portugiesische Studie (Rocha u. Queirós
2013), die das MKT mit Aspekten zu sozialer Kognition
und Interaktionstraining kombinierte (SCIT; Combs et al.
2007), fand einige allgemeine Verbesserungen, jedoch kei­
ne Verbesserung der Positivsymptomatik.
Eine Studie von Ussorio und Kollegen (2015) unter­
suchte die Wirksamkeit des MKT auf Positivsymptome in
zwei Gruppen von Patienten mit Schizophrenie, die sich in
Bezug auf die Dauer der unbehandelten Psychose unter­
schieden. Es wurde kein signifikanter Unterschied zwi­
schen Patienten mit einer kurzen Dauer der unbehandel­
ten Psychose (<12 Monate) und einer längeren Dauer
(>12 Monate) festgestellt. In beiden Gruppen fanden sich
Verbesserungen in Höhe einer großen Effektstärke in
­Bezug auf die allgemeine Psychopathologie und die Posi­
tivsymptome. Die Befunde weisen darauf hin, dass die
Wirksamkeit des MKT von der Dauer der unbehandelten
Psychose nicht beeinflusst wird.
Wie bereits erwähnt, zeigte eine niederländische Studie
(van Oosterhout et al. 2014) keine Vorteile des MKT ge­
genüber einer Kontrollbehandlung bezüglich der Zielpara­
meter. Die Verbesserungen in der MKT-Gruppe, insbeson­
dere für Wahn gemessen mit der PSYRATS (3,5 vs.
1,6 Punkte) und den Green et al. Paranoid Thought Scales
(GPTS; 16,9 vs. 14,7 Punkte), waren kleiner als in der Pi­
lotstudie derselben Arbeitsgruppe (Ferwerda et al. 2010).
Die Studie basiert zudem auf einer großen Teilstichprobe,
die an einer frühen Version des MKT teilnahm. Spätere
Ver­sionen legen ein größeres Augenmerk auf das »Säen
von Zweifel« und ermutigen die Teilnehmer, ihre Entschei­
dung zu überdenken, wenn Beweise schwach und/oder die
Folgen schwerwiegend sind. Eine mögliche Einschrän­
kung dieser Studie ist, dass eine Selbstbeurteilungsskala als
­primärer Outcome-Parameter fungierte. Aufgrund von
Symptomen wie Misstrauen und mangelnder Krankheits­
einsicht verschweigen Patienten häufig Symptome vor
oder zu Beginn der Therapie. Da diese konfundierenden
Variablen im Laufe der Zeit abnehmen, kann der paradoxe
Effekt auftreten, dass Symptome im Verlauf verschlechtert
scheinen, obwohl sich diese in Wahrheit verbessert haben.
Noch wichtiger ist aus unserer Sicht, dass in diese Studie
nur Patienten mit mittlerem oder hohem Wahnerleben
eingeschlossen wurden. Obwohl dies für ein Training zur
Verbesserung von Wahnvorstellungen auf den ersten Blick
folgerichtig erscheint, sind homogene Gruppen hoch
wahnhafter Patienten aus klinischer Sicht und nach unse­
rer Erfahrung problematisch, da sich die Patienten oft
leicht ablenken lassen oder durch unangemessene Kom­
mentare die Gruppe stören. Daher empfiehlt das Manual,
dass Patienten das Gruppentraining beginnen, sobald sie
einen ausreichend stabilen Zustand erreicht haben.
Die bereits genannte Metaanalyse von Eichner und
Berna (2016) findet für die 16 berücksichtigten Studien
signifikante schwache bis mittlere Effekte zugunsten des
MKT in Bezug auf die Positivsymptomatik (Hedges  g  =  0.34)
sowie Wahn (Hedges g = 0.41) im Vergleich mit einer
­Kontrollgruppe, wobei der Effekt im Einzelsetting er­
wartungsgetreu größer ausfällt. Eine weitere Metaana­lyse
von van Oosterhout und Kollegen (2015) ist von uns aus­
führlich in Psychological Medicine diskutiert worden (Mo­
ritz et al. 2016b). Diese Metaanalyse schloss eine Reihe von
Studien mit positiven Ergebnissen für das MKT aus, da
nach Angabe der Autoren bestimmte Werte in den Origi­
nalarbeiten nicht zu finden waren. Einer Empfehlung der
sog. PRISMA-Richtlinien, nach denen Autoren einer
­Metaanalyse Studienleiter kontaktieren sollten, um fehlen­
de Werte zu ermitteln, wurde nicht Folge geleistet bzw. die
übermittelten Werte nicht übertragen. Dennoch findet die
Metaanalyse mindestens schwache Effekte für die Positiv­
symptomatik und den Wahn. Der interessierte Leser sei auf
die Metaanalyse von van Oosterhout und Kollegen (2015)
bzw. unseren eingeladenen Kommentar verwiesen, um
sich ein eigenes Bild zu machen.
Kognitive Verzerrungen
Verschiedene Studien untersuchten die Auswirkungen des
MKT auf kognitive Verzerrungen, insbesondere auf das
voreilige Schlussfolgern. Einige (Aghotor et al. 2010; Bal­
zan et al. 2014; Ferwerda et al. 2010; Moritz et al. 2011a,
2011b; Ross et al. 2011; So et al. 2015; Waller et al. 2011),
aber nicht alle Studien (Gawęda et al. 2014; Kuokkanen et
al. 2014; Moritz et al. 2013b) konnten für MKT oder MKTVarianten eine Verbesserung der Informationserfassung
oder des voreiligen Schlussfolgerns nachweisen. Hier
konnten zumindest schwache bis moderate Effektstärken
erreicht werden. Eine neuere Studie (Köther et al. 2016)
zeigt, dass die übermäßige Sicherheit bei Fehlern 6 Mona­
te nach der Behandlung in größerem Umfang durch das
MKT gegenüber einer aktiven Kontrollgruppe abnahm.
2
32
2
Kapitel 2 · Schizophrenie
Belege aus drei Untersuchungen weisen vorläufig darauf
hin, dass ein individuelles Training im Vergleich zu einem
Gruppentraining effektiver auf die Korrektur dieser, eher
tief verwurzelten Verzerrungen, wirken kann (Balzan et al.
2014; Moritz et al. 2011b; Ross et al. 2011). Positive Aus­
wirkungen des MKT wurden auch für eine weitere kogni­
tive Verzerrung, die illusionäre Kontrolle, festgestellt (Bal­
zan et al. 2014). Weitere Arbeiten sind jedoch erforderlich,
um zu untersuchen, ob und in welchem Maß das MKT
auch einen Effekt auf andere Verzerrungen als das voreilige
Schlussfolgern hat.
Einsicht in kognitive Fehler (»cognitive insight«) oder
Metakognition wurden mit verschiedenen Fragebögen,
z. B. der Beck Cognitive Insight Scale (BCIS; Beck et al.
2004) erfasst. Verbesserungen wurden in einigen (Erawati
et al. 2014; Ferwerda et al. 2010; Gawęda et al. 2014; Lam
et al. 2014), aber nicht allen Studien verzeichnet (van Oos­
terhout et al. 2014). Eine Studie fand eine größere Verbes­
serung bezüglich der klinischen, nicht aber der kognitiven
Einsicht (»insight«) (Balzan et al. 2014). Eine indonesische
Studie (Erawati et al. 2014) hat mithilfe des Metacognitive
Abilities Questionnaire (MAQ) sehr große Effekte zuguns­
ten des MKT erzielt, wobei hier zu beachten ist, dass in
dieser Studie kein randomisiertes kontrolliertes Design
angewendet wurde.
Die bereits angesprochene Metaanalyse von van Oos­
terhout und Kollegen (2015) ermittelte einen schwachen
bis mittleren Effekt zugunsten des MKT für kognitive Ver­
zerrungen (Hedges g = 0.31), der aufgrund der geringen
Teststärke infolge weniger berücksichtigter Studien nicht
signifikant war.
Einige der eben erwähnten Instrumente finden sich im
7 Anhang dieses Manuals. Sie eignen sich zum einen für die
klinische Einschätzung des Patienten und können einen
Bezugspunkt für die Therapie und Therapieevaluation bil­
den (z. B. der Fische-Test zur Messung des voreiligen
Schlussfolgerns, Moritz et al. 2010; angelehnt an den Ku­
geltest [»beads task«] von Garety et al. 1991). PSYRATS
(Haddock et al. 1999), Cognitive Bias Questionnaire (CBQp;
Hammen u. Krantz 1976; Krantz u. Hammen 1979), Insight
Scale (IS; Birchwood et al. 1994) sowie die Rosenberg SelfEsteem Scale (RSES; Rosenberg 1965) stellen zum anderen
aber auch eine wichtige diagnostische Ergänzung zu etab­
lierten Skalen wie der PANSS oder der Brief Psychiatric
Rating Scale (BPRS; Overall u. Gorham 1962) dar. Sie
erheben qualitative Aspekte wie Wahnüberzeugung
­
­(PSYRATS), subjektive Krankheitseinsicht (IS), Selbstwert
(RSES) und metakognitives Reflexionsvermögen (CBQp),
die in reinen Symptomskalen unberücksichtigt bleiben
oder miteinander vermengt werden (so verrechnet die
PANSS z. B. Aspekte wie Wahnüberzeugung, Beeinträch­
tigung und Anzahl der Wahnideen zu einem einzigen
Wert).
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