Europawahlrecht und die Drei-Prozent

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Michael Kaeding & Morten Pieper
Europawahlrecht und die
Drei-Prozent-Hürde:
Nationale Orthodoxie oder europäischer Pragmatismus?
19. Februar 2014
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Europawahlrecht und die Drei-Prozent-Hürde:
Nationale Orthodoxie oder europäischer Pragmatismus?
Von Michael Kaeding1 und Morten Pieper 2
In dem am 26. Februar 2014 zu erwartenden Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Rechtmäßigkeit der Drei-Prozent-Sperrklausel für Parteien geht es um viel: vor allem aber um politische Macht. Mit Spannung erwarten zum einen die Kläger das Urteil zum Europawahlrecht, da es
ganz unmittelbar ihre Erfolgschancen beeinflussen wird, im 8. Europäischen Parlament vertreten zu sein. Bei ihnen geht es um alles oder nichts. Auf der anderen Seite besteht für die großen
etablierten deutschen Parteien die reale Gefahr, dass sie numerisch und machtpolitisch ge-
schwächt werden. Dabei geht es auch um die Stärke der deutschen Position im Europaparla-
ment. Sollte der Anteil der deutschen Abgeordneten innerhalb der großen europäischen Fraktionen durch den Wegfall der Drei-Prozent-Sperrklausel schrumpfen, würde sich der Einfluss
deutscher Interessen auf die europäische Gesetzgebung wesentlich verringern. 3 Bei der Euro-
pawahl 2009 blieben sieben Parteien und sonstige politische Vereinigungen aufgrund der Hürde
unberücksichtigt, bzw. hatten rund elf Prozent der gültig abgegebenen Stimmen keinen Erfolgswert.
Bei der mündlichen Anhörung im Dezember des letzten Jahres konnte man keine klare Tendenz
des höchsten deutschen Gerichts erkennen. Allerdings sprach sich die überwiegende Zahl der
Sachverständigen für die Erhaltung der Sperrklauselregelung aus. Es ist aber davon auszugehen,
dass das Bundesverfassungsgericht die Drei-Prozent-Klausel für verfassungswidrig erklärt, da
die im November 2011 vorgetragenen Argumente gegen die Fünf-Prozent-Klausel aus Sicht des
Gerichts weiterhin gelten dürften: Das Europaparlament wähle keine Regierung, die auf seine
Unterstützung angewiesen sei und die EU-Gesetzgebung sei nicht von einer gleichbleibenden
Mehrheit im Parlament abhängig. Zudem sei nicht zu erkennen, dass die Arbeit des Parlaments
durch den Einzug weiterer Kleinparteien unverhältnismäßig erschwert werde.
1 Dr.
Michael Kaeding ist Jean Monnet Professor für Europäische Integration und Europapolitik am Institut für Politikwissenschaft der Universität Duisburg-Essen. Er forscht schwerpunktmäßig zu europäischen Institutionen, der
Umsetzung europäischer Gesetzgebung in den Mitgliedsstaaten und der Europäisierung nationaler politischer Systeme.
2
Morten Pieper ist wissenschaftliche Hilfskraft am Lehrstuhl für Europäische Integration und Europapolitik und
studiert im Master Politikmanagement, Public Policy und öffentliche Verwaltung an der NRW School of Governance,
Universität Duisburg-Essen.
3 Kaeding, M. (2012) Drei-Prozent-Sperrklausel bei der Europawahl: Viel Lärm um Nichts? Die wahre Debatte geht um
ein einheitliches europäisches Wahlrecht, erschienen am 12.6.2012 unter
http://regierungsforschung.de/dx/public/article.html?id=201 (Seite 2-3)
2
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Wir rufen zu mehr Pragmatismus in der europäischen Wahlrechtsfrage auf
Wir rufen allerdings zu mehr Pragmatismus in der europäischen Wahlrechtsfrage auf. Denn
kippt die Drei-Prozent-Hürde, stünde Deutschland europaweit fast alleine da. Zudem sichern die
Hürden in den anderen Mitgliedsstaaten die Arbeitsfähigkeit und diesmal erstmals auch die Fä-
higkeit zur Regierungsbildung des Europäischen Parlaments. Sollte der größte Mitgliedsstaat in
diesem Kontext tatsächlich ausscheren und sich selbst und Europa schwächen?
In 26 Mitgliedsstaaten gibt es erhebliche Zugangsbeschränkungen zum Europaparlament
Schaut man sich jenseits der juristischen Details die Fakten an, stößt man auf einige Überra-
schungen:
Erstens gibt es in fast allen Mitgliedsstaaten faktisch erhebliche Zugangsbeschränkungen zum
Europäischen Parlament. EU-Mitgliedsstaaten sehen entweder eine Fünf-Prozent-Klausel
(Tschechische Republik, Frankreich, Ungarn, Litauen, Polen, Rumänien und Slowakei, Lettland
und Kroatien), eine Vier-Prozent-Hürde (Slowenien, Schweden, Italien und Österreich) oder eine
Drei-Prozent-Sperre (Griechenland und Deutschland) vor (siehe Tabelle 1). Formal gesehen
besteht damit also in einer Mehrheit der Mitgliedsstaaten (16 von 28) eine gesetzliche Hürde.
Tabelle 1: Gesetzliche Zugangsbeschränkungen in den 28 Mitgliedsstaaten zum Europaparlament
Keine gesetzliche Hürde
3%-Hürde
4%-Hürde
5%-Hürde
5,88%-Hürde (leicht variabel)
Belgien, Dänemark, Estland, Finnland, Großbritan-
nien, Irland, Luxemburg, Malta, Niederlande, Portugal, Spanien, Zypern
Deutschland, Griechenland
Italien, Österreich, Schweden, Slowenien
Frankreich*, Kroatien, Lettland, Litauen, Polen,
Rumänien, Slowakei, Tschechien, Ungarn
Bulgarien
Quelle: eigene Zusammenstellung
* bezogen auf die acht Wahlkreise
Selbst mit einer gesetzlichen Drei-Prozent-Hürde hätte Deutschland die drittniedrigste
Zugangsbeschränkung in der gesamten Europäischen Union
Zweitens befindet sich unter den 12 Mitgliedsstaaten ohne gesetzliche Hürde eine große Anzahl
der kleineren und kleinsten Mitgliedsstaaten. Da diese nur wenige Abgeordnete nach Brüssel
und Straßburg entsenden, ist es Parteien mit nur wenigen Prozent Zustimmung unmöglich, ein
Mandat zu erringen. Nationale Wahlkreiseinteilungen, das System der Sitzvergabe und die
Wahlbeteiligung bestimmen hier letzten Endes die Zahl der entsandten politischen Parteien. 4
4 Kaeding, M. (2012) Drei-Prozent-Sperrklausel bei der Europawahl: Viel Lärm um Nichts? Die wahre Debatte geht um
ein einheitliches europäisches Wahlrecht, erschienen am 12.6.2012 unter
http://regierungsforschung.de/dx/public/article.html?id=201 (Seite 4-5).
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Zur Verdeutlichung ein Beispiel: Dänemark entsendet 13 Abgeordnete ins Europäische Parla-
ment, hat hierfür aber keine gesetzliche Hürde formuliert. Um eines der 13 Mandate zu erringen,
müsste eine Partei jedoch rein rechnerisch bereits knapp acht Prozent der Stimmen erreichen.
Somit besteht in Dänemark zwar keine gesetzliche, aber eine (erhebliche) „natürliche“ Hürde. In
anderen Ländern ohne gesetzliche Zugangsbeschränkung wie Estland, Luxemburg, Malte oder
Zypern werden rechnerisch sogar knapp 17 Prozent der Stimmen benötigt, um ein Mandat zu
gewinnen. Ein gewichtiger Einwand wäre, dass in einem der größten Mitgliedsstaaten, dem Ver-
einigten Königreich, keine Zugangsbeschränkung existiert. Doch dies ist ebenfalls nur bedingt
richtig. Denn das britische Wahlgebiet ist in insgesamt 12 Wahlkreise aufgeteilt, deren größter
zehn Abgeordnete nach Brüssel und Straßburg entsendet. Rein rechnerisch braucht eine Partei
daher selbst im größten Wahlkreis zehn Prozent für ein einziges Mandat. Damit ist die Tendenz
eindeutig: Selbst mit einer gesetzlichen Drei-Prozent-Hürde hätte Deutschland mindestens die
drittniedrigste Zugangsbeschränkung in der gesamten EU.
Demnach wäre es ratsam, sich aus der orthodoxen Rechtsinterpretationen zu befreien und auch
den Blick auf die politischen Realitäten in Europa einzubeziehen. Denn niemand möchte wohl
anderen EU-Mitgliedsstaaten vorwerfen, gegen die Gleichheit der Wahl und die Chancengleichheit der Parteien zu verstoßen und somit Grundsätze der Demokratie zu missachten.
Die Anzahl der Splitterparteien im Europaparlament sind gering
Drittens ist es zudem grundlegend falsch anzunehmen, dass sich unter den 161 Parteien eine
erhebliche Anzahl an Splitterparteien befände und somit die große Integrationskraft der Fraktionen im Europäischen Parlament auch für derartige Parteien bewiesen sei. Die überwältigende
Mehrzahl der von den Mitgliedsstaaten entsandten Parteien sind in ihrer Heimat – genau wie
Union, SPD, Linke, Grüne und FDP – die zentralen Akteure im politischen System. Es gibt nur
wenige Parteien (22 von 161), die ausschließlich im Europäischen Parlament vertreten sind (z.B.
die rumänische Greater Romania Party, die British National Party, die schwedische Piratpartiet,
oder das bulgarische National Movement for Stability and Progress). Hingegen werden deutlich
mehr Parteien (47), die in den nationalen Parlamenten vertreten sind, aufgrund ihrer Größe
durch die nationalen Zugangsbeschränkungen von Straßburg und Brüssel ferngehalten. De facto
ist somit der Zugang zum Europäischen Parlament sogar in 26 von 28 Mitgliedsstaaten erheblich
beschränkt. Dadurch wird aber auch in 26 der 28 Mitgliedsstaaten tatsächlich eine Zersplitte-
rung verhindert, da den Einzug in den allermeisten Staaten nur die wichtigsten nationalen Parteien schaffen (siehe Tabelle 2).
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Tabelle 2: Anzahl der nationalen Parteien im Europaparlament und nationalen Parlamenten
Anzahl Parteien im Europäischen
Parlament
(EP) in2009
Mitgliedsstaat
Belgien
Bulgarien
Dänemark
Deutschland
Estland
Finnland
Frankreich
Griechenland
Irland
Italien
Lettland
Litauen
Luxemburg
Malta
Niederlande
Österreich
Polen
Portugal
Rumänien
Schweden
Slowakei
Slowenien
Spanien
Tschechien
Ungarn
Vereinigtes Königreich
Zypern
Gesamt
EP
12
6
6
6
5
6
8
6
5
6
6
6
4
2
8
5
4
5
6
8
6
5
6
4
5
11
4
161
Anzahl Parteien in
Parteien, Parteien,
Nationalen Parlamen- die in EP die in NP
ten (NP)
aber nicht aber nicht
NP saßen EP saßen
NP
12
6
9
6
4
9
8
5
7
9
5
11
6
2
10
5
6
5
6
8
6
9
10
5
6
11
6
192
Wahljahr NP
2010
2009
2007
2009
2011
2011
2007
2009
2007
2008
2010
2008
2009
2008
2010
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2009
2008
2010
2010
2008
2008
2010
2010
2010
2011
Zahl
1
1
1
0
1
0
3
1
2
0
1
0
0
0
0
1
0
0
2
1
2
1
0
1
1
2
0
22
Zahl
1
1
4
0
0
3
1
0
3
3
1
5
2
0
1
1
2
0
2
1
2
5
1
2
2
2
2
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Quelle: Eigene Zusammenstellung
Warum sollte daher ausgerechnet das Land mit dem größten Sitzkontingent eine Ausnahme
machen und eine ganze Reihe von Kleinstparteien entsenden? Dies ist nicht nur unplausibel,
sondern hat auch einen wichtigen politischen Aspekt: Will man im Europäischen Parlament etwas erreichen und die Interessen seiner Wähler zur Geltung bringen, gelingt dies nur als Mit-
glied einer Fraktion. Ob die vielen deutschen Kleinstparteien problemlos in die bestehenden
Fraktionen integrierbar sind und somit überhaupt den Wählerwillen vertreten können, ist reine
Spekulation und nicht Aufgabe der Verfassungsgerichtbarkeit. Schließlich wird sich so mancher
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Wähler fragen, ob die penibelste Einhaltung der Gleichheit der Wahl wirklich wichtiger ist, als
dass seine Stimme auch eine tatsächliche Wirkung im Parlament entfacht.
Deutschen Interessen und somit den Interessen der Wähler steht eine orthodoxe Rechtsinterpretation entgegen
Zweifelsfrei wäre ein einheitliches europäisches Wahlrecht die eleganteste Lösung mit der
höchsten demokratischen Qualität. Da wir ein solches bei dieser Wahl nicht haben werden, müssen wir eine pragmatische Lösung für unser deutsches Europawahlrecht finden. Hierbei gilt es
über den nationalen Tellerrand hinaus zu schauen. Tatsächlich sieht fast keiner der anderen 27
Mitgliedsstaaten in einer Zugangsbeschränkung eine reale Gefahr für die Wahlgleichheit. Schon
gar nicht bei einer derartig niedrig angelegten wie der von Drei-Prozent. Deutschen Interessen
und somit den Interessen der Wähler jedenfalls steht eine orthodoxe Rechtsinterpretation entgegen.
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