Spielen!

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Brainmonster Studios
Lernen
Trainieren
Spielen!
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Das große Fachbuch
zur 2weistein Spieleserie
Hintergrund und Konzept
einer neuartigen ADHS- und
Dyskalkulie-Lernsoftware
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Dr. med. Adam Alfred • Dipl. Psych. Stefanie Eiden • Dr. phil. Markus Fellner • Irmgard Wilfurth
Lernen Trainieren Spielen
Das große Fachbuch zur 2weistein Spieleserie
Hintergrund und Konzept einer
neuartigen ADHS-und
Dyskalkulie-Lernsoftware
2
Impressum:
Herausgeber:
Brainmonster Studios GmbH
Balanstraße 57
81541 München
Tel: +49 (0)89 / 30 90 876 - 0
Fax: +49 (0)89 / 30 90 876 - 29
Autoren:
Dr. med. Adam Alfred
Dipl. Psych. Stefanie Eiden
Dr. phil. Markus Fellner
Irmgard Wilfurth
Gestaltung: die multimedia schmiede, München
Oktober 2008
3
Inhalt des Fachbuches
1. Einleitung
2. Die theoretischen Hintergründe des Lernens
2.1 Lernen – was ist das eigentlich?
2.1.1
Wie lernt unser Gehirn? – Die biologischen Grundlagen des Lernens
2.1.2
Wie ist unser Gehirn aufgebaut?
2.1.3
Die Anatomie des Gehirns (für Unerschrockene)
2.1.4
Was passiert in unserem Gehirn beim Lernen?
2.1.5
Wovon hängt der Lernerfolg ab?
2.1.6
Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für das Lernen und Lehren?
2.3 Die psychologischen Aspekte des Lernens
2.4 Was bedeuten all diese Erkenntnisse für ein Lernspiel?
2.5 Ein Überblick über die klassischen Lerntheorien
2.5.1
Klassische Konditionierung
2.5.2
Operante Konditionierung
2.5.3
Integrative Ansätze
2.5.4
Soziales Lernen
2.5.5
Gestaltpsychologie
2.6 Lernen und Gedächtnis
2.7 Lernen und Spielen: Zur entwicklungspsychologischen Bedeutung
des Spiels
2.7.1
Die zentralen psychologischen Kriterien des Spiels
2.7.2
Entwicklungsphasen des Spiels
2.7.3
Spielen und die Entwicklung des Selbst – die tiefenpsychologische
Perspektive
2.8 Lernen von Rechenfertigkeiten
2.8.1
Die Entwicklung des Zahlbegriffs und mathematischer Basisfertigkeiten
2.8.2
Dyskalkulie – Rechenschwäche als besondere Herausforderung des Lernens mathematischer Basisfähigkeiten
3. Lernen und Schule
4
3.1 Wie sieht Lernen heute aus?
3.2 Schule und Computer
3.2.1
Zur Klassifikation von Lernsoftware
3.2.1
Der PC im Klassenzimmer
4. Lernen mit AD/HS
4.1 AD/HS – was ist das?
4.2 AD/HS-Kinder im Unterricht
4.2.1
ADS: Die „Träumerchen“ – welche Stärken bzw. Schwierigkeiten zeigen
sich im Schulalltag?
4.2.2
AD/HS-Kinder und ihre Schulleistungen
4.3 AD/HS und das Lernen am Computer
4.4 AD/HS-Kinder und Lernsoftware im Unterricht
4.5 Therapeutische Ansätze im Rahmen von 2weistein
5. Kriterien eines guten Lernspiels
5.1 Spielekategorien und offizielle Spielebewertung
5.2 Was kennzeichnet ein gutes Computer-Lernspiel?
5.3 Spezielle pädagogische Kriterien
6. Computerspiele und Medienpädagogik
6.1 Entwicklungspsychologische Aspekte von Computer-Lernspielen
6.2 Computerspiele in der gesellschaftlichen Diskussion
6.3 Zur Darstellung von Gewalt in Computerspielen
6.4 Computer und Sucht
6.5 Medienkompetenz – ein Schlüsselbegriff der Medienpädagogik
5
7. Das pädagogisch-psychologische Konzept von 2weistein
7.1 Mathematik in der Schule – Lerninhalte, Lernprozesse und
Lernziele
7.2 Bereiche und Merkmale mathematischer Basisfähigkeiten bei
2weistein
7.2.1
Kognitive Voraussetzungen mathematischen Denkens
7.2.2
Bausteine des mathematischen Denkens
7.2.3
Analytische Sicherheit im mathematischen Denken
7.2.4
Struktursicherheit im mathematischen Denken
7.3 Pädagogisch-psychologische Ziele – Möglichkeiten und Grenzen des
Spiels
7.4 Inhaltlich-didaktischer Leitfaden
7.5 Verschränkung von Spielwelten und inhaltlich-didaktischem Aufbau
7.6 Anwendung des Spiels
7.6.1
Anwendung in der Schule
7.6.2
Anwendung zu Hause
7.6.3
Übungen zwischen Spielsitzungen
8. AD/HS-Kriterien und Umsetzung im Spiel, pädagogisch-psychologische
Ziele
8.4 Kognition
8.5 Emotion/Motivation
8.6 Handlungsplanung/Handlungsumsetzung
8.7 Wissensaufbau
9. Auswertungsfeatures: Dyskalkulie, Konzentration, Aufmerksamkeit, Impulsivität, Rechenfertigkeit
10.Tipps für Eltern und Experten
10.1 Lernen mit AD/HS
6
10.2 Tipps für Eltern zum Lernen mit rechenschwachen Kindern
11.Spielaufbau
11.1 Übersicht
11.2 Beschreibung der Story
11.3 Inhalte des Spiels
11.4 Die Matheaufgaben und AD/HS-Trainingsfeatures
12.Evaluation
12.1 Evaluation der Charaktere
12.2 Evaluation der Spielwelten
13.Das Lernen in der Zukunft
13.1 Die schulische und berufliche Landschaft zu Beginn des
21. Jahrhunderts
13.2 Das E-Learning: die Weiterbildung für alle
13.3 Vor welchen Herausforderungen für das Lernen stehen wir?
Literaturverzeichnis
7
Diese Leseprobe enthält ausgewählte Kapitelauszüge aus dem Fachbuch:
Lernen Trainieren Spielen. Die Beiträge wurden von Experten aus den Gebieten
Pädiatrie, Psychologie und Pädagogik verfasst und geben ein fundiertes Wissen
zu den Themen AD(HS), ADS und Dyskalkulie in Praxis und Alltag wider.
Das in diesem Kontext entwickelte Computerspiel 2weistein wird unter ausführlicher Schilderung seiner Ziele und Besonderheiten erläutert.
Die komplette Ausgabe des Fachbuches Lernen- Spielen Trainieren liegt der Therapeutenversion 2weistein bei oder ist unter www.brainmonster.de im Direktbezug erhältlich.
Wir wünschen Ihnen eine interessante Lesezeit!
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Leseprobe ausgewählter Artikel
1. Einleitung
Kinder wollen lernen! Ihre natürliche Neugier macht sie zu kleinen Forschern.
Nur wenn es um die Schulaufgaben geht, scheint ihr Wissensdurst oft viel zu
schnell gestillt. Mit der modernen Software 2weistein können sie gleichzeitig spielen und lernen. Zum ersten Mal kombiniert ein Abenteuer-Lernspiel den Spaß eines Computerspiels mit dem Nutzen einer Lernsoftware – und zwar auf höchstem
technischem Niveau. 2weistein ist ein „richtiges“ Computerspiel: Es ist interaktiv,
dreidimensional und spannend. Die Kinder können es sowohl allein als auch mit
anderen Kindern oder mit ihren Eltern gemeinsam spielen.
Lernerfolge und gute Schulbildung sind die wichtigsten Voraussetzungen für den
Start in das Berufsleben. Wer keinen guten Abschluss hat, bleibt auf dem Arbeitsmarkt meist chancenlos. Doch der hohe Leistungsdruck führt bei vielen Kindern
zu Schwierigkeiten im Unterricht oder bei den Hausaufgaben. Ängste begleiten
Mädchen und Jungen oft jahrelang.
Erkenntnisse darüber, wie Kinder erfolgreich lernen, gewinnen daher immer
mehr an Bedeutung. Herauszufinden, warum Lernen für viele Kinder so schwierig
ist, zählt dabei zu den größten Herausforderungen. Entsprechende Erkenntnisse
wiederum sind besonders nützlich für die Entwicklung neuer hochwirksamer
Lernmethoden.
9
Das Konzept von 2weistein wurde auf der Basis pädagogisch-psychologischer Forschung sowie praktischer Erfahrungen entwickelt. Besonders
berücksichtigt wurden die Lernschwierigkeiten jener Kinder, die an einer
sogenannten Rechenschwäche oder an Konzentrationsstörungen leiden
und deren Probleme mit der medizinischen Diagnose einer Aufmerksamkeits-/Hyperaktivitätsstörung (AD/HS) beschrieben werden können. Diese
Kinder benötigen eine auf mehreren Stufen ruhende Behandlung. 2weistein
ist im Sinne eines multimodalen Behandlungsansatzes als eine Säule unter
mehreren hervorragend einsetzbar, denn neben der intensiven Arbeit mit
dem Kind in Therapie oder Schule, der Elternarbeit, der medikamentösen
Behandlung, lässt sich diese spezielle Lernsoftware als weiterer Baustein in
der Arbeit mit dem Kind einsetzen.
2weistein nützt nicht nur Kindern mit diesen speziellen Problemen, sondern
allen Schülern, denn pädagogische Forschung und praktische Erfahrung zeigen,
dass grundsätzlich alle Kinder von den neuen Lernmethoden profitieren, die speziell für Kinder mit Konzentrationsschwierigkeiten bzw. AD/HS entwickelt worden sind.
Es stellt sich allerdings die Frage, ob ein Computerlernspiel wirklich sinnvoll ist
in einem Alltag, der oftmals durch moderne Medien bestimmt wird: Kinder sitzen
oft zu lange allein vor dem Computer oder dem Fernseher. Sie spielen zu wenig
mit Freunden und vernachlässigen die unendlichen Möglichkeiten, die ihnen ihre
Sinne, ihr Denken und ihr Fühlen schenken können.
Bei der Entwicklung eines Computer-Lernspiels sollte deshalb darauf geachtet
werden, dass über das Spielen am PC auch soziale Interaktionen vermittelbar sind
und dass ein verantwortungsvoller Umgang mit Medien erlernt wird. 2weistein ist
hierbei nicht nur ein „Nachhilfeprogramm“, sondern auch das Ergebnis einer intensiven Auseinandersetzung mit den Notwendigkeiten und Chancen, aber auch
den Gefahren beim Umgang von Kindern mit den neuen Medien.
In dem hier vorliegenden Begleitbuch werden die Hintergründe und Zielsetzungen
von 2weistein vorgestellt. Zunächst soll ein Einblick in die Welt der Wissenschaften vom Lernen gegeben werden. Es wird erklärt, wie unser Gehirn beim Lernen
funktioniert und was Psychologen heute über die Fähigkeit des Lernens wissen.
Über eine Einführung in die wichtigsten Begriffe und Modelle der Lernpsychologie
10
hinaus wollen wir uns dabei mit der Frage beschäftigen, inwiefern die lernpsychologischen Konzepte sowohl für das Lernen im Alltag als auch für ein ComputerLernspiel nützlich sind. Weiterhin wird erläutert, welch grundlegende Bedeutung
dem Spielen in der Entwicklung von Kindern zukommt. Wir geben einen Überblick über die wesentlichen psychologischen Merkmale des Spielens, kategorisieren verschiedene Formen des Spielens und erörtern, was sie für die Entwicklung
eines Kindes bedeuten.
Aus Sicht der Entwicklungspsychologie werden hier auch tiefenpsychologische
Aspekte des Spielens berücksichtigt und wie weit sie in das Spiel 2weistein eingeflossen sind. Aus einer entwicklungspsychologischen Perspektive wird nachvollzogen, wie die Vorstellung von Zahlen und der rechnerische Umgang mit ihnen
entstehen und welche Schwierigkeiten dabei auftreten können. Anschließend gehen wir der Frage nach, wie sich das Lernen in der Schule bis heute entwickelt hat
und welche Bedeutung der Lernsoftware dabei mittlerweile zukommt.
Wie bereits erwähnt, führen die fachlichen Hintergründe von 2weistein in den Bereich der Aufmerksamkeits- und Konzentrationsschwierigkeiten sowie der damit
verbundenen therapeutischen Praxis. Im vorliegenden Buch wird deshalb eine Zusammenfassung der derzeitigen medizinisch-psychologischen Modelle, diagnostischen Möglichkeiten und therapeutischen Ansätze in Bezug auf AD/HS gegeben.
Darüber hinaus beantworten wir die Frage, inwieweit eine moderne Lernsoftware
hier helfen kann. Daran anschließend wird dargestellt, woran man ein gutes Lernspiel erkennt.
Neben pädagogischen und psychologischen Fragestellungen zum Lernen mittels
eines „Abenteuer-Computer-Lernspiels“ gehen wir auch den gesellschaftlich relevanten Aspekten von Computerspielen nach. Dazu werden neue Erkenntnisse
aus der sogenannten Medienpädagogik berücksichtigt. Im Mittelpunkt stehen dabei einerseits mögliche Gefahren von Computerspielen wie Suchtverhalten und
Darstellung von gewalttätigen Inhalten und andererseits der Erwerb sogenannter „Medienkompetenz“, d. h. der Fähigkeit zu einem selbstbestimmten, kritischen
und entwicklungsförderlichen Umgang mit Medien.
Schließlich stellen wir das Konzept von 2weistein und die wichtigsten Entwicklungsschritte vor. Das heißt, es werden der Spielaufbau, das Gamedesign, die
mathematischen Inhalte, die pädagogisch-psychologischen Ziele und die Anwendungsmöglichkeiten von 2weistein beschrieben. Wir erläutern, wie weit die
Erkenntnisse aus der AD/HS-Forschung in der Spielkonzeption umgesetzt wurden
und welche psychologischen Funktionen im Spiel gemessen werden können. Tipps
für Eltern und Lehrer zum Lernen mit AD/HS-betroffenen oder rechenschwachen
Kindern vervollständigen die Erläuterungen zum Thema AD/HS. Ein abschließen-
11
der Ausblick darauf, wie wir in Zukunft lernen, verdeutlicht uns die immensen
Veränderungen unserer Lerngewohnheiten.
2.8 Lernen von Rechenfertigkeiten
Bisher haben wir die neurobiologischen und psychologischen Hintergründe von
2weistein dargestellt. Nun erklären wir die theoretischen Hintergründe des Erlernens von Rechenfertigkeiten. Es geht um die Entwicklung des Zahlbegriffs, der
mathematischen Basisfertigkeiten und um das Phänomen der Rechenschwäche.
Letzteres verdeutlicht ganz besonders, worauf es beim Lernen von Mathematik
generell ankommt.
2.8.1 Die Entwicklung des Zahlbegriffs und mathematischer
Basisfertigkeiten
Das Erlernen des Rechnens geht einher mit dem Erwerb eines Zahlbegriffs und
der Entwicklung mathematischer Basisfertigkeiten. Diese sind grundlegend an
die Vorstellung von Mengen gebunden. Studien belegen, dass bereits Säuglinge
über die Fähigkeit verfügen, kleinere Mengen zu unterscheiden. Mit sechs Monaten können Kinder schon Reihenfolgen von wenigen Aktionen erkennen. Mit 18
Monaten zählen sie drei bis vier Objekte und ab zwei Jahren dann ihre Körperteile.
Mit vier bis fünf Jahren können bereits einfache Additionen und Subtraktionen
intuitiv durchgeführt werden (vgl. Jacobs & Petermann 2005; Aster, von 2005a; Fritz & Ricken 2005).
Bis zum Schuleintritt haben Kinder im Prinzip schon ein grundlegendes Verständnis von Zahlen sowie einen einfachen rechnerischen Umgang damit erworben. Sie
können links und rechts, oben und unten sowie kleiner und größer unterscheiden.
Sie können eine Menge von bis zu zehn Elementen begreifen und meistens bis 20
zählen. Sogar kleine Sachaufgaben lösen sie schon, wie: „Du hast fünf Bonbons
und gibst davon zwei an deinen Freund ab. Wie viele hast du dann noch übrig?“
Nach der ersten Klasse können Kinder im Zahlenraum bis 20 plus und minus rechnen, verdoppeln und halbieren.
In der zweiten Klasse lernen sie im Zahlenraum bis 100 zu multiplizieren und zu
teilen. Nach der dritten Klasse wird schließlich der Zahlenraum bis 100 über alle
vier Grundrechenarten erschlossen, und sie lernen diese Zahlvorstellung auf Län-
12
gen, Gewichte oder Geld zu übertragen bzw. mit Maßeinheiten (z. B. Zentimeter)
zu rechnen. In der vierten Klasse wird der Zahlenraum bis zu einer Million ausgebaut, und es werden schwierige Sachaufgaben bis hin zum Dreisatz erlernt (vgl.
Schlotmann 2004, S. 24 f.).
Wie kann man sich nun das Verständnis von Zahlen in der Entwicklung eines Kindes vorstellen? Eine differenzierte und sehr anschauliche Grundlage liefert dafür
das sogenannte „Triple-Code-Modell“ von Dehaene (1992). Der Zahlbegriff wird
dabei in drei verschiedene Module unterschieden: in ein sprachliches Modul (also
z. B. das Wort „dreizehn“), in ein semantisches Modul bezogen auf analoge Größen
(z. B. ein Zahlenstrahl mit der Länge von dreizehn Einheiten) und ein visuell-arabisches Modul (z. B. das Zeichen „13“).
analoge Größe
0
20
semantisches
Modul
dreizehn
sprachlich
alphabetisches
Modul
13
visuellarabisches
Modul
Abb. 7: Triple-Code-Modell von Dehaene (1992), zit. nach Aster 2005b, S.14
Diese drei Module stellen dar, wie Mengen im Denken und Wahrnehmen unterschiedlich dargestellt werden. Wichtig ist dabei, dass diese drei Module miteinander verbunden werden und auch ineinander überführt werden können. Ein Beispiel: Wenn man 13 Gummibärchen sieht, kann man dazu eine entsprechende Anzahl
von Strichen aufmalen oder auf einem Zahlenstrahl die entsprechende Strecke markieren (semantisches Modul). Man versteht, dass dazu das schriftliche Zeichen „13“ gehört
(visuell-arabisches Modul), und man kann dazu auch das Wort „dreizehn“ sagen.
13
Alle drei Module gehören zusammen und bilden einen sicheren Zahlbegriff.
Am wichtigsten ist hierbei das semantische Modul, das sich auf analoge Größenvorstellungen bezieht. Hier geht es um eine innere Zahlraumvorstellung, die es
auch ermöglicht, größere Mengen mental zu repräsentieren – z. B. indem man
Größen einschätzen kann. Das sprachliche und das visuell-arabische Modul dienen der äußeren Darstellung von Zahlen und der sicheren Verständigung über
sie.
Die oben beschriebene Fähigkeit, kleine Mengen bis zu drei Elementen sicher
erfassen zu können, scheint angeboren zu sein. Um im Laufe der frühkindlichen
Entwicklung auch größere Mengen begreifen und relativ sicher schätzen zu können, bedarf es zuverlässiger innerer Bilder, mit denen die unterschiedlichen Größen dargestellt werden. Hierbei stellt man sich in der Forschung zum Zahlerwerb
eine Art inneren Zahlenstrahl vor (vgl. Resnick 1983), der uns hilft, verschiedene
Größen zu erfassen und ins Verhältnis zueinander zu setzen. Gleichzeitig lernen
Kinder das Zählen – und verbinden dies nach und nach mit den Vorstellungen
über unterschiedliche Größen. Der innere Zahlenstrahl wird sozusagen gegliedert,
er bekommt durch das Zählen Struktur. Folgendes Modell der Zählentwicklung
veranschaulicht, wie dies auf fünf Ebenen vonstatten geht (vgl. Fuson 1988; Fritz &
Ricken 2005; Krajewski 2005):
1. Es werden zunächst undifferenzierte Wortganze gebildet („einszweidreivierfünfsechs“...). Dies geschieht einfach aus Spaß an der Sprache und hat noch
nichts mit Mengenvorstellungen zu tun.
2. Danach werden die Zahlwortreihen in eine unzerbrechliche Kette gegliedert.
Das Kind zählt immer noch von Anfang bis Ende (z. B. von eins bis zehn),
nimmt die verschiedenen Zahlwörter (eins, zwei, drei etc.) aber nun als einzelne – wenn auch unzertrennliche – Einheiten wahr.
3. Die Kette wird aufgebrochen. Ab vier Jahren können Kinder an einer belie-
bigen Stelle in der Kette anfangen und aufhören zu zählen – und „das letzte
zugeordnete Zahlwort enthält (nun) die Information über die Mächtigkeit
der Menge und umfasst zugleich die gesamte Menge aller Objekte“ (Fritz &
Ricken 2005, S. 15). Es entsteht somit eine Vorstellung des Kardinalwertes
von Zahlen und eine Verbindung zum inneren Zahlenstrahl.
4. Die Kette mit ihren Teilketten bekommt einen numerischen Sinn. Die Zahl
Fünf beinhaltet schon das Zählen bis fünf, und beispielsweise die Zahl Drei
wird hinzugezählt (5 + 3 = fünf ... sechs-sieben-acht). Erste Additionen und
14
Subtraktionen können sicher ausgeführt werden.
5. Die Kette kann vorwärts und rückwärts gezählt und Zahlen können nach
einem Teil-Ganzes-Schema erfasst werden. Das heißt, Zahlen können zusammengefügt und auch wieder in verschieden große Einzelteile zerlegt werden.
Die Addition 3 + 5 kann durch Zerlegen der 8 zum Beispiel in 4 + 4 überführt
werden. Es wird begriffen, dass Addition und Subtraktion umkehrbar sind,
und „Zählen wird als eine, aber nicht einzige Strategie des Rechnens erkannt“
(Krajewski 2005, S. 55).
Die unter Punkt 5 beschriebene Entwicklung der Teil-Ganzes-Schemata und damit
des Wissens über Beziehungen zwischen Mengen ist der wichtigste Entwicklungsschritt im Erwerb mathematischer Basisfertigkeiten (vgl. Resnick 1983; Gerster 2003).
Diese Fähigkeit erlaubt es den Kindern, flexible Lösungen zu finden. Rechenaufgaben müssen nicht nach starren Schemata (z. B. Vorwärtszählen) bearbeitet werden, sondern die in den Zahlen enthaltenen Teile können miteinander in Beziehung gesetzt werden (z. B. 9 + 7 = 9 + 1 + 6).
Zählen und Mathematik lernen Kinder aber nicht nur mit dem Kopf, sondern mit
dem ganzen Körper. Dieser Aspekt ist besonders wichtig, denn Kinder lernen Zählen maßgeblich auch in Verbindung mit Bewegungen. Sie hüpfen beim Zählen
beispielsweise die Stufen einer Treppe hinauf, gehen Schritt für Schritt eine Linie
entlang oder bewegen die Finger. Inge Schwank nennt diese Verknüpfung „Aufbau
mentaler Motorik“, welche die Vorstellung von Abläufen (funktionales Denken)
beinhaltet und schließlich einen „Zahlenkonstruktionssinn“ vermittelt (Schwank
2005, S.129, f). Zahlen werden sozusagen innerlich produziert, indem sie aus dem
Gefühl für abzählbare Bewegungen und der Vorstellung von Mengen bzw. Größen
zusammengebaut werden.
Diese Entwicklung zu einem guten Verständnis für Zahlen verläuft nicht ganz
selbstverständlich. Kinder können den numerischen und mathematischen Zeichen sowie den Rechen-Regelwerken, mit denen sie in der Schule arbeiten, andere
Bedeutungen geben. Da sie trotzdem zunächst zu „richtigen“ Ergebnissen führen,
bemerken Lehrer und Eltern diese „Fehl“-Entwicklung oft nicht. Daher ist es wichtig, den Kindern Mathematik anhand von Aufgaben zu vermitteln, die den unter
Punkt 4 beschriebenen numerischen Sinn von Zahlen und die jeweils entsprechenden Mengen gut veranschaulichen.
„Erhält ein Kind im Mathematikunterricht nicht von Anfang an solche Aufträge
zur Bearbeitung, die ihm die Produktionsverfahren beim Zahlenaufbau bewusst
und begreiflich machen, fehlt ihm eine fundamentale Einsicht, die später nur noch
mühsam erworben werden kann. In Gefahr geraten hier gerade auch aufgeweckte
15
Kinder, die über ausreichend Konzentrationsvermögen und Gedächtniskapazität
verfügen, zudem gut schulisch sozialisiert sind, behütet aufwachsen und regelmäßig gewissenhaft ihre Hausaufgaben erledigen: Sie erwerben einfach fleißig Automatismen und können so – trotz Fehlens tragfähiger Vorstellungen von Bauplänen
zur Konstruktion von Zahlen und den sie verknüpfenden Operationen – Antworten auf die ihnen gestellten Fragen in den ersten Schuljahren sicher und korrekt
parat haben“ (Schwank 2005, S. 116).
Auch wenn ein Kind die Rechenregeln anwendet und beim Lösen von Aufgaben
zum richtigen Ergebnis kommt, bedeutet das nicht zwangsläufig, dass dieses Kind
die mathematischen Basisfertigkeiten beherrscht. In diesen Fällen spricht man
von einer Rechenschwäche (Dyskalkulie). Betroffene Kinder müssen die grundlegenden Fähigkeiten im Umgang mit Zahlen sozusagen nachträglich erlernen.
4. Lernen mit AD/HS
4.1 AD/HS – was ist das?
Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (AD/HS) ist eines der häufigsten psychischen Probleme im Kindes- und Jugendalter.
Rund 5 bis 10 % aller Schulkinder sind von AD/HS betroffen, zwei Drittel von ihnen leiden unter dieser Erkrankung bis in die Jugend. Sogar im Erwachsenenalter
zeigen noch etwa 80 % der Betroffenen einzelne Merkmale, auch wenn sie oft gut
ausgeglichen werden können.
Symptomatisch für Kinder mit AD/HS ist eine sehr kurze Aufmerksamkeitsspanne,
verbunden mit einer erhöhten Ablenkbarkeit. Nicht selten sind zusätzlich vermehrter Bewegungsdrang, Zappeligkeit, Impulsivität, ausgeprägte Stimmungsschwankungen und ein gestörtes Sozialverhalten zu beobachten. Oft haben diese Kinder weitere
Schwierigkeiten, z. B. in der Grob- und Feinmotorik, in der Wahrnehmung, beim
Lesen, Schreiben und Rechnen. Diese Symptome sind nicht immer alle gleichzeitig
und auch nicht immer gleich stark vorhanden, was letztlich zu einer Vielzahl von
Erscheinungsbildern führt.
In der Praxis unterscheidet man zwei große Gruppen, wobei allerdings die Übergänge
zwischen diesen Gruppen fließend sind:
1. Die unruhigen Kinder, die als hyperkinetisch oder hyperaktiv bezeichnet wer-
16
den. Sie haben im Umgang mit Menschen häufig Probleme, denn sie fallen
durch ihr Verhalten unangenehm in der Familie, im Kindergarten oder in
der Schule auf. Möglicherweise werden sie sogar von den anderen Kindern
gemieden und oftmals von Erwachsenen ausgeschimpft.
2. Die ruhigen Kinder, sie fallen eher durch ihre Verträumtheit und Langsamkeit
auf (Träumerchen ohne Hyperaktivität ). Diese Kinder haben die gleichen
Probleme sich zu konzentrieren wie die unruhigen Kinder, was sich besonders in der Schule und bei den Hausaufgaben zeigt.
All diese Eigenschaften weichen vom sogenannten „Normalen“ ab und provozieren oft negative Reaktionen der Umwelt, was die Situation wiederum verschlimmern kann. Häufig führt dies sogar zu einer weiteren seelischen Erkrankung.
AD/HS berührt zahlreiche Lebensbereiche der Patienten
•Intellektuelle Leistungsfähigkeit
• 42 % haben eine Klasse mindestens einmal wiederholt (laut einer US-Studie) [welche Studie – Quellenangabe fehlt]
• Fünf Fehltage jährlich mehr als der Durchschnitt bei Arbeitnehmern (laut
einer US-Studie) [welche Studie – Quellenangabe fehlt]
•Familiäre Probleme
• Vermehrte Erziehungsprobleme für Eltern von AD/HS-Kindern
• Mütter sind häufiger depressiv
• Vermehrte Partnerschaftsprobleme bei den Eltern
•Soziale Probleme
• Mangelnde soziale Fähigkeiten/soziale Isolation
• Schwieriges Verhältnis zu Geschwistern, Mitschülern und Spielkameraden
•Vermindertes Selbstwertgefühl
(Quelle: Barkley RA, J Clin Psychiatry 2002; 63 (Suppl.12): 10-15, Slomkowski et al., J Abnormal
Child Psychology 1995; 23: 303-315; Brown, Pacini, J Learning Disabilities 1989; 22: 581- 587)
Geschichte der AD/HS
Die ausführlichste Beschreibung eines AD/HS-Kindes kennt fast jeder. Sie stammt
von Dr. Heinrich Hoffmann, dem Leiter einer städtischen Nervenheilanstalt in
17
Frankfurt am Main. Im Jahr 1845 schildert er in seinem „Struwwelpeter“ den hyperaktiven, impulsiven „Zappelphilipp“ und den verträumten „Hans-guck-in-dieLuft“ mit allen unangenehmen Folgen. Dr. Hoffmann hat dieses Buch seinem Sohn
gewidmet, der nach heutigem Verständnis ein typisches AD/HS-Kind war, unruhig, mit Konzentrationsschwierigkeiten und impulsiv.
1902 veröffentlichte der britische Kinderarzt George Frederic Still einen Bericht
über 20 von ihm behandelte Kinder, die er als „trotzig und boshaft“ beschreibt. Er
führte diese Eigenschaften nicht auf eine falsche Erziehung zurück, sondern auf
eine „leichte Hirnverletzung“. Ähnliche Symptome einschließlich Gedächtnis- und
Konzentrationsstörungen wurden von mehreren Ärzten 1917/18 als Folge einer
damals grassierenden Virusencephalitis (= Gehirnentzündung) beschrieben. 1937
stellte der amerikanische Kinderarzt Charles Bradley fest, dass bei hyperaktiven
Kindern Psychostimulanzien, d. h. anregende Mittel, unerwartet beruhigend wirkten. In den 50er-Jahren wurde das Zusammenspiel aus Unruhe, Impulsivität und
Konzentrationsstörungen von Maurice Laufer als minimaler, d. h. kaum messbarer Hirnschaden bzw. später als „MCD“ (minimale cerebrale Dysfunktion) bezeichnet. Mitte der 70er-Jahre kam die Behandlung mit dem Wirkstoff Methylphenidat
(Ritalin®) auf, der vorwiegend bei den unruhigen Kindern mit „Hyperkinetischem
Syndrom“, einer später zugunsten von AD/HS aufgegebenen Bezeichnung, verwendet wurde.
1990 führte Dr. Alan Zametkin in den USA radiologische Untersuchungen an hyperaktiven Erwachsenen durch, wobei er eine verminderte Durchblutung im Bereich des Frontalhirns diagnostizierte. Eine Vielzahl später durchgeführter Experimente führte zu der gut belegten Annahme, dass in erster Linie der Mangel an
bestimmten Neurotransmittern, speziell Dopamin, für dieses Störungsbild verantwortlich ist. Denn Neurotransmitter sind winzige Moleküle, die im Gehirn Informationen weiterleiten.
Das AD/HS-Kind im Alltag – woran kann man es erkennen?
Kinder mit AD/HS bereiten Eltern, Lehrern, Gleichaltrigen und vor allem sich
selbst oft erhebliche Schwierigkeiten. Wenn die Eltern mit ihren Kindern in unsere Praxis kommen, haben sie meist schon einen enormen Leidensweg hinter sich.
Aussagen wie „Sie sollten ihr Kind besser erziehen“, „es braucht mehr Zuwendung“
o. Ä. begleiten sie schon lange. Das Familienleben ist häufig belastet, die Eltern
leiden unter Schuldgefühlen. Spätestens wenn das Kind in die Schule kommt, verstärkt sich der Druck auf die Eltern und das Kind immens, was das Familienleben
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noch mehr belastet.
Wir hören von Eltern häufig Aussagen wie „er könnte, wenn er nur wollte“, „interessiert ihn was, so kann er stundenlang an einer Sache bleiben“, „sie hört einfach
nicht zu, wenn ich was sage“, „hundertmal haben wir es schon besprochen“, „sie
sitzt stundenlang an den Hausaufgaben und schaut aus dem Fenster“, „dauernd
wird der Turnbeutel in der Schule vergessen“ und viele andere mehr.
Häufige Klagen von Eltern
• Schwierige Hausaufgabensituation
• Unangemessenes Verhalten in der Öffentlichkeit oder wenn Besuch kommt
• Stört beim Telefonieren
• Kann sich schlecht selbst beschäftigen
• Ist zappelig, unruhig, bleibt nicht am Tisch sitzen
• Erledigt keine Aufträge
• Geht nicht ins Bett, hat Ein- bzw. Durchschlafstörungen
• Hat ein sehr langsames Arbeitstempo, braucht zu viel Zeit zum Waschen,
Anziehen, Hausaufgabenmachen
• Ständige Diskussionen über Selbstverständlichkeiten
Kinder mit AD/HS reagieren meist zu empfindlich auf Reize, d. h. sie nehmen
zu viel wahr, werden von Reizen überflutet und tun sich schwer, Wichtiges von
Unwichtigem zu unterscheiden. Fachleute bezeichnen diesen Effekt als Reizfilterschwäche. Eigentlich leisten diese Kinder sogar erstaunlich viel und sind, vor allem nach einem Schultag, entsprechend erschöpft.
Erfragt man die Geschichte des Kindes, so werden hyperaktive Kinder nicht selten
von ihren Eltern schon im Säuglings- oder Kleinkindalter als schwierig und äußerst
kraftraubend beschrieben, weil sie z. B. viel geschrien haben, unruhig und sehr
leicht reizbar waren. Viele Kinder hatten Probleme beim Essen, Ein- und Durchschlafen oder lehnten Körperkontakt ab. Im Kindergarten fallen sie dann häufig
durch ihre Umtriebigkeit, leichte Reizbarkeit, geringe Ausdauer bei Einzel- oder
Gruppenspielen sowie ihre mangelhafte Fähigkeit, das eigene Verhalten zu steuern, auf. Oft werden sie von anderen gemieden oder ziehen sich zurück. Heftige
Wutausbrüche bei kleinsten Enttäuschungen, ausgeprägte Trotzreaktionen, mangelhafter Ordnungssinn, und der Wunsch nach übermäßigem Fernsehkonsum
oder elektronischen Spielen (GameBoy, Playstation, Xbox etc.) können das Familienleben erheblich belasten.
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Im Vorschulalter zeigen manche Kinder Auffälligkeiten beim Zeichnen oder darin,
mündliche Aufforderungen in Bewegungsabläufe umzusetzen. Diese Schwierigkeiten nehmen mit Schulbeginn meist noch zu, denn mit ihrer Zappeligkeit, ihrer
Impulsivität, dem mangelhaften Konzentrationsvermögen und der „schlechten Arbeitshaltung“ können die Betroffenen die Anforderungen des Schulalltags mit den
vielen Vorgaben und Regeln nicht bewältigen. Häufig fällt das Kind daher unangenehm auf, wird unbeliebt bei den Lehrern und Schulkameraden. Um überhaupt
noch Aufmerksamkeit und zumindest kurzfristige Beachtung bei den Mitschülern
zu bekommen, macht es sich in seiner Verzweiflung oftmals zum Klassenkasper,
der dann wiederum den Unterricht mit seinen Zwischenrufen und Kommentaren
völlig zum Erliegen bringen kann.
Auch chaotisches Ordnungsverhalten, andauerndes, oft hastiges Reden, aggressives Verhalten, Ungeschicklichkeit oder eine schlechte Schrift sind auffällige Merkmale bei Kindern mit AD/HS. Häufig berichten Eltern auch von Problemen in der
Sauberkeitserziehung, etwa verlängertes Einnässen tagsüber oder nachts, sowie
von Kotspuren in der Unterwäsche.
Aber auch das Gegenteil eines überaktiven Kindes ist möglich: Das hypoaktive
Kind, welches ruhig und verträumt ist. Häufig wird es zunächst gar nicht als AD/
HS-Kind erkannt, denn im Klassengeschehen ist es eher unscheinbar, angenehm
unauffällig. In der ersten Klasse wird es noch als verspielt betrachtet und arbeitet
zu Hause alles fleißig nach, wenn es mal wieder nicht fertig geworden ist. Erst später kann man manchmal in den Zeugnissen lesen, dass es aktiver mitarbeiten soll,
noch zu verträumt sei o. Ä.. Das Kind bekommt jedoch durch seine Verträumtheit
nur wenig vom Unterricht mit, hinkt bald im Lernstoff den anderen hinterher und
hat Mühe, die Lücken aufzuholen.
In der sehr ausgeprägten unaufmerksamen und verträumten Form ist das Kind
mit seinen Gedanken ganz woanders, wenn es aufgerufen wird (oftmals zur Belustigung der Mitschüler) oder es vergisst häufiger, was es sagen wollte, wenn es nicht
sofort an die Reihe kommt.
Bei diesen Kindern sind vor allem die Lern- und Leistungsstörungen problematisch, weniger die Störungen im Sozialverhalten. Sie leiden sehr unter ihrer Vergesslichkeit und ihren Misserfolgen – trotz fleißigen Lernens. Sie erleben ständig,
dass sie ihre Intelligenz nicht zu Papier bringen können und nicht den Erfolg haben, der ihnen eigentlich „zustünde“. Durch diese Erfahrungen entwickeln sie ein
negatives Selbstbild mit geringem Selbstwertgefühl.
20
Auch beim hypoaktiven Kind können bereits Symptome vom Säuglingsalter an
auftreten, wie etwa unstillbares Weinen, ein oberflächlicher Schlaf, keine Beruhigung durch Streicheln u. a. Beim Kleinkind ist häufig (bis zu 50 %) eine sprachliche Entwicklungsverzögerung oder motorische Ungeschicklichkeit zu beobachten. Einerseits wechseln diese Kinder oft die Beschäftigung, andererseits sind sie
bei großem Interesse an einer Sache in der Lage, stundenlang z. B. Lego zu spielen.
Man nennt dieses Phänomen Überfokussieren. Im Kontakt zu anderen Kindern
kann sich das hypoaktive Kind möglicherweise nicht wehren und gibt schnell auf,
ist leicht unselbstständig, motzt schnell und unangemessen heftig. In der Kindergartenzeit verhält sich das Kind oftmals weiterhin sehr anhänglich, ängstlich und
klammernd. Es weint leicht und ist stimmungslabil, hat eher nur eine(n) feste(n)
Freund/Freundin oder spielt am liebsten allein in der Ecke. Feinmotorische Aufgaben wie Basteln meidet es.
Das Kind kann aber durchaus sehr eifrig beim Sport und bei sozialen Diensten dabei sein und hat auch einen großen Gerechtigkeitssinn. Zu Hause kann es womöglich ein anderes Verhalten zeigen und wesentlich impulsiver sein (wie etwa sich
außergewöhnlich schnell bei kleinsten Anlässen aufregen). Außerhalb der Familie
wird es nur in Ausnahmenfällen so reagieren, nämlich nur dann, wenn es sich gar
nicht mehr anders zu helfen weiß.
Hinsichtlich des Sozialverhaltens kann man sich ein hypoaktives Kind typischerweise folgendermaßen vorstellen: Möchte es sich zu einer Gruppe
spielender Kinder gesellen, so stellt es sich an den Rand und beobachtet zunächst eine Weile. Wird es nicht wahrgenommen und aktiv von einem anderen Kind aufgefordert mitzumachen, zieht es sich bald zurück und verinnerlicht die Einstellung „Mich mag ja eh keiner“. Den nötigen Blickkontakt
aufzunehmen und sich aktiv und spontan einzubringen – diese Fähigkeit beherrscht es kaum. Seine Spontaneität kann durch seine schlechte auditive (Kanal des Hörens) und visuelle (Kanal des Sehens) Wahrnehmung gebremst sein.
Beide Formen der AD/HS haben zur Folge, dass entsprechend der schlechten Aufmerksamkeit schlechte Leistungen erzielt werden, obwohl das Kind eigentlich
intelligent und kreativ ist. Es wird letztendlich ständig verunsichert, kann die Situation sowie die Reaktionen der anderen auf das eigene Verhalten nicht richtig
verstehen und erfassen. Darum fühlt es sich auch oft unverstanden und ungerecht
beurteilt, was heftige Diskussionen auslösen kann.
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Im Jugendalter (Adoleszenz) steht häufiger eine „Null-Bock-Mentalität“ im
Vordergrund sowie Leistungsverweigerung und oppositionell-aggressives Verhalten. Dahinter steckt oftmals ein stark vermindertes Selbstwertgefühl. Ängste und
Depressionen können in den Vordergrund rücken. Erhöhte Verletzlichkeit, mangelndes Selbstbewusstsein und unzureichende Entscheidungsfähigkeit sowie „sich
nicht verstanden fühlen“ werden von den Betroffenen beklagt. Durch ihre häufig
unreife Persönlichkeit fehlt ihnen ein entsprechend sozial angepasstes Verhalten
für Kontaktfähigkeit, Durchsetzungsvermögen und Selbstbehauptung. Auffällig
werden sie durch depressive Verstimmungen oder Blackout-Reaktionen, wenn sie
am Rande ihrer Belastbarkeit angekommen sind. Kontakte zu sozialen Randgruppen, Gefährdung durch Verkehrsunfälle, der Griff zu Alkohol, Nikotin und Drogen
können das Bild prägen.
Kurz zusammengefasst: Das Symptom der Hyperaktivität wird am ehesten in klar strukturierten Situationen bemerkt, wie bei gemeinsamen Mahlzeiten, im Unterricht, bei den Hausaufgaben oder am Arbeitsplatz. Hier wird
beträchtliche Ruhe und ein hohes Maß an Verhaltenskontrolle gefordert.
Das Symptom der Unaufmerksamkeit, d. h. hier die mangelnde Fähigkeit, die
Aufmerksamkeit auf etwas gezielt zu richten bzw. sie zu steuern, zeigt sich im
häufigen Wechsel oder im vorzeitigen Abbrechen von Tätigkeiten, nämlich
dann, wenn das Kind abgelenkt wird. Klassische Situationen sind auch hier
Unterricht und Hausaufgabensituation. Mangelnde Aufmerksamkeit zeigt
sich aber auch durch ein langsames Arbeitstempo oder schnellen, flüchtigen
Arbeitsstil. Das Symptom der Störung der Impulskontrolle, d. h. spontane,
meist heftige Reaktionen oder Verhaltensweisen, führt häufig zu Regelverletzungen. Diese wiederum haben Zurechtweisungen oder Bestrafungen
durch Bezugspersonen zur Folge oder auch Ablehnung durch Gleichaltrige.
In allen Altersgruppen zeigt sich eine verzögerte psychosoziale und emotionale Entwicklung.
22
Es gibt nicht das eine Bild der AD/HS. Jedes Kind, jeder Jugendliche hat eine
andere Ausprägung der Symptomatik, und diese verändert sich im Laufe der Entwicklung abermals. Eine AD/HS „verwächst“ sich nicht. Zu bemerken ist lediglich,
dass die äußere Unruhe im Jugendalter weniger wird und sich in eine innere Unruhe wandeln kann, die folglich nicht mehr so offensichtlich zu beobachten ist.
Das innere Getriebensein kompensieren die Betroffenen häufig durch z. B. übertriebenen Aktionismus oder übermäßige sportliche Aktivität. Im Erwachsenenalter gleichen sie die innere Unruhe durch übermäßiges Arbeiten aus, entwickeln
sich zu sogenannten „Workaholics“.
Viele Kinder mit einer AD/HS haben zusätzliche Lernstörungen bzw. Teilleistungsstörungen: Lese-, Rechtschreibschwäche (Legasthenie), Rechenschwäche
(Dyskalkulie), fein- und visuomotorische Schwierigkeiten (d. h. die Verbindung
von Sehen und Bewegung, wie z. B. einen vorgezeichneten Kreis mit einer Schere
auszuschneiden, funktioniert nicht gut) oder Sprachentwicklungsstörungen. Dies
alles sind Leistungsstörungen, die einen ganz bestimmten Bereich betreffen, in der
Regel aber keinen Rückschluss auf die Intelligenz eines Kindes zulassen. Dennoch
tragen sie dazu bei, dem Kind einen zusätzlichen „Stempel“ aufzudrücken und im
Klassenverband noch mehr zu isolieren („der oder die kann ja nicht richtig lesen,
nicht rechnen, ist ja dumm“ usw.).
Sehr häufig tritt die AD/HS auch in Verbindung mit anderen psychischen Störungen auf, wie z. B. Einnässen (Enuresis), Einkoten (Enkopresis), Depressionen,
Angststörungen, Tics und Zwangssyndrome. Diese Begleiterkrankungen (Komorbiditäten) können die Behandlung erheblich erschweren. Ebenso kann eine Störung des Sozialverhaltens eine mögliche Begleit- oder Folgeerscheinung sein.
Die positiven Seiten des „Phänomens AD/HS“
Werden die Eltern nach den positiven Eigenschaften ihrer Kinder befragt, so nennen sie zahlreiche Beispiele. Berichtet wird z. B., dass diese Kinder sich durch einen
ausgeprägten Gerechtigkeitssinn auszeichnen, sowohl für sich als auch für andere.
Die Kinder sind oft ausgesprochen hilfsbereit, interessiert und aufgeschlossen, haben einen verblüffend guten Orientierungssinn, eine ausgeprägte Liebe zu Tieren
und zur Natur, sind oft sehr kreativ und nicht selten schauspielerisch sehr begabt.
Durch ihre erfrischende Neugier und ihre originellen Problemlösungen bringen
sie Abwechslung in den Alltag. Durch eine ungewöhnliche Sensibilität übertreffen
sie ihre Altersgenossen häufig in punkto Ideenreichtum und Fantasie.
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Hyperaktive Kinder sind oft ...
aber
• spontan
• sie scheinen nicht aus Fehlern zu lernen
• ideenreich
• sie finden kein rechtes Maß
• originell
• sie wirken oft sehr egozentrisch
• schnell
• sie diskutieren endlos
• charmant und
liebenswürdig
• sie können grenzenlos nerven
• gute Sportler
• sie gefährden sich oft selbst
• auf Draht
• sie scheinen oft nicht zuzuhören
Wie kommt es zu dieser Störung? Was sind ihre Ursachen?
Wissenschaftliche Untersuchungen deuten darauf hin, dass ein Zusammenspiel
mehrerer Ursachen für die Entstehung bzw. für den Verlauf von AD/HS verantwortlich ist. Erbliche (genetische) Faktoren scheinen eine Hauptrolle zu spielen.
Darauf deuten vor allem Zwillings- und Adoptionsstudien hin. Untersuchungen
an Familien zeigen, dass zwischen 10 und 35 % der nächsten Familienangehörigen ebenfalls an solchen Verhaltensauffälligkeiten bzw. Konzentrationsschwierigkeiten leiden. Fangen Eltern betroffener Kinder an, sich mit ihrer eigenen Lebensgeschichte und mit der ihrer Verwandtschaft zu beschäftigen, so entdecken
sie häufig erstaunliche Parallelen. Ein Blick in die alten Schulzeugnisse kann hier
aufschlussreich sein.
Ursachen von AD/HS
•Genetische/biologische Faktoren schaffen die Grundlage
• Rund 15 verschiedene Gene sind betroffen
•Psychosoziale Faktoren/Umweltfaktoren bestimmen die
• Stärke bzw. den Schweregrad der Symptome
• Entwicklung der Symptomatik im Laufe der Zeit
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• Ausprägung und den Verlauf der Krankheit
AD/HS und Genetik – AD(H)S tritt familiär gehäuft auf
• Wiederholungsrisiko bei einem weiteren Kind liegt bei 30 %, wenn die Eltern
selbst nicht betroffen sind.
• Ist ein Elternteil betroffen, steigt das Wiederholungsrisiko für AD/HS auf
34% an.
• Sind beide Eltern betroffen, liegt das Wiederholungsrisiko für AD/HS bei
70 %.
• Die Übereinstimmung für AD/HS beträgt bei eineiigen Zwillingen 81 %, bei
zweieiigen 29 %.
Quelle: Faraone, Biederman; Biological Psychiatry 1998; 44: 951-58. Edelbrock et al., J Child Psychol Psychiatry 1995; 36: 775-85. Gillis et al., J Abnorm Child Psychol 1992; 20: 303-15.
Psychosoziale Risikofaktoren/Umweltrisikofaktoren
• Komplikationen während der Schwangerschaft/Geburt
• Frühgeburt
• Hirnschädigung, z. B. durch Nikotin, Alkohol in der Schwangerschaft
• Infektionen, z. B. Hirnentzündungen
• Traumatische Hirnschädigung
• Soziale Unterschicht
• Familiäre Risikokonstellation
• Psychische Störungen der Eltern
• Erziehungsdefizite
• Störungen der Eltern-Kind-Beziehung
Interessant ist in diesem Zusammenhang sicherlich auch der Einfluss von Unterrichtsformen und Schulbedingungen. Auch wenn man in der täglichen Praxis
solche Einflüsse registrieren kann, so mangelt es doch an entsprechenden wissenschaftlichen Untersuchungen hierzu.
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Neuroanatomische
Neurochem. Ursachen
Genetische
Ursachen
AD/HS
Hirnorganische
Schädigungen
Umweltfaktoren
Abb. 8: Ursachen von AD/HS
1 Swanson et al., Curr Opin Neurobiol. 1998; 8: 263-271.
2 Hauser et al., N Engl J Med. 1993; 328: 997-1001. Cook et al., Am J Hum Genet. 1995; 56: 993998. Swanson et al., Mol Psychiatry 1998; 3: 38-41.
3 Milberger et al., Biol Psychiatry 1997; 41: 65-75.
4 Castellanos et al., Arch Gen Psychiatry. 1996; 53: 607-616. Swanson et al., Lancet 1998; 351:
429-433.
Bezüglich der organischen Ursachen machen viele Forscher erblich bedingte Störungen des sogenannten Neurotransmitterstoffwechsels im zentralen Nervensystem für AD/HS verantwortlich. Hier spielen zwei Substanzen, das Dopamin und das
Noradrenalin, die entscheidende Rolle. Die Konzentration dieser Hirnbotenstoffe
im synaptischen Spalt, d. h. an der Impulsübertragungsstelle zwischen den Nervenzellen im Gehirn, ist bei AD/HS-Kindern deutlich vermindert. Spezielle, nur an
besonderen Kliniken mögliche bildgebende Untersuchungsmethoden zeigen, dass
vor allem die Hirnregionen anders aussehen und funktionieren, die vom Dopamin
gesteuert werden. Diese Regionen sind für Aufmerksamkeit, Impulskontrolle und
Motorik zuständig (s. auch Abb. 2). Die hier stark vertretenen, aber offensichtlich
fehlerhaft arbeitenden dopaminabhängigen Netzwerke sind die neurobiologische
Ursache der AD/HS.
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Darüber hinaus sind aber vermutlich noch weitere Hirnregionen betroffen, die
maßgeblich durch den Botenstoff Noradrenalin gesteuert werden. Neue Medikamente, die die Noradrenalin-Konzentration erhöhen und dadurch zur Besserung
der AD/HS-Symptomatik führen, z. B. der Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer Atomoxetin, scheinen diese Hypothese zu bestätigen.
Zur Fehlfunktion der komplexen neuronalen Strukturen tragen möglicherweise
auch Schwangerschafts- und Geburtskomplikationen oder verschiedene Giftstoffe
(Toxine wie Blei in der Nahrungskette, Allergene, Lebensmittelzusätze) und Infektionen im Säuglingsalter (Keuchhusten) bei. Bei etwa 10 % der Betroffenen sind
Nahrungsmittelunverträglichkeiten zu finden. Auf welchen biologischen Grundlagen diese beruhen, ist noch unklar. Nach neuen Studien (New England Journal of
Medicine, 2003, Bd. 348, S. 1517,) scheinen auch geringste Mengen an Bleikonzentration, die bislang als unbedenklich galten, die Aufmerksamkeit und das Sprachvermögen herabsetzen zu können. Eine mögliche Gefahrenquelle kann z. B. Leitungswasser sein, das durch Bleirohre etwa in Altbauten fließt. Als gesichert gilt,
dass fetaler Kontakt (= während der Schwangerschaft) mit Nikotin und Alkohol zu
Verhaltensauffälligkeiten und kognitiven Defiziten führt, die später ein erhöhtes
Risiko für AD/HS und Störungen des Sozialverhaltens darstellen. Die Häufigkeit
von AD/HS ist unter Frühgeborenen besonders hoch. Hier kommt es häufig zu
hypoxisch-ischämischen Episoden, d. h. zu Sauerstoffmangel und Durchblutungsstörungen, welche vor allem die in diesem Lebensabschnitt besonders empfindlichen sogenannten striatalen Neuronen betreffen.
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Zusammenfassend kann man sagen, dass es trotz der eben genannten
Erkenntnisse bis heute keine absolut sichere Methode gibt, die Ursachen
von AD/HS im Praxisalltag nachzuweisen. Alle vorhandenen medizinischen
und psychologischen Untersuchungsverfahren liefern lediglich bestimmte
Hinweise für die Entstehung dieser Erkrankung. Auch die Ergebnisse der
genetischen Studien sind noch nicht wirklich von praktischer Bedeutung.
Darüber hinaus steht aber fest, dass neben den biologischen Komponenten
auch soziale Faktoren für die Entstehung, das Ausmaß und den Verlauf der
AD/HS eine wichtige Rolle spielen. AD/HS-Symptome sind umso stärker
ausgeprägt, je schwieriger der Familien-Alltag ist, je niedriger das FamilienEinkommen und je beengter der Wohnraum ist. Auch eine frühere psychiatrische Erkrankung der Mutter verstärkt die Symptome. Oft waren oder sind
die Väter von AD/HS-Kindern alkoholabhängig. Einige Studien legen nahe,
dass Kinder auch dann ein höheres Risiko tragen, wenn sie bei einem alleinerziehenden Elternteil aufwachsen, die Mutter lediglich eine mangelnde
Ausbildung hat oder das Kind einer niedrigen sozialen Schicht entstammt.
Die genannten Risikofaktoren sind aber durchaus kritisch zu betrachten.
Die Eltern von AD/HS-Patienten haben, wie bereits erwähnt, ein erhöhtes
Risiko, selbst an dieser Störung zu leiden. Daher besteht die Möglichkeit,
dass diese Risikofaktoren nicht allein Ursache der Erkrankung des Kindes
sind, sondern aus der Erkrankung der Eltern resultieren.
Es ist wichtig zu wissen, dass z. B. elterliches Verhalten allein keine AD/HS verursachen kann. Die Ursache in Bindungsproblemen oder elterlicher Schuld zu suchen, ist weder durch Erfahrungen gestützt noch therapeutisch hilfreich. Andererseits aber verschärfen bestimmte psychosoziale Bedingungen die Problematik
erheblich. Seelische Belastungen, wie z. B. familiäre Spannungen, Verlusterlebnisse oder auch Unverständnis bei den wichtigsten Betreuern bzw. Lehrern und
Bezugspersonen, werden von AD/HS-Kindern wesentlich schlechter vertragen als
von gesunden Gleichaltrigen.
Wir müssen heute davon ausgehen, dass die typische AD/HS durch ein Zusammenspiel von biologisch-genetischen und psychischen bzw. sozialen (ungünstige
Umwelteinflüsse) Faktoren entsteht.
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Wie kann man eine AD/HS feststellen, wie kommt man zu einer klaren Diagnose?
Eine AD/HS ist schwierig zu diagnostizieren. Es gibt nicht die eine spezielle Methode, aufgrund der man sagen könnte: Das Kind hat oder hat keine AD/HS. Daher ist
es nötig, dass der Arzt und/oder Psychologe sich durch viele verschiedene Informationen ein umfassendes Bild macht, nach AD/HS-spezifischen Indizien sucht,
um eine Diagnose stellen zu können. Zunächst ist eine ausführliche medizinische
und psychologische Untersuchung notwendig. Eine wichtige Leitlinie stellt das
internationale „Diagnosemanual psychiatrischer Krankheitsbilder“ (DSM-IV) dar.
Hier sind bestimmte typische Kennzeichen festgelegt.
Vorbedingungen für die Diagnostik von AD/HS nach DSM-IV
• Die Störungen müssen mindestens über einen Zeitraum von sechs Monaten
bestehen.
• Beginn der Symptomatik vor dem siebten Lebensjahr bzw. vor der Einschu
lung.
• Die Symptomatik muss unabhängig von äußeren Umständen auftreten, d. h.
die Beeinträchtigung muss sich in mindestens zwei Lebensbereichen zeigen,
z. B. in der Schule, in der Familie und/oder im Freizeitbereich.
• Die soziale und schulische bzw. berufliche Leistungsfähigkeit muss herabge
setzt sein.
• Die bestehende Symptomatik verursacht erheblichen Leidensdruck.
• Das Ausmaß der Störung zeigt sich als unvereinbar mit dem jeweiligen Ent
wicklungsstand des Kindes.
Im Anamnesegespräch, also dem Arzt-Patienten-Gespräch (bzw. Arzt-Angehörigen-Gespräch) wird daher unbedingt der Zeitraum von Beginn der Schwangerschaft bis zum heutigen Tage erfragt. Dadurch kann der Arzt Hinweise bezüglich
Auffälligkeiten in der Entwicklung und im Verhalten des Kindes erhalten.
Dabei wird nach den bereits genannten Hauptsymptomen Unaufmerksamkeit,
Impulsivität und Hyperaktivität gesucht.
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Je nachdem, welche Kennzeichen beim Kind vorherrschend sind, werden drei Formen
unterschieden:
1. der Kombinationstyp mit stark beeinträchtigter Aufmerksamkeit und erheblicher motorischer Unruhe
2. der vorwiegend unaufmerksame Typ – das sogenannten Träumerchen oder
der „Hans-guck-in-die-Luft“
3. der hyperaktiv-impulsive Typ – hier steht die Aufmerksamkeitsstörung eher
im Hintergrund
Liest man die oben aufgeführten Symptomlisten, so sagen die meisten Menschen,
dass sie so manches davon auch bei sich feststellen oder dass doch schließlich jeder etwas davon habe – auch ohne eine AD/HS-Diagnose. Entscheidend für die
Diagnose ist, in welcher Häufigkeit, in welchem Ausmaß und über welchen Zeitraum diese Kennzeichen vorhanden sind. Ist es nur eine Phase, in der sie gerade
auftreten, oder sind sie schon länger und überdauernd zu beobachten?
Die AD/HS tritt nicht wie Masern oder Mumps, sondern eher wie Bluthochdruck,
Übergewicht oder Depression auf: Man kann mehr oder weniger davon haben. Die
Grenzen sind fließend.
Weiteres diagnostisches Vorgehen
Um ein ganzheitliches Bild zu erhalten, wird zusätzlich zum Anamnesegespräch
noch Folgendes benötigt: Berichte und Fragebögen, Verhaltensbeobachtung,
psychiatrisch-neurologischer Status, Beobachtungsbögen für Eltern, Schule, Kindergarten, Vorbefunde, Schulzeugnisse, psychologische Untersuchung, Videodiagnostik, körperlich-neurologische Untersuchung, Laboruntersuchung sowie EEGUntersuchung.
Die genannten Verfahren, die sicherlich noch um einige andere ergänzt werden
könnten, dienen zum einen dazu, der Diagnose AD/HS näherzukommen, zum anderen, mögliche Ursachen oder Krankheitsbilder auszuschließen, deren Merkmale
dem Bild der AD/HS sehr ähneln. So kann z. B. ein ständig überfordertes Kind,
welches starken familiären Belastungen ausgesetzt ist, durchaus aufmerksamkeitsgestört, hyperaktiv und aggressiv erscheinen, ohne dass es eine AD/HS hat.
Im Jugendalter kann sich eine Depression in Form einer Aufmerksamkeitsstörung
ausdrücken, eine motorische Überaktivität kann Zeichen einer manischen bzw.
schizophrenen Episode oder einer Panikstörung sein.
Im Alltagsgeschehen sollte auch berücksichtigt werden, dass übermäßiger Fern-
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seh- oder PC-Konsum mit chronischer Übermüdung ebenfalls eine Ursache für
Unruhe und Aufmerksamkeitsschwäche sein kann.
Wie kann man Kindern mit AD/HS helfen? Wie kann man die Eltern
unterstützen?
Therapieziele bei der Behandlung von AD/HS
• Verbesserung der Kompetenz des Kindes/Jugendlichen in Bezug auf:
• Schulische Fertigkeiten
• Soziale Kompetenz
• Konzentration und Ausdauer
• Zeitmanagement
• Strukturierung
• Stärkung des Selbstwertgefühls
• Verbesserung der familiären Interaktionen
• Verbesserung der sozialen Situation
Jedes Kind hat – wie oben ausführlich dargestellt – seine eigene Form der AD/
HS, das heißt, für jedes Kind ist entsprechend ein ganz persönlicher Behandlungsplan zu erstellen, der alle erforderlichen Punkte berücksichtigt. Demnach muss die
Behandlung stets auf mehreren Ebenen erfolgen und je nach Ursache und Problemstellung mehrere Ansatzpunkte einbeziehen. Erfahrungsgemäß ist es sinnvoll,
verschiedene Behandlungsmethoden miteinander zu kombinieren und durch
spezielle Hilfen wie etwa Schulhilfen (kleine Klassen, Förderunterricht etc.) zu ergänzen.
Dabei sollte man nicht vergessen, die speziellen Begabungen des Kindes zu fördern, um einen gewissen ausgleichenden Effekt zu erreichen.
Die Aufklärung und Beratung der Eltern, der Erzieher bzw. der Lehrer stellt eine
wichtige Voraussetzung für weitere Schritte dar. Zudem sollten die Therapiemaßnahmen – ebenso wie die Diagnostik – das Alter der Kinder berücksichtigen.
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Behandlungsmöglichkeiten der AD/HS – die Bausteine der Therapie
• Genaue Beratung der Eltern
• Verhaltenstherapeutisches Elterntraining
• Familientherapie
• Speziell auf das Kind ausgerichtete Therapie
• Psychotherapeutische Intervention beim Kind (Verhaltenstherapie)
• Pädagogische Therapieansätze
• Konzentrationstraining (v. a. für Grundschulkinder)
• Medikamentöse Therapie
So stehen im Vorschulalter Elterntrainings, die Veränderungen in der Familie oder
auch im Kindergarten anstreben, im Vordergrund. Denn solange es beispielsweise
gelingt, mithilfe einer neu überdachten, geregelten Lebensweise die Krankheitsfolgen zu beschränken, gibt es keinen Anlass, besondere Schritte einzuleiten. Verlässliche Strukturierung des Tagesablaufs, Regeln für Abläufe und Pflichten sowie
Grenzsetzung sind zentrale Themen, die die Eltern und ihre Kinder begleiten werden. Oftmals reicht das Verständnis für die Andersartigkeit bzw. die originellen
Verhaltensweisen dieser Kinder aus, um mit ihnen besser umzugehen und auch
wieder ihre positiven, kreativen Seiten sehen oder neu entdecken zu können.
In einigen Fällen können auch auf verhaltenstherapeutischen Konzepten basierende ergotherapeutische oder heilpädagogische Übungsmaßnahmen zur Behandlung der auffälligsten Schwächen (Konzentrationsfähigkeit, Lesen, Fein- und
Visuomotorik usw.) bzw. die Förderung der wesentlichen Stärken und Begabungen (Fantasie, Engagement, Intuition) eine Besserung bewirken.
Bei Schulkindern und Jugendlichen mit weniger stark ausgeprägten Problemen
können verhaltenstherapeutische Behandlungskonzepte und stützende Psychotherapien von großer Hilfe sein. Wenn das Kind lernt, sich selbst Anweisungen zu
geben (Selbstinstruktionstraining) sowie sich selbst zu managen (Selbstmanagementmethoden), kann es schwierige Situationen erfolgreicher und angemessener
bewältigen. In manchen Fällen erweist sich ein relativ neues verhaltenstherapeutisches Verfahren, das Neurofeedback, als nützlich. Massive Selbstwertprobleme
oder familiäre Belastungen legen unter Umständen eine tiefenpsychologische
oder familienorientierte Therapie nahe.
Die zweifellos wichtigste psychologische Behandlungsmethode bei AD/HS ist die
Verhaltenstherapie. Döpfner, Schürmann und Frölich entwickelten ein Verhaltenstherapieprogramm für Kinder mit hyperkinetischem und oppositionellem
Problemverhalten. Dieses bezieht sich auf Maßnahmen im Kindergarten bzw. in
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der Schule, vor allem aber auf die Eltern-Kind-Beziehung. Zunächst werden diagnostische Maßnahmen beschrieben, durch die erkannt wird, welche familiären
Lebensbereiche beeinträchtigt sind, warum das so ist und in welchem Ausmaß.
Wenn diese Punkte erarbeitet wurden, die Probleme im Verhalten des Kindes sowie die Reaktionen der Eltern beschrieben wurden, werden Behandlungsziele festgelegt und verschiedene Therapiemaßnahmen durchgeführt.
Zum Beispiel werden die Eltern angeleitet:
• Ihr Kind wieder von seiner positiven Seite sehen zu können
• Ihrem Kind Aufmerksamkeit zu schenken, wenn es spielt oder wenn es mal
nicht gestört hat
• Wirkungsvolle Aufforderungen zu geben und das Kind zu loben, wenn es
diese Aufforderungen befolgt
• Natürliche Grenzen zu setzen und Konsequenzen ziehen zu können, wenn
ihr Kind Aufforderungen und Regeln nicht befolgt
• Effektiv bei heftigen Wutausbrüchen des Kindes reagieren zu können
• Dem Kind zu helfen, Aufgaben Schritt für Schritt zu lösen
• Probleme bei den Hausaufgaben zu bewältigen
• Problematischem Verhalten des Kindes in der Öffentlichkeit zu begegnen
Diese eben beschriebenen Hilfestellungen für die ganze Familie werden begleitet
von den Maßnahmen, die nur auf das Kind ausgerichtet sind. Hierbei wird das
Kind vom Psychologen angeleitet, die genannten Problembereiche genauer zu betrachten, zu verstehen und andere geeignete Verhaltensweisen einzuüben. Dafür
nutzt der Psychologe die Techniken der Selbstinstruktion und des Selbstmanagements.
Neben den therapeutischen und pädagogischen Maßnahmen gibt es auch Möglichkeiten, die schulische Situation zu entspannen. Da das Klassenzimmer in der
Regel Hauptschauplatz des Geschehens ist, sollten frühzeitig geeignete Maßnahmen überlegt werden, um allen Beteiligten gerecht werden zu können. So sind z. B.
Diagnose- und Förderklassen, Sprachheil-, Montessori- und andere Privatschulen
mit acht bis 14 Kindern pro Klasse und eventuell Einzelförderung oft den Regelschulen vorzuziehen (hierzu kann gegebenenfalls eine finanzielle Unterstützung
beim Jugendamt beantragt werden). Entsprechend gibt es für Vorschulkinder die
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Möglichkeit, einen Förderkindergarten zu besuchen. In schwierigen Fällen wird
man nicht um Schulen zur Erziehungshilfe und begleitende heilpädagogische Tagesstätten herumkommen, wobei man darauf achten sollte, dass sich die sozialen
Schwierigkeiten (Aggressivität und andere Verhaltensauffälligkeiten) infolge einer
ungünstigen Klassen- bzw. Gruppenzusammensetzung nicht noch weiter verstärken. Bei Lern- oder geistiger Behinderung stehen entsprechende staatliche und
private Förderschulen zur Verfügung. Leider gibt es trotz der Vielzahl AD/HS-betroffener Kinder bis heute in ganz Deutschland noch keine einzige darauf wirklich
spezialisierte staatliche Schuleinrichtung. Private Schulen sind mit entsprechendem Schulgeld für die Eltern verbunden.
Ist die häusliche Situation sehr belastet, so ist es ratsam, sich an eine Familienoder Erziehungsberatung zu wenden. Viele Eltern berichten über positive Erfahrungen mit einer Selbsthilfegruppe (auch im Rahmen eines Elternworkshops),
deren Verständnis ihnen sehr viel Entlastung gebracht hat.
Doch in vielen Fällen sind all diese Maßnahmen allein nicht ausreichend. Deshalb
sollte man frühzeitig die Möglichkeit einer medikamentösen Behandlung diskutieren und die Eltern entsprechend aufklären. Denn einem großen Teil der Kinder
kann mithilfe von Medikamenten relativ schnell und in einem beachtlichen Ausmaß geholfen werden. Oft sind Medikamente überhaupt erst die Voraussetzung
dafür, dass andere therapeutische Maßnahmen greifen können. Unmittelbar vor
einer solchen Entscheidung scheint es allerdings – nach Abwägung aller Vor- und
Nachteile – durchaus vertretbar zu sein, noch einen letzten, sechs- bis achtwöchigen Behandlungsversuch mit einem geeigneten Homöopathikum und/oder einem
Nahrungsergänzungsmittel zu unternehmen.
Eine medikamentöse Therapie sollte aber spätestens dann in Betracht gezogen
werden, wenn zum einen die oben genannten Methoden wenig Verbesserung zeigen und das Kind in seiner Entwicklung deutlich beeinträchtigt erscheint, zum anderen, wenn die Symptomatik so ausgeprägt ist, dass es dauernd zu krisenhaften
Zuspitzungen kommt.
Hinweise für die Notwendigkeit einer medikamentösen Therapie
• Gefahr für die weitere Entwicklung des Kindes oder des Jugendlichen
• Scheitern oder ungenügender Erfolg anderer Maßnahmen
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Einzelne Symptome, die auf die Notwendigkeit einer medikamentösen Therapie hinweisen können:
• Hoher Leidensdruck
• Schulversagen, Arbeitsplatzverlust
• Dauerhafte, starke motorische Unruhe
• Inakzeptables Sozialverhalten – oppositionell, aggressiv, nicht sozial
verträglich, chaotisch
• Gesellschaftliche Isolation des Patienten oder seiner Familie
• Unfähigkeit, das Alltagsleben zu organisieren
• Tiefe Deprimiertheit, extreme Antriebslosigkeit
• Extreme Sensationslust/Selbstgefährdung
Medikamente bei AD/HS
Voraussetzungen für eine medikamentöse Therapie
• Gründliche Sicherung der Diagnose AD(H)S
• Zusätzliche Untersuchungen (Labor, EKG, EEG)
• Aufklärung von Eltern und Kind über:
• Wirkung
• Dosierung
• Nebenwirkungen
• Dauer der Medikation
• Verlaufskontrolle
• Ausschluss von Kontraindikationen
Dauer der Behandlung/Prognose
Medikamente können die Symptomatik nicht heilen. Hört das Medikament auf zu
wirken – in der Regel nach drei bis vier Stunden –, ist das Kind genauso unkonzentriert wie vorher. Nur solange die Medikamente verabreicht werden, hält die
positive Wirkung an. Trotzdem ist die Dauer der Behandlung sehr unterschiedlich und in erster Linie von der Entwicklung der Störung und von den Lebensumständen des Kindes abhängig. Lerneffekte, eine gewisse psychische Stabilisierung,
hormonelle Auswirkungen in der Pubertät, veränderte familiäre Konstellationen,
günstige Schulbedingungen und die Erfolge der Begleittherapien führen unter
Umständen zu einem deutlichen Nachlassen der Beschwerden. Ebenso geht man
von einer gewissen Nachreifung bzw. Neuvernetzung im Hirnstoffwechsel aus,
was auch möglicherweise erklärt, warum manche Kinder nach Absetzen des Medikamentes keine Symptomatik mehr zeigen. Ein Versuch, die Medikamente ab-
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zusetzen, ist gerechtfertigt, wenn die Situation des Kindes sich über einen längeren
Zeitraum stabilisiert hat. Er sollte dann beispielsweise in den Ferienzeiten durchgeführt werden.
Bei rund 20 % aller Patienten kann die medikamentöse Behandlung nach etwa
einem Jahr abgesetzt werden. Bei etwa zwei Drittel unserer Patienten erleben wir,
dass die medikamentöse Behandlung nach zwei bis drei Jahren als abgeschlossen
gelten kann und es zu keinem Rückfall mehr kommt. Die meisten Kinder benötigen das Medikament nur bis zum 14./15. Lebensjahr. In jedem Fall muss aber
individuell beraten und entschieden werden.
Die Prognose ist bei richtiger Behandlung in der Regel als günstig anzusehen.
Wenn sich erst einmal die schulische und die familiäre Situation beruhigt, die Kinder ihre Veranlagung besser ausleben, ihren Begabungen ohne schulischen Druck
folgen können, machen sie oft erstaunliche Entwicklungen.
Neueste Befunde der Hirnforschung sprechen dafür, dass das Gehirn zeitlebens in
der Lage ist, die Strukturen, die für das Lernen zuständig sind, neu auszurichten.
Durch physiologische, biochemische und molekulare Techniken konnte zudem
gezeigt werden, dass den Lern- und Denkprozessen nicht nur eine Veränderung
bereits existierender, sondern auch die Bildung neuer Strukturen im Gehirn zugrunde liegt. Dies erklärt erst, warum das Lernen bis ins hohe Alter überhaupt
möglich ist – vorausgesetzt, das Gehirn wird entsprechend gefordert. Denn nur
wenn es regelmäßig trainiert wird, ist es fähig, bis ins hohe Alter zu lernen. Die
Möglichkeiten dafür offenzuhalten ist das eigentliche Ziel der AD/HS-Therapie.
Welche anderen Möglichkeiten werden angeboten, AD/HS zu behandeln?
Leider gibt es keine wirklich zuverlässigen alternativen Mittel, keine Behandlungsmethoden, die in der Lage wären, AD/HS sofort zu heilen. Wer so etwas verspricht,
womöglich gegen viel Geld, verfolgt eher Eigeninteressen als das Wohl anderer.
Es gibt aber durchaus Hilfen, die die Symptomatik bessern, vor allem, wenn sie
in ein vernünftiges Gesamtkonzept eingebunden sind. Sie alle verlangen den persönlichen, oft mühsamen und konsequenten Einsatz an der Seite der Betroffenen.
In einem erst kürzlich erschienenen Kompendium „Die Andere Medizin“ hat die
Stiftung Warentest mehr als 50 unkonventionelle Methoden unter die Lupe genommen, um mittels wissenschaftlicher Methoden dem Patienten eine gewisse
Orientierung zu geben.
36
Die relative Wirksamkeit medikamentöser bzw. verhaltenstherapeutischer Behandlung wurde im Rahmen einer sehr sorgfältig geplanten amerikanischen
Längsschnitt-Studie (MTA-Studie) an insgesamt 579 Kindern mit AD/HS im Alter
von sieben bis neun Jahren durchgeführt. Es zeigte sich, dass sowohl die medikamentöse Behandlung als auch die Verhaltenstherapie die Kernsymptomatik der
AD/HS reduzieren können. Insgesamt waren die verhaltenstherapeutischen Maßnahmen aber einer medikamentösen Therapie deutlich unterlegen. Allerdings
konnten aggressives Verhalten, soziale Kompetenzen und Eltern-Kind-Beziehungen verhaltenstherapeutisch wie medikamentös etwa gleichermaßen gebessert
werden. Die Kombinationsbehandlung wies leichte Vorteile auf, wobei Familien
mit niedrigem sozioökonomischem Status davon offenbar besonders profitierten.
In letzter Zeit gibt es einige Versuche, AD/HS mit neuen Methoden zu behandeln,
die auf Erkenntnissen der Neurobiologie basieren und die neue Medien verwenden. Dazu gehört z. B. das Neurobiofeedback und auch Lernsoftware-Entwicklungen wie z. B. 2weistein. Die ersten Erfahrungen damit sind vielversprechend,
so dass man davon ausgehen kann, dass diese Methoden zumindest in leichteren
Fällen hilfreich sein können, auf jeden Fall aber eine wichtige Ergänzung im multimodalen Behandlungsangebot (d. h. den verschiedenen Therapie-Bausteinen)
darstellen werden.
Was passiert, wenn AD/HS nicht behandelt wird?
Mögliche Langzeitfolgen bei Nichtbehandlung – Langzeitstudien
(New York Study, Montreal-Study, Mannheim-Studie),
Langfristig hohes Risiko sekundärer Fehlentwicklungen:
• Gefahr des schulischen Scheiterns
• Gefahr der sozialen Fehlentwicklung
• Gesteigerte Unfallhäufigkeit
• Erhöhtes Risiko, eine Abhängigkeit oder Sucht zu entwickeln
Quelle: Trott G.-E., Forum der Kinder- u. Jugendpsychiatrie 2001; 3: 3-11.
Eine wirksame Therapie ist von größter Wichtigkeit, da sonst eine erhebliche Einschränkung der Lebensqualität droht.
Die Risiken einer fehlenden Behandlung zeigen Studien aus den Niederlanden
und den USA: 35 bis 50 % der Jugendlichen im Strafvollzug litten an einem unbehandelten AD(H)S (Folge des antisozialen, oppositionellen Verhaltens der Betroffenen).
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Andere Studienergebnisse weisen darauf hin, dass mit Stimulanzien behandelte
AD/HS-Patienten
• bessere Schulabschlüsse erreichen,
• seltener delinquent werden
• und seltener Arbeits- und Verkehrsunfälle haben.
Verzögerte
Lernfähigkeiten
Wenig
Sozialkontakte
Aggressives
Verhalten
Komplexe
Lernstörung
Wenig
Selbstwertgefühl
Häufige
Unfälle
Schulverweis
Extreme
Selbstzweifel
Gestörtes
Sozialverhalten
Probleme am
Arbeitsplatz
Erhöhte
Scheidungsrate
Drogenmißbrauch
Abb. 9: AD/HS vom Kindes- bis zum Erwachsenenalter
7.2 Bereiche und Merkmale mathematischer Basisfähigkeiten bei 2weistein
Mathematik in der Schule ist eine komplexe, vielschichtige Sache, die einem ganzheitlichen Modell des Lernens folgt. In unserem Lernspiel greifen wir zentrale Inhalte des Schullehrplans auf und folgen grundsätzlich diesem ganzheitlichen Verständnis des Unterrichtens an einer Grundschule. Darüber hinaus versuchen wir
jedoch auch – auf der Grundlage der Erkenntnisse aus der Dyskalkulieforschung
(Erforschung der Rechenschwäche) sowie der Neuropsychologie – den Zugang
zum Erwerb mathematischer Basisfähigkeiten so einfach, klar und effizient wie
möglich zu gestalten.
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7.2.1
Kognitive Voraussetzungen mathematischen Denkens
Visuelle Wahrnehmung
In der visuellen Wahrnehmung werden Lichtreize über das Auge aufgenommen,
dort bereits verarbeitet und im Gehirn zu Bildern zusammengefügt. Dabei geht es
vor allem um Folgendes:
• Eine Figur von ihrem Hintergrund zu unterscheiden
• Zu erkennen, wenn Formen gleich sind – und zwar auch dann, wenn sie
unterschiedlich groß sind oder unterschiedlich liegen (Formkonstanz)
• Das visuelle Gedächtnis
• Links und rechts zu unterscheiden
• Zu erkennen, in welche Richtung Figuren gedreht sind (Raumlage)
• Symmetrien zu erfassen
Räumliches Denken
Basierend auf der visuellen Wahrnehmung entwickelt sich das räumliche Vorstellungsvermögen. Man kann dadurch Landkarten benutzen oder sich beispielsweise
vorstellen, wie Figuren von verschiedenen Seiten betrachtet aussehen. Durch das
räumliche Vorstellungsvermögen wird es schließlich auch möglich, sich Mengen
und Größen vorzustellen.
Abstraktionsfähigkeit und Begreifen von Invarianz
Das Vermögen zu abstrahieren – also die Fähigkeit, über die Einzelheiten konkreter Anschauungen hinaus übergeordnete Zusammenhänge zu verstehen, deren
innewohnende Gesetzmäßigkeiten anzuwenden und Begriffe zu bilden –, basiert
auf folgenden grundlegenden Fähigkeiten:
• Erkennen von Gemeinsamkeiten und Unterschieden
• Fähigkeit, zur Klassifikation von Mengen
• Ober- und Untergruppen bilden und begreifen zu können
Das Begreifen von Invarianz bedeutet, die Anzahl der Elemente einer Menge unabhängig von ihrer Lage oder Beschaffenheit (z. B. groß/klein, dick/dünn, Farbe
etc.) zu erfassen.
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Varianz
Hier geht es darum, Mengen zu vergleichen: Welche ist die größere und aus wie
vielen Elementen besteht eine Menge. Besitzt eine mehr, weniger oder gleich viele
Elemente? Schätzaufgaben sind hierfür besonders hilfreich, da das Erfassen von
Invarianz sich nicht nur auf Zählen und das sprachliche Wissen darüber, welche
Zahl „größer“ ist, sondern auf ein visuelles Erfassen von Mengen bezieht.
Zählen und Zahlgedächtnis
Die Entwicklung des Zählens und des Zahlgedächtnisses wird in Kap. 2.8.1 beschrieben.
7.2.2 Bausteine des mathematischen Denkens
Zahlbegriff
Ein gut entwickelter Zahlbegriff ist eine notwendige Voraussetzung für erfolgreiches Rechnen. Viele Kinder verwenden beim Rechnen jedoch mehr oder weniger
unbemerkt gar keine Zahlen, sondern stellen Gesetzmäßigkeiten (Algorithmen)
zwischen Zahlwörtern, Nummern oder Ziffern her. Deshalb ist es sehr wichtig,
Aufgaben so zu gestalten, dass der Mengenbezug von Zahlen möglichst sichtbar wird. Doch zunächst: Was sind die Unterschiede und Zusammenhänge zwischen Zahlen, Zahlwörtern, Nummern oder Ziffern (vgl. dazu auch Kap. 2.8.1)?
• Unterscheidung von Ziffer, Zahlwort und Zahl:
Eine Zahl ist eine Anzahl von Elementen, also die Größe bzw. Mächtigkeit einer Menge. Eine Ziffer ist ein Zeichen bzw. Symbol für eine Zahl. Das Zeichen
„4“ oder das Wort „vier“ ist nicht die Zahl „4“, sondern die Bezeichnung für die
Anzahl von vier Elementen. Die Zahl „4“ bedeutet immer dasselbe, egal wie
man sie bezeichnet. Die Zeichen und Wörter sind austauschbar. Das Zeichen
„4“ im Dezimalsystem bedeutet dasselbe wie „100“ im Binärsystem oder „IV“
im römischen Ziffernsystem, das Wort „vier“ bedeutet dasselbe wie „four“ im
Englischen oder „quatre“ im Französischen. Die Zahlen sind dagegen universell.
• Unterscheidung von Nummer (Nominalzahl) und Zahl:
Nummern bezeichnen nicht die Größe einer Menge, sie sind einfach so eine
Art Aufkleber, um Dinge voneinander zu unterscheiden. Ein Fußballspieler
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mit der Trikotnummer 8 ist nicht unbedingt größer als der mit der Trikotnummer 5.
• Unterscheidung von Ordinalzahl und Kardinalzahl:
Die Ordinalzahl gibt einen Platz in einer Rangfolge an, stellt aber selbst keine
Menge dar. Z. B. kann man den ersten und den dritten Sieger in einem Wettkampf nicht zusammenzählen, sodass sie dann den vierten Sieger ergeben
würden. Die Kardinalzahl gibt die Anzahl der Elemente einer Menge – also die
Größe einer Menge – an.
Stellenwertsystem
Das Stellenwertsystem unseres Dezimalsystems ist ein entscheidender „Knackpunkt“ im Erwerb mathematischer Basisfähigkeiten. Viele Kinder zeigen hierbei
Unsicherheiten, weshalb sie sich beim Rechnen mit größeren Zahlen recht schwertun. Die Frage, wie viele Zehner in einen Hunderter oder gar in einen Tausender
passen, wird von vielen Kindern mit Achselzucken beantwortet – obwohl sie z.
B. schriftlich rechnen können. Von daher wird bei 2weistein großer Wert darauf
gelegt, den Kindern sinnliche Vorstellungen von den Zahlen Zehn, Hundert und
Tausend sowie deren Zusammenhang zu vermitteln. Nach Möglichkeit wird in
bildlichen Darstellungen von Zahlen deren Position im Stellenwertsystem mit dargestellt (z. B. bei Zahlenstrahlaufgaben, Auffüllaufgaben oder bei Messungen).
Grundrechenarten
Die Grundrechenarten werden bei 2weistein immer als Kopfrechenaufgaben oder
als Aufgaben anhand konkreter Mengen geübt. Auf das schriftliche Rechnen wird
verzichtet – obwohl dies selbstverständlich eine wichtige Kulturtechnik darstellt
–, weil es für den Erwerb der mathematischen Basisfähigkeiten keine Rolle spielt
und rechenschwache Kinder dadurch gern ihre Schwäche (scheinbar) ausgleichen.
Das heißt: Durch das Einüben von schriftlichem Rechnen wird oft ein Mangel an
grundlegenden mathematischen Basisfähigkeiten ausgeglichen. So kann eine Rechenschwäche sich sogar noch verfestigen.
Rechenschemata werden im Spiel 2weistein vermieden. Stattdessen werden die
Grundrechenarten mit anschaulichen Beispielen und spannenden spielerischen
Aufgabenstellungen verbunden. Eine Ausnahme wird hier jedoch beim Einmaleins gemacht. Dieses wird zwar auch in spannende Spiele eingebettet, doch neben
Aufgaben, die das Verstehen fördern, wird hierbei auch das reine Auswendiglernen von Einmaleinsreihen gefördert.
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Gleichheitsbegriff und Platzhalteraufgaben
Der Gleichheitsbegriff ist für viele Kinder beim Rechnen keine Selbstverständlichkeit, da sie mit dem Istgleich-Zeichen gar nicht den Gedanken der Gleichheit verbunden haben. Wenn diese Kinder das Zeichen „=“ sehen, denken sie nicht: „Links
vom ‚=’ muss die gleich große Menge wie rechts davon sein“, sondern für sie ist der
Anblick des Zeichens „=“ die Aufforderung: „Jetzt musst du ausrechnen, was links
steht, und rechts davon das Ergebnis hinschreiben“. Dies führt dann auch zwangsläufig zu Schwierigkeiten bei Platzhalteraufgaben, die im Prinzip nicht verstanden
werden. Aufgaben, die vom Schema „links Rechenaufgabe, rechts Ergebnis“ abweichen, können die Kinder nicht begreifen. Aufgaben wie x = 54 – 12 oder gar 14 =
x – 11 sind „völliger Quatsch“, etwas, „was doch keinen Sinn macht“ oder „was man
doch gar nicht rechnen kann“.
Aus diesem Grund werden bei 2weistein Platzhalteraufgaben auch so dargestellt,
dass das Prinzip der Gleichheit auf ganz einfache Weise deutlich gemacht wird.
Sachaufgaben
Sachaufgaben können sehr leichte Rechnungen beinhalten – und doch stellen sie
eine ganz besondere Schwierigkeit dar. Die Kinder müssen hier Situationen, Abläufe und Zusammenhänge erfassen und diese dann noch in die passenden mathematischen Rechenansätze überführen. Dies erfordert ein grundlegendes Verständnis
mathematischer Zusammenhänge bzw. diese können anhand von Sachaufgaben
besonders gut veranschaulicht werden. Bei 2weistein wird das Verständnis vom
Zusammenhang zwischen den Inhalten von Sachaufgaben und entsprechenden
Rechenschritten auf verschiedenen Ebenen gefördert. Zum einen beziehen sich
die Sachaufgaben auf Inhalte der Spielwelt und bekommen damit eine „reale“ Bedeutung, deren Lösung für die spielenden Kinder „wirklich“ relevant wird. Zum
anderen wird das Prinzip der Sachaufgaben zum besseren Verständnis in manchen Aufgaben auch umgedreht. Die Kinder bekommen Rechnungen präsentiert
und sollen die dazu passende Sachaufgabe auswählen.
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8. AD/HS-Kriterien und Umsetzung im Spiel, pädagogisch-psychologische
Ziele
Die speziellen Probleme, unter denen ein AD/HS-Kind leidet, werden im Spiel
2weistein besonders berücksichtigt. Dies sind: die Kognition, Gefühle/Motivation
und Handlungsplanung.
8.1 Kognition
Kinder mit einer Aufmerksamkeitsstörung haben häufig Schwierigkeiten in der
visuellen Wahrnehmung. Dies bedeutet, dass es ihnen schwerfällt, Figur und Hintergrund voneinander zu unterscheiden. Dadurch ist es für sie schwierig, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden. Sie müssen viele Reize aufnehmen, ohne
den Blick für das Wesentliche zu haben. Dadurch verlieren sie oft das Ziel einer
Handlung aus den Augen und lassen sich ablenken.
In 2weistein wird das Kind durch klare Szenarien geführt, d. h., die Grafik ist so
gestaltet, dass es nicht zu viele Ablenkungen für das Kind geben kann, die Bilder
haben eine klare Gestalt, sind überschaubar und für das Kind gut zu erfassen. Der
Hintergrund, z. B. die farbliche Gestaltung der Stadtmauern, ist eher blass gehalten, wodurch sich die bedeutsamen Dinge, wie etwa die zu suchenden Kisten oder
Kürbisse, deutlich abheben.
Auch die einzelnen Szenarien, sei es das Hühnereinsammeln, Schätzaufgaben im
Elfenwald oder Kürbissezählen, sind überschaubar gestaltet, sodass das Kind den
eigentlichen Zusammenhang und den Leitfaden in der Geschichte nicht verliert.
AD/HS-Kinder lernen andererseits jedoch häufig deutlich besser über den visuellen
als über den auditiven Kanal, d. h. es fällt ihnen leichter, wenn sie Aufgaben sehen
und nicht nur hören. So ist es sinnvoll, dass in 2weistein die Aufgabenstellung
noch einmal schriftlich dargestellt wird und u. a. die richtige Antwort eingeblendet
wird. Dank dieser Technik hat das Kind die Möglichkeit, sich die richtige Lösung
gleich zu merken und auch zu behalten. In einzelnen kurzen Spielsequenzen lernt
das Kind seine visuelle Wahrnehmung zu trainieren, indem es sich vorgegebene
Zeichen genau merken und aus einer Menge von dargebotenen Reizen herausfiltern muss.
Schwierigkeiten in der geteilten Aufmerksamkeit, wie etwa gleichzeitig zu erzählen
und sich dabei anzuziehen, etwas zu hören und gleichzeitig zu schreiben, sind im
43
Alltag ebenfalls häufiger festzustellen. Bei 2weistein gibt es zunächst nur wenige
Aufgaben, die zwei Aktionen gleichzeitig erfordern. Dafür sind die Aufgaben aber
unterschiedlich schwer, um eine gewisse Übung in diesem Bereich zu erzielen.
Hinsichtlich der auditiven Wahrnehmung (hören) zeigt sich, dass Kinder mit AD/HS
Probleme haben, sich die Informationen zu merken. Stattdessen vergessen sie sehr
schnell. Außerdem haben sie oft Mühe, auf bereits erworbenes Wissen zurückzugreifen. Nicht selten wird von den Kindern eine gewisse Geräuschempfindlichkeit
beschrieben. In 2weistein werden diese Aspekte dadurch berücksichtigt, dass eine
zu starke, ablenkende Geräuschkulisse vermieden wird. Die Geräusche sind so gestaltet, dass sie zu einer gewissen Stimulation beitragen, um die Grundwachsamkeit der Kinder zu erhöhen, Spannung zu erzeugen und diese zu halten. Nur so
können sich die Kinder auf das Wesentliche konzentrieren.
Um die Merkfähigkeit zu verbessern, sind regelmäßige Wiederholungen im Spiel
eingebaut. Dadurch kann das neu erworbene Wissen auf spielerische Art auch längerfristig abgespeichert werden. So werden die Einmaleins-Reihen, Zehner- oder
Hunderter-Übergänge immer wieder geübt. Die dazugehörigen Lösungen sind in
Hilfemenüs zu finden, damit dem Kind der Rechenweg deutlich wird.
8.2 Emotion/Motivation
Für AD/HS-Kinder ist es oft schwer, sich so lange zu konzentrieren, wie es für erfolgreiches Lernen notwendig wäre. Zudem wird auf neue Reize nicht unbedingt
immer entsprechend reagiert.
Schwierigkeiten in der Impulskontrolle und somit in der Handlungsplanung werden bei AD/HS oft als hinderlich für erfolgreiches Lernen beschrieben. Dies sieht
im Alltag so aus, dass Kinder z. B. Aufgaben überspringen, handeln, bevor sie denken, oder sich gar an einer Sache festbeißen. Damit verbunden sind oftmals Stimmungsschwankungen, die sich in unkontrollierten Gefühlsausbrüchen äußern
können.
In 2weistein erhält das Kind stets klare und überschaubare Anweisungen. Die Aufgaben werden in Textform und in gesprochener Form präsentiert, sodass das Kind
leicht verstehen kann, was es gerade macht. 2weistein gibt ihm bei einem falschen
Ergebnis einen zusätzlichen Hinweis, der das Kind anregt, sich genau zu überlegen, was es bei der Aufgabe tun muss. Auf diese Weise wird eine quasi-natürliche
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Bremse bei impulsivem Handeln eingesetzt. Einige Aufgaben sind so gewählt, dass
das Kind bei impulsivem Handeln nicht das gewünschte Ergebnis erzielt. So muss
es z. B. von einem fliegenden Teppich zum andern hüpfen. Springt es drauflos,
ohne sich vorher entsprechend selbst zu steuern und seine Aufmerksamkeit auf
das Springen zu richten, so springt es daneben und fällt einfach runter. Ebenso
ergeht es ihm, wenn es von einer Mauerbrüstung zur anderen springen muss.
Um einem Gefühlsausbruch, welcher Art auch immer, vorzubeugen, werden in
2weistein regelmäßig sogenannte dynamische Spiele eingebaut. Diese fördern
zwar die Konzentrationsfähigkeit der Kinder, haben jedoch mit Rechnen zunächst
mal nichts zu tun. Die Impulsivität der Kinder wird dadurch zwischendurch immer wieder kontrolliert.
AD/HS-Kinder haben häufig in ihrer schulischen Laufbahn viele Misserfolge zu
verbuchen, ihre Frustrationstoleranz ist gering. Sie geben schnell auf, sind schnell
enttäuscht, und ihr Selbstwertgefühl wird durch jeden weiteren Misserfolg ein
Stückchen kleiner. Ein gesunder Umgang mit Fehlern ist für die Kinder kaum
möglich.
In 2weistein sind deshalb schnelle Belohnungen eingebaut, um ein gewisses Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten zu schaffen und so der Frustration entgegenzuwirken. Durch sofortige Belohnung erhöht man die Wahrscheinlichkeit, dass das
Kind sich weiter anstrengt und zu weiteren Erfolgserlebnissen kommt. Schafft ein
Kind eine Aufgabe nicht, so wird es unmerklich auf ein niedrigeres Level zurückgestuft, so dass es rasch wieder erfolgreich ist, wieder positiv denken und fühlen
kann. Macht es einen Fehler, so wird auf eine motivierende, kindgerechte Art geantwortet. Frustrierende, harte Rückmeldungen, wie etwa „das ist falsch“ kommen
nicht vor. Außerdem wird das Kind nicht dadurch frustriert, dass es auf einer Stufe
stehen bleibt oder in ständigen Wiederholungsschleifen verweilt, bis es die Antwort weiß. Es kommt zunächst durch leichtere Aufgaben ein Stück weiter, wird
dann aber wieder auf schwierigerer Stufe gefordert.
Das niedrige Selbstwertgefühl der AD/HS-Kinder insbesondere hinsichtlich ihrer
schulischen Leistungen zeigt sich darin, wie diese Kinder ihre eigenen Leistungen
bewerten. Im Fachbegriff wird dieses Verhalten Kontrollüberzeugung genannt.
Dahinter steckt die Frage, ob ein AD/HS-Kind seine Erfolge auf eigene Fähigkeiten
zurückführt oder es der Auffassung ist, dass es Glückssache war oder „die Aufgabe
war so leicht, dass sogar ich sie lösen konnte“? Oftmals haben die Kinder wenig
Zutrauen in das, was sie können.
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Was wir im Alltag häufig tun sollten, ist loben. Leider kommt genau das aber in
aller Regel zu kurz oder wird von den Kindern in kritischen Situationen nicht angenommen. In 2weistein werden die Kinder regelmäßig und auf ganz unterschiedliche Art für ihre Anstrengung, ihr Durchhaltevermögen und ihr Können gelobt.
Diese positive Reaktion spornt sie zusätzlich an und fördert eine positive Haltung.
Beides sind enorm wichtige Voraussetzungen für erfolgreiches Lernen.
8.3 Handlungsplanung/Handlungsumsetzung
AD/HS-Kinder haben häufig Schwierigkeiten, vorausschauend zu planen und zu
antizipieren (was wird folgen, wenn ich etwas Bestimmtes tue?). Um eine Aufgabe
lösen zu können, ist eine planvolle Vorgehensweise jedoch in aller Regel notwendig. Durch eine schnelle und flüchtige Arbeitsweise entstehen unnötige Fehler,
durch ungezieltes Arbeiten wird das Arbeitstempo verlangsamt, komplexe Denkvorgänge, wie etwa bei Sachaufgaben, sind nicht möglich. Bei beiden Arbeitsstilen
fällt das Ergebnis unbefriedigend aus.
In 2weistein werden Versuch-und-Irrtum-Strategien des Kindes nur bedingt zugelassen bzw. sie werden unterbrochen. Bei fehlgeschlagenen Lösungsversuchen
werden dem Kind Strukturierungshilfen angeboten im Sinne von „Erinnere dich
genau, was du tun sollst. Schau dir die Aufgabe noch mal genau an. Mach dir einen
Plan“ etc. Auf diese Art und Weise kann das Kind eine überlegtere Vorgehensweise
lernen, eine überlegtere Vorgehensweise zu verinnerlichen und von seiner herkömmlichen Strategie wegkommen.
Bei vielen 2weistein-Aufgaben steht nicht das Tempo im Vordergrund, sondern
die Sorgfalt. Umgekehrt kommen Aufgaben vor, die unter Zeitdruck zu schaffen
sind und daher Wachsamkeit und Konzentration erfordern. Dabei soll die Fähigkeit trainiert werden, das Augenmerk auf die Aufgabe zu richten und das Tempo
zu steigern.
8.4 Wissensaufbau
AD/HS-Kinder haben das Problem, Gelerntes nicht schnell und genau genug wiedergeben zu können. Dies führt wiederum häufig zu Frustration, da die Kinder
sich eigentlich angestrengt und bemüht haben, die Erwartungen aber nicht erfüllen können. Dabei sind sie in der Regel sehr intelligent, können dies jedoch nicht
zeigen.
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In 2weistein können sich die „Helden“ in verschiedenen Welten bewegen, wobei
die Haupt-Sachthemen des Unterrichts immer aufs Neue auftauchen. Dies bedeutet, dass Gelerntes beständig wiederholt werden kann und so eine gewisse Routine
entsteht. Das Gelernte wird mittels vieler Wiederholungen automatisiert. Das Wissen kann zu gegebenem Zeitpunkt besser und sicherer abgerufen werden. Außerdem wird auf den verschiedenen Leveln das Arbeitstempo gesteigert, indem die
zur Verfügung stehende Zeit bei manchen Aufgaben gekürzt wird. Man kann nämlich davon ausgehen, dass bei stetiger Automatisierung das Tempo von Haus aus
höher wird. Diese stetig steigende Anforderung hält das Kind dazu an, vor allem
auf Genauigkeit und weniger auf das Tempo zu achten. Die Schnelligkeit ergibt
sich dann entweder von selbst oder durch Training.
Die vielen Unsicherheiten im Lernprozess machen es den AD/HS-Kindern nicht
leicht, eine gewisse Flexibilität im Denken zu erreichen und z. B. alternative Lösungsmuster zu entwickeln, obwohl ihr kreatives Potenzial eigentlich dazu leicht
ausreichen müsste.
Das in 2weistein häufig spielerisch wiederholte Wissen führt zur Automatisierung,
die den Kindern wieder erlaubt, gute Lösungsstrategien, z. B. bei Sachaufgaben, zu
entwickeln, ohne das Wichtige – nämlich die eigentliche Fragestellung – aus dem
Auge zu verlieren. So können Texte zusehends entschlüsselt und die entscheidenden Begriffe erkannt werden.
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