Brainmonster Studios Lernen Trainieren Spielen! e b o r p e Das große Fachbuch zur 2weistein Spieleserie Hintergrund und Konzept einer neuartigen ADHS- und Dyskalkulie-Lernsoftware Adv en t s e L ing Gam earn L e e r u Dr. med. Adam Alfred • Dipl. Psych. Stefanie Eiden • Dr. phil. Markus Fellner • Irmgard Wilfurth Lernen Trainieren Spielen Das große Fachbuch zur 2weistein Spieleserie Hintergrund und Konzept einer neuartigen ADHS-und Dyskalkulie-Lernsoftware 2 Impressum: Herausgeber: Brainmonster Studios GmbH Balanstraße 57 81541 München Tel: +49 (0)89 / 30 90 876 - 0 Fax: +49 (0)89 / 30 90 876 - 29 Autoren: Dr. med. Adam Alfred Dipl. Psych. Stefanie Eiden Dr. phil. Markus Fellner Irmgard Wilfurth Gestaltung: die multimedia schmiede, München Oktober 2008 3 Inhalt des Fachbuches 1. Einleitung 2. Die theoretischen Hintergründe des Lernens 2.1 Lernen – was ist das eigentlich? 2.1.1 Wie lernt unser Gehirn? – Die biologischen Grundlagen des Lernens 2.1.2 Wie ist unser Gehirn aufgebaut? 2.1.3 Die Anatomie des Gehirns (für Unerschrockene) 2.1.4 Was passiert in unserem Gehirn beim Lernen? 2.1.5 Wovon hängt der Lernerfolg ab? 2.1.6 Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für das Lernen und Lehren? 2.3 Die psychologischen Aspekte des Lernens 2.4 Was bedeuten all diese Erkenntnisse für ein Lernspiel? 2.5 Ein Überblick über die klassischen Lerntheorien 2.5.1 Klassische Konditionierung 2.5.2 Operante Konditionierung 2.5.3 Integrative Ansätze 2.5.4 Soziales Lernen 2.5.5 Gestaltpsychologie 2.6 Lernen und Gedächtnis 2.7 Lernen und Spielen: Zur entwicklungspsychologischen Bedeutung des Spiels 2.7.1 Die zentralen psychologischen Kriterien des Spiels 2.7.2 Entwicklungsphasen des Spiels 2.7.3 Spielen und die Entwicklung des Selbst – die tiefenpsychologische Perspektive 2.8 Lernen von Rechenfertigkeiten 2.8.1 Die Entwicklung des Zahlbegriffs und mathematischer Basisfertigkeiten 2.8.2 Dyskalkulie – Rechenschwäche als besondere Herausforderung des Lernens mathematischer Basisfähigkeiten 3. Lernen und Schule 4 3.1 Wie sieht Lernen heute aus? 3.2 Schule und Computer 3.2.1 Zur Klassifikation von Lernsoftware 3.2.1 Der PC im Klassenzimmer 4. Lernen mit AD/HS 4.1 AD/HS – was ist das? 4.2 AD/HS-Kinder im Unterricht 4.2.1 ADS: Die „Träumerchen“ – welche Stärken bzw. Schwierigkeiten zeigen sich im Schulalltag? 4.2.2 AD/HS-Kinder und ihre Schulleistungen 4.3 AD/HS und das Lernen am Computer 4.4 AD/HS-Kinder und Lernsoftware im Unterricht 4.5 Therapeutische Ansätze im Rahmen von 2weistein 5. Kriterien eines guten Lernspiels 5.1 Spielekategorien und offizielle Spielebewertung 5.2 Was kennzeichnet ein gutes Computer-Lernspiel? 5.3 Spezielle pädagogische Kriterien 6. Computerspiele und Medienpädagogik 6.1 Entwicklungspsychologische Aspekte von Computer-Lernspielen 6.2 Computerspiele in der gesellschaftlichen Diskussion 6.3 Zur Darstellung von Gewalt in Computerspielen 6.4 Computer und Sucht 6.5 Medienkompetenz – ein Schlüsselbegriff der Medienpädagogik 5 7. Das pädagogisch-psychologische Konzept von 2weistein 7.1 Mathematik in der Schule – Lerninhalte, Lernprozesse und Lernziele 7.2 Bereiche und Merkmale mathematischer Basisfähigkeiten bei 2weistein 7.2.1 Kognitive Voraussetzungen mathematischen Denkens 7.2.2 Bausteine des mathematischen Denkens 7.2.3 Analytische Sicherheit im mathematischen Denken 7.2.4 Struktursicherheit im mathematischen Denken 7.3 Pädagogisch-psychologische Ziele – Möglichkeiten und Grenzen des Spiels 7.4 Inhaltlich-didaktischer Leitfaden 7.5 Verschränkung von Spielwelten und inhaltlich-didaktischem Aufbau 7.6 Anwendung des Spiels 7.6.1 Anwendung in der Schule 7.6.2 Anwendung zu Hause 7.6.3 Übungen zwischen Spielsitzungen 8. AD/HS-Kriterien und Umsetzung im Spiel, pädagogisch-psychologische Ziele 8.4 Kognition 8.5 Emotion/Motivation 8.6 Handlungsplanung/Handlungsumsetzung 8.7 Wissensaufbau 9. Auswertungsfeatures: Dyskalkulie, Konzentration, Aufmerksamkeit, Impulsivität, Rechenfertigkeit 10.Tipps für Eltern und Experten 10.1 Lernen mit AD/HS 6 10.2 Tipps für Eltern zum Lernen mit rechenschwachen Kindern 11.Spielaufbau 11.1 Übersicht 11.2 Beschreibung der Story 11.3 Inhalte des Spiels 11.4 Die Matheaufgaben und AD/HS-Trainingsfeatures 12.Evaluation 12.1 Evaluation der Charaktere 12.2 Evaluation der Spielwelten 13.Das Lernen in der Zukunft 13.1 Die schulische und berufliche Landschaft zu Beginn des 21. Jahrhunderts 13.2 Das E-Learning: die Weiterbildung für alle 13.3 Vor welchen Herausforderungen für das Lernen stehen wir? Literaturverzeichnis 7 Diese Leseprobe enthält ausgewählte Kapitelauszüge aus dem Fachbuch: Lernen Trainieren Spielen. Die Beiträge wurden von Experten aus den Gebieten Pädiatrie, Psychologie und Pädagogik verfasst und geben ein fundiertes Wissen zu den Themen AD(HS), ADS und Dyskalkulie in Praxis und Alltag wider. Das in diesem Kontext entwickelte Computerspiel 2weistein wird unter ausführlicher Schilderung seiner Ziele und Besonderheiten erläutert. Die komplette Ausgabe des Fachbuches Lernen- Spielen Trainieren liegt der Therapeutenversion 2weistein bei oder ist unter www.brainmonster.de im Direktbezug erhältlich. Wir wünschen Ihnen eine interessante Lesezeit! 8 Leseprobe ausgewählter Artikel 1. Einleitung Kinder wollen lernen! Ihre natürliche Neugier macht sie zu kleinen Forschern. Nur wenn es um die Schulaufgaben geht, scheint ihr Wissensdurst oft viel zu schnell gestillt. Mit der modernen Software 2weistein können sie gleichzeitig spielen und lernen. Zum ersten Mal kombiniert ein Abenteuer-Lernspiel den Spaß eines Computerspiels mit dem Nutzen einer Lernsoftware – und zwar auf höchstem technischem Niveau. 2weistein ist ein „richtiges“ Computerspiel: Es ist interaktiv, dreidimensional und spannend. Die Kinder können es sowohl allein als auch mit anderen Kindern oder mit ihren Eltern gemeinsam spielen. Lernerfolge und gute Schulbildung sind die wichtigsten Voraussetzungen für den Start in das Berufsleben. Wer keinen guten Abschluss hat, bleibt auf dem Arbeitsmarkt meist chancenlos. Doch der hohe Leistungsdruck führt bei vielen Kindern zu Schwierigkeiten im Unterricht oder bei den Hausaufgaben. Ängste begleiten Mädchen und Jungen oft jahrelang. Erkenntnisse darüber, wie Kinder erfolgreich lernen, gewinnen daher immer mehr an Bedeutung. Herauszufinden, warum Lernen für viele Kinder so schwierig ist, zählt dabei zu den größten Herausforderungen. Entsprechende Erkenntnisse wiederum sind besonders nützlich für die Entwicklung neuer hochwirksamer Lernmethoden. 9 Das Konzept von 2weistein wurde auf der Basis pädagogisch-psychologischer Forschung sowie praktischer Erfahrungen entwickelt. Besonders berücksichtigt wurden die Lernschwierigkeiten jener Kinder, die an einer sogenannten Rechenschwäche oder an Konzentrationsstörungen leiden und deren Probleme mit der medizinischen Diagnose einer Aufmerksamkeits-/Hyperaktivitätsstörung (AD/HS) beschrieben werden können. Diese Kinder benötigen eine auf mehreren Stufen ruhende Behandlung. 2weistein ist im Sinne eines multimodalen Behandlungsansatzes als eine Säule unter mehreren hervorragend einsetzbar, denn neben der intensiven Arbeit mit dem Kind in Therapie oder Schule, der Elternarbeit, der medikamentösen Behandlung, lässt sich diese spezielle Lernsoftware als weiterer Baustein in der Arbeit mit dem Kind einsetzen. 2weistein nützt nicht nur Kindern mit diesen speziellen Problemen, sondern allen Schülern, denn pädagogische Forschung und praktische Erfahrung zeigen, dass grundsätzlich alle Kinder von den neuen Lernmethoden profitieren, die speziell für Kinder mit Konzentrationsschwierigkeiten bzw. AD/HS entwickelt worden sind. Es stellt sich allerdings die Frage, ob ein Computerlernspiel wirklich sinnvoll ist in einem Alltag, der oftmals durch moderne Medien bestimmt wird: Kinder sitzen oft zu lange allein vor dem Computer oder dem Fernseher. Sie spielen zu wenig mit Freunden und vernachlässigen die unendlichen Möglichkeiten, die ihnen ihre Sinne, ihr Denken und ihr Fühlen schenken können. Bei der Entwicklung eines Computer-Lernspiels sollte deshalb darauf geachtet werden, dass über das Spielen am PC auch soziale Interaktionen vermittelbar sind und dass ein verantwortungsvoller Umgang mit Medien erlernt wird. 2weistein ist hierbei nicht nur ein „Nachhilfeprogramm“, sondern auch das Ergebnis einer intensiven Auseinandersetzung mit den Notwendigkeiten und Chancen, aber auch den Gefahren beim Umgang von Kindern mit den neuen Medien. In dem hier vorliegenden Begleitbuch werden die Hintergründe und Zielsetzungen von 2weistein vorgestellt. Zunächst soll ein Einblick in die Welt der Wissenschaften vom Lernen gegeben werden. Es wird erklärt, wie unser Gehirn beim Lernen funktioniert und was Psychologen heute über die Fähigkeit des Lernens wissen. Über eine Einführung in die wichtigsten Begriffe und Modelle der Lernpsychologie 10 hinaus wollen wir uns dabei mit der Frage beschäftigen, inwiefern die lernpsychologischen Konzepte sowohl für das Lernen im Alltag als auch für ein ComputerLernspiel nützlich sind. Weiterhin wird erläutert, welch grundlegende Bedeutung dem Spielen in der Entwicklung von Kindern zukommt. Wir geben einen Überblick über die wesentlichen psychologischen Merkmale des Spielens, kategorisieren verschiedene Formen des Spielens und erörtern, was sie für die Entwicklung eines Kindes bedeuten. Aus Sicht der Entwicklungspsychologie werden hier auch tiefenpsychologische Aspekte des Spielens berücksichtigt und wie weit sie in das Spiel 2weistein eingeflossen sind. Aus einer entwicklungspsychologischen Perspektive wird nachvollzogen, wie die Vorstellung von Zahlen und der rechnerische Umgang mit ihnen entstehen und welche Schwierigkeiten dabei auftreten können. Anschließend gehen wir der Frage nach, wie sich das Lernen in der Schule bis heute entwickelt hat und welche Bedeutung der Lernsoftware dabei mittlerweile zukommt. Wie bereits erwähnt, führen die fachlichen Hintergründe von 2weistein in den Bereich der Aufmerksamkeits- und Konzentrationsschwierigkeiten sowie der damit verbundenen therapeutischen Praxis. Im vorliegenden Buch wird deshalb eine Zusammenfassung der derzeitigen medizinisch-psychologischen Modelle, diagnostischen Möglichkeiten und therapeutischen Ansätze in Bezug auf AD/HS gegeben. Darüber hinaus beantworten wir die Frage, inwieweit eine moderne Lernsoftware hier helfen kann. Daran anschließend wird dargestellt, woran man ein gutes Lernspiel erkennt. Neben pädagogischen und psychologischen Fragestellungen zum Lernen mittels eines „Abenteuer-Computer-Lernspiels“ gehen wir auch den gesellschaftlich relevanten Aspekten von Computerspielen nach. Dazu werden neue Erkenntnisse aus der sogenannten Medienpädagogik berücksichtigt. Im Mittelpunkt stehen dabei einerseits mögliche Gefahren von Computerspielen wie Suchtverhalten und Darstellung von gewalttätigen Inhalten und andererseits der Erwerb sogenannter „Medienkompetenz“, d. h. der Fähigkeit zu einem selbstbestimmten, kritischen und entwicklungsförderlichen Umgang mit Medien. Schließlich stellen wir das Konzept von 2weistein und die wichtigsten Entwicklungsschritte vor. Das heißt, es werden der Spielaufbau, das Gamedesign, die mathematischen Inhalte, die pädagogisch-psychologischen Ziele und die Anwendungsmöglichkeiten von 2weistein beschrieben. Wir erläutern, wie weit die Erkenntnisse aus der AD/HS-Forschung in der Spielkonzeption umgesetzt wurden und welche psychologischen Funktionen im Spiel gemessen werden können. Tipps für Eltern und Lehrer zum Lernen mit AD/HS-betroffenen oder rechenschwachen Kindern vervollständigen die Erläuterungen zum Thema AD/HS. Ein abschließen- 11 der Ausblick darauf, wie wir in Zukunft lernen, verdeutlicht uns die immensen Veränderungen unserer Lerngewohnheiten. 2.8 Lernen von Rechenfertigkeiten Bisher haben wir die neurobiologischen und psychologischen Hintergründe von 2weistein dargestellt. Nun erklären wir die theoretischen Hintergründe des Erlernens von Rechenfertigkeiten. Es geht um die Entwicklung des Zahlbegriffs, der mathematischen Basisfertigkeiten und um das Phänomen der Rechenschwäche. Letzteres verdeutlicht ganz besonders, worauf es beim Lernen von Mathematik generell ankommt. 2.8.1 Die Entwicklung des Zahlbegriffs und mathematischer Basisfertigkeiten Das Erlernen des Rechnens geht einher mit dem Erwerb eines Zahlbegriffs und der Entwicklung mathematischer Basisfertigkeiten. Diese sind grundlegend an die Vorstellung von Mengen gebunden. Studien belegen, dass bereits Säuglinge über die Fähigkeit verfügen, kleinere Mengen zu unterscheiden. Mit sechs Monaten können Kinder schon Reihenfolgen von wenigen Aktionen erkennen. Mit 18 Monaten zählen sie drei bis vier Objekte und ab zwei Jahren dann ihre Körperteile. Mit vier bis fünf Jahren können bereits einfache Additionen und Subtraktionen intuitiv durchgeführt werden (vgl. Jacobs & Petermann 2005; Aster, von 2005a; Fritz & Ricken 2005). Bis zum Schuleintritt haben Kinder im Prinzip schon ein grundlegendes Verständnis von Zahlen sowie einen einfachen rechnerischen Umgang damit erworben. Sie können links und rechts, oben und unten sowie kleiner und größer unterscheiden. Sie können eine Menge von bis zu zehn Elementen begreifen und meistens bis 20 zählen. Sogar kleine Sachaufgaben lösen sie schon, wie: „Du hast fünf Bonbons und gibst davon zwei an deinen Freund ab. Wie viele hast du dann noch übrig?“ Nach der ersten Klasse können Kinder im Zahlenraum bis 20 plus und minus rechnen, verdoppeln und halbieren. In der zweiten Klasse lernen sie im Zahlenraum bis 100 zu multiplizieren und zu teilen. Nach der dritten Klasse wird schließlich der Zahlenraum bis 100 über alle vier Grundrechenarten erschlossen, und sie lernen diese Zahlvorstellung auf Län- 12 gen, Gewichte oder Geld zu übertragen bzw. mit Maßeinheiten (z. B. Zentimeter) zu rechnen. In der vierten Klasse wird der Zahlenraum bis zu einer Million ausgebaut, und es werden schwierige Sachaufgaben bis hin zum Dreisatz erlernt (vgl. Schlotmann 2004, S. 24 f.). Wie kann man sich nun das Verständnis von Zahlen in der Entwicklung eines Kindes vorstellen? Eine differenzierte und sehr anschauliche Grundlage liefert dafür das sogenannte „Triple-Code-Modell“ von Dehaene (1992). Der Zahlbegriff wird dabei in drei verschiedene Module unterschieden: in ein sprachliches Modul (also z. B. das Wort „dreizehn“), in ein semantisches Modul bezogen auf analoge Größen (z. B. ein Zahlenstrahl mit der Länge von dreizehn Einheiten) und ein visuell-arabisches Modul (z. B. das Zeichen „13“). analoge Größe 0 20 semantisches Modul dreizehn sprachlich alphabetisches Modul 13 visuellarabisches Modul Abb. 7: Triple-Code-Modell von Dehaene (1992), zit. nach Aster 2005b, S.14 Diese drei Module stellen dar, wie Mengen im Denken und Wahrnehmen unterschiedlich dargestellt werden. Wichtig ist dabei, dass diese drei Module miteinander verbunden werden und auch ineinander überführt werden können. Ein Beispiel: Wenn man 13 Gummibärchen sieht, kann man dazu eine entsprechende Anzahl von Strichen aufmalen oder auf einem Zahlenstrahl die entsprechende Strecke markieren (semantisches Modul). Man versteht, dass dazu das schriftliche Zeichen „13“ gehört (visuell-arabisches Modul), und man kann dazu auch das Wort „dreizehn“ sagen. 13 Alle drei Module gehören zusammen und bilden einen sicheren Zahlbegriff. Am wichtigsten ist hierbei das semantische Modul, das sich auf analoge Größenvorstellungen bezieht. Hier geht es um eine innere Zahlraumvorstellung, die es auch ermöglicht, größere Mengen mental zu repräsentieren – z. B. indem man Größen einschätzen kann. Das sprachliche und das visuell-arabische Modul dienen der äußeren Darstellung von Zahlen und der sicheren Verständigung über sie. Die oben beschriebene Fähigkeit, kleine Mengen bis zu drei Elementen sicher erfassen zu können, scheint angeboren zu sein. Um im Laufe der frühkindlichen Entwicklung auch größere Mengen begreifen und relativ sicher schätzen zu können, bedarf es zuverlässiger innerer Bilder, mit denen die unterschiedlichen Größen dargestellt werden. Hierbei stellt man sich in der Forschung zum Zahlerwerb eine Art inneren Zahlenstrahl vor (vgl. Resnick 1983), der uns hilft, verschiedene Größen zu erfassen und ins Verhältnis zueinander zu setzen. Gleichzeitig lernen Kinder das Zählen – und verbinden dies nach und nach mit den Vorstellungen über unterschiedliche Größen. Der innere Zahlenstrahl wird sozusagen gegliedert, er bekommt durch das Zählen Struktur. Folgendes Modell der Zählentwicklung veranschaulicht, wie dies auf fünf Ebenen vonstatten geht (vgl. Fuson 1988; Fritz & Ricken 2005; Krajewski 2005): 1. Es werden zunächst undifferenzierte Wortganze gebildet („einszweidreivierfünfsechs“...). Dies geschieht einfach aus Spaß an der Sprache und hat noch nichts mit Mengenvorstellungen zu tun. 2. Danach werden die Zahlwortreihen in eine unzerbrechliche Kette gegliedert. Das Kind zählt immer noch von Anfang bis Ende (z. B. von eins bis zehn), nimmt die verschiedenen Zahlwörter (eins, zwei, drei etc.) aber nun als einzelne – wenn auch unzertrennliche – Einheiten wahr. 3. Die Kette wird aufgebrochen. Ab vier Jahren können Kinder an einer belie- bigen Stelle in der Kette anfangen und aufhören zu zählen – und „das letzte zugeordnete Zahlwort enthält (nun) die Information über die Mächtigkeit der Menge und umfasst zugleich die gesamte Menge aller Objekte“ (Fritz & Ricken 2005, S. 15). Es entsteht somit eine Vorstellung des Kardinalwertes von Zahlen und eine Verbindung zum inneren Zahlenstrahl. 4. Die Kette mit ihren Teilketten bekommt einen numerischen Sinn. Die Zahl Fünf beinhaltet schon das Zählen bis fünf, und beispielsweise die Zahl Drei wird hinzugezählt (5 + 3 = fünf ... sechs-sieben-acht). Erste Additionen und 14 Subtraktionen können sicher ausgeführt werden. 5. Die Kette kann vorwärts und rückwärts gezählt und Zahlen können nach einem Teil-Ganzes-Schema erfasst werden. Das heißt, Zahlen können zusammengefügt und auch wieder in verschieden große Einzelteile zerlegt werden. Die Addition 3 + 5 kann durch Zerlegen der 8 zum Beispiel in 4 + 4 überführt werden. Es wird begriffen, dass Addition und Subtraktion umkehrbar sind, und „Zählen wird als eine, aber nicht einzige Strategie des Rechnens erkannt“ (Krajewski 2005, S. 55). Die unter Punkt 5 beschriebene Entwicklung der Teil-Ganzes-Schemata und damit des Wissens über Beziehungen zwischen Mengen ist der wichtigste Entwicklungsschritt im Erwerb mathematischer Basisfertigkeiten (vgl. Resnick 1983; Gerster 2003). Diese Fähigkeit erlaubt es den Kindern, flexible Lösungen zu finden. Rechenaufgaben müssen nicht nach starren Schemata (z. B. Vorwärtszählen) bearbeitet werden, sondern die in den Zahlen enthaltenen Teile können miteinander in Beziehung gesetzt werden (z. B. 9 + 7 = 9 + 1 + 6). Zählen und Mathematik lernen Kinder aber nicht nur mit dem Kopf, sondern mit dem ganzen Körper. Dieser Aspekt ist besonders wichtig, denn Kinder lernen Zählen maßgeblich auch in Verbindung mit Bewegungen. Sie hüpfen beim Zählen beispielsweise die Stufen einer Treppe hinauf, gehen Schritt für Schritt eine Linie entlang oder bewegen die Finger. Inge Schwank nennt diese Verknüpfung „Aufbau mentaler Motorik“, welche die Vorstellung von Abläufen (funktionales Denken) beinhaltet und schließlich einen „Zahlenkonstruktionssinn“ vermittelt (Schwank 2005, S.129, f). Zahlen werden sozusagen innerlich produziert, indem sie aus dem Gefühl für abzählbare Bewegungen und der Vorstellung von Mengen bzw. Größen zusammengebaut werden. Diese Entwicklung zu einem guten Verständnis für Zahlen verläuft nicht ganz selbstverständlich. Kinder können den numerischen und mathematischen Zeichen sowie den Rechen-Regelwerken, mit denen sie in der Schule arbeiten, andere Bedeutungen geben. Da sie trotzdem zunächst zu „richtigen“ Ergebnissen führen, bemerken Lehrer und Eltern diese „Fehl“-Entwicklung oft nicht. Daher ist es wichtig, den Kindern Mathematik anhand von Aufgaben zu vermitteln, die den unter Punkt 4 beschriebenen numerischen Sinn von Zahlen und die jeweils entsprechenden Mengen gut veranschaulichen. „Erhält ein Kind im Mathematikunterricht nicht von Anfang an solche Aufträge zur Bearbeitung, die ihm die Produktionsverfahren beim Zahlenaufbau bewusst und begreiflich machen, fehlt ihm eine fundamentale Einsicht, die später nur noch mühsam erworben werden kann. In Gefahr geraten hier gerade auch aufgeweckte 15 Kinder, die über ausreichend Konzentrationsvermögen und Gedächtniskapazität verfügen, zudem gut schulisch sozialisiert sind, behütet aufwachsen und regelmäßig gewissenhaft ihre Hausaufgaben erledigen: Sie erwerben einfach fleißig Automatismen und können so – trotz Fehlens tragfähiger Vorstellungen von Bauplänen zur Konstruktion von Zahlen und den sie verknüpfenden Operationen – Antworten auf die ihnen gestellten Fragen in den ersten Schuljahren sicher und korrekt parat haben“ (Schwank 2005, S. 116). Auch wenn ein Kind die Rechenregeln anwendet und beim Lösen von Aufgaben zum richtigen Ergebnis kommt, bedeutet das nicht zwangsläufig, dass dieses Kind die mathematischen Basisfertigkeiten beherrscht. In diesen Fällen spricht man von einer Rechenschwäche (Dyskalkulie). Betroffene Kinder müssen die grundlegenden Fähigkeiten im Umgang mit Zahlen sozusagen nachträglich erlernen. 4. Lernen mit AD/HS 4.1 AD/HS – was ist das? Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (AD/HS) ist eines der häufigsten psychischen Probleme im Kindes- und Jugendalter. Rund 5 bis 10 % aller Schulkinder sind von AD/HS betroffen, zwei Drittel von ihnen leiden unter dieser Erkrankung bis in die Jugend. Sogar im Erwachsenenalter zeigen noch etwa 80 % der Betroffenen einzelne Merkmale, auch wenn sie oft gut ausgeglichen werden können. Symptomatisch für Kinder mit AD/HS ist eine sehr kurze Aufmerksamkeitsspanne, verbunden mit einer erhöhten Ablenkbarkeit. Nicht selten sind zusätzlich vermehrter Bewegungsdrang, Zappeligkeit, Impulsivität, ausgeprägte Stimmungsschwankungen und ein gestörtes Sozialverhalten zu beobachten. Oft haben diese Kinder weitere Schwierigkeiten, z. B. in der Grob- und Feinmotorik, in der Wahrnehmung, beim Lesen, Schreiben und Rechnen. Diese Symptome sind nicht immer alle gleichzeitig und auch nicht immer gleich stark vorhanden, was letztlich zu einer Vielzahl von Erscheinungsbildern führt. In der Praxis unterscheidet man zwei große Gruppen, wobei allerdings die Übergänge zwischen diesen Gruppen fließend sind: 1. Die unruhigen Kinder, die als hyperkinetisch oder hyperaktiv bezeichnet wer- 16 den. Sie haben im Umgang mit Menschen häufig Probleme, denn sie fallen durch ihr Verhalten unangenehm in der Familie, im Kindergarten oder in der Schule auf. Möglicherweise werden sie sogar von den anderen Kindern gemieden und oftmals von Erwachsenen ausgeschimpft. 2. Die ruhigen Kinder, sie fallen eher durch ihre Verträumtheit und Langsamkeit auf (Träumerchen ohne Hyperaktivität ). Diese Kinder haben die gleichen Probleme sich zu konzentrieren wie die unruhigen Kinder, was sich besonders in der Schule und bei den Hausaufgaben zeigt. All diese Eigenschaften weichen vom sogenannten „Normalen“ ab und provozieren oft negative Reaktionen der Umwelt, was die Situation wiederum verschlimmern kann. Häufig führt dies sogar zu einer weiteren seelischen Erkrankung. AD/HS berührt zahlreiche Lebensbereiche der Patienten •Intellektuelle Leistungsfähigkeit • 42 % haben eine Klasse mindestens einmal wiederholt (laut einer US-Studie) [welche Studie – Quellenangabe fehlt] • Fünf Fehltage jährlich mehr als der Durchschnitt bei Arbeitnehmern (laut einer US-Studie) [welche Studie – Quellenangabe fehlt] •Familiäre Probleme • Vermehrte Erziehungsprobleme für Eltern von AD/HS-Kindern • Mütter sind häufiger depressiv • Vermehrte Partnerschaftsprobleme bei den Eltern •Soziale Probleme • Mangelnde soziale Fähigkeiten/soziale Isolation • Schwieriges Verhältnis zu Geschwistern, Mitschülern und Spielkameraden •Vermindertes Selbstwertgefühl (Quelle: Barkley RA, J Clin Psychiatry 2002; 63 (Suppl.12): 10-15, Slomkowski et al., J Abnormal Child Psychology 1995; 23: 303-315; Brown, Pacini, J Learning Disabilities 1989; 22: 581- 587) Geschichte der AD/HS Die ausführlichste Beschreibung eines AD/HS-Kindes kennt fast jeder. Sie stammt von Dr. Heinrich Hoffmann, dem Leiter einer städtischen Nervenheilanstalt in 17 Frankfurt am Main. Im Jahr 1845 schildert er in seinem „Struwwelpeter“ den hyperaktiven, impulsiven „Zappelphilipp“ und den verträumten „Hans-guck-in-dieLuft“ mit allen unangenehmen Folgen. Dr. Hoffmann hat dieses Buch seinem Sohn gewidmet, der nach heutigem Verständnis ein typisches AD/HS-Kind war, unruhig, mit Konzentrationsschwierigkeiten und impulsiv. 1902 veröffentlichte der britische Kinderarzt George Frederic Still einen Bericht über 20 von ihm behandelte Kinder, die er als „trotzig und boshaft“ beschreibt. Er führte diese Eigenschaften nicht auf eine falsche Erziehung zurück, sondern auf eine „leichte Hirnverletzung“. Ähnliche Symptome einschließlich Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen wurden von mehreren Ärzten 1917/18 als Folge einer damals grassierenden Virusencephalitis (= Gehirnentzündung) beschrieben. 1937 stellte der amerikanische Kinderarzt Charles Bradley fest, dass bei hyperaktiven Kindern Psychostimulanzien, d. h. anregende Mittel, unerwartet beruhigend wirkten. In den 50er-Jahren wurde das Zusammenspiel aus Unruhe, Impulsivität und Konzentrationsstörungen von Maurice Laufer als minimaler, d. h. kaum messbarer Hirnschaden bzw. später als „MCD“ (minimale cerebrale Dysfunktion) bezeichnet. Mitte der 70er-Jahre kam die Behandlung mit dem Wirkstoff Methylphenidat (Ritalin®) auf, der vorwiegend bei den unruhigen Kindern mit „Hyperkinetischem Syndrom“, einer später zugunsten von AD/HS aufgegebenen Bezeichnung, verwendet wurde. 1990 führte Dr. Alan Zametkin in den USA radiologische Untersuchungen an hyperaktiven Erwachsenen durch, wobei er eine verminderte Durchblutung im Bereich des Frontalhirns diagnostizierte. Eine Vielzahl später durchgeführter Experimente führte zu der gut belegten Annahme, dass in erster Linie der Mangel an bestimmten Neurotransmittern, speziell Dopamin, für dieses Störungsbild verantwortlich ist. Denn Neurotransmitter sind winzige Moleküle, die im Gehirn Informationen weiterleiten. Das AD/HS-Kind im Alltag – woran kann man es erkennen? Kinder mit AD/HS bereiten Eltern, Lehrern, Gleichaltrigen und vor allem sich selbst oft erhebliche Schwierigkeiten. Wenn die Eltern mit ihren Kindern in unsere Praxis kommen, haben sie meist schon einen enormen Leidensweg hinter sich. Aussagen wie „Sie sollten ihr Kind besser erziehen“, „es braucht mehr Zuwendung“ o. Ä. begleiten sie schon lange. Das Familienleben ist häufig belastet, die Eltern leiden unter Schuldgefühlen. Spätestens wenn das Kind in die Schule kommt, verstärkt sich der Druck auf die Eltern und das Kind immens, was das Familienleben 18 noch mehr belastet. Wir hören von Eltern häufig Aussagen wie „er könnte, wenn er nur wollte“, „interessiert ihn was, so kann er stundenlang an einer Sache bleiben“, „sie hört einfach nicht zu, wenn ich was sage“, „hundertmal haben wir es schon besprochen“, „sie sitzt stundenlang an den Hausaufgaben und schaut aus dem Fenster“, „dauernd wird der Turnbeutel in der Schule vergessen“ und viele andere mehr. Häufige Klagen von Eltern • Schwierige Hausaufgabensituation • Unangemessenes Verhalten in der Öffentlichkeit oder wenn Besuch kommt • Stört beim Telefonieren • Kann sich schlecht selbst beschäftigen • Ist zappelig, unruhig, bleibt nicht am Tisch sitzen • Erledigt keine Aufträge • Geht nicht ins Bett, hat Ein- bzw. Durchschlafstörungen • Hat ein sehr langsames Arbeitstempo, braucht zu viel Zeit zum Waschen, Anziehen, Hausaufgabenmachen • Ständige Diskussionen über Selbstverständlichkeiten Kinder mit AD/HS reagieren meist zu empfindlich auf Reize, d. h. sie nehmen zu viel wahr, werden von Reizen überflutet und tun sich schwer, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden. Fachleute bezeichnen diesen Effekt als Reizfilterschwäche. Eigentlich leisten diese Kinder sogar erstaunlich viel und sind, vor allem nach einem Schultag, entsprechend erschöpft. Erfragt man die Geschichte des Kindes, so werden hyperaktive Kinder nicht selten von ihren Eltern schon im Säuglings- oder Kleinkindalter als schwierig und äußerst kraftraubend beschrieben, weil sie z. B. viel geschrien haben, unruhig und sehr leicht reizbar waren. Viele Kinder hatten Probleme beim Essen, Ein- und Durchschlafen oder lehnten Körperkontakt ab. Im Kindergarten fallen sie dann häufig durch ihre Umtriebigkeit, leichte Reizbarkeit, geringe Ausdauer bei Einzel- oder Gruppenspielen sowie ihre mangelhafte Fähigkeit, das eigene Verhalten zu steuern, auf. Oft werden sie von anderen gemieden oder ziehen sich zurück. Heftige Wutausbrüche bei kleinsten Enttäuschungen, ausgeprägte Trotzreaktionen, mangelhafter Ordnungssinn, und der Wunsch nach übermäßigem Fernsehkonsum oder elektronischen Spielen (GameBoy, Playstation, Xbox etc.) können das Familienleben erheblich belasten. 19 Im Vorschulalter zeigen manche Kinder Auffälligkeiten beim Zeichnen oder darin, mündliche Aufforderungen in Bewegungsabläufe umzusetzen. Diese Schwierigkeiten nehmen mit Schulbeginn meist noch zu, denn mit ihrer Zappeligkeit, ihrer Impulsivität, dem mangelhaften Konzentrationsvermögen und der „schlechten Arbeitshaltung“ können die Betroffenen die Anforderungen des Schulalltags mit den vielen Vorgaben und Regeln nicht bewältigen. Häufig fällt das Kind daher unangenehm auf, wird unbeliebt bei den Lehrern und Schulkameraden. Um überhaupt noch Aufmerksamkeit und zumindest kurzfristige Beachtung bei den Mitschülern zu bekommen, macht es sich in seiner Verzweiflung oftmals zum Klassenkasper, der dann wiederum den Unterricht mit seinen Zwischenrufen und Kommentaren völlig zum Erliegen bringen kann. Auch chaotisches Ordnungsverhalten, andauerndes, oft hastiges Reden, aggressives Verhalten, Ungeschicklichkeit oder eine schlechte Schrift sind auffällige Merkmale bei Kindern mit AD/HS. Häufig berichten Eltern auch von Problemen in der Sauberkeitserziehung, etwa verlängertes Einnässen tagsüber oder nachts, sowie von Kotspuren in der Unterwäsche. Aber auch das Gegenteil eines überaktiven Kindes ist möglich: Das hypoaktive Kind, welches ruhig und verträumt ist. Häufig wird es zunächst gar nicht als AD/ HS-Kind erkannt, denn im Klassengeschehen ist es eher unscheinbar, angenehm unauffällig. In der ersten Klasse wird es noch als verspielt betrachtet und arbeitet zu Hause alles fleißig nach, wenn es mal wieder nicht fertig geworden ist. Erst später kann man manchmal in den Zeugnissen lesen, dass es aktiver mitarbeiten soll, noch zu verträumt sei o. Ä.. Das Kind bekommt jedoch durch seine Verträumtheit nur wenig vom Unterricht mit, hinkt bald im Lernstoff den anderen hinterher und hat Mühe, die Lücken aufzuholen. In der sehr ausgeprägten unaufmerksamen und verträumten Form ist das Kind mit seinen Gedanken ganz woanders, wenn es aufgerufen wird (oftmals zur Belustigung der Mitschüler) oder es vergisst häufiger, was es sagen wollte, wenn es nicht sofort an die Reihe kommt. Bei diesen Kindern sind vor allem die Lern- und Leistungsstörungen problematisch, weniger die Störungen im Sozialverhalten. Sie leiden sehr unter ihrer Vergesslichkeit und ihren Misserfolgen – trotz fleißigen Lernens. Sie erleben ständig, dass sie ihre Intelligenz nicht zu Papier bringen können und nicht den Erfolg haben, der ihnen eigentlich „zustünde“. Durch diese Erfahrungen entwickeln sie ein negatives Selbstbild mit geringem Selbstwertgefühl. 20 Auch beim hypoaktiven Kind können bereits Symptome vom Säuglingsalter an auftreten, wie etwa unstillbares Weinen, ein oberflächlicher Schlaf, keine Beruhigung durch Streicheln u. a. Beim Kleinkind ist häufig (bis zu 50 %) eine sprachliche Entwicklungsverzögerung oder motorische Ungeschicklichkeit zu beobachten. Einerseits wechseln diese Kinder oft die Beschäftigung, andererseits sind sie bei großem Interesse an einer Sache in der Lage, stundenlang z. B. Lego zu spielen. Man nennt dieses Phänomen Überfokussieren. Im Kontakt zu anderen Kindern kann sich das hypoaktive Kind möglicherweise nicht wehren und gibt schnell auf, ist leicht unselbstständig, motzt schnell und unangemessen heftig. In der Kindergartenzeit verhält sich das Kind oftmals weiterhin sehr anhänglich, ängstlich und klammernd. Es weint leicht und ist stimmungslabil, hat eher nur eine(n) feste(n) Freund/Freundin oder spielt am liebsten allein in der Ecke. Feinmotorische Aufgaben wie Basteln meidet es. Das Kind kann aber durchaus sehr eifrig beim Sport und bei sozialen Diensten dabei sein und hat auch einen großen Gerechtigkeitssinn. Zu Hause kann es womöglich ein anderes Verhalten zeigen und wesentlich impulsiver sein (wie etwa sich außergewöhnlich schnell bei kleinsten Anlässen aufregen). Außerhalb der Familie wird es nur in Ausnahmenfällen so reagieren, nämlich nur dann, wenn es sich gar nicht mehr anders zu helfen weiß. Hinsichtlich des Sozialverhaltens kann man sich ein hypoaktives Kind typischerweise folgendermaßen vorstellen: Möchte es sich zu einer Gruppe spielender Kinder gesellen, so stellt es sich an den Rand und beobachtet zunächst eine Weile. Wird es nicht wahrgenommen und aktiv von einem anderen Kind aufgefordert mitzumachen, zieht es sich bald zurück und verinnerlicht die Einstellung „Mich mag ja eh keiner“. Den nötigen Blickkontakt aufzunehmen und sich aktiv und spontan einzubringen – diese Fähigkeit beherrscht es kaum. Seine Spontaneität kann durch seine schlechte auditive (Kanal des Hörens) und visuelle (Kanal des Sehens) Wahrnehmung gebremst sein. Beide Formen der AD/HS haben zur Folge, dass entsprechend der schlechten Aufmerksamkeit schlechte Leistungen erzielt werden, obwohl das Kind eigentlich intelligent und kreativ ist. Es wird letztendlich ständig verunsichert, kann die Situation sowie die Reaktionen der anderen auf das eigene Verhalten nicht richtig verstehen und erfassen. Darum fühlt es sich auch oft unverstanden und ungerecht beurteilt, was heftige Diskussionen auslösen kann. 21 Im Jugendalter (Adoleszenz) steht häufiger eine „Null-Bock-Mentalität“ im Vordergrund sowie Leistungsverweigerung und oppositionell-aggressives Verhalten. Dahinter steckt oftmals ein stark vermindertes Selbstwertgefühl. Ängste und Depressionen können in den Vordergrund rücken. Erhöhte Verletzlichkeit, mangelndes Selbstbewusstsein und unzureichende Entscheidungsfähigkeit sowie „sich nicht verstanden fühlen“ werden von den Betroffenen beklagt. Durch ihre häufig unreife Persönlichkeit fehlt ihnen ein entsprechend sozial angepasstes Verhalten für Kontaktfähigkeit, Durchsetzungsvermögen und Selbstbehauptung. Auffällig werden sie durch depressive Verstimmungen oder Blackout-Reaktionen, wenn sie am Rande ihrer Belastbarkeit angekommen sind. Kontakte zu sozialen Randgruppen, Gefährdung durch Verkehrsunfälle, der Griff zu Alkohol, Nikotin und Drogen können das Bild prägen. Kurz zusammengefasst: Das Symptom der Hyperaktivität wird am ehesten in klar strukturierten Situationen bemerkt, wie bei gemeinsamen Mahlzeiten, im Unterricht, bei den Hausaufgaben oder am Arbeitsplatz. Hier wird beträchtliche Ruhe und ein hohes Maß an Verhaltenskontrolle gefordert. Das Symptom der Unaufmerksamkeit, d. h. hier die mangelnde Fähigkeit, die Aufmerksamkeit auf etwas gezielt zu richten bzw. sie zu steuern, zeigt sich im häufigen Wechsel oder im vorzeitigen Abbrechen von Tätigkeiten, nämlich dann, wenn das Kind abgelenkt wird. Klassische Situationen sind auch hier Unterricht und Hausaufgabensituation. Mangelnde Aufmerksamkeit zeigt sich aber auch durch ein langsames Arbeitstempo oder schnellen, flüchtigen Arbeitsstil. Das Symptom der Störung der Impulskontrolle, d. h. spontane, meist heftige Reaktionen oder Verhaltensweisen, führt häufig zu Regelverletzungen. Diese wiederum haben Zurechtweisungen oder Bestrafungen durch Bezugspersonen zur Folge oder auch Ablehnung durch Gleichaltrige. In allen Altersgruppen zeigt sich eine verzögerte psychosoziale und emotionale Entwicklung. 22 Es gibt nicht das eine Bild der AD/HS. Jedes Kind, jeder Jugendliche hat eine andere Ausprägung der Symptomatik, und diese verändert sich im Laufe der Entwicklung abermals. Eine AD/HS „verwächst“ sich nicht. Zu bemerken ist lediglich, dass die äußere Unruhe im Jugendalter weniger wird und sich in eine innere Unruhe wandeln kann, die folglich nicht mehr so offensichtlich zu beobachten ist. Das innere Getriebensein kompensieren die Betroffenen häufig durch z. B. übertriebenen Aktionismus oder übermäßige sportliche Aktivität. Im Erwachsenenalter gleichen sie die innere Unruhe durch übermäßiges Arbeiten aus, entwickeln sich zu sogenannten „Workaholics“. Viele Kinder mit einer AD/HS haben zusätzliche Lernstörungen bzw. Teilleistungsstörungen: Lese-, Rechtschreibschwäche (Legasthenie), Rechenschwäche (Dyskalkulie), fein- und visuomotorische Schwierigkeiten (d. h. die Verbindung von Sehen und Bewegung, wie z. B. einen vorgezeichneten Kreis mit einer Schere auszuschneiden, funktioniert nicht gut) oder Sprachentwicklungsstörungen. Dies alles sind Leistungsstörungen, die einen ganz bestimmten Bereich betreffen, in der Regel aber keinen Rückschluss auf die Intelligenz eines Kindes zulassen. Dennoch tragen sie dazu bei, dem Kind einen zusätzlichen „Stempel“ aufzudrücken und im Klassenverband noch mehr zu isolieren („der oder die kann ja nicht richtig lesen, nicht rechnen, ist ja dumm“ usw.). Sehr häufig tritt die AD/HS auch in Verbindung mit anderen psychischen Störungen auf, wie z. B. Einnässen (Enuresis), Einkoten (Enkopresis), Depressionen, Angststörungen, Tics und Zwangssyndrome. Diese Begleiterkrankungen (Komorbiditäten) können die Behandlung erheblich erschweren. Ebenso kann eine Störung des Sozialverhaltens eine mögliche Begleit- oder Folgeerscheinung sein. Die positiven Seiten des „Phänomens AD/HS“ Werden die Eltern nach den positiven Eigenschaften ihrer Kinder befragt, so nennen sie zahlreiche Beispiele. Berichtet wird z. B., dass diese Kinder sich durch einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn auszeichnen, sowohl für sich als auch für andere. Die Kinder sind oft ausgesprochen hilfsbereit, interessiert und aufgeschlossen, haben einen verblüffend guten Orientierungssinn, eine ausgeprägte Liebe zu Tieren und zur Natur, sind oft sehr kreativ und nicht selten schauspielerisch sehr begabt. Durch ihre erfrischende Neugier und ihre originellen Problemlösungen bringen sie Abwechslung in den Alltag. Durch eine ungewöhnliche Sensibilität übertreffen sie ihre Altersgenossen häufig in punkto Ideenreichtum und Fantasie. 23 Hyperaktive Kinder sind oft ... aber • spontan • sie scheinen nicht aus Fehlern zu lernen • ideenreich • sie finden kein rechtes Maß • originell • sie wirken oft sehr egozentrisch • schnell • sie diskutieren endlos • charmant und liebenswürdig • sie können grenzenlos nerven • gute Sportler • sie gefährden sich oft selbst • auf Draht • sie scheinen oft nicht zuzuhören Wie kommt es zu dieser Störung? Was sind ihre Ursachen? Wissenschaftliche Untersuchungen deuten darauf hin, dass ein Zusammenspiel mehrerer Ursachen für die Entstehung bzw. für den Verlauf von AD/HS verantwortlich ist. Erbliche (genetische) Faktoren scheinen eine Hauptrolle zu spielen. Darauf deuten vor allem Zwillings- und Adoptionsstudien hin. Untersuchungen an Familien zeigen, dass zwischen 10 und 35 % der nächsten Familienangehörigen ebenfalls an solchen Verhaltensauffälligkeiten bzw. Konzentrationsschwierigkeiten leiden. Fangen Eltern betroffener Kinder an, sich mit ihrer eigenen Lebensgeschichte und mit der ihrer Verwandtschaft zu beschäftigen, so entdecken sie häufig erstaunliche Parallelen. Ein Blick in die alten Schulzeugnisse kann hier aufschlussreich sein. Ursachen von AD/HS •Genetische/biologische Faktoren schaffen die Grundlage • Rund 15 verschiedene Gene sind betroffen •Psychosoziale Faktoren/Umweltfaktoren bestimmen die • Stärke bzw. den Schweregrad der Symptome • Entwicklung der Symptomatik im Laufe der Zeit 24 • Ausprägung und den Verlauf der Krankheit AD/HS und Genetik – AD(H)S tritt familiär gehäuft auf • Wiederholungsrisiko bei einem weiteren Kind liegt bei 30 %, wenn die Eltern selbst nicht betroffen sind. • Ist ein Elternteil betroffen, steigt das Wiederholungsrisiko für AD/HS auf 34% an. • Sind beide Eltern betroffen, liegt das Wiederholungsrisiko für AD/HS bei 70 %. • Die Übereinstimmung für AD/HS beträgt bei eineiigen Zwillingen 81 %, bei zweieiigen 29 %. Quelle: Faraone, Biederman; Biological Psychiatry 1998; 44: 951-58. Edelbrock et al., J Child Psychol Psychiatry 1995; 36: 775-85. Gillis et al., J Abnorm Child Psychol 1992; 20: 303-15. Psychosoziale Risikofaktoren/Umweltrisikofaktoren • Komplikationen während der Schwangerschaft/Geburt • Frühgeburt • Hirnschädigung, z. B. durch Nikotin, Alkohol in der Schwangerschaft • Infektionen, z. B. Hirnentzündungen • Traumatische Hirnschädigung • Soziale Unterschicht • Familiäre Risikokonstellation • Psychische Störungen der Eltern • Erziehungsdefizite • Störungen der Eltern-Kind-Beziehung Interessant ist in diesem Zusammenhang sicherlich auch der Einfluss von Unterrichtsformen und Schulbedingungen. Auch wenn man in der täglichen Praxis solche Einflüsse registrieren kann, so mangelt es doch an entsprechenden wissenschaftlichen Untersuchungen hierzu. 25 Neuroanatomische Neurochem. Ursachen Genetische Ursachen AD/HS Hirnorganische Schädigungen Umweltfaktoren Abb. 8: Ursachen von AD/HS 1 Swanson et al., Curr Opin Neurobiol. 1998; 8: 263-271. 2 Hauser et al., N Engl J Med. 1993; 328: 997-1001. Cook et al., Am J Hum Genet. 1995; 56: 993998. Swanson et al., Mol Psychiatry 1998; 3: 38-41. 3 Milberger et al., Biol Psychiatry 1997; 41: 65-75. 4 Castellanos et al., Arch Gen Psychiatry. 1996; 53: 607-616. Swanson et al., Lancet 1998; 351: 429-433. Bezüglich der organischen Ursachen machen viele Forscher erblich bedingte Störungen des sogenannten Neurotransmitterstoffwechsels im zentralen Nervensystem für AD/HS verantwortlich. Hier spielen zwei Substanzen, das Dopamin und das Noradrenalin, die entscheidende Rolle. Die Konzentration dieser Hirnbotenstoffe im synaptischen Spalt, d. h. an der Impulsübertragungsstelle zwischen den Nervenzellen im Gehirn, ist bei AD/HS-Kindern deutlich vermindert. Spezielle, nur an besonderen Kliniken mögliche bildgebende Untersuchungsmethoden zeigen, dass vor allem die Hirnregionen anders aussehen und funktionieren, die vom Dopamin gesteuert werden. Diese Regionen sind für Aufmerksamkeit, Impulskontrolle und Motorik zuständig (s. auch Abb. 2). Die hier stark vertretenen, aber offensichtlich fehlerhaft arbeitenden dopaminabhängigen Netzwerke sind die neurobiologische Ursache der AD/HS. 26 Darüber hinaus sind aber vermutlich noch weitere Hirnregionen betroffen, die maßgeblich durch den Botenstoff Noradrenalin gesteuert werden. Neue Medikamente, die die Noradrenalin-Konzentration erhöhen und dadurch zur Besserung der AD/HS-Symptomatik führen, z. B. der Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer Atomoxetin, scheinen diese Hypothese zu bestätigen. Zur Fehlfunktion der komplexen neuronalen Strukturen tragen möglicherweise auch Schwangerschafts- und Geburtskomplikationen oder verschiedene Giftstoffe (Toxine wie Blei in der Nahrungskette, Allergene, Lebensmittelzusätze) und Infektionen im Säuglingsalter (Keuchhusten) bei. Bei etwa 10 % der Betroffenen sind Nahrungsmittelunverträglichkeiten zu finden. Auf welchen biologischen Grundlagen diese beruhen, ist noch unklar. Nach neuen Studien (New England Journal of Medicine, 2003, Bd. 348, S. 1517,) scheinen auch geringste Mengen an Bleikonzentration, die bislang als unbedenklich galten, die Aufmerksamkeit und das Sprachvermögen herabsetzen zu können. Eine mögliche Gefahrenquelle kann z. B. Leitungswasser sein, das durch Bleirohre etwa in Altbauten fließt. Als gesichert gilt, dass fetaler Kontakt (= während der Schwangerschaft) mit Nikotin und Alkohol zu Verhaltensauffälligkeiten und kognitiven Defiziten führt, die später ein erhöhtes Risiko für AD/HS und Störungen des Sozialverhaltens darstellen. Die Häufigkeit von AD/HS ist unter Frühgeborenen besonders hoch. Hier kommt es häufig zu hypoxisch-ischämischen Episoden, d. h. zu Sauerstoffmangel und Durchblutungsstörungen, welche vor allem die in diesem Lebensabschnitt besonders empfindlichen sogenannten striatalen Neuronen betreffen. 27 Zusammenfassend kann man sagen, dass es trotz der eben genannten Erkenntnisse bis heute keine absolut sichere Methode gibt, die Ursachen von AD/HS im Praxisalltag nachzuweisen. Alle vorhandenen medizinischen und psychologischen Untersuchungsverfahren liefern lediglich bestimmte Hinweise für die Entstehung dieser Erkrankung. Auch die Ergebnisse der genetischen Studien sind noch nicht wirklich von praktischer Bedeutung. Darüber hinaus steht aber fest, dass neben den biologischen Komponenten auch soziale Faktoren für die Entstehung, das Ausmaß und den Verlauf der AD/HS eine wichtige Rolle spielen. AD/HS-Symptome sind umso stärker ausgeprägt, je schwieriger der Familien-Alltag ist, je niedriger das FamilienEinkommen und je beengter der Wohnraum ist. Auch eine frühere psychiatrische Erkrankung der Mutter verstärkt die Symptome. Oft waren oder sind die Väter von AD/HS-Kindern alkoholabhängig. Einige Studien legen nahe, dass Kinder auch dann ein höheres Risiko tragen, wenn sie bei einem alleinerziehenden Elternteil aufwachsen, die Mutter lediglich eine mangelnde Ausbildung hat oder das Kind einer niedrigen sozialen Schicht entstammt. Die genannten Risikofaktoren sind aber durchaus kritisch zu betrachten. Die Eltern von AD/HS-Patienten haben, wie bereits erwähnt, ein erhöhtes Risiko, selbst an dieser Störung zu leiden. Daher besteht die Möglichkeit, dass diese Risikofaktoren nicht allein Ursache der Erkrankung des Kindes sind, sondern aus der Erkrankung der Eltern resultieren. Es ist wichtig zu wissen, dass z. B. elterliches Verhalten allein keine AD/HS verursachen kann. Die Ursache in Bindungsproblemen oder elterlicher Schuld zu suchen, ist weder durch Erfahrungen gestützt noch therapeutisch hilfreich. Andererseits aber verschärfen bestimmte psychosoziale Bedingungen die Problematik erheblich. Seelische Belastungen, wie z. B. familiäre Spannungen, Verlusterlebnisse oder auch Unverständnis bei den wichtigsten Betreuern bzw. Lehrern und Bezugspersonen, werden von AD/HS-Kindern wesentlich schlechter vertragen als von gesunden Gleichaltrigen. Wir müssen heute davon ausgehen, dass die typische AD/HS durch ein Zusammenspiel von biologisch-genetischen und psychischen bzw. sozialen (ungünstige Umwelteinflüsse) Faktoren entsteht. 28 Wie kann man eine AD/HS feststellen, wie kommt man zu einer klaren Diagnose? Eine AD/HS ist schwierig zu diagnostizieren. Es gibt nicht die eine spezielle Methode, aufgrund der man sagen könnte: Das Kind hat oder hat keine AD/HS. Daher ist es nötig, dass der Arzt und/oder Psychologe sich durch viele verschiedene Informationen ein umfassendes Bild macht, nach AD/HS-spezifischen Indizien sucht, um eine Diagnose stellen zu können. Zunächst ist eine ausführliche medizinische und psychologische Untersuchung notwendig. Eine wichtige Leitlinie stellt das internationale „Diagnosemanual psychiatrischer Krankheitsbilder“ (DSM-IV) dar. Hier sind bestimmte typische Kennzeichen festgelegt. Vorbedingungen für die Diagnostik von AD/HS nach DSM-IV • Die Störungen müssen mindestens über einen Zeitraum von sechs Monaten bestehen. • Beginn der Symptomatik vor dem siebten Lebensjahr bzw. vor der Einschu lung. • Die Symptomatik muss unabhängig von äußeren Umständen auftreten, d. h. die Beeinträchtigung muss sich in mindestens zwei Lebensbereichen zeigen, z. B. in der Schule, in der Familie und/oder im Freizeitbereich. • Die soziale und schulische bzw. berufliche Leistungsfähigkeit muss herabge setzt sein. • Die bestehende Symptomatik verursacht erheblichen Leidensdruck. • Das Ausmaß der Störung zeigt sich als unvereinbar mit dem jeweiligen Ent wicklungsstand des Kindes. Im Anamnesegespräch, also dem Arzt-Patienten-Gespräch (bzw. Arzt-Angehörigen-Gespräch) wird daher unbedingt der Zeitraum von Beginn der Schwangerschaft bis zum heutigen Tage erfragt. Dadurch kann der Arzt Hinweise bezüglich Auffälligkeiten in der Entwicklung und im Verhalten des Kindes erhalten. Dabei wird nach den bereits genannten Hauptsymptomen Unaufmerksamkeit, Impulsivität und Hyperaktivität gesucht. 29 Je nachdem, welche Kennzeichen beim Kind vorherrschend sind, werden drei Formen unterschieden: 1. der Kombinationstyp mit stark beeinträchtigter Aufmerksamkeit und erheblicher motorischer Unruhe 2. der vorwiegend unaufmerksame Typ – das sogenannten Träumerchen oder der „Hans-guck-in-die-Luft“ 3. der hyperaktiv-impulsive Typ – hier steht die Aufmerksamkeitsstörung eher im Hintergrund Liest man die oben aufgeführten Symptomlisten, so sagen die meisten Menschen, dass sie so manches davon auch bei sich feststellen oder dass doch schließlich jeder etwas davon habe – auch ohne eine AD/HS-Diagnose. Entscheidend für die Diagnose ist, in welcher Häufigkeit, in welchem Ausmaß und über welchen Zeitraum diese Kennzeichen vorhanden sind. Ist es nur eine Phase, in der sie gerade auftreten, oder sind sie schon länger und überdauernd zu beobachten? Die AD/HS tritt nicht wie Masern oder Mumps, sondern eher wie Bluthochdruck, Übergewicht oder Depression auf: Man kann mehr oder weniger davon haben. Die Grenzen sind fließend. Weiteres diagnostisches Vorgehen Um ein ganzheitliches Bild zu erhalten, wird zusätzlich zum Anamnesegespräch noch Folgendes benötigt: Berichte und Fragebögen, Verhaltensbeobachtung, psychiatrisch-neurologischer Status, Beobachtungsbögen für Eltern, Schule, Kindergarten, Vorbefunde, Schulzeugnisse, psychologische Untersuchung, Videodiagnostik, körperlich-neurologische Untersuchung, Laboruntersuchung sowie EEGUntersuchung. Die genannten Verfahren, die sicherlich noch um einige andere ergänzt werden könnten, dienen zum einen dazu, der Diagnose AD/HS näherzukommen, zum anderen, mögliche Ursachen oder Krankheitsbilder auszuschließen, deren Merkmale dem Bild der AD/HS sehr ähneln. So kann z. B. ein ständig überfordertes Kind, welches starken familiären Belastungen ausgesetzt ist, durchaus aufmerksamkeitsgestört, hyperaktiv und aggressiv erscheinen, ohne dass es eine AD/HS hat. Im Jugendalter kann sich eine Depression in Form einer Aufmerksamkeitsstörung ausdrücken, eine motorische Überaktivität kann Zeichen einer manischen bzw. schizophrenen Episode oder einer Panikstörung sein. Im Alltagsgeschehen sollte auch berücksichtigt werden, dass übermäßiger Fern- 30 seh- oder PC-Konsum mit chronischer Übermüdung ebenfalls eine Ursache für Unruhe und Aufmerksamkeitsschwäche sein kann. Wie kann man Kindern mit AD/HS helfen? Wie kann man die Eltern unterstützen? Therapieziele bei der Behandlung von AD/HS • Verbesserung der Kompetenz des Kindes/Jugendlichen in Bezug auf: • Schulische Fertigkeiten • Soziale Kompetenz • Konzentration und Ausdauer • Zeitmanagement • Strukturierung • Stärkung des Selbstwertgefühls • Verbesserung der familiären Interaktionen • Verbesserung der sozialen Situation Jedes Kind hat – wie oben ausführlich dargestellt – seine eigene Form der AD/ HS, das heißt, für jedes Kind ist entsprechend ein ganz persönlicher Behandlungsplan zu erstellen, der alle erforderlichen Punkte berücksichtigt. Demnach muss die Behandlung stets auf mehreren Ebenen erfolgen und je nach Ursache und Problemstellung mehrere Ansatzpunkte einbeziehen. Erfahrungsgemäß ist es sinnvoll, verschiedene Behandlungsmethoden miteinander zu kombinieren und durch spezielle Hilfen wie etwa Schulhilfen (kleine Klassen, Förderunterricht etc.) zu ergänzen. Dabei sollte man nicht vergessen, die speziellen Begabungen des Kindes zu fördern, um einen gewissen ausgleichenden Effekt zu erreichen. Die Aufklärung und Beratung der Eltern, der Erzieher bzw. der Lehrer stellt eine wichtige Voraussetzung für weitere Schritte dar. Zudem sollten die Therapiemaßnahmen – ebenso wie die Diagnostik – das Alter der Kinder berücksichtigen. 31 Behandlungsmöglichkeiten der AD/HS – die Bausteine der Therapie • Genaue Beratung der Eltern • Verhaltenstherapeutisches Elterntraining • Familientherapie • Speziell auf das Kind ausgerichtete Therapie • Psychotherapeutische Intervention beim Kind (Verhaltenstherapie) • Pädagogische Therapieansätze • Konzentrationstraining (v. a. für Grundschulkinder) • Medikamentöse Therapie So stehen im Vorschulalter Elterntrainings, die Veränderungen in der Familie oder auch im Kindergarten anstreben, im Vordergrund. Denn solange es beispielsweise gelingt, mithilfe einer neu überdachten, geregelten Lebensweise die Krankheitsfolgen zu beschränken, gibt es keinen Anlass, besondere Schritte einzuleiten. Verlässliche Strukturierung des Tagesablaufs, Regeln für Abläufe und Pflichten sowie Grenzsetzung sind zentrale Themen, die die Eltern und ihre Kinder begleiten werden. Oftmals reicht das Verständnis für die Andersartigkeit bzw. die originellen Verhaltensweisen dieser Kinder aus, um mit ihnen besser umzugehen und auch wieder ihre positiven, kreativen Seiten sehen oder neu entdecken zu können. In einigen Fällen können auch auf verhaltenstherapeutischen Konzepten basierende ergotherapeutische oder heilpädagogische Übungsmaßnahmen zur Behandlung der auffälligsten Schwächen (Konzentrationsfähigkeit, Lesen, Fein- und Visuomotorik usw.) bzw. die Förderung der wesentlichen Stärken und Begabungen (Fantasie, Engagement, Intuition) eine Besserung bewirken. Bei Schulkindern und Jugendlichen mit weniger stark ausgeprägten Problemen können verhaltenstherapeutische Behandlungskonzepte und stützende Psychotherapien von großer Hilfe sein. Wenn das Kind lernt, sich selbst Anweisungen zu geben (Selbstinstruktionstraining) sowie sich selbst zu managen (Selbstmanagementmethoden), kann es schwierige Situationen erfolgreicher und angemessener bewältigen. In manchen Fällen erweist sich ein relativ neues verhaltenstherapeutisches Verfahren, das Neurofeedback, als nützlich. Massive Selbstwertprobleme oder familiäre Belastungen legen unter Umständen eine tiefenpsychologische oder familienorientierte Therapie nahe. Die zweifellos wichtigste psychologische Behandlungsmethode bei AD/HS ist die Verhaltenstherapie. Döpfner, Schürmann und Frölich entwickelten ein Verhaltenstherapieprogramm für Kinder mit hyperkinetischem und oppositionellem Problemverhalten. Dieses bezieht sich auf Maßnahmen im Kindergarten bzw. in 32 der Schule, vor allem aber auf die Eltern-Kind-Beziehung. Zunächst werden diagnostische Maßnahmen beschrieben, durch die erkannt wird, welche familiären Lebensbereiche beeinträchtigt sind, warum das so ist und in welchem Ausmaß. Wenn diese Punkte erarbeitet wurden, die Probleme im Verhalten des Kindes sowie die Reaktionen der Eltern beschrieben wurden, werden Behandlungsziele festgelegt und verschiedene Therapiemaßnahmen durchgeführt. Zum Beispiel werden die Eltern angeleitet: • Ihr Kind wieder von seiner positiven Seite sehen zu können • Ihrem Kind Aufmerksamkeit zu schenken, wenn es spielt oder wenn es mal nicht gestört hat • Wirkungsvolle Aufforderungen zu geben und das Kind zu loben, wenn es diese Aufforderungen befolgt • Natürliche Grenzen zu setzen und Konsequenzen ziehen zu können, wenn ihr Kind Aufforderungen und Regeln nicht befolgt • Effektiv bei heftigen Wutausbrüchen des Kindes reagieren zu können • Dem Kind zu helfen, Aufgaben Schritt für Schritt zu lösen • Probleme bei den Hausaufgaben zu bewältigen • Problematischem Verhalten des Kindes in der Öffentlichkeit zu begegnen Diese eben beschriebenen Hilfestellungen für die ganze Familie werden begleitet von den Maßnahmen, die nur auf das Kind ausgerichtet sind. Hierbei wird das Kind vom Psychologen angeleitet, die genannten Problembereiche genauer zu betrachten, zu verstehen und andere geeignete Verhaltensweisen einzuüben. Dafür nutzt der Psychologe die Techniken der Selbstinstruktion und des Selbstmanagements. Neben den therapeutischen und pädagogischen Maßnahmen gibt es auch Möglichkeiten, die schulische Situation zu entspannen. Da das Klassenzimmer in der Regel Hauptschauplatz des Geschehens ist, sollten frühzeitig geeignete Maßnahmen überlegt werden, um allen Beteiligten gerecht werden zu können. So sind z. B. Diagnose- und Förderklassen, Sprachheil-, Montessori- und andere Privatschulen mit acht bis 14 Kindern pro Klasse und eventuell Einzelförderung oft den Regelschulen vorzuziehen (hierzu kann gegebenenfalls eine finanzielle Unterstützung beim Jugendamt beantragt werden). Entsprechend gibt es für Vorschulkinder die 33 Möglichkeit, einen Förderkindergarten zu besuchen. In schwierigen Fällen wird man nicht um Schulen zur Erziehungshilfe und begleitende heilpädagogische Tagesstätten herumkommen, wobei man darauf achten sollte, dass sich die sozialen Schwierigkeiten (Aggressivität und andere Verhaltensauffälligkeiten) infolge einer ungünstigen Klassen- bzw. Gruppenzusammensetzung nicht noch weiter verstärken. Bei Lern- oder geistiger Behinderung stehen entsprechende staatliche und private Förderschulen zur Verfügung. Leider gibt es trotz der Vielzahl AD/HS-betroffener Kinder bis heute in ganz Deutschland noch keine einzige darauf wirklich spezialisierte staatliche Schuleinrichtung. Private Schulen sind mit entsprechendem Schulgeld für die Eltern verbunden. Ist die häusliche Situation sehr belastet, so ist es ratsam, sich an eine Familienoder Erziehungsberatung zu wenden. Viele Eltern berichten über positive Erfahrungen mit einer Selbsthilfegruppe (auch im Rahmen eines Elternworkshops), deren Verständnis ihnen sehr viel Entlastung gebracht hat. Doch in vielen Fällen sind all diese Maßnahmen allein nicht ausreichend. Deshalb sollte man frühzeitig die Möglichkeit einer medikamentösen Behandlung diskutieren und die Eltern entsprechend aufklären. Denn einem großen Teil der Kinder kann mithilfe von Medikamenten relativ schnell und in einem beachtlichen Ausmaß geholfen werden. Oft sind Medikamente überhaupt erst die Voraussetzung dafür, dass andere therapeutische Maßnahmen greifen können. Unmittelbar vor einer solchen Entscheidung scheint es allerdings – nach Abwägung aller Vor- und Nachteile – durchaus vertretbar zu sein, noch einen letzten, sechs- bis achtwöchigen Behandlungsversuch mit einem geeigneten Homöopathikum und/oder einem Nahrungsergänzungsmittel zu unternehmen. Eine medikamentöse Therapie sollte aber spätestens dann in Betracht gezogen werden, wenn zum einen die oben genannten Methoden wenig Verbesserung zeigen und das Kind in seiner Entwicklung deutlich beeinträchtigt erscheint, zum anderen, wenn die Symptomatik so ausgeprägt ist, dass es dauernd zu krisenhaften Zuspitzungen kommt. Hinweise für die Notwendigkeit einer medikamentösen Therapie • Gefahr für die weitere Entwicklung des Kindes oder des Jugendlichen • Scheitern oder ungenügender Erfolg anderer Maßnahmen 34 Einzelne Symptome, die auf die Notwendigkeit einer medikamentösen Therapie hinweisen können: • Hoher Leidensdruck • Schulversagen, Arbeitsplatzverlust • Dauerhafte, starke motorische Unruhe • Inakzeptables Sozialverhalten – oppositionell, aggressiv, nicht sozial verträglich, chaotisch • Gesellschaftliche Isolation des Patienten oder seiner Familie • Unfähigkeit, das Alltagsleben zu organisieren • Tiefe Deprimiertheit, extreme Antriebslosigkeit • Extreme Sensationslust/Selbstgefährdung Medikamente bei AD/HS Voraussetzungen für eine medikamentöse Therapie • Gründliche Sicherung der Diagnose AD(H)S • Zusätzliche Untersuchungen (Labor, EKG, EEG) • Aufklärung von Eltern und Kind über: • Wirkung • Dosierung • Nebenwirkungen • Dauer der Medikation • Verlaufskontrolle • Ausschluss von Kontraindikationen Dauer der Behandlung/Prognose Medikamente können die Symptomatik nicht heilen. Hört das Medikament auf zu wirken – in der Regel nach drei bis vier Stunden –, ist das Kind genauso unkonzentriert wie vorher. Nur solange die Medikamente verabreicht werden, hält die positive Wirkung an. Trotzdem ist die Dauer der Behandlung sehr unterschiedlich und in erster Linie von der Entwicklung der Störung und von den Lebensumständen des Kindes abhängig. Lerneffekte, eine gewisse psychische Stabilisierung, hormonelle Auswirkungen in der Pubertät, veränderte familiäre Konstellationen, günstige Schulbedingungen und die Erfolge der Begleittherapien führen unter Umständen zu einem deutlichen Nachlassen der Beschwerden. Ebenso geht man von einer gewissen Nachreifung bzw. Neuvernetzung im Hirnstoffwechsel aus, was auch möglicherweise erklärt, warum manche Kinder nach Absetzen des Medikamentes keine Symptomatik mehr zeigen. Ein Versuch, die Medikamente ab- 35 zusetzen, ist gerechtfertigt, wenn die Situation des Kindes sich über einen längeren Zeitraum stabilisiert hat. Er sollte dann beispielsweise in den Ferienzeiten durchgeführt werden. Bei rund 20 % aller Patienten kann die medikamentöse Behandlung nach etwa einem Jahr abgesetzt werden. Bei etwa zwei Drittel unserer Patienten erleben wir, dass die medikamentöse Behandlung nach zwei bis drei Jahren als abgeschlossen gelten kann und es zu keinem Rückfall mehr kommt. Die meisten Kinder benötigen das Medikament nur bis zum 14./15. Lebensjahr. In jedem Fall muss aber individuell beraten und entschieden werden. Die Prognose ist bei richtiger Behandlung in der Regel als günstig anzusehen. Wenn sich erst einmal die schulische und die familiäre Situation beruhigt, die Kinder ihre Veranlagung besser ausleben, ihren Begabungen ohne schulischen Druck folgen können, machen sie oft erstaunliche Entwicklungen. Neueste Befunde der Hirnforschung sprechen dafür, dass das Gehirn zeitlebens in der Lage ist, die Strukturen, die für das Lernen zuständig sind, neu auszurichten. Durch physiologische, biochemische und molekulare Techniken konnte zudem gezeigt werden, dass den Lern- und Denkprozessen nicht nur eine Veränderung bereits existierender, sondern auch die Bildung neuer Strukturen im Gehirn zugrunde liegt. Dies erklärt erst, warum das Lernen bis ins hohe Alter überhaupt möglich ist – vorausgesetzt, das Gehirn wird entsprechend gefordert. Denn nur wenn es regelmäßig trainiert wird, ist es fähig, bis ins hohe Alter zu lernen. Die Möglichkeiten dafür offenzuhalten ist das eigentliche Ziel der AD/HS-Therapie. Welche anderen Möglichkeiten werden angeboten, AD/HS zu behandeln? Leider gibt es keine wirklich zuverlässigen alternativen Mittel, keine Behandlungsmethoden, die in der Lage wären, AD/HS sofort zu heilen. Wer so etwas verspricht, womöglich gegen viel Geld, verfolgt eher Eigeninteressen als das Wohl anderer. Es gibt aber durchaus Hilfen, die die Symptomatik bessern, vor allem, wenn sie in ein vernünftiges Gesamtkonzept eingebunden sind. Sie alle verlangen den persönlichen, oft mühsamen und konsequenten Einsatz an der Seite der Betroffenen. In einem erst kürzlich erschienenen Kompendium „Die Andere Medizin“ hat die Stiftung Warentest mehr als 50 unkonventionelle Methoden unter die Lupe genommen, um mittels wissenschaftlicher Methoden dem Patienten eine gewisse Orientierung zu geben. 36 Die relative Wirksamkeit medikamentöser bzw. verhaltenstherapeutischer Behandlung wurde im Rahmen einer sehr sorgfältig geplanten amerikanischen Längsschnitt-Studie (MTA-Studie) an insgesamt 579 Kindern mit AD/HS im Alter von sieben bis neun Jahren durchgeführt. Es zeigte sich, dass sowohl die medikamentöse Behandlung als auch die Verhaltenstherapie die Kernsymptomatik der AD/HS reduzieren können. Insgesamt waren die verhaltenstherapeutischen Maßnahmen aber einer medikamentösen Therapie deutlich unterlegen. Allerdings konnten aggressives Verhalten, soziale Kompetenzen und Eltern-Kind-Beziehungen verhaltenstherapeutisch wie medikamentös etwa gleichermaßen gebessert werden. Die Kombinationsbehandlung wies leichte Vorteile auf, wobei Familien mit niedrigem sozioökonomischem Status davon offenbar besonders profitierten. In letzter Zeit gibt es einige Versuche, AD/HS mit neuen Methoden zu behandeln, die auf Erkenntnissen der Neurobiologie basieren und die neue Medien verwenden. Dazu gehört z. B. das Neurobiofeedback und auch Lernsoftware-Entwicklungen wie z. B. 2weistein. Die ersten Erfahrungen damit sind vielversprechend, so dass man davon ausgehen kann, dass diese Methoden zumindest in leichteren Fällen hilfreich sein können, auf jeden Fall aber eine wichtige Ergänzung im multimodalen Behandlungsangebot (d. h. den verschiedenen Therapie-Bausteinen) darstellen werden. Was passiert, wenn AD/HS nicht behandelt wird? Mögliche Langzeitfolgen bei Nichtbehandlung – Langzeitstudien (New York Study, Montreal-Study, Mannheim-Studie), Langfristig hohes Risiko sekundärer Fehlentwicklungen: • Gefahr des schulischen Scheiterns • Gefahr der sozialen Fehlentwicklung • Gesteigerte Unfallhäufigkeit • Erhöhtes Risiko, eine Abhängigkeit oder Sucht zu entwickeln Quelle: Trott G.-E., Forum der Kinder- u. Jugendpsychiatrie 2001; 3: 3-11. Eine wirksame Therapie ist von größter Wichtigkeit, da sonst eine erhebliche Einschränkung der Lebensqualität droht. Die Risiken einer fehlenden Behandlung zeigen Studien aus den Niederlanden und den USA: 35 bis 50 % der Jugendlichen im Strafvollzug litten an einem unbehandelten AD(H)S (Folge des antisozialen, oppositionellen Verhaltens der Betroffenen). 37 Andere Studienergebnisse weisen darauf hin, dass mit Stimulanzien behandelte AD/HS-Patienten • bessere Schulabschlüsse erreichen, • seltener delinquent werden • und seltener Arbeits- und Verkehrsunfälle haben. Verzögerte Lernfähigkeiten Wenig Sozialkontakte Aggressives Verhalten Komplexe Lernstörung Wenig Selbstwertgefühl Häufige Unfälle Schulverweis Extreme Selbstzweifel Gestörtes Sozialverhalten Probleme am Arbeitsplatz Erhöhte Scheidungsrate Drogenmißbrauch Abb. 9: AD/HS vom Kindes- bis zum Erwachsenenalter 7.2 Bereiche und Merkmale mathematischer Basisfähigkeiten bei 2weistein Mathematik in der Schule ist eine komplexe, vielschichtige Sache, die einem ganzheitlichen Modell des Lernens folgt. In unserem Lernspiel greifen wir zentrale Inhalte des Schullehrplans auf und folgen grundsätzlich diesem ganzheitlichen Verständnis des Unterrichtens an einer Grundschule. Darüber hinaus versuchen wir jedoch auch – auf der Grundlage der Erkenntnisse aus der Dyskalkulieforschung (Erforschung der Rechenschwäche) sowie der Neuropsychologie – den Zugang zum Erwerb mathematischer Basisfähigkeiten so einfach, klar und effizient wie möglich zu gestalten. 38 7.2.1 Kognitive Voraussetzungen mathematischen Denkens Visuelle Wahrnehmung In der visuellen Wahrnehmung werden Lichtreize über das Auge aufgenommen, dort bereits verarbeitet und im Gehirn zu Bildern zusammengefügt. Dabei geht es vor allem um Folgendes: • Eine Figur von ihrem Hintergrund zu unterscheiden • Zu erkennen, wenn Formen gleich sind – und zwar auch dann, wenn sie unterschiedlich groß sind oder unterschiedlich liegen (Formkonstanz) • Das visuelle Gedächtnis • Links und rechts zu unterscheiden • Zu erkennen, in welche Richtung Figuren gedreht sind (Raumlage) • Symmetrien zu erfassen Räumliches Denken Basierend auf der visuellen Wahrnehmung entwickelt sich das räumliche Vorstellungsvermögen. Man kann dadurch Landkarten benutzen oder sich beispielsweise vorstellen, wie Figuren von verschiedenen Seiten betrachtet aussehen. Durch das räumliche Vorstellungsvermögen wird es schließlich auch möglich, sich Mengen und Größen vorzustellen. Abstraktionsfähigkeit und Begreifen von Invarianz Das Vermögen zu abstrahieren – also die Fähigkeit, über die Einzelheiten konkreter Anschauungen hinaus übergeordnete Zusammenhänge zu verstehen, deren innewohnende Gesetzmäßigkeiten anzuwenden und Begriffe zu bilden –, basiert auf folgenden grundlegenden Fähigkeiten: • Erkennen von Gemeinsamkeiten und Unterschieden • Fähigkeit, zur Klassifikation von Mengen • Ober- und Untergruppen bilden und begreifen zu können Das Begreifen von Invarianz bedeutet, die Anzahl der Elemente einer Menge unabhängig von ihrer Lage oder Beschaffenheit (z. B. groß/klein, dick/dünn, Farbe etc.) zu erfassen. 39 Varianz Hier geht es darum, Mengen zu vergleichen: Welche ist die größere und aus wie vielen Elementen besteht eine Menge. Besitzt eine mehr, weniger oder gleich viele Elemente? Schätzaufgaben sind hierfür besonders hilfreich, da das Erfassen von Invarianz sich nicht nur auf Zählen und das sprachliche Wissen darüber, welche Zahl „größer“ ist, sondern auf ein visuelles Erfassen von Mengen bezieht. Zählen und Zahlgedächtnis Die Entwicklung des Zählens und des Zahlgedächtnisses wird in Kap. 2.8.1 beschrieben. 7.2.2 Bausteine des mathematischen Denkens Zahlbegriff Ein gut entwickelter Zahlbegriff ist eine notwendige Voraussetzung für erfolgreiches Rechnen. Viele Kinder verwenden beim Rechnen jedoch mehr oder weniger unbemerkt gar keine Zahlen, sondern stellen Gesetzmäßigkeiten (Algorithmen) zwischen Zahlwörtern, Nummern oder Ziffern her. Deshalb ist es sehr wichtig, Aufgaben so zu gestalten, dass der Mengenbezug von Zahlen möglichst sichtbar wird. Doch zunächst: Was sind die Unterschiede und Zusammenhänge zwischen Zahlen, Zahlwörtern, Nummern oder Ziffern (vgl. dazu auch Kap. 2.8.1)? • Unterscheidung von Ziffer, Zahlwort und Zahl: Eine Zahl ist eine Anzahl von Elementen, also die Größe bzw. Mächtigkeit einer Menge. Eine Ziffer ist ein Zeichen bzw. Symbol für eine Zahl. Das Zeichen „4“ oder das Wort „vier“ ist nicht die Zahl „4“, sondern die Bezeichnung für die Anzahl von vier Elementen. Die Zahl „4“ bedeutet immer dasselbe, egal wie man sie bezeichnet. Die Zeichen und Wörter sind austauschbar. Das Zeichen „4“ im Dezimalsystem bedeutet dasselbe wie „100“ im Binärsystem oder „IV“ im römischen Ziffernsystem, das Wort „vier“ bedeutet dasselbe wie „four“ im Englischen oder „quatre“ im Französischen. Die Zahlen sind dagegen universell. • Unterscheidung von Nummer (Nominalzahl) und Zahl: Nummern bezeichnen nicht die Größe einer Menge, sie sind einfach so eine Art Aufkleber, um Dinge voneinander zu unterscheiden. Ein Fußballspieler 40 mit der Trikotnummer 8 ist nicht unbedingt größer als der mit der Trikotnummer 5. • Unterscheidung von Ordinalzahl und Kardinalzahl: Die Ordinalzahl gibt einen Platz in einer Rangfolge an, stellt aber selbst keine Menge dar. Z. B. kann man den ersten und den dritten Sieger in einem Wettkampf nicht zusammenzählen, sodass sie dann den vierten Sieger ergeben würden. Die Kardinalzahl gibt die Anzahl der Elemente einer Menge – also die Größe einer Menge – an. Stellenwertsystem Das Stellenwertsystem unseres Dezimalsystems ist ein entscheidender „Knackpunkt“ im Erwerb mathematischer Basisfähigkeiten. Viele Kinder zeigen hierbei Unsicherheiten, weshalb sie sich beim Rechnen mit größeren Zahlen recht schwertun. Die Frage, wie viele Zehner in einen Hunderter oder gar in einen Tausender passen, wird von vielen Kindern mit Achselzucken beantwortet – obwohl sie z. B. schriftlich rechnen können. Von daher wird bei 2weistein großer Wert darauf gelegt, den Kindern sinnliche Vorstellungen von den Zahlen Zehn, Hundert und Tausend sowie deren Zusammenhang zu vermitteln. Nach Möglichkeit wird in bildlichen Darstellungen von Zahlen deren Position im Stellenwertsystem mit dargestellt (z. B. bei Zahlenstrahlaufgaben, Auffüllaufgaben oder bei Messungen). Grundrechenarten Die Grundrechenarten werden bei 2weistein immer als Kopfrechenaufgaben oder als Aufgaben anhand konkreter Mengen geübt. Auf das schriftliche Rechnen wird verzichtet – obwohl dies selbstverständlich eine wichtige Kulturtechnik darstellt –, weil es für den Erwerb der mathematischen Basisfähigkeiten keine Rolle spielt und rechenschwache Kinder dadurch gern ihre Schwäche (scheinbar) ausgleichen. Das heißt: Durch das Einüben von schriftlichem Rechnen wird oft ein Mangel an grundlegenden mathematischen Basisfähigkeiten ausgeglichen. So kann eine Rechenschwäche sich sogar noch verfestigen. Rechenschemata werden im Spiel 2weistein vermieden. Stattdessen werden die Grundrechenarten mit anschaulichen Beispielen und spannenden spielerischen Aufgabenstellungen verbunden. Eine Ausnahme wird hier jedoch beim Einmaleins gemacht. Dieses wird zwar auch in spannende Spiele eingebettet, doch neben Aufgaben, die das Verstehen fördern, wird hierbei auch das reine Auswendiglernen von Einmaleinsreihen gefördert. 41 Gleichheitsbegriff und Platzhalteraufgaben Der Gleichheitsbegriff ist für viele Kinder beim Rechnen keine Selbstverständlichkeit, da sie mit dem Istgleich-Zeichen gar nicht den Gedanken der Gleichheit verbunden haben. Wenn diese Kinder das Zeichen „=“ sehen, denken sie nicht: „Links vom ‚=’ muss die gleich große Menge wie rechts davon sein“, sondern für sie ist der Anblick des Zeichens „=“ die Aufforderung: „Jetzt musst du ausrechnen, was links steht, und rechts davon das Ergebnis hinschreiben“. Dies führt dann auch zwangsläufig zu Schwierigkeiten bei Platzhalteraufgaben, die im Prinzip nicht verstanden werden. Aufgaben, die vom Schema „links Rechenaufgabe, rechts Ergebnis“ abweichen, können die Kinder nicht begreifen. Aufgaben wie x = 54 – 12 oder gar 14 = x – 11 sind „völliger Quatsch“, etwas, „was doch keinen Sinn macht“ oder „was man doch gar nicht rechnen kann“. Aus diesem Grund werden bei 2weistein Platzhalteraufgaben auch so dargestellt, dass das Prinzip der Gleichheit auf ganz einfache Weise deutlich gemacht wird. Sachaufgaben Sachaufgaben können sehr leichte Rechnungen beinhalten – und doch stellen sie eine ganz besondere Schwierigkeit dar. Die Kinder müssen hier Situationen, Abläufe und Zusammenhänge erfassen und diese dann noch in die passenden mathematischen Rechenansätze überführen. Dies erfordert ein grundlegendes Verständnis mathematischer Zusammenhänge bzw. diese können anhand von Sachaufgaben besonders gut veranschaulicht werden. Bei 2weistein wird das Verständnis vom Zusammenhang zwischen den Inhalten von Sachaufgaben und entsprechenden Rechenschritten auf verschiedenen Ebenen gefördert. Zum einen beziehen sich die Sachaufgaben auf Inhalte der Spielwelt und bekommen damit eine „reale“ Bedeutung, deren Lösung für die spielenden Kinder „wirklich“ relevant wird. Zum anderen wird das Prinzip der Sachaufgaben zum besseren Verständnis in manchen Aufgaben auch umgedreht. Die Kinder bekommen Rechnungen präsentiert und sollen die dazu passende Sachaufgabe auswählen. 42 8. AD/HS-Kriterien und Umsetzung im Spiel, pädagogisch-psychologische Ziele Die speziellen Probleme, unter denen ein AD/HS-Kind leidet, werden im Spiel 2weistein besonders berücksichtigt. Dies sind: die Kognition, Gefühle/Motivation und Handlungsplanung. 8.1 Kognition Kinder mit einer Aufmerksamkeitsstörung haben häufig Schwierigkeiten in der visuellen Wahrnehmung. Dies bedeutet, dass es ihnen schwerfällt, Figur und Hintergrund voneinander zu unterscheiden. Dadurch ist es für sie schwierig, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden. Sie müssen viele Reize aufnehmen, ohne den Blick für das Wesentliche zu haben. Dadurch verlieren sie oft das Ziel einer Handlung aus den Augen und lassen sich ablenken. In 2weistein wird das Kind durch klare Szenarien geführt, d. h., die Grafik ist so gestaltet, dass es nicht zu viele Ablenkungen für das Kind geben kann, die Bilder haben eine klare Gestalt, sind überschaubar und für das Kind gut zu erfassen. Der Hintergrund, z. B. die farbliche Gestaltung der Stadtmauern, ist eher blass gehalten, wodurch sich die bedeutsamen Dinge, wie etwa die zu suchenden Kisten oder Kürbisse, deutlich abheben. Auch die einzelnen Szenarien, sei es das Hühnereinsammeln, Schätzaufgaben im Elfenwald oder Kürbissezählen, sind überschaubar gestaltet, sodass das Kind den eigentlichen Zusammenhang und den Leitfaden in der Geschichte nicht verliert. AD/HS-Kinder lernen andererseits jedoch häufig deutlich besser über den visuellen als über den auditiven Kanal, d. h. es fällt ihnen leichter, wenn sie Aufgaben sehen und nicht nur hören. So ist es sinnvoll, dass in 2weistein die Aufgabenstellung noch einmal schriftlich dargestellt wird und u. a. die richtige Antwort eingeblendet wird. Dank dieser Technik hat das Kind die Möglichkeit, sich die richtige Lösung gleich zu merken und auch zu behalten. In einzelnen kurzen Spielsequenzen lernt das Kind seine visuelle Wahrnehmung zu trainieren, indem es sich vorgegebene Zeichen genau merken und aus einer Menge von dargebotenen Reizen herausfiltern muss. Schwierigkeiten in der geteilten Aufmerksamkeit, wie etwa gleichzeitig zu erzählen und sich dabei anzuziehen, etwas zu hören und gleichzeitig zu schreiben, sind im 43 Alltag ebenfalls häufiger festzustellen. Bei 2weistein gibt es zunächst nur wenige Aufgaben, die zwei Aktionen gleichzeitig erfordern. Dafür sind die Aufgaben aber unterschiedlich schwer, um eine gewisse Übung in diesem Bereich zu erzielen. Hinsichtlich der auditiven Wahrnehmung (hören) zeigt sich, dass Kinder mit AD/HS Probleme haben, sich die Informationen zu merken. Stattdessen vergessen sie sehr schnell. Außerdem haben sie oft Mühe, auf bereits erworbenes Wissen zurückzugreifen. Nicht selten wird von den Kindern eine gewisse Geräuschempfindlichkeit beschrieben. In 2weistein werden diese Aspekte dadurch berücksichtigt, dass eine zu starke, ablenkende Geräuschkulisse vermieden wird. Die Geräusche sind so gestaltet, dass sie zu einer gewissen Stimulation beitragen, um die Grundwachsamkeit der Kinder zu erhöhen, Spannung zu erzeugen und diese zu halten. Nur so können sich die Kinder auf das Wesentliche konzentrieren. Um die Merkfähigkeit zu verbessern, sind regelmäßige Wiederholungen im Spiel eingebaut. Dadurch kann das neu erworbene Wissen auf spielerische Art auch längerfristig abgespeichert werden. So werden die Einmaleins-Reihen, Zehner- oder Hunderter-Übergänge immer wieder geübt. Die dazugehörigen Lösungen sind in Hilfemenüs zu finden, damit dem Kind der Rechenweg deutlich wird. 8.2 Emotion/Motivation Für AD/HS-Kinder ist es oft schwer, sich so lange zu konzentrieren, wie es für erfolgreiches Lernen notwendig wäre. Zudem wird auf neue Reize nicht unbedingt immer entsprechend reagiert. Schwierigkeiten in der Impulskontrolle und somit in der Handlungsplanung werden bei AD/HS oft als hinderlich für erfolgreiches Lernen beschrieben. Dies sieht im Alltag so aus, dass Kinder z. B. Aufgaben überspringen, handeln, bevor sie denken, oder sich gar an einer Sache festbeißen. Damit verbunden sind oftmals Stimmungsschwankungen, die sich in unkontrollierten Gefühlsausbrüchen äußern können. In 2weistein erhält das Kind stets klare und überschaubare Anweisungen. Die Aufgaben werden in Textform und in gesprochener Form präsentiert, sodass das Kind leicht verstehen kann, was es gerade macht. 2weistein gibt ihm bei einem falschen Ergebnis einen zusätzlichen Hinweis, der das Kind anregt, sich genau zu überlegen, was es bei der Aufgabe tun muss. Auf diese Weise wird eine quasi-natürliche 44 Bremse bei impulsivem Handeln eingesetzt. Einige Aufgaben sind so gewählt, dass das Kind bei impulsivem Handeln nicht das gewünschte Ergebnis erzielt. So muss es z. B. von einem fliegenden Teppich zum andern hüpfen. Springt es drauflos, ohne sich vorher entsprechend selbst zu steuern und seine Aufmerksamkeit auf das Springen zu richten, so springt es daneben und fällt einfach runter. Ebenso ergeht es ihm, wenn es von einer Mauerbrüstung zur anderen springen muss. Um einem Gefühlsausbruch, welcher Art auch immer, vorzubeugen, werden in 2weistein regelmäßig sogenannte dynamische Spiele eingebaut. Diese fördern zwar die Konzentrationsfähigkeit der Kinder, haben jedoch mit Rechnen zunächst mal nichts zu tun. Die Impulsivität der Kinder wird dadurch zwischendurch immer wieder kontrolliert. AD/HS-Kinder haben häufig in ihrer schulischen Laufbahn viele Misserfolge zu verbuchen, ihre Frustrationstoleranz ist gering. Sie geben schnell auf, sind schnell enttäuscht, und ihr Selbstwertgefühl wird durch jeden weiteren Misserfolg ein Stückchen kleiner. Ein gesunder Umgang mit Fehlern ist für die Kinder kaum möglich. In 2weistein sind deshalb schnelle Belohnungen eingebaut, um ein gewisses Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten zu schaffen und so der Frustration entgegenzuwirken. Durch sofortige Belohnung erhöht man die Wahrscheinlichkeit, dass das Kind sich weiter anstrengt und zu weiteren Erfolgserlebnissen kommt. Schafft ein Kind eine Aufgabe nicht, so wird es unmerklich auf ein niedrigeres Level zurückgestuft, so dass es rasch wieder erfolgreich ist, wieder positiv denken und fühlen kann. Macht es einen Fehler, so wird auf eine motivierende, kindgerechte Art geantwortet. Frustrierende, harte Rückmeldungen, wie etwa „das ist falsch“ kommen nicht vor. Außerdem wird das Kind nicht dadurch frustriert, dass es auf einer Stufe stehen bleibt oder in ständigen Wiederholungsschleifen verweilt, bis es die Antwort weiß. Es kommt zunächst durch leichtere Aufgaben ein Stück weiter, wird dann aber wieder auf schwierigerer Stufe gefordert. Das niedrige Selbstwertgefühl der AD/HS-Kinder insbesondere hinsichtlich ihrer schulischen Leistungen zeigt sich darin, wie diese Kinder ihre eigenen Leistungen bewerten. Im Fachbegriff wird dieses Verhalten Kontrollüberzeugung genannt. Dahinter steckt die Frage, ob ein AD/HS-Kind seine Erfolge auf eigene Fähigkeiten zurückführt oder es der Auffassung ist, dass es Glückssache war oder „die Aufgabe war so leicht, dass sogar ich sie lösen konnte“? Oftmals haben die Kinder wenig Zutrauen in das, was sie können. 45 Was wir im Alltag häufig tun sollten, ist loben. Leider kommt genau das aber in aller Regel zu kurz oder wird von den Kindern in kritischen Situationen nicht angenommen. In 2weistein werden die Kinder regelmäßig und auf ganz unterschiedliche Art für ihre Anstrengung, ihr Durchhaltevermögen und ihr Können gelobt. Diese positive Reaktion spornt sie zusätzlich an und fördert eine positive Haltung. Beides sind enorm wichtige Voraussetzungen für erfolgreiches Lernen. 8.3 Handlungsplanung/Handlungsumsetzung AD/HS-Kinder haben häufig Schwierigkeiten, vorausschauend zu planen und zu antizipieren (was wird folgen, wenn ich etwas Bestimmtes tue?). Um eine Aufgabe lösen zu können, ist eine planvolle Vorgehensweise jedoch in aller Regel notwendig. Durch eine schnelle und flüchtige Arbeitsweise entstehen unnötige Fehler, durch ungezieltes Arbeiten wird das Arbeitstempo verlangsamt, komplexe Denkvorgänge, wie etwa bei Sachaufgaben, sind nicht möglich. Bei beiden Arbeitsstilen fällt das Ergebnis unbefriedigend aus. In 2weistein werden Versuch-und-Irrtum-Strategien des Kindes nur bedingt zugelassen bzw. sie werden unterbrochen. Bei fehlgeschlagenen Lösungsversuchen werden dem Kind Strukturierungshilfen angeboten im Sinne von „Erinnere dich genau, was du tun sollst. Schau dir die Aufgabe noch mal genau an. Mach dir einen Plan“ etc. Auf diese Art und Weise kann das Kind eine überlegtere Vorgehensweise lernen, eine überlegtere Vorgehensweise zu verinnerlichen und von seiner herkömmlichen Strategie wegkommen. Bei vielen 2weistein-Aufgaben steht nicht das Tempo im Vordergrund, sondern die Sorgfalt. Umgekehrt kommen Aufgaben vor, die unter Zeitdruck zu schaffen sind und daher Wachsamkeit und Konzentration erfordern. Dabei soll die Fähigkeit trainiert werden, das Augenmerk auf die Aufgabe zu richten und das Tempo zu steigern. 8.4 Wissensaufbau AD/HS-Kinder haben das Problem, Gelerntes nicht schnell und genau genug wiedergeben zu können. Dies führt wiederum häufig zu Frustration, da die Kinder sich eigentlich angestrengt und bemüht haben, die Erwartungen aber nicht erfüllen können. Dabei sind sie in der Regel sehr intelligent, können dies jedoch nicht zeigen. 46 In 2weistein können sich die „Helden“ in verschiedenen Welten bewegen, wobei die Haupt-Sachthemen des Unterrichts immer aufs Neue auftauchen. Dies bedeutet, dass Gelerntes beständig wiederholt werden kann und so eine gewisse Routine entsteht. Das Gelernte wird mittels vieler Wiederholungen automatisiert. Das Wissen kann zu gegebenem Zeitpunkt besser und sicherer abgerufen werden. Außerdem wird auf den verschiedenen Leveln das Arbeitstempo gesteigert, indem die zur Verfügung stehende Zeit bei manchen Aufgaben gekürzt wird. Man kann nämlich davon ausgehen, dass bei stetiger Automatisierung das Tempo von Haus aus höher wird. Diese stetig steigende Anforderung hält das Kind dazu an, vor allem auf Genauigkeit und weniger auf das Tempo zu achten. Die Schnelligkeit ergibt sich dann entweder von selbst oder durch Training. Die vielen Unsicherheiten im Lernprozess machen es den AD/HS-Kindern nicht leicht, eine gewisse Flexibilität im Denken zu erreichen und z. B. alternative Lösungsmuster zu entwickeln, obwohl ihr kreatives Potenzial eigentlich dazu leicht ausreichen müsste. Das in 2weistein häufig spielerisch wiederholte Wissen führt zur Automatisierung, die den Kindern wieder erlaubt, gute Lösungsstrategien, z. B. bei Sachaufgaben, zu entwickeln, ohne das Wichtige – nämlich die eigentliche Fragestellung – aus dem Auge zu verlieren. So können Texte zusehends entschlüsselt und die entscheidenden Begriffe erkannt werden. 47