PDF-Download - Bayerische Staatsoper

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Max joseph
Max Joseph
Bayerische
staatsoper
bayerische staatsoper
2015–2016 1
#1 Vermessen:
Der Mensch
D: 6,00 Euro A: 6,20 Euro CH: 8,00 CHF
René Pape und Roland Schwab über das Böse – Premiere Mefistofele
Evelyn Herlitzius über Dämonen und Freiheit – Premiere Der feurige Engel
Donna Leon erforscht Bienen
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EDITORIAL
Etwas vermessen: etwas verstehen, beherrschen, urbar machen wollen
Sich vermessen: etwas falsch ausmessen, ein falsches Bild gewinnen
Tony Oursler, Less-than-perfect, 2014, Courtesy of the Artist and Lisson Gallery
Vermessen sein: dem erliegen, was seit der griechischen Antike als Hybris
beschrieben wird; das Denken des Menschen, größer zu sein als er ist
Max Joseph 1 2015 – 2016
Das Magazin der Bayerischen Staatsoper
… und die eigenwillige Tatsache, dass dies im Deutschen durch ein und dasselbe Wort
aus­gedrückt wird. Dies wird uns als Thema in der Spielzeit 2015 / 16, die wir mit eben
diesem Wort „Vermessen“ überschrieben haben, beschäftigen. Die Stücke unserer
Neuproduktionen geben dies vor:
Vermessen mag schon das Vorhaben des Komponisten Arrigo Boito gewesen
sein, beide Teile von Goethes Faust in einer Oper zu erzählen. Sein Interesse galt ­indes
hauptsächlich der Figur des Mephisto als Verkörperung des Bösen. Er, nicht Faust,
beherrscht die Oper und fasziniert, weil er eine Seite in uns zeigt, die der Mensch ausklammert und als nicht existent wissen möchte – so formuliert es Bass René Pape, der
die Titelpartie in Mefistofele singt, im Gespräch mit Regisseur Roland Schwab. Das
Ausklammern von Abgründen lässt sich aktuell auch an der Praxis der großen Social
Media-Unternehmen sehen, die allzu verstörende Inhalte entfernen lassen, weil sie
vor allem anderen die Profitabilität ihrer Seiten gefährden – abseits jedweder Dis­
kussion um unangemessene, illegale oder fremdenfeindliche Meinungsäußerungen.
Ein US-Journalist berichtet in dieser Ausgabe davon, dass dies nicht automatisch
­geschieht, sondern nur, indem eine Armee von Hilfsarbeitern sich diese Inhalte ­ansieht
und bewertet.
Nicht weniger vermessen das zweite Werk dieser Saison: Im bayerischen Ettal
komponiert, thematisiert Sergej Prokofjews Der feurige Engel eine Amour Fou, in der
Frau, Mann und Umfeld alle Facetten einer aus den Fugen geratenen Leidenschaft
­heraufbeschwören. Dass die Oper auf einem Roman basiert, in dem der Autor eine
­unerfüllte Liebe verarbeitet, und diese begehrte Frau sich genau zu der Zeit in Paris
das Leben nimmt, als Prokofjew dort vergeblich versucht, sein Werk zur Uraufführung
zu bringen: vielleicht nicht vermessen, aber mit Sicherheit niemals plan- und vor­aus­
rechenbar. Die Partie der Renata jedenfalls geriet zur Zumutung und ist gerade ­deshalb
eine lustvolle Herausforderung für Sopranistin Evelyn Herlitzius, die mit V
­ erve über
diese einnehmende Figur spricht.
Die Vermessung des Menschen schließlich und die Idee, diesen wie eine
­Ansammlung von Daten zu verstehen und zu analysieren, ist der große Paradigmenwechsel unserer Zeit. Keine Wissenschaft und auch nicht unser Verstand hält mit ihm
Schritt. „Wo das Messbare ins Unwägbare umschlägt, ist die Kunst gefordert, dem
­Unmessbaren Ausdruck zu verleihen“, schreibt Anna Mitgutsch in ihrem Essay für
diese Ausgabe. Begleiten Sie uns und alle Vermessenheit der Künstler, mit hoffentlich
neuen Perspektiven aus dieser MAX JOSEPH-Ausgabe, zu unseren beiden packenden Münchner Erstaufführungen!
Nikolaus Bachler,
Intendant der Bayerischen Staatsoper
Wir, böse? – PREMIERE
Bass René Pape und Regisseur Roland Schwab
über Arrigo Boitos Mefistofele
44
Prokofjew und Ettal – PREMIERE
Sergej Prokofjew komponierte Der feurige Engel
in Ettal. Eine Spurensuche von Sophie Becker
49
Südpol – URAUFFÜHRUNG
Teil 1 der Bilderreihe zur
Uraufführung von Miroslav Srnkas
Oper South Pole. Gezeichnet von
Viktor Hachmang
60
Wie vermessen sind Sie?
Der Psycho-Test gibt Antwort
64
Satanismus oder: Ich mach‘ mir
die Welt, wie sie mir gefällt
Was Satanismus heutzutage
ausmacht. Eine Schilderung
von Dagmar Fügmann
Drecksarbeit für das Internet
Content-Moderatoren prüfen
Sex- und Gewaltvideos für Internet-Konzerne.
Ein Bericht von Adrian Chen
Im Ränkespiel der Macht
Das Team des Forschungsprojekts Bayerische
Staatsoper 1933 – 1963 präsentiert Fundstücke
78
Die Datenbank der Träume
Ein Interview mit Harvard-Professorin Rebecca
Lemov über das Datensammeln
84
Voller Vorfreude – PREMIERE
Omer Meir Wellber dirigiert Mefistofele,
Vladimir Jurowski Der feurige Engel.
Die beiden Dirigenten im Porträt
90
Maß genommen
Überfällig: die Abmessungen
von MAX JOSEPH
AGENDA
34
Unterwerfung
Hans Neuenfels’ Rede im Rahmen der Unmöglichen
Enzyklopädie der Bayerischen Staatsoper
93
Spielplan
102
Die Vermesser
Hutmacherin Margarethe
Luegmair-Ertl über ihr Handwerk
104
Vorschau
Foto Gerhardt Kellermann
22
Inahlt
Nur der Mensch zählt
Ein Essay über das Vermessen.
Von Anna Mitgutsch
70
Spielzeit 2015 – 2016
14
Eine große innere Freiheit – PREMIERE
Sopranistin Evelyn Herlitzius über ihr Debüt als
Renata in Sergej Prokofjews Der feurige Engel
Foto Martina Hemm
Ich als Forscher
Donna Leon über Bienen
Illustration Harriet Lee-Merrion
10
Illustration Viktor Hachmang
Das Cover zeigt einen
Ausschnitt aus einer
Installation des New ­Yorker
Medienkünstlers Tony
Oursler. Auf sieben
fotografierte oder gemalte,
raumhohe Gesichter
­projiziert er Augen und
Münder und lässt die
Werkzeuge biometrischer
Vermessung darüber­
flimmern. Er will den
Betrachter, wie er sagt, dazu
einladen, sich selbst aus
anderer Perspektive zu
­sehen, und zwar aus der der
Maschinen, die wir vor k
­ urzer
Zeit erschaffen haben.
Contributors/Impressum
30
Max Joseph 1
Tony Oursler,
template / variant /
friend / stranger,
2014
8
38
Courtesy of the Artist and Lisson Gallery
#1 Vermessen:
Der Mensch
Editorial
Von Nikolaus Bachler
Foto Martin Fengel
Spielzeit 2015/16
3
Bild Travis K. Schwab
Das Magazin der
Bayerischen Staatsoper
Inahlt
Max Joseph 1
Sehen Sie Wasserstoff.
In einer Weltpremiere
von Linde.
Am Anfang stand eine Idee: unsichtbare Gase sichtbar zu machen.
Wir haben einen faszinierenden, einzigartigen Ansatz entwickelt.
Numerische Grafiken, errechnet aus den spezifischen Stoffeigenschaften der Gase.
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Wir unterstützen die Bayerische Staatsoper als Spielzeitpartner.
Magazin der
Bayerischen Staatsoper www.staatsoper.de/maxjoseph
Max-Joseph-Platz 2 / 80539 München
T 089 – 21 85 10 20 / F 089 – 21 85 10 23
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www.staatsoper.de
Herausgeber
Staatsintendant Nikolaus Bachler
(V.i.S.d.P.)
Redaktionsleitung
Maria März
Gesamtkoordination
Christoph Koch
Redaktion
Miron Hakenbeck, Rainer Karlitschek,
Malte Krasting, Daniel Menne,
Julia Schmitt, Heilwig Schwarz-Schütte,
Benedikt Stampfli
Mitarbeit: Sabine Voß
Bildredaktion
Yvonne Gebauer
Gestaltung
Bureau Mirko Borsche
Mirko Borsche, Moritz Wiegand,
Jean-Pierre Meier, Felix Plachtzik
Autoren
Sophie Becker, Adrian Chen, Rasmus Cromme,
Dominik Frank, Katrin Frühinsfeld,
Dagmar Fügmann, Anna Kim, Donna Leon,
Christiane Lutz, Anna Mitgutsch,
Pascal Morché, Hans Neuenfels, Eva Wlodarek
Fotografen & Bildende Künstler
Martin Fengel, Viktor Hachmang,
Alana Dee Haynes, Martina Hemm,
Wilfried Hösl, Gerhardt Kellermann,
Harriet Lee-Merrion, Bryan Olson,
Tony Oursler, Jon Rafman, James Rieck,
Travis K. Schwab, Kurt Simonson
Marketing
Gabriele Brousek
T 089 – 21 85 10 27 / F 089 – 21 85 10 33
[email protected]
Anna Kim
Seite 78
Bryan Olson
Seite 14
Harriet Lee-Merrion
Seite 10
Unzählig die offenen Fragen
zum alles beherrschenden
Thema des Datensammelns.
Die Schrifstellerin Anna
Kim hat Harvard-Historikerin
Rebecca Lemov einige
davon gestellt. Anna Kim
wurde in Südkorea geboren
und lebt heute in Wien.
2012 erschien ihr Roman
Anatomie einer Nacht
bei Suhrkamp, sie erhielt
zahlreiche ­Auszeichnungen
wie den European Union
Prize for Literature.
Derzeit arbeitet sie an
einem Roman über den
Kalten Krieg in Ostasien.
In seinem Studio in
­Charlotte, North Carolina
erforscht der Autodidakt
Bryan Olson mit seinen
Collagen das Universum.
Er beginnt jede Arbeit mit
der Suche nach alten,
modrigen Büchern und leiht
sich dort, wie er sagt, eine
Art von Nostalgie, die es nur
dort zu geben scheint. Seine
Collagen bebildern den
Essay dieser Ausgabe.
Seine Arbeiten erschienen
unter anderem in FOUR
Magazine oder Wired UK
und wurden in Galerien
weltweit ausgestellt.
Zuerst ihre Illustration des
Kusses zwischen Werther
und Lotte, dann die
­Darstellung der Regisseurin
Christiane Pohle in der
letzten Spielzeit und nun die
Forschungsobjekte der
„Bienenforscherin” Donna
Leon: Siehe da, in jeder
dieser wunderbaren
­Zeichnungen ist auch ein
bisschen Harriet Lee-­Merrion
zu sehen. Die britische
Künstlerin s­ tudierte Illustration an der Falmouth University in Cornwall und arbeitet
heute von Bristol aus für
internationale Publikationen.
Schlussredaktion
Nikolaus Stenitzer
Anzeigenleitung
Imogen Lenhart
T 089 – 21 85 10 06 [email protected]
Lithografie
MXM Digital Service, München
Druck und Herstellung
Gotteswinter und Aumaier GmbH, München
ISSN
1867-3260
Nachdruck nur nach vorheriger Einwilligung.­
Für die Originalbeiträge und Originalbilder alle
Rechte vorbehalten. Urheber, die nicht zu
­erreichen waren, werden zwecks nachträglicher
Rechtsabgeltung um Nachricht gebeten.
James Rieck
Seite 64
Anna Mitgutsch
Seite 14
Adrian Chen
Seite 32
Selbstdarstellung, Stilisierung und Inszenierung –
­diese Themen beschäftigen
den US-amerikanischen
Maler James Rieck, der in Los
Angeles lebt. Die Ölbilder
seiner Serie Annual Report
bedienen sich der Bild­
sprache der internationalen
Unternehmenswelt. Einige
davon begleiten in dieser
Ausgabe den Text über
modernen Satanismus.
Riecks Arbeiten wurden
landesweit in den USA
gezeigt, in Europa sind sie in
der Schweiz und den Nieder­
landen zu sehen.
Alle Dimensionen des
Vermessens zu ergründen:
unmöglich. Anna Mitgutsch
zum Kern des Begriffs zu
folgen: unwiderstehlich.
Die österreichische, mit
vielen Preisen aus­
gezeichnete Autorin und
Literaturwissenschaftlerin
lebt nach langjährigen
Aufenthalten in den USA
nun in Linz, Österreich.
Zuletzt veröffentlichte sie
den Essayband Die Welt,
die Rätsel bleibt (2013).
Im Frühjahr 2016 erscheint
der Roman Die Annäherung
im Luchterhand Verlag.
Im Rahmen der Diskussionen, welche Äußerungen
Facebook & Co. von ihren
Seiten löschen sollen, ist
eine Tatsache wenig
­bekannt: Zigtausende
IT-Arbeiter, viele in Asien,
filtern ohnehin verstörende
Inhalte heraus, um sie von
uns fernzuhalten. Der
US-Journalist Adrian Chen
hat viele dieser Unternehmen besucht und berichtet ­
in dieser Ausgabe davon.
Er schreibt u.a. für Wired
und The New York Times,
in Brooklyn betreibt er den
Internet-affinen IRL-Club.
Foto Anna Kim: Roland Dreger
Contributors
Foto Anna Mitgutsch: Peter von Felbert
Impressum
eine liebeserklärung für die ewigkeit.
Promise by kim
München, Maximilianstraße 10, T 089.29 12 99
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Ich als Forscher:
Donna Leon
über Bienen …
In der Spielzeit
2015/16 schildern
Künstler für
MAX JOSEPH, woran
sie gerade
forschen
– was sie
zur Zeit
vermessen.
Vor ein paar Monaten las ich in meiner Bibel, Il Gazzettino, dass einem
Bauern in der Nähe von Vicenza über
Nacht 300.000 Bienen gestohlen worden seien. Dreihunderttausend – das
hört sich nach einer sehr hohen Zahl
an, doch all diese Bienen passen in
sechs Bienenstöcke. Kurz darauf
druckte der Londoner Independent
das Foto eines riesigen Lastwagens,
der irgendwo in den Vereinigten Staaten umgestürzt war und dabei einen
Teil seiner Fracht – eine Million Bienen – verloren hatte. Sechzig Prozent
der amerikanischen Honigbienen werden nämlich alljährlich von Florida
nach Kalifornien transportiert, wo sie
im Central Valley jene Mandelbäume
befruchten sollen, die achtzig Prozent
der weltweiten Ernte liefern.
Und plötzlich war ich umschwärmt
von Bienen: Nur eine Woche später
sah ich ein Bild von einer chinesischen
Birnenplantage, auf der die Blüten
von Hand bestäubt werden mussten,
weil die Bienen durch die vielen Pestizide vollständig ausgerottet worden
waren. In einem anderen Artikel ging
es um den sogenannten Völkerkollaps,
bei dem vielerorts bis zu achtzig Prozent der Bienen sterben. Den Gnadenstoß aber versetzte mir eine Freundin, die mir ein Glas zartgelben Honigs schenkte: „miele della barena“,
der aus der venezianischen Lagune
stammt. Natürlich könnte ich jetzt
behaupten, der Himmel tat sich auf,
die Muse schwebte auf einer Wolke
hernieder, richtete ihren Zauberstab
auf mich und meinte: „Donna, das ist
ein Buch.“ In Wirklichkeit zögerte
ich kurz, den Honig in Empfang zu
nehmen, während ich bei mir dachte:
„Das ist Stoff für ein Buch.“
Schon öfter bot sich mir ein Thema wie von selber an. Und Bienen
sind fürwahr ein wichtiges Thema.
Seitdem lässt mich „das Bienenbuch“
nicht mehr los.
Ein Romanautor sollte seine Fakten stets mit leichter Hand einstreuen; alles muss so selbstverständlich
daherkommen, als habe der Autor sich
jahrelang mit dem Thema beschäftigt
und könne sich beim Schreiben ganz
auf sein enzyklopädisches Wissen verlassen. Wobei er aber genau nicht vom
Hundertsten ins Tausendste kommen
darf.
Über die Jahre habe ich mich mit
Diamanten und Blutdiamanten, chinesischer Keramik, Kunstraub, Glasbläserei, seltenen Büchern und Strahlenkrankheit befasst, und jedes Mal
hat mich wie in meinen Studienzeiten
das Thema so sehr gepackt, dass ich
monatelang nichts anderes gelesen
habe.
Meine Freunde wissen die Zeichen
mittlerweile zu deuten, und darunter
leiden meine Kontakte, denn wer
möchte schon in geselliger Runde von
den Symptomen der Strahlenvergiftung hören oder sich erklären lassen,
wie man mithilfe von Zahnseide alte
Manuskripte stiehlt? Mit Bienen beschäftige ich mich erst seit zwei
Monaten, aber schon werde ich
seltener eingeladen und muss mir
Scherze anhören wie den, ich sei beim
Einstudieren des Schwänzeltanzes der
Bienen beobachtet worden. Manche
Leute, freilich nur die, mit denen ich
Englisch rede, nennen mich plötzlich
„Honey“; andere sprechen vom Stachel meiner Ironie.
Noch bin ich nicht der sprichwörtliche Oberlehrer, aber lange kann es
nicht mehr dauern. Noch kläre ich
meinen Nachbarn im Vaporetto nicht
darüber auf, dass Bienen positiv geladen sind, Blüten hingegen negativ,
was, sobald eine Biene den Pollen entnimmt, in positive Ladung umschlägt,
sodass die nächste (positiv geladene)
Biene sofort weiß, bei dieser Blüte
ist nichts mehr zu holen, bis neuer
Pollen gebildet und die Blüte damit
wieder negativ geladen ist.
Ähnlich mag es frisch zu einer Religion oder einer politischen Partei
Bekehrten ergehen oder jenen, die
sich verlieben: Plötzlich hat man nur
noch ein einziges Thema, und alle anderen müssten es genauso spannend
finden wie man selber, wenn sie einen
nur mal ausreden ließen. Auf die Gefahr hin, mich vor den Spezialisten
zu blamieren (es gilt da schließlich
ein ganzes Universum zu entdecken),
möchte ich versuchen begreiflich zu
machen, warum mir die Bienen mittlerweile als faszinierende Wunderwesen erscheinen.
Allein schon ihre Feinde: Da wäre
Varroa destructor – gruselt es einen
nicht bereits bei dem Namen? −, eine
furchterregend aussehende Milbe, die
sich von Bienenlarven ernährt und
ganze Stöcke ausrotten kann; Nosema apis, ein Pilz; das Flügeldeformationsvirus, die Sauerbrut und was
­dergleichen mehr ist an Krankheitserregern, die nicht nur die Larven,
sondern auch die ausgewachsenen Bienen in ihrem kurzen Leben bedrohen.
Vom Menschen ganz zu schweigen: Monokulturen bedeuten einen
Cocktail von Pestiziden, Herbiziden
und Fungiziden, von denen viele für
Honigbienen schädlich sind. Natürlich behaupten die Hersteller, die Mittel würden gezielt nur Insekten vernichten, die Bienen aber verschonen
– gerade so, als breite die Madonna
von Medjugorje ihren blauen Mantel
schützend über ihnen aus. Doch es
gibt auch kritische Stimmen:
„Es ist nicht weiter verwunderlich, dass der Bayer-Konzern ein en­
thusiastischer Verfechter der Neonikotinoide ist, wenn man bedenkt, dass
es sich bei dem hauseigenen Produkt
Imidacloprid um das weltweit am häufigsten eingesetzte Pestizid handelt.“
(Mark L. Winston: Bee Time, Harvard
University Press, 2014, S. 68)
Bislang haben die Bienen überlebt,
trotz aller Bedrohung durch Mensch
und Natur. Im Bienenstock herrscht
ein Leben von einer Perfektion, zu
der die Natur es bringt, wenn man
sie sich fünfzig Millionen Jahre lang
in Ruhe weiterentwickeln lässt. Man
weiß angesichts dieser Perfektion
kaum, wo man anfangen soll. Die Bienen sind nach ihrer Funktion in ein
strenges Kastensystem eingeteilt. Die
Königin schlüpft aus einem befruchteten Ei, das ihre Vorgängerin in einer der sechseckigen Waben im Stock
abgelegt und mit Gelée Royale
­gefüttert hat. Wenn ihre Zeit gekommen ist, paart sie sich mit zahlreichen
Drohnen, die aus den Eiern ihrer Vorgängerin stammen. Eier, welche jene
unbefruchtet ließ, nachdem sie den
Größenunterschied ertastet hatte:
Drohnenzellen sind einen Millimeter breiter als die anderen. Arbeitsbienen hingegen stammen aus
Illustration Harriet Lee-Merrion
© Donna Leon & Diogenes Verlag AG, Zürich
wirres, goldbraun in der Sonne glänzendes Gewimmel.
„Achte auf den blauen Punkt.“ Ich
sah genauer hin, suchte alles mit den
Augen ab. Und dann hatte ich es, ein
stecknadelgroßes, leuchtendes blaues
Pünktchen auf dem Hinterkopf, das
jene als eine 2015 geborene Königin
auswies.
Langsam kroch sie über die Waben, machte gelegentlich Halt und
senkte ihren Hinterleib in eine Zelle,
um jeweils ein weißes Ei etwa von
der Größe des Punktes abzulegen, mit
dem dieser Satz endet. Neben ihr, über
ihr, unter ihr krabbelte ihr Hofstaat,
berührte, umarmte, putzte sie und
hielt sie womöglich bei Laune, während sie an einem einzigen Tag 2.000
Eier ablegte.
Ich hatte nie zuvor ein Erweckungserlebnis gehabt. Und daher dem
metaphysischen Wesen, das Aristoteles in seinen Schriften zur Naturgeschichte postuliert, nie viel abgewinnen können – aber der Anblick
dieser Königin und das, was ich mir
in wenigen Monaten über Bienen angelesen hatte, lässt mich ahnen, der
Philosoph wusste, was er meinte, als
er mangels eines besseren Ausdrucks
seinen Begriff vom „himmlischen Seienden“ prägte. Hier ist Sein, hier ist
Leben, das Vollkommenste, was ich
jemals gesehen habe.
Aus dem Amerikanischen von Werner Schmitz
Nach Stationen unter anderem in Rom,
­London, in Iran und in China lebt die
US-amerikanische Autorin Donna Leon seit
1981 vor allem in ­Venedig. Dort sind auch
die Kriminalromane ­ihrer CommissarioBrunetti-Reihe angesiedelt, die in 35
­Sprachen übersetzt wurden. 2012 schrieb
die Liebhaberin von Händels Opern den
­Barock-Krimi Himmlische Juwelen (The
­Jewels of Paradise) für ein gemeinsames
­Projekt mit der Mezzosopranistin
Cecilia Bartoli.
Foto Regine Mosimann / © Diogenes Verlag
­efruchteten Eiern, die nicht mit
b
Gelée Royale, sondern mit normalem
Futtersaft aufgezogen werden.
Eine Arbeitsbiene ist nach
drei Wochen in ihrer Zelle vollentwickelt und versessen darauf, sich in
die Arbeit zu stürzen.
Sie lebt nur etwa einen Monat,
übernimmt in dieser Zeit aber eine
Aufgabe nach der andern. Sie beginnt
mit dem Saubermachen im Bienenstock, dann kommt sie zum Füttern
der Larven, danach hilft sie bei der
Nahrungsproduktion, wenn sie den
ausgeflogenen Bienen den Nektar im
Stock abnimmt. Schließlich wird sie
zum Zimmermann und baut die 8-eckigen Waben aus Wachs für den Stock.
Sobald sie 2o Tage alt sind, werden
Arbeitsbienen wehrpflichtig und müssen den Stock gegen Eindringlinge
verteidigen. Und erst, wenn sie einige
Tage am Einflugloch gekämpft haben,
werden sie selbst den Stock verlassen, um draußen Pollen und Nektar
einzusammeln. Und nun sterben die
meisten von ihnen, abgearbeitet und
mit zerschlissenen Flügelchen, von
der Arbeit erschöpft.
Ich kam beim Lesen nicht aus dem
Staunen heraus: Wie klug das alles
geregelt ist! Als sei der Bienenstock
ein einziger denkender Organismus,
der Informationen aufnimmt, auswertet und dann den Bienen die Aufgaben zuteilt, die jeweils am dringendsten bewältigt werden müssen.
Schließlich ließ ich die Bücher Bücher sein und machte mich auf den
Weg, um mir das Ganze mit eigenen
Augen anzusehen: Ein Freund wollte
mir seine Bienenstöcke zeigen. Mit
Hut und Schleier geschützt, näherten
wir uns, die Bienen aber waren so beschäftigt, dass sie uns gar nicht weiter beachteten.
Mein Freund öffnete den Stock
und zog einen der Holzrahmen heraus, auf denen die Bienen ihre Waben
angelegt hatten. Hunderte, wenn nicht
Tausende Bienen krabbelten darauf
herum. „Siehst du die Königin?“, fragte er.
Ich sah nur Bienen, die auf dem
Rahmen übereinander und untereinander durch krochen, doch keine wirkte königlicher als die anderen. Ein
Nur der Mensch zählt
14
Vorstellungsankündigung
Der Wunsch
zu ­vermessen
entspringt einem tief
menschlichen ­
Be­dürfnis nach
Ordnung und
­Sicherheit. Ist dieses
­befriedigt, beschleicht
uns die Sehnsucht,
aus der vermessenen
und dadurch
entzauberten Welt
auszubrechen.
Ein Essay von
Anna ­Mitgutsch.
15
Was
reizt
uns
so
sehr,
die
Grenzen
zum
Undenkbaren
zu
überschreiten,
dass
wir
es
auf
alle
möglichen
Weisen
versuchen,
in
der
MaSSlosigkeit,
im
Exzess,
im
Versuch,
das
Bewusstsein
auszuschalten?
Das Maß kam durch den Menschen in die Welt. Wo es kein Bewusstsein gibt, dort ist die Welt ohne
Anfang und ohne Ende. Nur der Mensch braucht Begriffe wie Raum, Zeit, Dimension und Grenzen.
Der permanente Zwang zu messen entspringt dem menschlichen Grundbedürfnis, sich in der Welt
zu verorten. Raum und Zeit sind an sich unendlich. Nur der Mensch denkt in Maßeinheiten. Es ist
die Fähigkeit zu denken, die unser Bedürfnis nach Kategorien und Systemen hervorbringt. Messen ist anthropozentrisch, eine menschliche Eigenschaft. Wo der Mensch an die Grenzen seines
Denkens stößt, liegt auch die Grenze des Messens. Wir messen zwar längst im Bereich des Unvorstellbaren, in Nanoteilchen und in Lichtjahren, aber irgendwann beginnen immer das Nichts und
die Unendlichkeit, Begriffe, die ein ebenso metaphysisches Schwindelgefühl erzeugen wie der
Gedanke an den Tod. Das Messbare wird von allen Seiten, räumlich und zeitlich, vom ­Unermesslichen
begrenzt. Der Mensch bringt zwar durch das Bewusstsein seiner Endlichkeit den Tod als existenzielle Erfahrung in die Welt, aber der Tod geht über das Messbare hinaus. Der stets gegenwärtige
Hintergrund des Messbaren ist das Nichts, das wir nicht denken können. Das Unermessliche, das
Nichts als das Undenkbare umgibt uns vom Anfang und vom Ende her und verlangt nach Begrenzung, um unsere Angst davor in Schach zu halten. Anfang und Ende sind Begriffe, in denen das
Maß enthalten ist, davor und dahinter ist das, was sich nach Ludwig Wittgenstein nicht denken
lässt und worüber die Sprache der Logik schweigen muss. Die Grenzen des Nichts lassen sich
nicht von außen vermessen. Was reizt uns so sehr, die Grenzen zum Undenkbaren zu überschreiten, dass wir es auf alle möglichen Weisen versuchen, in der Maßlosigkeit, im Exzess, im Versuch,
das Bewusstsein auszuschalten, in der Selbstauslöschung? Ist es die Befreiung von Raum und
Zeit? Ist es die Verlockung des Unvorstellbaren jenseits des Horizonts?
Es bleibt viel Unermesslichkeit angesichts der Tatsache, dass alles messbar geworden ist,
vom Universum bis zum unvorstellbar kleinsten Teilchen der Materie, von den Funktionen des
menschlichen Gehirns bis zur neuronalen Genese unserer Emotionen. Der Mensch kann sich über
den eigenen Verstand beugen und ihn vermessen, ein medizinischer Fortschritt, der nicht geringzuschätzen ist, baut er doch Mystifizierungen ab und betrachtet das Gehirn als Organ, dessen
Funktionen entgleisen können und dessen Pathologien heilbar sind. Doch nach wie vor reicht alles Wissen um die Funktionsweisen des Gehirns nicht aus, uns vor der kreatürlichen Angst vor dem
Tod und dem Unermesslichen, das uns umgibt und existenziell bedroht, zu schützen. Es scheint
fast, als wüchsen mit der fortschreitenden Messbarkeit realer Phänomene die menschlichen Ängste vor dem Ausgeliefertsein zu einer permanenten Katastrophenangst an und lieferten reichlichen
Stoff für die Weltuntergangsszenarien der Populärkultur. Als die Unendlichkeit noch mit Himmel
und Hölle, mit Engeln und Teufeln bevölkert war, wussten die Menschen wenigstens, was sie im
besten und im schlimmsten Fall erwartete. Trotzdem konnte die fortschreitende Messbarkeit der
Welt bislang das Geheimnis der menschlichen Existenz nicht überzeugend erhellen.
Wenn unser Bedürfnis nach Sicherheit befriedigt ist, beschleicht uns die Sehnsucht, aus der vermessenen und dadurch entzauberten Welt auszubrechen. Die Sehnsucht nach Entgrenzung und
nach dem Unbekannten ist der Gegenpol zum Bedürfnis nach Ordnung und Grenzen. So sehr wir
uns auch bemühen, alles mit Maßeinheiten zu versehen und auf Messbarkeit zu reduzieren, die
wichtigsten Dinge im Leben entziehen sich dem Maßnehmen. Mitten in der Geschäftigkeit des
Definierens werden wir mit der Maßlosigkeit und Irrationalität unserer Sehnsüchte und Begierden,
unserer Emotionen konfrontiert, von Liebe, Schmerz, Trauer, Glück oder Hass überwältigt. Dann
sprechen wir von Unermesslichkeit, wir nennen den Schmerz unsäglich, reden von maßlosen Gefühlen. Leidenschaften können tatsächlich, nicht bloß metaphorisch, jedes Maß übersteigen und
alle Grenzen niederreißen. Die Sprache entlarvt die tiefe Angst vor dem Verlust des Maßes, indem
sie das Wort mit Negativkonnotationen versieht: Maßlosigkeit, Vermessenheit, Unmaß, Übermaß.
Das richtige Maß dagegen, in dem Leben und Sicherheit gedeihen, steht zwischen Übermaß und Mindestmaß; aber das Mittelmaß hat die Tendenz zur Mittelmäßigkeit, denn der Maßstab
der Norm ist der größte gemeinsame Nenner. Wer will schon Durchschnitt sein? Wer möchte sich
nicht, ein bisschen wenigstens, durch Individualität der Norm entziehen? Dennoch nimmt die Manie, alles zu normieren, vom Abstand zwischen Nase und Augen auf dem Passfoto bis zu den uniformen Leistungsvorgaben im Bildungssystem, manchmal groteske, öfter erschreckende Formen
an. Maß und Vermessenheit sind die Pole, zwischen denen das Leben aufgespannt ist. Von Geburt
16
an steht jeder Mensch in seinem Koordinatensystem, das ihn definiert. Er kann ausbrechen, sich selbst
neu erschaffen, er kann die Maßstäbe neu definieren, aber das kann ihm schnell als Vermessenheit
ausgelegt werden. Wer aus der Norm fällt, lässt sich schwerer kontrollieren, und nicht berechenbar zu
sein, macht suspekt und kann zum Verhängnis werden. Hybris oder das, was das Maß als Hybris auslegt, wird seit dem Altertum von Göttern und Menschen bestraft. Je enger die Grenzen des Tolerierten,
desto strenger und unduldsamer ihre Überwachung.
Die wichtigsten Erfahrungen des Lebens, die uns erschüttern, uns aus der Bahn werfen und
vielleicht in unvorhersehbare Bahnen lenken, sind gerade die des Nicht-Messbaren, das sich das Maßnehmen verbietet. Doch auch vor Gefühlen macht der Normierungswahn nicht halt. Wie lange darf
„gesunde“ Trauer dauern? Wochen? Zwei Monate? Und wenn die Trauer sich nicht daran hält? Dann
ist Therapie angesagt.
Die
Sprache
entlarvt
die
tiefe
Angst
vor
dem
Verlust
des
MaSSes,
indem
sie
das
Wort
mit
Negativkonnotationen
versieht:
MaSSlosigkeit,
Vermessenheit,
UnmaSS,
ÜbermaSS.
Wo
das
Messbare
ins
Unwägbare
umschlägt,
ist
die
Kunst
gefordert,
dem
Unmessbaren
Ausdruck
zu
verleihen.
Essay Anna Mitgutsch
17
Doch
auch
vor
Gefühlen
macht
der
Normierungswahn
nicht halt.
Wie
lange
darf
„gesunde“
Trauer
dauern?
Wochen?
Zwei
Monate?
Und
wenn
die
Trauer
sich
nicht
daran
hält?
Dann
ist
Therapie
angesagt.
„Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt, gab mir ein Gott zu sagen, wie ich
leide“, sagt Torquato Tasso bei Goethe. Wo das Messbare ins Unwägbare umschlägt,
ist die Kunst gefordert, nicht um zu beschreiben oder vorzuschreiben, sondern um das
Unsagbare zur Sprache zu bringen, dem Unmessbaren Ausdruck zu verleihen, eine Erfahrung auf solche Weise in Sprache zu übersetzen, als habe sie nur darauf gewartet,
formuliert zu werden. Wenn Wittgenstein sagt, „die Welt ist alles, was der Fall ist“, meint
er die Kunst nicht mit, ebensowenig die Religion.
Auch wenn sie sich mit Vorliebe des Nicht-Messbaren annimmt, ist die Kunst
keineswegs frei von Maß und Form. Nicht nur die Musik ist ohne formale Strukturen
undenkbar. Die Notwendigkeit von Maß und Form ist allen Kunstsparten als Gestaltungsprinzip eingeschrieben, denn auch das Sprengen der Formen geschieht auf der
Grundlage der Form. Auch freie Rhythmen horchen auf den Rhythmus der Sprache.
Das Dionysische und das Apollinische waren seit jeher nicht nur Gegensätze, sondern ein unzertrennliches Paar im kreativen Prozess. Kunst ist nicht Mystik, sie ist
beschreibbar, sie folgt Kriterien, sie ist sogar kategorisierbar, und sie besteht aus gewissen, mit einiger Begabung erlernbaren handwerklichen Fertigkeiten. „Verachtet
mir die Meister nicht, und ehrt mir ihre Kunst“, singt der Meistersinger Hans Sachs
bei Richard Wagner.
Doch das, was uns in der Kunst ergreift, was uns erschüttert und verwandelt,
ist nicht die Form, auch nicht der Inhalt, es ist das Ungreifbare, Unbegreifliche, das
sich der Stimmung des Hörers, der Gefühle der Betrachterin, der Leser bemächtigt, sie
ganz auf sich einstimmt und ihre Fantasie mitreißt, vielleicht sogar für Augenblicke
Zeit- und Raumgefühl aufhebt, sie entrückt, ohne dass sie ­erklären könnten, was in ihnen vorgeht, außer dass sie vielleicht noch nie dem Göttlichen so nah waren. Das Göttliche, die Transzendenz, der wir im Alltag mit Skepsis begegnen, an deren Existenz wir
selten glauben, weil sie in den Bereich des Unendlichen verweist und dem Nichts so
ähnlich ist: Hier begegnen wir ihr mit glücklicher Gewissheit, ohne es zu wollen, oft
ohne es zu wissen. Ohne diesen Anteil am Göttlichen, der tief ins Gestaltlose, ins
Sprachlose hineinführt, bleibt das, was sich als Kunst verkauft, eben nur Konsumware,
Dienstleistungsgewerbe des Kulturbetriebs. Die Stimmung, die Gefühle, die von Musik
erzeugt werden, sind neurologisch nicht messbar, sie gehen über das Vegetative hinaus und bleiben eine ganz und gar individuelle, unteilbare Erfahrung. Das ist die von
nichts anderem ersetzbare Funktion der Kunst: dass sie den Kern des Ich berührt, den
wir auch in unserer geheimnisentkleideten Zeit noch immer Seele nennen.
Der Drang zu messen und zu vermessen, der Zwang, Grenzen zu ziehen und die Einhaltung der Norm zu überwachen, beide haben in den letzten Jahrzehnten bedrückend zugenommen. Wenn die Macht es mit der Angst zu tun bekommt, verringert ihre Paranoia die
Maßeinheiten der Freiräume, jeder muss stets und überall überwachbar sein, die Rasterfahndung erfasst jeden, nichts darf der permanenten Kontrolle entgehen, jeder ist verdächtig. Messen, in welcher Form auch immer, ist nicht nur ein menschliches Grundbedürfnis nach Ordnung, sondern immer auch Machtausübung. Die Norm ist ein Instrument
der Macht. Im Umgang mit der Kunst hat der Markt weitgehend die Deutungshoheit an
sich gebracht. Um sie auszuüben und zu festigen, bedarf es der Charts, der Bestsellerlisten, Bestenlisten, Skalen, auf denen die einzelnen Titel und Namen hinauf- und hinuntergeschoben, entfernt oder an erster Stelle platziert werden. Mag sein, die Macht gehört
dem Markt, dem Betrieb, dem es um Quoten, Einschaltquoten und Besucherzahlen, also
um Quantität geht. Doch die Kunst ist subversiv, sie findet immer neue Wege, sich zu entziehen, denn in der Kunst geht es allein und ausschließlich um Qualität, die sich um Mengen und Messbarkeiten nicht kümmern kann. Wie sollen Charts und Listen das Unmessbare messen, das sich im Vorgang des Messens in die Gefühlstaubheit zurückzieht? Muss
Kunst denn mehrheitsfähig sein? Dürfen die „likes“ von Konsumenten über Qualität entscheiden? Wenn Musik, wenn die Literatur ihre eigentliche Funktion erfüllt, spricht sie zu
jedem von uns als Individuum.
Collagen Bryan Olson
19
Das Internet hat unser Raum- und Zeitgefühl grundlegend geändert. Die Welt ist nach Marshall
McLuhan schon seit geraumer Zeit ein globales Dorf, doch sie wird immer schemenhafter. Selbst
extreme Erfahrungen, Katastrophen und fremdes Leiden erreichen uns nur mehr in diesem seltsam körperlosen Raum. Cyberspace ist kein räumlicher Begriff. Auch in den sozialen Medien
sind Raum und Zeit zusammen mit der Realität abgeschafft. Wir haben „Freunde“, wir „parshippen“, mobben und kommunizieren ohne physischen Kontakt, unsere soziale Identität deckt sich
nicht mehr mit unserer realen Präsenz. Zeit und Raum ziehen sich auf einen Punkt zusammen,
den Punkt, an dem wir uns gerade befinden, vernetzt und zugleich anonym und isoliert. Trotzdem bleiben die grundlegenden Fakten des Lebens unverändert. Wir verlieben uns auch in der
realen Zeit und an realen Orten, wir leiden unter unseren Verlusten, wir sind dem Zufall ausgeliefert, der uns Glück, Unglück, Krankheit, Erfolg bringt, unvorhersehbar wie das Schicksal es
eben verteilt seit eh und je, wir werden krank und sterben, und all das trifft uns ganz real. Anfang und Ende unseres Lebens bleiben ein Geheimnis. Das Leben widersetzt sich der Messbarkeit auf Schritt und Tritt, auch wenn wir verkabelt durch die Landschaft laufen und unsere Mess­
instrumente Pulsfrequenz, Kalorienverbrauch und zurückgelegte Meter messen. Angesichts der
Atemlosigkeit, mit der wir versuchen, uns durch unentwegtes Messen dem Zufall zu entziehen,
ist es beruhigend zu wissen, dass sich die Kunst stets unserer irrationalen Seite, unserer namenlosen Sehnsüchte, unserer verborgenen Leidenschaften, unserer verheimlichten Ängste
und unserer Einsamkeit annehmen wird. Mehr über die Autorin und den Bildkünstler auf S. 8
EXCELLENCE:
RENÉ PAPE TRIFFT AUF
MORITZ GROSSMANN
Wir begrüßen den weltweit gefeierten Bass René Pape als Excellence-Partner unserer Marke. Die
hohe Kunst des Gesangs berührt die traditionelle Kunst der Feinuhrmacherei. Das Kaliber seiner
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HEIMAT EINER NEUEN ZEIT
Collagen von Bryan Olson
Seite 14: Youth Observatory, 2011
Seite 17: Hike of a Lifetime, 2011
Seite 18: Activation, 2012
20
Carl
Glück
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Wir,
böse?
René Pape singt die
­Titelpartie in ­Arrigo ­Boitos
Oper Mefistofele, ­Roland
Schwab inszeniert. Für
MAX J­OSEPH unternahmen sie vorab e
­ inen
­Oster­spaziergang der
anderen Art: eine
­Karussellfahrt. Und
­unterhielten sich darüber,
wie sie den Mephisto
anlegen wollen.
22
Vorstellungsankündigung
Rubrikentitel
Premiere Mefistofele
23
Roland Schwab
René Pape
MAX JOSEPH Herr Pape, Herr Schwab, Sie haben sich eben
beide in ein Kettenkarussell begeben. Hat ein Opernbesuch
nicht auch etwas von einer Karussellfahrt?
ROLAND SCHWAB Das Karussell hatte den netten Namen
„Wellenflug“, und ein Wellenflug ist ein Opernbesuch gewiss, zumal bei einem Stück wie Mefistofele. Wir haben einen Wechsel zwischen Höhen und Tiefen, zwischen Himmelfahrten und Abgründen, das ist sicher ein Trip, auf den
der Zuschauer mitgenommen wird. Gleichzeitig ist das Karussell ein so schöner Ort von Understatement. Mephisto,
der Teufel, wenn er in einer Oper schon personifiziert wird,
wird nur interessant, wenn er mit Understatement auf der
Bühne erarbeitet wird. Wenn er nicht wie der große Angeber oder der große Zampano daherkommt, sondern man
sein abgründiges Potenzial durch dezentes Verschweigen
umso stärker ahnbar macht. Und das ist eine tolle Herausforderung, es verlangt eine Denkraffinesse, und da müssen
wir, René und ich, unsere Köpfe zusammenstecken und unser abgründiges Denken zusammenlegen, dass wir den
Teufel nicht an die Karikatur verkaufen oder verschenken,
sondern dass er wirklich eine dämonische Qualität hat, die
man so nicht unbedingt oft auf der Opernbühne antrifft.
MJ Besonders an dieser Oper ist auch, dass die Basspartie die
Titelpartie ist. Der Böse, der Antagonist von Faust steht im
Zentrum. Geht man an diese Rolle von vornherein anders
­heran? Ist das überhaupt eine menschliche Figur, oder ist das
der Teufel, den man ohnehin anders spielen muss?
RENÉ PAPE Die Frage ist: Was ist böse? Für mich ist
Mephisto einfach ein starker Charakter. Er ist nicht
böse für meine Begriffe, sondern er ist einfach nur das,
was wir sind, jeden Tag. Er hält uns den Spiegel vor und
sagt: Hey, was willst Du von mir? Du bist doch genauso.
Und dann sage ich eben: Ich bin Mephisto, also ich,
René Pape, ich fühle mich als Mephisto, auch im wirklichen Leben. Diese Einteilung in „wer ist gut, wer ist
böse“ – da habe ich überhaupt keine Lust drauf. Mephisto ist nicht böse. Er ist nur böse, weil wir denken, dass
er böse ist. Ich will ihn auch so anlegen … Er soll dieses
Nette, Hintertriebene haben, diese Coolness (zieht ein
harmloses Gesicht, hinter dem es diabolisch funkelt).
Und er ist sich seiner Macht, seiner Stärke sehr bewusst. Er hat die Fäden in der Hand. Alle anderen bewegen sich wie Marionetten. Aber von selbst. Nicht,
weil er sie so spielt.
RS Aber das ist doch schön, diese Selbstverständlichkeit
dabei.
RP Eben. Er ist einer von uns. Wir können alle Gott spielen und nett sein, wir können tausend Kinder in die Welt
setzen, das ist alles super. Wir können aber auch das
andere, aber das andere blenden wir immer aus. Wir sagen: Nein, ich bin nicht so böse, nein, ich steh auf in
der Straßenbahn für eine alte Frau.
MJ Machen Sie das denn nicht?
RP Doch, natürlich. So hab ich’s gelernt.
26
René Pape (r.) und Roland Schwab (l.)
bei ihrer nicht nur metaphorischen,
sondern wirklichen Karussellfahrt auf
der Münchner Auer Dult.
„Mephisto hat die Fäden in
der Hand. Alle anderen
bewegen sich wie Marionetten. Aber von selbst.
Nicht, weil er sie so spielt.“
– René Pape
„Wo ‚Mephisto‘ draufsteht,
sollte man kein humani­
täres Rettungspaket erwarten.“ – Roland Schwab
MJ Der Teufel, das Böse kann auf der Bühne schnell etwas Lächerliches bekommen. Kommt man mit den Mitteln des Theaters
überhaupt an das ran, was man das eigentlich Böse nennt?
RS Das Böse ist immer: Man sieht die Eisbergspitze, und
darunter ist unsichtbar der Rest. Und das muss immer ein
Geheimnis bleiben, auch und gerade im Theater. Das darf
nicht ausformuliert werden. Die Aura eines Diabolos macht
man kaputt im Ausformulieren, das Mysterium muss aufgespannt werden. Es ist eine absolut packende Herausforderung. Mir kommt entgegen, die Hölle als unseren Ort zu begreifen: Wir sind alle in der Hölle geparkt, der Himmel ist uns
nur als utopische Sehnsucht gegeben.
MJ Kann man ausformulieren, was unter dem Eisberg ist?
RS Es gibt ja eine ganze Sekundärliteratur, die sich mit dem
Bösen beschäftigt, die uns aber keinen Deut weiterbringt.
Das Böse entzieht sich uns, es wird nie greifbar. Die Präsentation der Spielzeit 2015/16 an der Bayerischen Staatsoper
mit dem Titel „Vermessen“ im März dieses Jahres war überschattet von dem Germanwings-Absturz. An dem Tag hieß
es: Absturz, alle ums Leben gekommen, Piloten wie die Passagiere haben uns alle gleich leid getan. Ein paar Tage später
hieß es, es gebe eine Ausnahmerolle: einen Co-Piloten, der
bewusst Mannschaft und Passagiere in den Tod mitgerissen
habe. Dann, Wochen später, die Message: Bereits der Hinflug
nach Barcelona habe als Testflug fungiert. Es hatte sich hier
etwas ausgeweitet, und man weiß nicht, wo sind die Grenzen? Haben wir alle schon solche Testflüge mitgemacht,
Fotografie Martin Fengel
möglicherweise Wochen und Monate vorher? Es gibt nur eine
Ahnung, was da noch ist. Aber das Vermessen des Bösen ist
eine Hybris, es ist nicht möglich. Man vermisst die Eisbergspitze, aber des Mysteriums wird man nicht habhaft.
MJ Als die Informationen über den Co-Piloten bekannt wurden,
stand seine Person wochenlang im Zentrum der Medien. Ist es
grundsätzlich das Böse, das uns besonders fasziniert, das Dunkle, die Abgründe der Menschen?
RP Ja. Für mich das Beste, was ich gelernt habe in den 26
Jahren meiner Laufbahn: sich mit Sachen auseinanderzusetzen. Ich habe gelernt, dass Philipp in Verdis Don Carlo
nicht der gute Philipp ist, ich habe gelernt, dass Marke in
Tristan und Isolde nicht der gute Marke ist. Und genau das
ist es, was sie zu so faszinierenden Figuren macht. Wir sind
mitten im Leben. Egal, ob wir über die Straße gehen, ob wir
hier ein Bier trinken, ob wir Kunst machen, ob wir Straßenbahn fahren: Ich lebe mit Menschen zusammen, und jeder
hat unterschiedliche Meinungen. Aber ich verurteile Menschen nicht wegen ihrer Meinung. Ich verurteile Menschen nicht, weil sie so und so gepolt sind. Ich bin Dresdner, mir ist schon peinlich, was da mit Pegida läuft. Das ist
auch schwierig. Aber wie gesagt: „böse“, dieses Wort, gibt
es für mich nicht. Ich versuche so zu leben, dass … ich dieses Wort „böse“ möglichst irgendwie wegschiebe.
MJ Wenn wir nun annehmen, dass der Begriff des Bösen uns nicht
hilft, weil es alltäglich und in uns allen ist, dann muss man trotzdem fragen: Kommen wir ohne Werturteile aus?
27
RS Mit dem Bösen, da gebe ich René recht, klammert man immer etwas aus, was man nicht sein will. Die simple Unterscheidung von Gut und Böse hat uns nie geholfen. Was dagegen
hilft ist, die Unterscheidung in sich selbst zu sehen, was für
einen Anteil hat man am Bösen? Wir befragen, siehe Germanwings, die Atteste: Welche psychische Krankheit hat der? Beides bringt uns nicht weiter. Dann enden wir irgendwann bei
dem Wörtchen „Warum“. Das ist immer das kapitulative letzte
Wort, weil wir es meist auf andere beziehen und nie die Sonde
in uns selbst setzen. Wir denken, anormal sind die anderen.
Aber wir sind nicht solitär. Wir haben alle Anteil an allem. Die
Akzeptanz des eigenen Schattens, des eigenen Abgrunds, behaupte ich, ist präventiv, ist Krisenprophylaxe. Zu erkennen,
wie viel man Anteil hat. Und diejenigen, die immer verdrängen:
Irgendwann schafft sich das Verdrängte sein Recht, bricht sich
Bahn. Und da sind viele Menschheitskatastrophen festzumachen in diesem Themenkomplex.
MJ Würde das auch beinhalten, dass ich sage: Mein Anteil war
schlecht, war böse, war nicht richtig? Oder würde es heißen: Mein
Anteil hat diese Ursache und es gibt das Böse nicht?
RS Wie man es auch nehmen will – es gibt natürlich eine Skala der seelischen Schwärze, ja. Luzifer, behaupte ich mal, hat
sich vom Himmel abgekehrt aus Langeweile. Hier kommt das
Spaßprinzip ins Spiel. Das Böse, ob man es jetzt in Anführungszeichen setzt oder nicht, ist ein Lustprinzip. Böse, das
ist gleichzeitig Wettkampf und Dilemma, das ist, sich toppen
zu müssen. Eine Figur auf der Bühne, die sich permanent souverän fühlt, ist auch nicht interessant. Man muss bei aller Versuchung auch zeigen, wie Mephisto selbst versucht wird, in
welche Klemmen er gerät. Aber wo „Mephisto“ draufsteht, sollte man kein humanitäres Rettungspaket erwarten.
MJ Es gibt ja ein Wort, das so ganz entscheidend ist für Mephisto
– das Wort „nein“. Er ist der Geist, der stets verneint. Boito hat Mephisto eine große Arie komponiert, die sich um dieses Wort dreht.
RP Wenn ich da einhaken darf: Wie sind Sie Dramaturg geworden? Durch Ja- oder durch Neinsagen?
MJ Gute Frage. Nun, als Dramaturg ist man ohnehin immer der
Teufel der Produktion. Man stärkt ja die Produktion, indem man
den Finger in die Wunde legt.
RP Na also. Neinsagen ist immer gut.
MJ Ja, würde ich auch sagen. (lacht) Ich stimme zu.
René Pape wurde beim Dresdner Kreuzchor sowie
an der Musikhochschule Carl Maria von Weber in
Dresden ausgebildet. Seit 1988 ist er im Ensemble
der Staatsoper Unter den Linden in Berlin, wo er
auch zum Kammersänger ernannt wurde. Zu seinem
Repertoire gehören Partien wie Rocco (Fidelio),
Méphistophélès (Faust), König Heinrich (Lohengrin), Banquo (Macbeth), Pogner (Die Meistersinger
von Nürnberg), Gurnemanz (Parsifal), Sarastro (Die
Zauberflöte), König Marke (Tristan und Isolde) und
Philipp II., König von Spanien (Don Carlo) sowie die
Titelpartien in Don Giovanni und Boris Godunow.
Gastspiele führten ihn u.a. an die Metropolitan
­Opera New York, die Opéra National de Paris, d
­ as
Royal Opera House Covent Garden in London, an
die Wiener Staatsoper sowie zu den Festspielen
von Bayreuth und Salzburg. An der Bayerischen
Staatsoper ist er in dieser Spielzeit als Orest
­­­(Elektra) und in der Neuinszenierung als
­Mefistofele zu erleben.
Roland Schwab, geboren in Paris, studierte nach
einem Studium der Germanistik und Physik Musiktheater-Regie an der Hochschule für Musik und
Darstellende Kunst in Hamburg unter Götz
­Friedrich. 1994 wurde er Meisterschüler von Ruth
Berghaus und schuf seine ersten Inszenierungen,
u.a. Frank Alert meets Brecht am Berliner Ensemble.
Ab 2002 wirkte er als Oberspielleiter am Meininger
Theater, wo er Così fan tutte und Le nozze di Figaro
inszenierte. Weitere Opernproduktionen führten ihn
u.a. an das Tiroler Landestheater, das Landes­
theater Linz, an die Oper Bonn, die Oper Dortmund
sowie an das Staatstheater Braunschweig. Seine
wichtigsten Arbeiten schuf er für die Deutsche
Oper Berlin: Mozart-Fragmente, Tiefland sowie Don
Giovanni. In der Spielzeit 2015/16 inszeniert er an
der Bayerischen Staatsoper Boitos Mefistofele und
gibt damit sein Hausdebüt.
Das Gespräch führten Daniel Menne und Maria März.
Mefistofele
Oper in vier Akten mit Prolog und Epilog
Von Arrigo Boito
Premiere am Samstag, 24. Oktober 2015,
Nationaltheater
STAATSOPER.TV: Live-Stream der Vorstellung
auf www.staatsoper.de/tv am Sonntag,
15. November 2015
Weitere Termine im Spielplan ab S. 93
28
talbot runhof boutique munich // theatinerstraße 27 // 80333 münchen // www.talbotrunhof.com
Drecksarbeit
für
das
Internet
Bild Travis K. Schwab, Reject, 2015
Nicht nur unser Giftmüll,
­sondern auch unser ­Seelenmüll
wird in Entwicklungsländer
ab­­trans­portiert: Facebook & Co.
beschäftigen ­sogenannte
­Content-­Moderatoren rund um
den Globus, die Sex- und
­Gewaltvideos sichten und je
nach ­Unternehmens­ziel löschen.
Im Januar 2014 war ich im Auftrag des Wissenschaftsmagazins
Wired auf den Philippinen und sprach dort mit einer jungen Frau,
die ich hier Maria nennen will. Maria hatte einen ungewöhnlichen Job. Sie arbeitete für ein Subunternehmen in Manila und
leitete dort ein Team von Mitarbeitern, die täglich tausende von
Bildern und Videos begutachteten, die in den Cloudspeicher­
­eines großen amerikanischen Technologieunternehmens hochgeladen wurden. Die Aufgabe ihres Teams bestand darin, Inhalte zu überprüfen und zu löschen, sollten diese die Nutzungsbedingungen des Unternehmens verletzen. Nutzungsbedingungen
legen fest, was Nutzer auf den verschiedenen Onlinediensten
posten dürfen. Diese Bedingungen sind so unterschiedlich wie
die Dienste selbst. Die meisten sozialen Netzwerke verbieten
beispielsweise Nacktheit und alle Formen von systematischer
Belästigung wie Anfeindungen, erniedrigende Kommentare und
Drohungen. Andere wiederum lassen extremere Inhalte zu – die
Nutzungsbedingungen einer Pornoseite werden lockerer sein
als die eines populären Nachrichtenportals. Es gibt auch Inhalte, die quasi von niemandem ­zugelassen werden, wie zum Beispiel Kinderpornografie oder Material mit falschen Urheberrechtsangaben. Maria und ihr Team sind Teil einer Armee von
Content-Moderatoren, die ununterbrochen damit beschäftigt
sind, das Netz von Inhalten zu befreien, vor denen die Unternehmen ihre Nutzer schützen wollen.
Fast jedes Unternehmen, das im Internet von Nutzern
generierte Inhalte bereitstellt – von Webseiten von Lokalzeitungen bis hin zu den größten sozialen Netzwerken –, beschäftigt
Content-Moderatoren wie Maria. Ein Experte, mit dem ich für
meinen Wired-Artikel sprach, schätzte, dass es mehr als
100.000 solcher Moderatoren weltweit gibt – Tendenz steigend.
Facebook beispielsweise bezahlt Menschen dafür, Fotos und
Posts zu überprüfen und eventuell zu kennzeichnen. Bei YouTube macht ein Team das Gleiche mit Videos. Webseiten mit
Reiseempfehlungen beschäftigen Moderatoren, um die Tipps
auf ihren Seiten zu durchforsten und zum Beispiel sicherzustellen, dass sie von realen Personen eingestellt wurden und nicht
von einem anderen Unternehmen, das dem Konkurrenten schaden will. Oft sichten Content-Moderatoren nur Inhalte, die von
Nutzern gemeldet wurden. Diesen Prozess nennt man „reactive
moderation“, also reagierende oder rückwirkende Moderation.
Manchmal wird auch der gesamte gepostete Inhalt einer Webseite oder eines sozialen Netzwerks durchsucht. Diesen
­arbeitsintensiven Vorgang bezeichnet man als „active moderation“. Aber auf welche Weise auch immer: Die Arbeit, die die
Content-Moderatoren erledigen, um die dunkle Seite der
Menschheit zu kontrollieren, ist mittlerweile genauso entscheidend für den kommerziellen Erfolg der sozialen Medien wie die
der Softwareentwickler dieser Plattformen. Ohne diese Moderatoren wäre das Internet ein wenig profitables, schmutziges
Brachland voller Betrüger und Verbrecher. Die Content-Moderatoren halten den Missbrauch in Schach und melden kriminelle Inhalte den zuständigen Behörden. Sie stellen sicher, dass
das Internet mehr einer digitalen Flaniermeile gleicht als einer
finsteren virtuellen Seitengasse.
Text Adrian Chen
Die Arbeit der Content-­­
Mo­deratoren ist mittlerweile
genauso ­entscheidend
für den kommerziellen Erfolg
von sozialen Medien wie
die der Software­entwickler.
Ohne sie wäre das Internet
ein wenig ­profit­ables,
schmutziges Brachland.
Der globale Charakter des Internets hat auch zur Folge, dass
Content-Moderatoren überall auf der Welt tätig sind. Für meine
Reportage sprach ich unter anderem mit einem Mann in Marokko, der von zu Hause Fotos für Facebook überpüfte. Ich sprach
mit einem jungen College-Absolventen im Silicon Valley, dessen
Aufgabe es war, Videos für YouTube zu sichten. Ich habe von
Leuten in Kanada, Indien, Guatemala und Mexiko gehört, die
diese Arbeit machen. Aber weil Content-Moderation sehr arbeitsaufwendig ist und gleichzeitig wenig soziales Prestige hat,
wird sie oft in Entwicklungsländer ausgelagert. Dort lässt sich
eine große Zahl von gering qualifizierten Mitarbeitern für wenig
Geld engagieren. Die Philippinen sind mittlerweile für viele
­amerikanische Start-Up-Unternehmen einer der beliebtesten
Standorte für dieses Geschäft. Als frühere amerikanische Kolonie haben die Philippinen den doppelten Vorteil von geringen
Lohnkosten und einer kulturellen Nähe zu den USA. Philippiner
können deswegen gut beurteilen, wovon sich das amerikanische
Publikum belästigt fühlt. Dies hat jedoch die paradoxe Situation
geschaffen, dass junge Philippiner, die in einer sehr konservativen, von katholischen Moralvorstellungen geprägten Gesellschaft
aufgewachsen sind, hochgefährdenden Inhalten aus­gesetzt sind,
die nicht einmal der abenteuerlustigste amerikanische Internetnutzer je zu sehen bekommt. Dieser Abfluss des globalen Social-­
Media-Mülls in die Entwicklungsländer ähnelt in gewisser Weise
der Endlagerung des weltweiten Elektromülls auf den großen
Deponien in Nigeria. Und das ist nur eine der Gemeinsamkeiten
zwischen der neuen und der alten Informationsindustrie.
Ebenso wie die Beschäftigten, die in chinesischen Fabriken unsere Verbraucherelektronik herstellen, hochriskanten
Arbeitsbedingungen ausgesetzt sind, müssen auch Con­tentModeratoren mit hohen Risiken umgehen. Hier sind sie allerdings psychischer statt physischer Art. Die Mitarbeiter in Marias Moderatoren-Team auf den Philippinen waren regelmäßig
den schlimmsten nur vorstellbaren Inhalten ausgesetzt: brutalen
und gewalttätigen Snuff-Filmen, sexuellem Missbrauch von Kindern und allen möglichen Spielarten von Pornografie. Maria
31
­ rzählte mir, dass sie nach besonders verstörenden Bildern oder
e
Videos erst einmal einen Spaziergang macht oder sich einen
Kaffee bei Starbucks um die Ecke holt, um sich wieder zu sammeln. Doch für andere sind die Auswirkungen schwerer zu verkraften. Ich sprach mit einer philippinischen Psychologin, die
mit Content-Moderatoren arbeitet. Sie erzählte mir von Müttern,
die ihre Kinder keinem Babysitter mehr anvertrauen, nachdem
sie schreckliche Missbrauchs-Videos ansehen mussten. Sie ha-
ein pornografisches Bild oder ein Enthauptungsvideo ausfindig zu
machen. Doch das stimmt nicht! In Wirklichkeit sind Computer nur
zu den allereinfachsten Moderationen fähig. Keiner von den Leuten
aus der Branche, mit denen ich sprach, glaubt, dass es in der näheren Zukunft möglich sein wird, diesen Prozess zu automatisieren.
Die Bewertungen der Moderatoren sind so nuanciert, dass nur ein
menschliches Wesen sie treffen kann. Nach seinen 2012 durchgesickerten geheimen Richtlinien verbietet beispielsweise Facebook
ERHABEN WOHNEN.
AUCH ÜBER DEN ZEITGEIST.
Es nicht überraschend, dass Firmen die abstoßenden Seiten ihrer
Dienstleistungen geheimhalten wollen. Viel überraschender ist es, wie
bereitwillig die Öffentlichkeit und die Medien dieser Illusion folgen.
32
die „Darstellung von sexueller Gewalt oder Vergewaltigung in jeder
Form“. Um aber bestimmen zu können, ob ein Bild sexuelle Gewalt
darstellt oder lediglich eine freundschaftliche Balgerei, erfordert
es bereits mehr kulturelles Wissen und Urteilsvermögen, als irgendein Algorithmus je aufbringen könnte. Und auch die Unterscheidung, ob jemand widerwärtige Inhalte teilt, um sie zu befürworten oder zu verurteilen, ist für einen Computer kaum zu treffen.
Deswegen werden es letztendlich immer Menschen sein, die in das
obszöne, finstere Herz der Menschheit blicken müssen, selbst
wenn die Technologie immer leistungsfähiger wird. „Eines der
schönsten Kaufobjekte 2015“
Aus dem Amerikanischen von Sabine Voß
Mehr über den Autor auf S. 8
Foto Adrian Chen
ben Angst, ihren Kindern könnte das Gleiche passieren. Andere
berichteten von Problemen mit ihrer Libido, nachdem sie tagelang pornografische Bilder und Filme sichten mussten. Der ehemalige YouTube-Moderator, mit dem ich sprach, hielt kein Jahr
durch. Er war zermürbt von Tierquäler-Videos und grausamen
Kampffilmen aus dem Nahen Osten. Weil die Branche so jung ist,
gibt es nur wenige Studien über die möglichen psychologischen
Auswirkungen des Ansehens extremer Gewalt und Pornografie.
Doch weil immer mehr Menschen in dieser Branche arbeiten,
muss man die Risiken besser einschätzen lernen.
Nach mehr als zwei Jahrzehnten, in denen das Wachstum
des kommerziellen Internets auf eine immer größere Zahl von
Content-Moderatoren angewiesen ist, ist es sehr erstaunlich,
dass dieser Arbeitszweig so wenig bekannt ist. Das ist gerade
so, als wüssten Großstädter in unserer realen Welt nicht, dass
Müllmänner ihren Abfall beseitigen. Die Unternehmen halten
einfach die Illusion aufrecht, dass die Menschen, die sich mit
dem Begutachten von Bildern und anderen Inhalten beschäftigen müssen, nicht existieren. Und es ist ja auch nicht überraschend, dass Firmen die abstoßenden Seiten ihrer Dienstleistungen geheimhalten wollen. Viel überraschender ist es, wie
­bereitwillig die Öffentlichkeit und die Medien dieser Illusion
­folgen. Das spiegelt den gesellschaftlich weit verbreiteten Technikoptimismus und den Glauben an die Macht der Technologie
wider, positive gesellschaftliche Veränderungen herbeiführen
zu können. Wir wollen glauben, dass die aufregenden neuen
Möglichkeiten auf unseren Bildschirmen allein das Produkt irgendeines brillanten und hochbezahlten Entwicklers aus dem
Silicon Valley sind und uns unaufhaltsam der Utopie von Vernetzung und Kreativität näher bringen.
Es ist dieser Optimismus, der die meisten Menschen glauben lässt, unerträgliche Bilder in den sozialen Medien würden von
einem hochentwickelten automatischen System entfernt. Wenn
Computer es ermöglichen, unsere innersten Gedanken in Sekundenschnelle Millionen von Menschen gleichzeitig mitzuteilen,
dann wird auch die relativ einfache Aufgabe programmierbar sein,
TROGERSTRASSE 19, MÜNCHEN Wo Bogenhausen und Haidhausen
zusammenkommen, wenige Schritte von der Prinzregentenstraße entfernt, entstehen 26 Zwei- bis Vier-Zimmer-Wohnungen von ca. 77 m bis ca. 218 m.
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das Rückgebäude durch radikale Modernität aus. Offen konzipierte Grundrisse
und Details wie Naturstein in den Bädern oder transparente Brüstungen vollenden die Ausnahme-Architektur.
Die verheerenden Folgen für die Arbeiter sind nicht sichtbar:
Content-Moderatoren in einem Büro auf den Philippinen.
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Bj. (EA) 2016
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Energieeffizienzklasse A
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www. bauwerk . de
Bauwerk Capital GmbH & Co . KG , Prinzregentenstraße 22 , 80538 München
Foto Wilfried Hösl
Unterwerfung
Vermessen bedeutet auch, sich etwas untertan zu machen – zu unterwerfen. Für die Unmögliche Enzyklopädie der Bayerischen Staatsoper
setzte sich Regisseur Hans Neuenfels mit dem Begriff auseinander.
Seine Rede ist hier nochmals nachzulesen und nachzugenießen.
Meine Damen und Herren, Unterwerfung, ein Begriff, der sich in zwei extreme Hälften teilt. „Ich unterwerfe“
lässt an Sieger, an Herrscher, mehr noch
an Gewalt, Unterdrückung, an Brutalität denken, auf jeden Fall an einen
Täter. „Ich unterwerfe mich“ setzt Assoziationen wie Demütigung, Knechtschaft, auch Qual, auch Kriechertum,
auch Feigheit frei, hat grundsätzlich
etwas mit einer Opferhaltung zu tun.
Beides kann sich mit einem verbinden: mit der Lust. Die Lust an der
Macht, zu befehlen, die Bereicherung
des Ichs durch die Hörigkeit der anderen zu erzwingen, über allem zu
scheinen, erhaben, erwählt. Und
gleichzeitig gibt es die Lust, getreten
zu werden, zu leiden, Objekt zu sein,
bestraft zu werden, in der Schuld zu
wühlen wie im Schlamm, die Erniedrigung wie ein Tier zu spüren, die
Identität, die Würde, die Verantwortung fast völlig ausgelöscht. Aber weit
häufiger gibt es die Tränen, das Stammeln, das Verstummen, sich mit Haus
und Hof und Kind und Mann und Frau
unterwerfen zu müssen. Das ist fast
zu jeder Zeit die Faustregel. Die Unterwerfung hat spontan etwas mit
Männern zu tun, sich zu unterwerfen
etwas mit Frauen. Dieses Klischee,
längst als Klischee entlarvt, zeigt nur
auf, wie verwirrend Mannes- und
Frauentum sich gegenüberstehen. Dazwischen liegen unendlich viele Verbiegungen und Brechungen, Mischformen der Unterwerfung und des
Sich-Unterwerfens, die uns kaum noch
bewusst werden. Auch die Demokratien können diesen Zustand nicht völlig auflösen, denn die Virulenz der
Unterwerfung scheint dem Menschen
angeboren zu sein, wobei nur die Lie-
34
Vorstellungsankündigung
Hans Neuenfels
be oder das Mitleid sie zähmen kann,
und wir wissen, wie selten diese Begriffe sich in uns verwirklichen.
Wir ersetzen „ich unterwerfe mich“
oft geschickt mit dem weicheren „ich
muss mich fügen“, gar mit „ich arrangiere mich“ oder mit der rhetorischen
Frage „was soll ich tun?“, mit einem
lapidaren „es wird sich schon einrenken“ oder mit dem Schulterzucken
„wenn die Umstände so sind, ist es
halt so“. Selbstverständlich fühlen wir
uns nicht ganz wohl dabei. Deswegen
wollen wir lieber Unterwerfer sein.
Da gibt es inzwischen kaum mehr einen Unterschied zwischen den Geschlechtern, wenn auch viele Frauen
noch einen gewissen historischen
Rückstand in der Ausübung ihrer Mittel haben, doch die Zukunft sieht
schon trächtig aus.
Die eher verborgene Unterwerfung
– besonders in der täglichen Banalität
– zehrt schleichend an unseren Kräften; während sie in den Diktaturen
und der Sexualität deutliche Aufschwünge und Erschöpfungen aufweist,
was aber nicht bedeutet, dass die
scheinbar alltäglich harmlose Unterwerfung uns minder auslaugt und ermattet. Das eingelebte Leben, wie Robert Musil es nannte, die Anpassung
an Normen durch Trends und Informationen ist sicherlich ein Novum in
der Geschichte der Unterwerfung, weil
die globale Verbreitung keine Grenzen
mehr kennt. Sie steht in der sogenannten „Freien Welt“ jetzt über den Reglements der Religion.
Die Natur hat uns immer durch ihre
Gleichgültigkeit unterworfen. Erdbeben, Vulkanausbrüche, Überschwemmungen, Orkane, all ihren Erscheinungen bleibt der Mensch heute noch aus-
gesetzt. Man erkennt sie manchmal
früher, weiß ihnen effektiver zu begegnen, aber sie geschehen wie seit eh.
Zwar ist es ebenfalls allen klar, dass
er, der Mensch, einen nicht unbeträchtlichen Anteil an der Verschandelung
des Planeten hat, doch letztlich wird
die Einsicht durch raffiniert verschachtelte Interessensysteme verschleiert
und bis zur Platitude umgemünzt, dass
jeder von uns schuldig ist, denn jeder
will das Flugzeug besteigen, sein Haus
erleuchten, seine Wäsche waschen,
und nicht im Bach. Es bleibt ein internationales schlechtes Gewissen und
ein duckmäuserisches Schweigen.
Die ständig bedrohende Unterwerfung durch die Technik ist neu, weil
ihre Erfindungen – vornehmlich das
Internet – das Intim-Persönliche derartig vielfältig und tief mit der Außenwelt verknüpfen, dass der Mensch
in der letzten Abgeschiedenheit sich
im Nabel des Kosmos zu befinden
glaubt. Das Berauschende, mit der
ganzen Welt verbunden, an allem teilhaftig zu scheinen, ist ein großes
Glücksgefühl und lädt das einsame
Ich gewaltig auf. Abgesehen von den
praktischen Dingen: ich kann mir
Schuhe bestellen, sie zuhause anprobieren und wieder kostenfrei zurückschicken; bis zu der Beichte ähnelnden Bekenntnissen ist der Faden der
Kommunikation, der ununterbrochenen News und vor allem der Bilder
und Filme schier unermesslich gefächert. Inwieweit wir das Internet
­beherrschen oder uns von ihm beherrschen lassen ist letztlich unsere persönliche Entscheidung. Daran gibt es
nichts zu rütteln. Inzwischen ist es
mehr als eine Weltverbindung geworden, es hat sich zur grundlegenden
Geschäfts- und menschlichen Verkehrssprache, ja selbst zur Amtssprache
erhoben. Ich muss hier kurz von denen berichten, die es nicht beherrschen, denn ich alter Mann bin ein
Beispiel, wie man durch Unfähigkeit
und Versäumnis in ein Aus gerät, wenn
man der Notwendigkeit einer Zeitströmung von solchem Gewicht nicht den
gebührenden Tribut erweist.
35
Da ich über den Gebrauch des Handys nicht hinausgekommen bin, habe
ich mich, wenn ich es aus einer unpathetischen Distanz formuliere, beruflich, gesellschaftlich und auch genussmäßig geschädigt. Zwar kann ich es
bislang zumeist vertuschen, da meine
Frau und meine Assistenten die Kontakte zur Außenwelt: Steuern, Krankenkasse, Miete, Zug- und Flugreisen,
die ständigen Hin- und Hers mit den
Theatern spielend bewältigen, und
ich mühsam und langwierig mit Briefen, Telefonaten und mit dem Fax den
Verpflichtungen nachzuhelfen versuche, doch meine Abhängigkeit bleibt
gewaltig. An unmittelbare Kommunikation, durch eine E-Mail beispielsweise, oder an eine spontane, emotionale Mitteilung ist gar nicht zu
denken, da alles durch die Hände
Dritter geht.
Ich hatte fast drei Jahrzehnte lang
eine Art Sekretärin, eine Frau, der
ich all mein mit der Hand Geschriebenes diktierte. Diese wunderbare
Frau, die ihr Leben lang im Rollstuhl
saß und im letzten Jahr verstarb, war
sozusagen mein Nadelöhr zur Welt.
Was durch ihren Computer schlüpfte,
wurde publiziert. Unsere Sitzungen
waren Séancen, von denen ich zutiefst
erschöpft, hustend – wir rauchten beide wie um die Wette – und am Ende
ich leicht angetrunken nach Hause
kam. Ich werde nie mehr eine ähnliche Partnerschaft finden, denn es war
der bestimmte Mensch, der da an der
Maschine saß, freudig nickte, die
Mundwinkel verzog, kurz innehielt,
ermunternd mich anblickte. Der Tod
dieser Frau isolierte mich zusätzlich.
Es ist etwas anderes, wenn ich meine
Frau ungekonnt burschikos frage:
„Meinst du, du könntest diese Seiten
in den Computer tippen?“ Sie hat es,
wenn es dringend war, oft genug getan. Doch es vermittelte latent den
Eindruck eines unfreiwilligen Ausnahmezustandes, und ich kam mir als Versager, ja als ein Missbrauchender vor.
Und wenn meine Frau, da sie über ein
seltenes, fein registrierendes Sprachgefühl verfügt, etwas verbesserte,
36
dankte ich ihr nicht genügend, wie ich
es bei meiner Sekretärin getan hatte,
sondern fühlte mich eher wie von einer Lehrerin gerügt. Nun werden Sie
zu Recht fragen: Wieso, lieber Mann,
wenn Sie das so unerträglich finden,
unternehmen Sie nichts dagegen? Oder
wollen Sie ein Opfer sein? Genießen
Sie Ihre Rolle als ein täppischer Greis,
der von einer neuen Zeit überrollt bejammerungswürdig in der Ecke sitzt
und auf die Türklinke starrt, ob ein
Kutscher anklopft und Sie in die 1970er
oder -80er Jahre zurückfährt?! Wahrhaftig, nein, rufe ich empört, aber abgesehen davon, dass ich 1998, als das
Internet immer mehr aufkam – damals
war ich siebenundfünfzig Jahre alt –,
nicht seine grundlegenden Folgen erkannt habe, hatte ich immer schon
Schwierigkeiten mit jeder Form von
Apparat. Und noch etwas ganz Zentrales ließ mich mein Versäumnis entschuldigen. Bei meinen schriftlichen
Arbeiten gab mir die Handschrift eine
spontane, vorläufige Form vor, die, indem ich laut einer anderen vertrauten
Person diktierte, in eine Überprüfung
geriet und schließlich durch den Druck
der Maschine so neutral wurde, dass
ich der Korrektur, wie ich fand, fast
fremd gegenüberstand. (Übrigens hat
diesen Text meine Frau geschrieben.)
Doch ich will mich nicht als traurigen Einzelfall stilisieren, sondern als
warnendes Beispiel verbleiben, das
allerdings jetzt mit 74 Jahren einen
Lehrer engagiert hat, der nach den
ersten Stunden überblickend gemeint
hat: viel werden wir nicht erreichen,
Herr Neuenfels, aber das Wenige kann
helfen, Sie nicht gänzlich der Welt abhanden kommen zu lassen.
Zurück oder besser vorwärts zum
allgemeinen Thema! Das einzige Gebiet, das Niemandsland, das keine Unterwerfung je erreicht hat und nie erreichen kann, ist die Kunst. Die Kunst
unterwirft und unterwirft sich nie. Ob
Leonardo da Vinci sein Abendmahl
im Auftrag der Kirche von Mailand
malte oder Michelangelo die biblischen
Deckenfresken in der Sixtinischen Kapelle des Vatikans – es sind gekaufte
Auftragsarbeiten der damals alles unterwerfenden Religion – nichts deutet
darauf hin, dass diese Arbeiten eine
andere Haltung haben als die Sicht
ihrer Schöpfer. Durch die Formgebung,
durch die Farben. Ja, es wäre zu fragen, und sicher ist es schon geschehen,
ob diese Kunstwerke überhaupt im
strengen Sinn als religiös zu bezeichnen wären. Die Haltung der Schöpfer,
was ist sie? Die von Beethoven, von
Luigi Nono, von Goethe, von James
Joyce – es ist immer der Zweifel bis
zur Auflehnung, die Verzweiflung bis
zum Chaos, die Zähigkeit bis zum Untergang, die Durchsicht bis zum
Wahnsinn, die hemmungslose
­B eschwörung des einzig treffenden
Bildes, des Tones, des Wortes bis zum
Zusammenbruch.
Die Kunst hat keine Zeit für
Machtspiele und Protz. Sie kommt
immer zur Unzeit. Sie ist nie zu berechnen. Aber sie ist keinesfalls zeitlos. Sie hat ihre eigene Zeit. Die Unterwerfung kennt ihre Zeit genau.
Rechnet mit ihr. Weil sie Stärke und
Schwächen kennt. Die Kunst weiß davon nichts. Das Reiche und Arme,
das Gute und Böse, das Dumme und
Kluge, alles ist da, weil es ist. Aber
es wird verwandelt. Durch die Behauung eines Steins, das Einsetzen einer
Fuge, einer K
­ antilene, einer Metapher,
eines R
­ elativsatzes, eines Bindestrichs,
einer Farbe, einer Kontur. Die Kunst
ist ohnehin stärker als die Unter­
werfung, denn sie stellt die Unterwerfung dar. Sie stellt sie aus. Ist M
­ aterial
für sie. Wie sie ebenfalls das ­Opfer
ausstellt. Aber nie ohne die Liebe,
ohne das Mitleid. Selbst im größten
Schock sind sie anwesend. Sie bilden
mit dem K
­ önnen des Schöpfers eine
Trinität. Es ist die einzige Trinität,
die so wahrhaftig ist, dass sie keiner
Religion b
­ edarf. Sie ist die Krone der
Freiheit des Menschen in diesem
Diesseits.
Regisseur Hans Neuenfels hielt die Rede
„Unterwerfung“ am 22. Juli 2015 in der
Münchner Heilig-Geist-Kirche, im Rahmen
der Unmöglichen Enzy­klopädie 34, einer
Kooperation mit der Erzdiözese München
und Freising. In der Spielzeit 2015/16 wird
er an der Bayerischen Staatsoper die
­Uraufführung von Miroslav Srnkas South
Pole inszenieren.
MÜNCHEN
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Eine
groSSe
innere
Freiheit
Die Figur der Renata aus Sergej Prokofjews Der feurige Engel
wird oft auf eine sexuell obsessive Frau reduziert – sagt
So­pranistin Evelyn ­Herlitzius, die diese aberwitzige Partie
in der Neuins­zenierung von Barrie Kosky singt. Ein Interview
zum ­Rollendebüt.
Rubrikentitel
Premiere
Der feurige Engel
39
MAX JOSEPH Renata ist für Sie ein Rollendebüt.
Wie nähert man sich einer solchen Figur?
EVELYN HERLITZIUS Von möglichst vielen Seiten! Ich
bin noch mitten in der Forschungsarbeit … Die Handlungsstränge des Feurigen Engels sind komplex, das Personal bunt gemischt. Momentan beschäftigen mich spirituelle Fragen. Was ist ein Engel? Gibt es so etwas, oder
nicht? Wie unterscheiden sich Engel in den unterschiedlichen Religionen? Oder Dämonen: In unserer Kultur
herrscht eine Polarität von Gut und Böse. Bei den alten
Griechen wurden Dämonen aber differenzierter gesehen.
Ein Daimonion war eher eine Art Begleiter durchs Leben.
Für mich ist es wichtig, eine Haltung zu finden. Vordergründig ist Der feurige Engel ja unglaublich katholisch, mit
der Inquisitionsszene am Ende der Oper und der Bezeichnung Renatas als Besessene. Aber ich sage bewusst „vordergründig“. Für mich bin ich zu dem Schluss gekommen,
dass dieser Katholizismus nur eine Folie ist, auf der Prokofjew seine Themen abbilden konnte. Die Inquisitionsszene ist natürlich ungeheuer theaterwirksam, und man kann
sich vorstellen, wie stark sie Prokofjew als Musiker inspiriert hat. Bei der Entwicklung der Figur hat mir die Beschäftigung mit dem Katholizismus aber nicht wirklich
weitergeholfen. Für mich ist Renata per se ein Mensch, der
sehr anders ist als seine Umgebung, provokativ anders
lebt, dies auch zeigt und davon nicht abweicht. Man könnte
sagen, Renata lebt in einer anderen Realität – aber dies
wirft gleichzeitig die Frage auf, was Realität überhaupt ist.
Ist es mein Garten, in den ich gerade blicke, oder gibt es
eine Realität dahinter, die Renata eben wahrnimmt? Fakt
ist, dieses Anderssein zerstört Renata, weil ihre Umgebung
damit nicht umgehen kann. Diese Umgebung, die vor allem
eine männliche ist, will Renata bändigen.
MJ Gilt das auch für Ruprecht?
EH Ja, und für die heilige Mutter Kirche!
MJ Ist Ruprecht von Renata fasziniert, weil sie Eigenschaften hat, die ihm fehlen?
EH Ganz am Anfang findet Ruprecht Renata vor allem
schnuckelig, er möchte mit ihr schlafen. Das Ziel verfolgt er
im Laufe der Oper zwar weiterhin, aber es gibt auch etwas
an dieser Kindfrau, das ihn fasziniert. Renata hat eine große innere Freiheit, eine Wildheit, Begeisterungsfähigkeit,
Ungebärdigkeit – die Prokofjew grandios in Musik umsetzt.
Dazu scheint sie eine Schutzbedürftigkeit auszustrahlen,
die Ruprecht antriggert. Und sie hat eine starke erotische
Ausstrahlung. Obwohl sie noch jung ist, hat sie zu ihrer Sexualität einen sehr direkten Zugang, sie besitzt die Fähigkeit zur absoluten Hingabe. Das zeigt ihr Verhältnis zu Madiel und dann später zu Heinrich.
Fotografie Martina Hemm
MJ Ist es wichtig, eine Vorstellung davon zu haben, wer oder was Madiel, der „feurige Engel“,
sein könnte?
EH Für ein erweitertes Verständnis der Oper finde ich es
wichtig. Unsere Kultur ist ja voll von Engeln. Im Hebräischen gibt es zwei Übersetzungen für „Engel“. Die eine
lautet sinngemäß „Gestalt gewordenes Wesen im Licht“,
die andere „bestimmter Bewusstseinszustand“. Madiel
geht wieder, er entzieht sich. Vielleicht kann man „Licht“
mit „Seligkeit“ gleichsetzen. Was Renata passiert, worin
sie sich verrennt, ist zutiefst menschlich: sie möchte Seligkeit, Freude, Liebe festhalten.
MJ Ist die Erarbeitung einer so intensiven Rolle
wie die der Renata nicht auch eine Belastung?
EH Nein. Es ist eine Herausforderung, eine große Lust.
Ich brauche diese Forschungsarbeit, sonst lerne ich Töne
und Text, aber ich weiß nicht, wer ich bin. Wie ich eine
Phrase gestalte, zum Beispiel, ist natürlich in der Musik
vorgegeben durch Tempo- oder Dynamikangaben, durch
die Instrumentation. Das sind Puzzleteile, ich suche aber
das Gesamtbild. Dafür lese ich querbeet – über Religion
oder das Mittelalter zum Beispiel. Ich befrage Freunde,
die sich in Psychologie oder Spiritualität auskennen,
schaue mir Bilder, Gemälde an. So entsteht ein innerer
Film, zusätzlich zum Diskurs mit dem Regisseur und der
gemeinsamen Probenarbeit mit den Kollegen. Für die
Renata wollte ich zunächst unter den tausend Baustellen
des Werks ein oder zwei Punkte finden, auf die ich mich
konzentrieren möchte. Zum einen ist das eben dieser
Umgang der Gesellschaft mit ihrem Anderssein, zum anderen ihre offen ausgelebte Sexualität, die Art, mit der
sie ihre Bedürfnisse so klar und entschieden formuliert.
Der arme Ruprecht muss im Verlauf des Stückes ganz
schön einstecken. Ich finde es aber falsch, Renata auf
eine sexuell obsessive Frau zu reduzieren, wie es oft geschieht. Was Renata an Madiel so beeindruckt, ist ja gerade die spirituelle Nähe, von der sie möchte, dass sie
sich auch auf einer körperlichen Ebene ausdrückt. Man
spricht ja auch in der Liebe von „sich erkennen“.
MJ So, wie Sie über Renata reden, erscheint sie
als durch und durch positive Figur. Hat sie denn
überhaupt keine Abgründe?
EH Doch. Sie hat eine Tendenz zu – ich möchte nicht sagen: Selbstzerstörung, aber zur Selbstauflösung in ihrer
Unbedingtheit. Ich bin mir auch noch nicht schlüssig, wie
ich ihr späteres Verhalten Ruprecht gegenüber, ihren
scheinbaren Sinneswandel, sehe. Liebt sie ihn wirklich,
oder setzt sie bewusst ihre weiblichen Mittel ein? Das
werden wir auf den Proben klären.
41
Fotografie Martina Hemm Haare, Make-up Gülsen Tasch
MJ Was ist die größte musikalische Herausforderung?
EH Das Parlando. Es ist nicht leicht, diesen Text ­adäquat
in russischer Sprache zu gestalten. Ich habe die Katerina
Ismailowa in Lady M
­ acbeth von Mzensk gesungen, die
Partie ist viel großzügiger, arioser, sie hat nur ein Drittel
des Textes der Renata. Sicherlich auch die stimmliche
Exaltiertheit, die Ausbrüche, die gleich wieder zurück­
genommen werden. Die L
­ agenwechsel fallen mir nicht so
schwer, weil ich viel zeitgenössische Musik gesungen
habe. Es gibt auch nur wenige, vielleicht zwei oder drei
Momente der Ruhe in der Oper. Ich muss mir also meine
Kräfte gut einteilen.
MJ Gibt es irgendwelche Parallelen zwischen
­Renata und Ihnen?
EH Die Frage, was wirklich ist und was nicht – nicht
­unbedingt in religiöser, eher in spiritueller Hinsicht –
treibt mich schon lange um. Wie ist die Welt beschaffen,
wie erschaffen wir sie uns? Aber zu einem Ergebnis
­gekommen bin ich noch nicht … Der feurige Engel in aller Kürze:
Köln, im 16. Jahrhundert: Seit ihrer Kindheit wird
­Renata von Madiel, dem „feurigen Engel“, besucht.
­B eide verbindet eine tiefe Freundschaft. Als
junge Frau möchte Renata sich auch körperlich mit
ihm v
­ ereinigen, aber Madiel lehnt dies ab und
­ver­schwindet: Renata sei das Leben einer Heiligen
bestimmt. Besessen von dem Wunsch, mit Madiel
zusammen­leben zu können, meint Renata ihn im
Grafen ­Heinrich wiederzuerkennen. Doch auch
­Heinrich ­entzieht sich ihr. Indessen verfällt der
­entwurzelte Amerika-­Heimkehrer Ruprecht Renata
und begibt sich mit ihr auf ihre fiebrige Suche nach
dem ­verschwundenen Heinrich. Dabei schrecken
­beide nicht vor unlauteren Mitteln zurück, sie
­bedienen sich schwarzer Magie und bedrohen
­Heinrich körperlich; von Renata gedrängt, fordert
Ruprecht Heinrich zu e
­ inem Duell, bei dem Ruprecht
schwer verwundet wird. Da ihre Be­mühungen keinen
Erfolg zeigen, zieht sich Renata in ein Kloster
­zurück. Als ihre An­wesenheit die a
­ nderen Nonnen
zu orgiastischen und ekstatischen E
­ xzessen reizt,
wird Renata von der ­Inquisition zu Tode verurteilt.
Evelyn Herlitzius, geboren in Osnabrück, studierte an der
­Hochschule für Musik und Theater in Hamburg. Nach ersten
­Engagements in Saarbrücken und Karlsruhe debütierte sie 1997
mit der Partie der Leonore (Fidelio) an der Semperoper in
­Dresden. Seither gastierte sie u.a. an den Opernhäusern in Wien,
Brüssel, Stuttgart, Berlin, Mailand, Amsterdam und Barcelona
­sowie bei den Festspielen in Salzburg, Bayreuth und Aix-en-­
Provence. Ihr Repertoire umfasst Partien wie Isolde (Tristan
und Isolde), Kundry (Parsifal), Elisabeth/Venus (Tannhäuser),
Ortrud (Lohengrin), Marie (Wozzeck), Färberin (Die Frau ohne
Schatten), Katerina Ismailowa (Lady Macbeth von Mzensk) und
die Titel­partien in Turandot, Salome und Jenůfa. Seit 2002 ist sie
­Sächsische Kammersängerin. In der Spielzeit 2015/16 ist sie a
­n
der B
­ ayerischen Staatsoper als Elektra und als Renata in Barrie
Koskys Neuinszenierung von Der feurige Engel zu erleben.
Der feurige Engel
Oper in fünf Akten und sieben Bildern
Von Sergej Prokofjew
Premiere am Sonntag, 29. November 2015,
Nationaltheater
STAATSOPER.TV: Live-Stream der Vorstellung auf
www.staatsoper.de/tv am Samstag, 12. Dezember 2015
Weitere Termine im Spielplan ab S. 93
42
Interview Sophie Becker
„Renata ist ein Mensch, der sehr anders ist als seine Umgebung,
provokativ anders lebt. Fakt ist, dieses Anderssein zerstört Renata, ­
weil ihre Umgebung damit nicht umgehen kann.“ – Evelyn Herlitzius
Prokofjew
und Ettal
Weder Paris noch Moskau: Sergej Prokofjew komponierte seine
Oper Der feurige Engel im oberbayerischen Ettal. Sophie Becker
erzählt von der überraschenden Station einer Biografie, die bis
heute fesselt und Rätsel aufgibt.
44
Vorstellungsankündigung
„Im März übersiedelte ich nach Süddeutschland, in die
Nähe des Klosters Ettal an den Ausläufern der Bayerischen Alpen, drei Kilometer von Oberammergau entfernt,
das durch seine mittelalterlichen, alle zehn Jahre stattfindenden Passionsspiele berühmt ist, eine malerische und
ruhige Gegend, zum Arbeiten geradezu ideal. Ich begann
sogleich mit der Komposition des ‚Feurigen Engels‘. Der
darin beschriebene Hexensabbat muss irgendwo in dieser
Gegend stattgefunden haben.“ So lapidar berichtet Sergej
Prokofjew in seiner 1941 erschienenen Autobiografie über
eine seiner Lebensstationen, die bis heute Rätsel aufgibt
– gerade weil der Komponist den Eindruck erweckt, seine
Ortswahl verstünde sich ohne weitere Begründung. Gibt
man sich damit aber nicht zufrieden und geht der Frage
nach, wieso es den Komponisten nach Bayern verschlug,
beginnt eine spannende Spurensuche, die mitten in die
politischen Wirren des 20. Jahrhunderts führt und das
kleine Dorf mit der Weltpolitik verbindet.
Die wenigen bekannten Fakten sind schnell erzählt: Gemeint ist der März des Jahres 1922, die Ankunft
des damals 30-jährigen Prokofjew in Ettal. Prokofjew
kam nicht allein, er wurde von seiner Mutter Maria und
seinem Freund Boris Werin, einem Dichter, begleitet.
Der Komponist hatte für sie gemeinsam ein Haus angemietet, die „Villa Christophorus“. Regelmäßiger Gast
war Carolina Codina, eine in Madrid geborene Sängerin
mit spanischen, französischen und polnischen Vorfahren, die der Komponist 1920 bei einem Aufenthalt in
New York kennen- und lieben gelernt hatte. Die beiden
heirateten im Oktober 1923 in Ettal. Es war eine Ziviltrauung im eigenen Haus, als Zeugen fungierten Maria Prokofjewa und Boris Werin, größere Feierlichkeiten
scheint es nicht gegeben zu haben. Lina war schwanger,
der gemeinsame Sohn Svatoslav wurde im Februar 1924
geboren – doch zu diesem Zeitpunkt war das Ehepaar
Prokofjew schon weitergezogen: ab Dezember 1923 lebte
das Paar in Paris. Prokofjew begeisterte sich in Ettal für
die ihn umgebende Natur, genoss die Stille, unternahm
weiterhin seine Konzerttourneen als Pianist, hatte aber
nach eigenen Angaben keinerlei Kontakt zur deutschen
Kunstszene.
Auf den Stoff von Der feurige Engel war Prokofjew
bereits, anders als seine Ausführungen in der Autobiografie nahe legen, im Dezember 1919 gestoßen, kurz nach Vollendung seiner dritten veröffentlichten Oper Die Liebe zu
den drei Orangen. Vorlage war der gleichnamige, 1907/1908
entstandene Roman des symbolistischen Dichters Waleri
Brjussow (1873-1924). Ohne Auftraggeber begann Prokofjew­­
noch 1920, während seines New York-Aufenthaltes, mit
den ersten Skizzen.
Premiere Der feurige Engel
Den Großteil des Werkes komponierte der Künstler dann
tatsächlich in Ettal. Insgesamt arbeitete er sieben Jahre
an dem Werk, allerdings mit großen Unterbrechungen.
1926 erfolgte die Instrumentation, in der darauffolgenden
Saison sollte Der feurige Engel an der Städtischen Oper in
Berlin-Charlottenburg unter Leitung von Bruno Walter
uraufgeführt werden. Die Produktion musste jedoch abgesagt werden, weil das Notenmaterial noch nicht fertig gesetzt war. Die weiteren Pläne für eine Uraufführung zerschlugen sich in den folgenden Jahren. 1928 arbeitete
Prokofjew Teile des Werkes zu seiner Dritten Symphonie
um. Die Uraufführung von Der feurige Engel hat Prokofjew
nicht mehr erlebt, sie erfolgte konzertant 1954 in Paris,
szenisch dann ein Jahr später im Teatro La Fenice in
­
­Venedig, Regisseur war Giorgio Strehler.
Trotz aller unbestrittenen Schönheit Ettals muss
man Prokofjews Wahl wohl als Notlösung ansehen, geschuldet seiner langjährigen Wanderschaft. Der Komponist hatte seine Heimat 1918 verlassen. Grund dafür waren
allerdings nicht so sehr die politischen Ereignisse der
Zeit, sondern – zumindest offiziell – der Wunsch, im Ausland Karriere zu machen und die Notwendigkeit einer
Luftveränderung angesichts seiner schwachen Gesundheit. Prokofjew reiste, mit einem sowjetischen Pass ausgestattet und mit Zustimmung des Volkskommissariats für
Volksbildung, von Petrograd über Wladiwostok, Tokio
und San Francisco an die amerikanische Ostküste, wo er
Konzerte gab und an seiner Oper Die Liebe zu den drei
Orangen nach Gozzi arbeitete. Die ursprünglich für
­Chicago geplante Uraufführung scheiterte nach dem Tod
des Intendanten und Dirigenten Cleofonte Campanini.
Auf der Suche nach Arbeit und Anerkennung nahm Prokofjew wieder Kontakt zu Serge Diaghilew, dem Impresario der nach Paris emigrierten Ballets Russes auf. Die
nächsten beiden Jahre bis zum Umzug nach Ettal pendelte
der Komponist zwischen Paris, London und den USA, wo
1921 in Chicago schließlich doch die Uraufführung von Die
Liebe zu den drei Orangen stattfand. Ein anstrengendes,
unruhiges Leben. Allein: der Durchbruch sollte nicht gelingen. Der Rückzug nach Ettal verfolgte sicherlich das
Ziel, Muße zum Komponieren zu finden. Darüber hinaus
war das Leben im nach dem Ersten Weltkrieg wirtschaftlich zerrütteten Deutschland ungleich günstiger als in
Frankreich – der Dichter Konstantin Balmont berichtet,
dass Prokofjew umgerechnet gerade einmal 20 Dollar im
Monat zur Verfügung standen.
Zur beruflichen Enttäuschung und zum großen
Heimweh kam eine Haltung gegenüber den Bolschewiken,
die man am ehesten als indifferent bezeichnen könnte.
Prokofjew war, soweit wir wissen, kein überzeugter
­
45
­ ommunist, aber auch kein klassischer Emigrant, der eine
K
Rückkehr unter den vorherrschenden politischen Bedingungen kategorisch ausgeschlossen hätte. In Ettal begann
er, über Briefe wieder verstärkt Kontakt zu seinen russischen Freunden aufzunehmen. 1925 bekam Wsewolod
Meyerhold, Regisseur und Begründer des „Theateroktober“, den Auftrag, mit Prokofjew über Auftragskompositionen für die Sowjetunion zu verhandeln. Eine erste Reise
in die alte Heimat unternahm der Komponist 1927 – nicht
ohne sich die Wiederausreise sicherheitshalber auf Tag
und Stunde genau garantieren zu lassen. Die Tournee erwies sich als sehr erfolgreich, Prokofjew wurde mit großem Jubel empfangen. Zurück in Paris sorgte die Uraufführung seines für Diaghilew komponierten Balletts Pas
d’acier („Der stählerne Schritt“) unter den Emigranten
für Unruhe und trug dem Komponisten den Vorwurf ein,
ein „Apostel des Bolschewismus“ zu sein, der die westliche Denkart ablehnen würde. Eine zweite Reise in die
­Sowjetunion 1929 gestaltete sich schwieriger. Wieder war
Pas d’acier Stein des Anstoßes, nur kam diesmal der Protest aus der anderen Richtung: eine „Assoziation proletarischer Musiker“ brachte die am Bolschoi geplante Aufführung zu Fall. Trotzdem, die Weichen waren gestellt,
und weitere Reisen folgten. 1933 nahm sich der Komponist eine Wohnung in Moskau, 1936 übersiedelte er mit
Lina und den beiden Söhnen endgültig dorthin – zur
Zeit brutalster stalinistischer „Säuberungen“, wenige
Monate, nachdem ein in der Zeitschrift Prawda veröffentlichter Artikel mit dem unrühmlich bekannt gewordenen Titel Chaos statt Musik die Hetzjagd auf Dmitri
Schostakowitsch eröffnet hatte.
Es ist bis heute nicht möglich, diesen Schritt
­Prokofjews und seine Konsequenzen für seine Kompositionsweise schlüssig einzuordnen. Bei allen Äußerungen des
Komponisten muss reflektiert werden, wem gegenüber er
sie in welchem Kontext tätigte. Das gilt insbesondere auch
für die Autobiografie, die er 1939/41 – also mitten im
Zweiten Weltkrieg – verfasste. Jedenfalls wird klarer, warum ­Prokofjew sich nicht mehr um eine Uraufführung von
Der feurige Engel bemühte: Es war offensichtlich, dass das
Werk in krassem Widerspruch zur Kulturpolitik der
­Sowjetunion stand. Über die Einschätzung seines Werkes
insgesamt scheiden sich die Geister bis heute. Für die einen unterwarf sich der Komponist mit seiner Rückkehr
der Doktrin des sozialistischen Realismus. Gleichzeitig jedoch schrieb er erst in seiner sowjetischen Zeit zahlreiche
seiner bis heute berühmtesten Kompositionen wie Peter
und der Wolf oder die Ballettmusik zu Romeo und Julia
und Aschenbrödel; es muss an dieser Stelle offenbleiben,
ob man diesen Erfolg mit einer Vereinfachung der Mittel
erklären kann, die mit dem sozialistischen Realismus
­konform ging. Andere wiederum vertreten die Ansicht,
Prokofjew – zu keiner Zeit ein „internationaler“ Komponist wie sein Landsmann und Rivale Igor Strawinsky –
habe erst nach der Rückkehr künstlerisch wirklich zu
sich selbst gefunden. Diese Überzeugung wiederum blendet die Tatsache aus, dass der Komponist vor allem am
Ende seines Lebens massiv angefeindet wurde. Zwischen
diesen beiden Extrempositionen gibt es zahlreiche differenziertere Urteile bis hin zu der These, dass es gar keinen „Bruch“ in Prokofjews Schaffen gegeben habe,
sondern Kontinuitäten vorherrschen würden. Wann –
­
wenn überhaupt – hier eine faire Einschätzung gefunden
werden kann, ist unabsehbar.
Und so halten wir uns auch im Hinblick auf
­Prokofjews­sowjetische Zeit an die überlieferten Fakten,
womit sich weitere Kreise schließen: Ende der 1930er Jahre begegnete Prokofjew der in Kiew geborenen Mira Mendelssohn und verliebte sich in die 24 Jahre jüngere Frau.
1941 zog er mit ihr zusammen, hielt aber die Ehe zu Lina
noch aufrecht, um sie zu schützen. Als Prokofjew sich
dann 1948 aus welchen Gründen auch immer doch zur Heirat mit Mira entschloss, wurde Lina als verdächtige Ausländerin umgehend verhaftet und unter dem Vorwurf der
Spionage und des Landesverrates bis 1956 in ein Lager
verbannt. Bereits im Februar 1948 wurde Prokofjew und
anderen Komponisten in einem Beschluss des Zentralkomitees der KPdSU „Formalismus“ und mangelnde Nähe
zum Volk vorgeworfen. Fast alle Werke Prokofjews wurden verboten, er hatte kein Einkommen mehr. Sergej Prokofjew starb am 5. März 1953 – am selben Tag wie Stalin.
Mit dem Wissen um die Ereignisse seiner letzten Lebensjahre wirkt die seine Oper Der feurige Engel beschließende Inquisitionsszene noch erschütternder. Als hätte er seinen weiteren Lebensweg in Ettal voraussehen können.
Wenn man heute nach Ettal reist, sind die Spuren des
Komponisten verschwindend gering. Man erreicht den Ort
im Kreis Garmisch-Partenkirchen von München aus mit
öffentlichen Verkehrsmitteln in knapp zwei Stunden. Mit
dem Zug geht es bis Oberau, von dort aus nimmt man den
Bus. Das Dorf ist mit nur rund 800 Einwohnern kleiner als
erwartet. Gegenüber der großartigen Klosteranlage aus
dem 14. Jahrhundert finden sich aufgereiht an der Werdenfelser Straße einige Hotels, Gastwirtschaften und wenige
Häuser gegenüber. Die junge Verkäuferin in der Bäckerei
bejaht meine Frage, ob sie die Villa kennen würde, in der
der Komponist Prokofjew seinerzeit gelebt hatte. Ich solle
die Straße zurückgehen – es gäbe hier ja nur eine –, an
dem Haus befände sich mittlerweile auch eine kleine
Prokofjews Rückzug nach Ettal verfolgte sicherlich das Ziel, Muße
zum Komponieren zu finden. Darüber hinaus war das Leben im nach
dem Ersten Weltkrieg wirtschaftlich zerrütteten Deutschland ungleich
günstiger als in Frankreich.
Rubrikentitel
47
­ edenktafel, und sie zeigt mit den Händen den Umriss eiG
ner Kachel. Obwohl die Auswahl nicht groß ist, brauche
ich eine Weile, bis ich die „Villa Christophorus“ identifiziert habe, denn die einzige schwarz-weiß Fotografie, die
mir zur Verfügung steht, ist, wie sich herausstellt, nicht
von der Straße her, sondern vom Garten aus aufgenommen worden. Das ganze Grundstück des offensichtlich von
mehreren Parteien bewohnten Hauses wirkt liebevoll gepflegt, die Gedenktafel finde ich nicht. Eine ältere Ettaler
Dame, von einem Spaziergang zurückgekehrt, bestätigt
mir nach kurzem Nachdenken, das Gesuchte gefunden zu
haben, verbindet darüber hinaus mit dem Namen des
Komponisten aber keine weiteren Assoziationen. Auch in
den zahlreichen Souvenirläden gibt es keinen Hinweis auf
Prokofjew. In der Buchhandlung des Klosters finden sich
mehrere CDs von Jonas Kaufmann, Anna Netrebko und
Elisabeth Schwarzkopf, dazu Biografien über Richard
Wagner. Meine Frage, ob es irgendein Buch oder eine Aufnahme von Prokofjew im Angebot gäbe, beantwortet der
zuständige Pater mit einem barschen „Nein“.
Sophie Becker arbeitet als Dramaturgin u.a. für die Festivals
SPIELART und DANCE, für die Sächsische Staatsoper Dresden,
die Bayreuther Festspiele, die Salzburger Osterfestspiele und
De Nederlandse Opera Amsterdam.
Der feurige Engel
Oper in fünf Akten und sieben Bildern
Von Sergej Prokofjew
Premiere am Sonntag, 29. November 2015,
Nationaltheater
STAATSOPER.TV: Live-Stream der Vorstellung auf
www.staatsoper.de/tv am Samstag, 12. Dezember 2015
Weitere Termine im Spielplan ab S. 93
48
Fotografie Martina Hemm
Der Wettlauf von Roald Amundsen und Robert Scott zum Südpol wurde Geschichte.
In der Spielzeit 2015/16 wird die Geschichte zur Oper. Miroslav Srnka komponiert
im Auftrag der Bayerischen Staatsoper die Oper South Pole, das Libretto schreibt
Tom Holloway. MAX JOSEPH begleitet die Uraufführung durch die Spielzeit – im
Rubrikentitel
49
­ersten Teil damit, wie alles begann …
Das kälteste Rennen des Jahrhun­
derts. Die Dauer: mindestens zwei
Jahre. Das Ziel: als erster Mensch
den Südpol zu erreichen. Der Einsatz:
nicht weniger als das Leben. Die Teil­
nehmer: zwei ehrgeizige Entdecker
und ihre Mannschaften. Im Herbst
1910 heißt es ablegen. Doch nur ei­
ner der beiden Expeditionsleiter weiß
beim Auslaufen seines Schiffes, dass
es ein Wettlauf werden wird. Erst als
Robert Scott mit seinem fünfeinhalb
Dutzend Mann starken britischen
Team schon fast die Antarktis er­
reicht hat, eröffnet der norwegische
Polarforscher Roald Amundsen sei­
nen 18 Mitfahrern, statt zum Nordpol
ebenfalls nach Süden zu fahren – und
lässt sein Vorhaben dem Konkurren­
ten per Telegramm mitteilen. Beide
Gruppen sind sich bis zuletzt un­
gewiss, wer die besseren Karten hat.
Das Ergebnis ist viel deutlicher, als
irgendjemand gedacht hätte. Doch
der Sieger wird seines mit scheinbar
leichter Hand erzielten Triumphs
letztlich nicht froh.
50
Vorstellungsankündigung
Rubrikentitel
„Hinter jedem erfolgreichen Mann
steht eine starke Frau“, heißt es. Kathleen Bruce, die spätere Frau von
Robert Scott, hat sich nie damit abgegeben, in der zweiten Reihe zu stehen. Die Bildhauerin pflegt einen extravaganten Lebensstil und schert
sich nicht um Konventionen. Die Zahl
ihrer Verehrer ist Legion, doch wonach sie eigentlich sucht, ist ein
Mann, der dafür taugt, der Vater ihres
Sohnes zu werden. Und das ist Scott,
der seit der Discovery-Expedition
1901–04 als Südpolfahrer berühmt
wurde und dem manche noch Großes
zutrauen. Ihm wiederum spuken die
vielen großen Männer in ihrem Leben
immer im Kopf herum. Wie soll ein
schlichter Marineoffizier auch bestehen gegen Persönlichkeiten wie Auguste Rodin (der ihr Lehrer gewesen
war und sie als Kollegin achtete),
Pablo Picasso (den sie in Paris kennenlernte), J. M. Barrie (den späteren
Autor von Peter Pan) oder gar den
Dichter und Sexual-Okkultisten Aleister Crowley? Auch mit der Tänzerin
Isadora Duncan war Kathleen eng
verbunden: allesamt Erscheinungen
einer Gesellschaft, in der Scott sich
wie ein tumber Tor fühlen muss. Es
entspinnt sich sogar während seiner
Antarktisreise eine – platonische –
Beziehung zwischen Kathleen und
dem späteren Friedensnobelpreisträger Fridtjof Nansen, Amundsens
Mentor, der sich in sie verliebt. Ausgerechnet! Kathleens Ehrgeiz spornt
Scott jedenfalls in seinen Südpol-Ambitionen maßgeblich an: Sie
gibt ihm mit auf den Weg, kein Risiko
zu vermeiden nur aus Sorge um sie
und den kleinen Peter. Der ist gerade
ein halbes Jahr alt, als sein Vater die
Südpol-Mission antritt.
51
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts liegen die letzten unentdeckten Gegenden der Welt an den Polspitzen der
Erde. Die Fragen lauten: Was für eine
Landschaft verbirgt sich hinter den
Eisbarrieren, die den Blick zum Südpol versperren? Und gibt es am entgegengesetzten Ende der Erdachse
vielleicht nicht nur Treibeisschollen,
sondern auch Festland, das besiedelt
werden könnte? Dahinter steckten
handfeste geostrategische, politische, wirtschaftliche Interessen; die
wissenschaftliche Forschung dient
da eher als Feigenblatt. Das britische Königreich will seine Stellung
festigen; und Norwegen als gerade
erst unabhängig gewordene Entdeckernation – die königliche Personal­
union mit Schweden ist 1905 aufgelöst worden – will seinen Platz in der
Weltpolitik finden. Scott musste seine Expedition zwar privat vorfinanzieren, kann aber auf Rückhalt von
akademischen Vereinigungen wie
der Royal Geographical Society und
von deren einflussreichen Mitgliedern zurückgreifen; der Präsident,
Sir Clements Markham, ist der eigentliche Urheber hinter Scotts Expeditionen. Die Konkurrenz ist groß,
Sir Ernest Shackleton nur einer von
vielen, die liebend gerne auch den
Südpol entdecken würden (pikanterweise unterstützt er dann Amundsen
bei dessen Presseaktivitäten). Und
Amundsen selbst? Der steht zwar
besser da, zählt doch Fridtjof Nansen als Doyen der Polforschung zu
seinen Unterstützern, gleichwohl ist
auch er auf staatliches Geld angewiesen; der Storting (das norwegische Parlament) bewilligt ihm nicht
alles, was er fordert, aber doch eine
Menge, und König Haakon VII. hilft
ebenso. Einiges an Hinterzimmerdiplomatie ist nötig in diesem Gerangel. Hinter den sportlichen Leistungen stecken viele Köpfe, die daheim
die Fäden zu ziehen versuchen.
52
Vorstellungsankündigung
Rubrikentitel
53
Amundsens Vater Jens war einer von fünf Brüdern, Roald selbst der jüngste
von vieren. Doch eine eigene Familie gründet er nie. Von Kindheit auf gilt sein
Ehrgeiz der – wie er es nannte – „Eroberung“ von Nord- und Südpol. Das nur
der Mutter zuliebe aufgenommene Universitätsstudium bricht er nach deren
Tod ab, und fortan ist alles, worin er sich ausbildet – Skifahren, Navigation, Kapitänspatent – auf dieses Ziel ausgerichtet. Nur eine Frau ist beständig gegenwärtig in seinem Leben: Betty Anderson, sein Kindermädchen, die noch dem
berühmt gewordenen Abenteurer den unsteten Haushalt führt; nach ihr – nicht
etwa nach seiner Mutter oder Freundin oder Frau – benennt er einen Berg auf
der Antarktis. Liebschaften pflegt er nichtsdestoweniger, als Zeitvertreib zwischen seinen Expeditionen. Nach erfolgreicher Rückkehr verliert er dann regelmäßig das Interesse an den Amouren, bei denen es sich ausnahmslos um
54
verheiratete Frauen handelt.
Seine Vermieterin in
Antwerpen, wo Amundsen einen Navigationskurs besuchte, bringt sich um, als
das Verhältnis bekannt zu werden droht; Sigrid Castberg, die Gattin eines Obergerichtsanwalts, trennt sich von ihrem Mann für Amundsen, der sie dann sitzen lässt; Kristine Bennett, die junge norwegische Frau eines reichen englischen Geschäftsmanns, wird während Amundsens Vortragstournee nach der
Südpolreise seine Herzensdame und bleibt es länger als alle anderen. Als es
ernst zu werden droht mit dem Zusammenleben, lässt Amundsen auch sie fallen. Vor seiner letzten Geliebten, Bess Magids, die er mit einem Verlobungsversprechen aus Amerika nach Norwegen gelockt hat, flüchtet er sich in die
tödliche Rettungsaktion für seinen Rivalen Umberto Nobile.
Vorstellungsankündigung
Zwei Schiffe – beide mit bedeutender Vorgeschichte. Die Fram („Vorwärts“):
Kein Holzschiff ist weiter nach Norden und weiter nach Süden vorgedrungen. Fridtjof Nansen hatte es sich 1892 bauen lassen für seine legendäre
Nordpoldrift. Ein Schiff, das dank seiner ausgeklügelten Konstruktion dem
Druck des Packeises standhalten konnte; jahrelang überwintert die Fram
im arktischen Frost. Länge über alles: 39 Meter, Breite 11 Meter, 402 Bruttoregistertonnen; für Amundsens Expedition wird sie als erstes Schiff der
Welt mit einem Dieselantrieb ausgerüstet. Heute steht sie in Oslo, als
Hauptausstellungsstück des Fram Museums.
Rubrikentitel
Die Terra Nova („Neuland“): knapp zehn Jahre älter und ursprünglich ein
Walfangschiff. Mit 57 Metern anderthalbmal so lang, aber knapp einen Meter schmaler als die Fram, verfügt sie mit 764 Bruttoregistertonnen über
fast doppelt so viel Laderaum, benötigt allerdings auch viel mehr Besatzung. Immerhin müssen auch Ponys und Motorschlitten untergebracht werden und nicht nur Schlittenhunde wie auf der Fram. Auch die Terra Nova
hat einschlägige Erfahrungen im polnahen Einsatz: 1903 hat sie die von
Scott geleitete Discovery-Expedition befreien geholfen und zwei Jahre später in der Arktis die Ziegler-Expedition gerettet. Nach Scotts Südpolfahrt
wird sie als Robbenfänger eingesetzt und sinkt 1943 bei Grönland, wo sie
Nachschub für amerikanische Militärbasen transportiert hat.
55
Auf der Karte sieht es so simpel aus, doch so einfach und direkt geht es
natürlich nicht. Kaum auszumalen, welches Risiko die Abenteurer auf sich
nehmen, um überhaupt erst an den Ort des Geschehens zu gelangen!
Schon ein heftiger Sturm hätte alle Anstrengungen zunichte machen, die
gesamten Besatzungen der schwerbeladenen Schiffe zugrundegehen lassen können. Einige Zwischenstopps sind erforderlich: Scott besteigt die
Terra Nova erst in Südafrika, verlässt sie wieder in Melbourne und kehrt
an Bord zurück in Neuseeland, der letzten zivilisierten Station vor der Antarktis; Amundsen kreuzt ein wenig in den Fjorden zwischen Kristiania
(Oslo) und Bergen und steuert dann Funchal auf Madeira an, wo nicht nur
die Vorräte ergänzt werden, sondern er auch seine Mannschaft darüber
56
informiert, was sie eigentlich erwartet. Auf den Booten befinden sich: das
Material für die Hütten der Basisstationen (in Amundsens Fall praktisch
ein Fertighaus), Zelte, Schlitten, meteorologische Instrumente, Proviant
für Jahre (überwiegend Konserven von Unternehmen, die sich wie heutige
Sponsoren gute Propaganda versprechen), an Transportmitteln bei den
Briten drei Motorschlitten, Ponys und einige Hunde, bei den Norwegern
von letzteren über 100 – aber an beiden auch Klaviere und Grammofone
mit hunderten von Schellackplatten. Man feiert Weihnachten unter Deck
mit stimmungsvoller Musik; zuweilen verkleidet sich ein englischer Matrose als Frau und tanzt für seine Kameraden. Es ist eine lange Zeit, die man
miteinander verbringt.
Vorstellungsankündigung
Seit Mitte des 19. Jahrhunderts ist der „elektromagnetische Schreibtelegraf“ von Samuel Morse das Mittel der Wahl, um kurze Nachrichten über
weite Entfernungen schnell zu übermitteln; besonders, wenn der genaue
Aufenthaltsort des Empfängers nicht bekannt ist. Die nötige Knappheit
durch die nur drei verschiedenen Zeichen (kurz, lang, Pause) zwingt zur
Beschränkung aufs Wesentliche. Die professionellen Tastfunker entwickeln
beim Senden ihre jeweils charakteristische, wiedererkennbare „Handschrift“; besonders souveräne Morser genießen in ihrer Funkstube wohl
auch eine zünftige Pfeife. Der Empfänger kann es sich nicht immer so
­gemütlich machen. (Das charakteristische Piepen des Morsegeräts wird
übrigens keine ganz unwesentliche Rolle in der Oper von Miroslav Srnka
Rubrikentitel
spielen. Schließlich ist es quasi der Startschuss zum Wettlauf um die Ehre
– mit der, à propos, auch eine Menge Geld verbunden ist; Exklusivnachrichten sind auch damals schon eine lukrative Angelegenheit.) Das Telegramm
erreicht Scott in Melbourne. An seiner geplanten Vorgehensweise ändert
es nichts – sagt er. Aber sein Inneres bleibt seither in Aufruhr.
57
Johanna Diehl, Ukraine Series, Chernivtsi I, 2013, Courtesy Johanna Diehl und Galerie Wilma Tolksdorf Frankfurt/Berlin
Text Malte Krasting
‫סדרה‬
‫אוקראינית‬
Johanna
Diehl
ukraine
series
28.
Oktober
2015
українські
верстви
– 06.
März
2016
Die telegrafierte Botschaft Amundsens ist mit
Absicht unklar gehalten: „Beg leave to inform you
Fram proceeding Antarcic“ – „Erlaube mir Sie zu
informieren Fram Kurs auf Antarktis“. Das eigentliche Vorhaben der „Fram“ wird gar nicht benannt,
und aus dem unterzeichneten „Amundsen“ geht
nicht einmal hervor, wer eigentlich der Absender
ist: Tatsächlich ist es nicht von Roald Amundsen,
58
sondern auf dessen Anweisung von seinem Bruder Leon verschickt worden, und als Scott ungläubig bei Fridtjof Nansen nachfragen lässt, was
das denn bitte genau bedeuten solle, bescheidet
dieser wider besseres Wissen: „Unbekannt“.
Was will Amundsen wirklich? Was wollen beide
überhaupt erreichen? Wozu setzen Dutzende
Männer ihr Leben aufs Spiel, um im ewigen Eis
einen abstrakten Punkt zu erreichen? Vieles
lässt sich auch in Kenntnis aller Fakten und Dokumente nur schwer erklären. Aber dem schwer
Erklärbaren, dem Unerklärlichen kommt womöglich die Kunst näher. Auch für den Dichter Tom
Holloway und den Komponisten Miroslav Srnka
heißt es nun: Amundsen und Scott, wir kommen!
Vorstellungsankündigung
PINAKOTHEK DER MODERNE
Bayerische Staatsgemäldesammlungen
www.pinakothek.de
Rubrikentitel
59
Test: Wie vermessen sind Sie?
Ein kleines Spiel mit dem Wort „Vermessen“ sei erlaubt: Es geht nicht nur um Selbstüberschätzung, sondern auch um den individuellen Hang zum Vermessen. Manche würden am liebsten
alles vermessen – vom Puls beim Joggen bis zum täglichen Check auf der Waage. Das gibt
ihnen das gute Gefühl, die Kontrolle zu haben. Andere wiederum fühlen sich durch ständiges
Messen eingeschränkt. Sie sind lieber spontan, verlassen sich eher auf ihre Intuition und ihr
Augenmaß. Testen Sie hier exklusiv, wie es in puncto „Vermessenheit“ um Sie steht.
Frage 4
Drei Intendanten diskutieren über die Bedeutung
einer Oper. Welchem Schwerpunkt stimmen Sie am
meisten zu?
Eine Aufführung muss das Herz berühren, den
Zuschauer zu einem besseren Menschen machen.
Bleiben wir realistisch, vergessen wir nicht, dass
eine Aufführung auch Handwerk ist.
lehnen dankend ab.
Denken Sie an einen Menschen, der Ihnen nahesteht
und den Sie gut kennen. Finden Sie spontan
Vergleiche für diese Person. Was wäre sie als …
Duft
Blume
Frage 1
be
r
Fa
Wie gut hat es mit dem Vergleichen geklappt?
Da musst du aber fleißig üben, mein Junge.
Es fiel mir schwer.
Na, bis dahin fließt noch viel Wasser die Isar hinunter.
Bei ein, zwei Begriffen musste ich länger nachdenken.
Das Kind hat tatsächlich schon eine Zukunftsvision.
Das ging ganz leicht.
Das klare, präzise Klangbild und die
theatrale Umsetzung entsprachen musikdramaturgisch
großartig dem Werk.
So ein breites Spektrum! Das war für mich
wunderbar abwechslungsreich.
Frage 3
Das Leben ist kein Wunschkonzert. Sie sind maßlos enttäuscht, wenn …
sich Ihr Ziel als falsch entpuppt.
ein Freund Sie hintergeht.
viel Arbeit sich nicht auszahlt.
60
Musikins
trument
Der kleine Sohn einer Freundin verkündet stolz:
„Ich werde mal ein berühmter Musiker.“ Sie denken:
Die reinste Seelennahrung, ich konnte kaum
die Tränen zurückhalten.
Von Dr. Eva Wlodarek
Frage 9
Während einer Ballettaufführung flüstert die Dame neben
Ihnen ihrem Begleiter zu: „So müsste man tanzen können …“ Sie denken:
Ach ja, den Traum kann ich gut verstehen.
Stimmt, aber dazu hätte man früh anfangen müssen.
d
Drei Opernfreunde schwärmen über alle Maßen von
einer Aufführung. Welche Aussage bringt Sie wohl am
ehesten dazu, sich diese anzusehen?
fragen: „Kann ich auch eine halbe Portion haben?“
sagen sich: „Wenn schon, denn schon …“,
und bestellen.
Lie
Frage 2
Nach der Oper gehen Sie noch mit Freunden zum Italiener. Die Hauptspeise hat Sie schon gesättigt.
Der Kellner kommt: „Heute haben wir ein besonders
köstliches hausgemachtes Dessert.“ Sie …
Es geht nicht nur um Genuss, die Aufführung sollte
eine intellektuelle Herausforderung sein.
Frage 5
So wird der
Test gemacht: Versetzen
Sie sich mit etwas Fantasie in die
jeweilige Situation und kreuzen
Sie dann an, was am ehesten
für Sie zutrifft …
Frage 8
Sie hat recht, das Ballett ist fantastisch.
Frage 10
Was würde Sie maßlos ärgern?
Sie stehen im Lenbachhaus vor einem Bild von
Wassily Kandinsky. Hinter Ihnen sagt eine Frau zu
ihrem Ehemann: „Gell, Schatz, das kann unser
kleiner Tobias auch.“
Frage 6
Sie haben eine Menge Geld ausgegeben, um diesen
tollen Sänger zu hören. Er spult sein Repertoire
ab und verschwindet nach einer knappen Stunde
von der Bühne.
Nach dem Konzert bringen Sie der von Ihnen verehrten
Pianistin einen Blumenstrauß in die Garderobe,
und zwar …
Eine Bekannte hat Sie ins Theater eingeladen.
Leider hat sie verschwiegen, dass es sich um ein Einpersonenstück mit kompliziertem Monolog handelt.
selbstgepflückte Blumen. Damit heben Sie sich von
all den gekauften Sträußen ab.
ihre Lieblingsblumen –
Sie haben herausgefunden, welche das sind.
einen dekorativen Strauß. Es kommt auf die Geste an.
Frage 11
Im Duett singt der Tenor: „Ich liebe dich, ich liebe dich …“
Welche Antwort der Sopranistin passt am besten?
„Ja, du liebst mich, so wie ich dich.“
„Ich glaub’ es nicht, du musst es mir beweisen.“
Frage 7
„O Liebster, ja, ich würde für dich sterben.“
Man mag es vermessen finden, aber Sie wollen einen
Bestseller schreiben. Wie gehen Sie vor?
Sie recherchieren genau und entwerfen
vorab den gesamten Plot.
Sie schreiben ein Probekapitel, zeigen es
Ihrem Partner oder Freunden und bitten um Kritik.
Sie fangen einfach an zu schreiben.
Dann entwickeln sich die Figuren schon von selbst.
Frage 12
Sie bekommen die Chance, ein Bühnenbild zu gestalten.
Welcher Stil liegt Ihnen am meisten?
Sinnlich, farbig
Minimalistisch, grafisch
Klassisch mit modernen Elementen
61
Geben sie sich für jedes …
A = 3 Punkte
B = 1 Punkt
C = 2 Punkte
Zählen Sie Ihre Punkte zusammen. Die Auflösung finden Sie unter dem entsprechenden Punktwert:
12 – 20 Punkte:
Bloß nicht zu vermessen – Sie vertrauen auf Ihr Gefühl
30 – 36 Punkte:
Ziemlich vermessen – Sie behalten die Kontrolle
Sie haben ein großes Herz und können sich gut in andere einfühlen. Ihre Sensibilität ist für Sie gewiss nicht immer einfach,
weil Sie dadurch leicht von einer Atmosphäre beeinflusst werden. Aber sie hat auch eine großartige Seite: Dank Ihrer Aufnahmefähigkeit ist es Ihnen möglich, Kunst ganz besonders zu
genießen. Dabei geben Sie sich mit allen Sinnen hin. Sie können
sich begeistern und andere mitreißen. Das Vermessen liegt Ihnen dagegen weniger. Sie müssen nicht unbedingt die Partitur
eines Musikstücks oder das Versmaß eines Gedichtes erkunden,
um dessen Schönheit wahrzunehmen. Für Sie gilt eher der
Spruch des Kleinen Prinzen: „Man sieht nur mit dem Herzen gut“.
Vorsicht vor Vermessenheit: Sie vertrauen mit Fug untd Recht Ihren Gefühlen und Ihrer Intuition. Aber es wäre vermessen, diese
zum alleinigen Maßstab Ihrer Wahrnehmung und Ihrer Entscheidungen zu machen. Es kann nämlich durchaus sein, dass Intuition von Wunschdenken beeinflusst wird und dann zu falschen
Schlüssen führt. Berücksichtigen Sie deshalb auch alle Fakten.
Die sollten immer die Grundlage für Ihr Bauchgefühl sein.
O doch, Sie haben durchaus Gefühle. Aber Sie lassen sich
ungern von ihnen beherrschen. Große Leidenschaften sind
Ihnen eher suspekt, lieber benutzen Sie Ihren klugen Kopf
und halten sich an Tatsachen. Planen, organisieren, Wissen
erwerben, das ist Ihre Domäne. Ein Faible fürs Vermessen beruht auch auf Ihrem Wunsch nach Perfektion. Sie geben meist
hundert Prozent und bringen es einfach nicht über sich, etwas abzuliefern, das nur das Prädikat „gut“ statt „sehr gut“
bekommt. Ihr innerer Zensor misst, vergleicht und zieht seine
Schlüsse. Hohe Ansprüche stellen Sie auch an die Kunst. Für
Sie ist es ein besonderer Genuss, nicht nur emotional, sondern auch intellektuell bereichert zu werden. Dabei gilt der
Spruch: „Je mehr man weiß, desto mehr kann man genießen.“
Vorsicht vor Vermessenheit: Ihre Erfahrung hat Ihnen gewiss
bisher gezeigt, dass eine gute Planung Erfolg bringt. Doch
das birgt auch die Gefahr, zu glauben, alles sei planbar.
Schließlich gibt es den Zufall oder – im großen Rahmen – das
Schicksal. Darum ist bei aller notwendigen Voraussicht auch
Demut angesagt. Wir haben nun mal nicht über alles die Kontrolle. Das zu ignorieren wäre vermessen.
AIDA deluxe:
packende
Studioaufnahme
AIDA
Jonas Kaufmann & Anja Harteros
21 – 29 Punkte: Mäßig vermessen – Sie schätzen die Balance
62
Gesamtaufnahme
mit Ekaterina Semenchuk
Ludovic Tézier · Erwin Schrott
Antonio Pappano
Eva Wlodarek ist promovierte Psychologin. Seit
1980 entwickelt sie psychologisch fundierte
Tests für Printmedien, TV und namhafte Firmen.
Sie baute unter anderem das Ressort Psychologie
der Zeitschrift Brigitte auf.
Testauflösung
Illustration Felix Plachtzik
Angenommen, das Leben ließe sich als eine Waage darstellen:
In der einen Schale liegen die Gefühle, samt Kunstgenuss und
Lebensfreude, in der anderen Pflichten und Aufgaben, die Organisation und Überlegung verlangen. Dann könnte man bei
Ihnen deutlich sehen, dass beides recht ausgewogen ist. Sie
wissen, wann es angebracht ist, Ihr Herz sprechen zu lassen,
sind aber auch in der Lage, sachlich zu reagieren, wo es nötig
ist. Messbare Informationen interessieren Sie nur, soweit sie
Ihre Arbeit betreffen und persönliche Neigungen berühren.
Dann recherchieren Sie präzise Zahlen im Internet oder wollen alles über eine bestimmte Epoche wissen. Ansonsten sind
Sie eher spontan und lassen sich gerne überraschen.
Vorsicht vor Vermessenheit: Speziell für Sie lautet der Rat ein
wenig anders, nämlich Vorsicht vor zu wenig Vermessenheit.
Sie sind oft so um Harmonie bemüht, dass Sie nur ungern aus
der Reihe tanzen oder sich in den Mittelpunkt stellen. Sie
fürchten, das könnte man Ihnen als Eitelkeit oder Überschätzung auslegen. Seien Sie in diesem Punkt ruhig etwas mutiger
und stellen Sie Ihr Licht nicht unter den Scheffel.
Empfohlen von
Rubrikentitel
63
Satanismus oder:
Ich mach’ mir die Welt,
wie sie mir gefällt
So weit vom Klischee, so
nah an der Realität: Die
­Religionswissenschaftlerin
Dagmar Fügmann
schildert, was Satanismus
heutzutage ausmacht.
64
Meine erste Begegnung mit einem leibhaftigen Satanisten
werde ich nie vergessen. Ich stand an einem November­
abend zu später Stunde an einem Bahnhof, irgendwo in
Deutschland. Dort wartete ich auf meine Kontaktperson,
die mich zu einer Schwarzen Messe mitnehmen sollte, an
der ich im Rahmen meines Forschungsprojekts teilnehmen
durfte. Der genaue Veranstaltungsort war ebenso geheim
wie die Menge der Personen, die ich dort treffen sollte. Es
beschlich mich ein ziemlich mulmiges Gefühl. Während ich
wartete, beobachtete ich die Menschen um mich herum
und vermutete in jedem schwarz gekleideten oder düster
dreinblickenden Passanten meinen Kontaktmann. Bis ein
Mann mittleren Alters, gekleidet in ausgewaschene Jeans
und einen blauen Strickpullover, Jesuslatschen mit Socken
an den Füßen, eine Leberkäsesemmel kauend, mich an­
sprach. Ich gebe zu: Er war so ziemlich die letzte Person
auf dem Bahnsteig, hinter der ich einen Satanisten vermu­
tet hätte. Ebenso – im Vergleich zu meinen Erwartungen –
unspektakulär verlief das Ritual: Ein abgedunkelter Raum,
ein wenig Weihrauch, ein Altar mit Pentagramm, künstli­
chem Totenkopf und Kelch, Rezitation von Texten ver­
schiedener Autoren und am Ende ein gemeinsames Trink­
ritual aus dem mit Wein gefüllten Kelch, an dem man sich
beteiligen konnte, nicht musste.
Diese erste Begegnung blieb beispielhaft für alle, die
folgen sollten. Ich erwartete, auch aufgrund meiner ersten
Recherchen und bestimmter Medienberichte, eine Art
dunkler Subkultur, die sich durch ihre oder wegen ihrer
Anbetung des Satans in menschenverachtenden Weltan­
schauungen und Ritualen ergeht. Von Grab- und Kirchen­
schändungen bis zu blutigen Opferritualen ist im Bild, das
sich die meisten von Satanismus machen, alles geboten. Im
Satanismus als religionswissenschaftlich erforschbarem
Feld findet sich davon allerdings nichts. Das mag daran lie­
gen, dass mit Satanismus eben nicht Teufelsanbetung ge­
meint ist. Bereits Anton LaVey, der Gründer der in den
USA seit 1971 als Kirche eingetragenen Church of Satan
(CoS), an deren Leitideen sich viele andere satanistische
Organisationen orientieren, pocht auf diese Unterschei­
dung. Wohl gibt es unzählige andere – auch gewalttätige –
Gruppen, die oft nur für kurze Dauer existieren und mit
einer Religion oder Weltanschauung nichts zu tun haben.
Jedoch ist keine einzige existierende Gruppe nachgewie­
sen, die ihre Weltanschauung Satanismus nennt und gleich­
zeitig blutige Opfer vollführt.
Zeitgenössische satanistische Gruppierungen beten
weder Satan noch den Teufel oder Beelzebub an. Sie beten,
genau gesagt, gar nichts an. Weshalb Satanismus dann als
Religion, und nicht, wie manchmal vorgeschlagen, als Hu­
manismus bezeichnet wird (nicht zu verwechseln mit Hu­
manität), beantwortet der Gründer der CoS in der Satanischen Bibel. Er verweist darauf, dass Humanismus keine
Religion, sondern nur ein „way of life“ sei. Satanismus da­
gegen bestehe aus einer Kombination von Zeremonie und
Glaubenslehre, die seiner Auffassung nach menschliche
Grundbedürfnisse sind. Satan wird in der Church of Satan
als bewusste Alternative zu jeglicher Form von Herden­
mentalität, als prädestiniertes Symbol für Nonkonformis­
mus sowie als Symbol für die Instinktnatur des Menschen
aufgefasst; die CoS kennt keine Vorstellung von einer per­
sonifizierten Wesenheit Satan. Anderen satanistischen
Gruppierungen, wie dem ebenfalls in den USA als Kirche
eingetragenen Temple of Set (ToS), gilt die Figur des Satan
als Orientierungspunkt für die eigene Entwicklung: Satan
selbst, so der ToS, offenbarte sich unter dem Namen Set
dem Gründer des ToS, Michael Aquino, und beschrieb sich
65
als die „zeitlose Intelligenz dieses Universums“. Die Figur
des Satan wird im Satanismus, ausgehend von der bibli­
schen Darstellung des Widersachers, positiv umgedeutet.
Egal, ob er rein symbolisch oder personifiziert gedacht
wird: Satan ist derjenige, der sich Gott gleichstellen woll­
te. Er widersagt im satanistischen Vorstellungsuniversum
allem, was als mittelmäßig, angepasst, demütig, machtlos
oder schwach konzipiert sein könnte.
Ebenso unterschiedlich wie die Vorstellung von Sa­
tan ist das Menschenbild der beiden großen satanistischen
Kirchen: Bestimmt die Church of Satan den Menschen als
ein Tier unter Tieren, als instinkthaftes Tier, definiert der
Temple of Set den Menschen als Wesen, das nicht auf die
natürliche Seinsordnung reduziert bleibt, sondern darüber
hinausgeht. Bei aller Verschiedenheit von Church of Satan,
Temple of Set und vielen anderen kleineren Gruppierun­
„Satanists are born, not made“ war einer der meistwie­
derholten Sätze meiner satanistischen Interviewpartner
auf die Frage, warum man sich im 21. Jahrhundert dem
Satanismus zuwende. Oder ausführlicher: „Satanismus
beschreibt meine Persönlichkeitsstruktur. Ich bin Sata­
nist von Geburt. Satanismus ist meine Religion, und es ist
ein beschreibendes Wort für meinen Persönlichkeitstyp“.
Das Spezielle dieser Form von Weltanschauung wird in
der Aussage eines Mitglieds der Church of Satan deutlich:
„Für mich ist Satanismus die Religion des Lebens. Alle
anderen Religionen sind Religionen des Todes, der Absti­
nenz, des Stumpfsinns. Ich bin Satanist, weil ich Teil je­
ner Vielfalt bin, die sich Leben nennt, und es auch bleiben
möchte. Die meisten Massenvergnügungen lassen mich
zwar kalt, aber es gibt eine Menge anderer Dinge, an de­
nen ich mich erfreue: Literatur. Kunst. Gute Filme. Le­
Allen Spielarten des Satanismus gemeinsam ist die Vorstellung von der Selbstvergottung des Menschen.
Jeder Mensch ist sein eigener Gott oder kann sich dazu entwickeln.
gen gibt es dennoch zwei Grundgedanken, bei denen man
sich einig ist. Zum einen wird Satan positiv umgedeutet.
Er ist weder der Verführer noch der Böse. Er symbolisiert
für die Church of Satan unter anderem Sinnenfreude statt
Abstinenz, Weisheit statt Selbstbetrug, Verantwortung für
Verantwortliche und einiges mehr, wie in den Neun satanischen Aussagen in Anton LaVeys Die satanische Bibel
nachgelesen werden kann. Der Temple of Set betont, dass
die Verehrung Sets die Verehrung des Individualismus sei.
Die zweite Grundannahme, bei der Einigkeit besteht, ist
die Vorstellung von der Selbstvergottung des Menschen. Je
nach Spielart des Satanismus ist dabei jeder Mensch sein
eigener Gott von Geburt an oder kann sich dazu entwi­
ckeln. Kein Gott für andere, dafür aber absoluter Herr­
scher im eigenen privaten Universum. Basierend auf dieser
Vorstellung wird nachvollziehbar, weshalb Satanisten von
Opferritualen jedweder Couleur wenig halten. Wem soll
man opfern, wenn man sein eigener Gott ist?
66
ckeres Essen. Sex. Die Natur. Das Weltall. Nette und in­
teressante Menschen. Diese Welt ist eine Schatztruhe an
Freuden und Vergnügungen. Dafür lebe ich. Und das ist
für mich Satanismus.“
Satanismus hat trotz der stark hedonistischen Beto­
nung wenig mit einer Anything-goes-Haltung gemein. Der
höchste Wert für Satanisten ist individuelle Freiheit. Die
schlimmste Sünde, zumindest im Satanismus der Church
of Satan, ist Dummheit. Als besonders dumm gilt, die eige­
ne Freiheit durch Handlungen zu gefährden, welche einen
mit dem Gesetz (und in der Folge eventuell mit Freiheits­
entzug) konfrontieren könnten. Für ebenso dumm wird es
gehalten, nicht Maß halten zu können und sich den eigenen
Begierden auszuliefern. Denn auch dies habe nichts mit
Freiheit zu tun. Das eigene Leben im Hier und Jetzt in
größtmöglicher Freiheit selbstbestimmt zugenießen ist das
oberste Ziel. Satanistische Grundideen beziehen sich aus­
schließlich auf das diesseitige Leben. Ob es ein Jenseits
Bilder James Rieck
gibt und was einen Satanisten dort erwarten könnte, gilt
schlicht als spekulative Frage, auf die es keine Antwort ge­
ben kann. Indem man sich auf das Leben im Jetzt konzen­
triert, eröffnen sich im satanistischen Denkuniversum viel­
fältige Möglichkeiten zur Gestaltung des eigenen Daseins
nach individuellen Vorlieben. Pippi Langstrumpfs Liedzei­
le „Ich mach‘ mir die Welt – widdewidde wie sie mir ge­
fällt“ hätte das Potenzial zur Hymne des Satanismus.
Das ideale gesellschaftliche Zusammenleben ist im
Satanismus in selbstgewählte, individuell abgegrenzte Le­
benswelten aufgeteilt, die „total environments“. Sie sind
kaum realisierbar und gelten den Satanisten daher als
Utopie. Sozialdarwinistische Modelle nach dem Motto des
„survival of the fittest“ und eine Einteilung der Gesell­
schaft in Schichten bilden die Basis einer solchen Gesell­
schaftsform. Keine Rolle spielt dabei die Abstammung
pfuhl leben, sollten nicht auch denen auferlegt werden, die
sich für ein asketisches Leben entschieden haben. Auch
sollten die Verbote, die ein Mönch einhalten muss, nicht
auch für jene gelten, die ihre Leben lieber im Wohnzim­
mer verbringen.“ Gleichheit für alle gibt es im Satanismus
nur in einem einzigen Bereich: Alle sollen gleiche Chancen
haben, das Bestmögliche aus sich und ihrem Leben zu ma­
chen. Trotz der geschilderten Grundeinstellungen ist Sa­
tanismus nicht frei von Überlegungen zu Liebe und Empa­
thie. Der Satanist lässt diese Regungen idealiter bewusst
aber nur denjenigen zukommen, die er als dieser Gefühle
wert empfindet.
Auch wenn die Realisierung von unterschiedlichen
Lebenswelten, in denen man sich völlig von allem Unge­
wollten abgrenzen kann, als utopisch gilt, versuchen viele
Satanisten diesem Konzept doch möglichst nahe zu kom­
Mein Kontaktmann war so ziemlich die letzte Person auf dem Bahnsteig,
hinter der ich einen Satanisten vermutet hätte.
von Individuen. Im Original liest sich das, was mit Strati­
fizierung der Gesellschaft gemeint ist, in LaVeys Essay
Pentagonal Revisionism wie folgt: „Es darf keinen Mythos
von der Gleichheit aller geben – so etwas führt nur zu Mit­
telmäßigkeit und unterstützt die Schwachen auf Kosten
der Starken. Man muss dem Wasser gestatten, sich seinen
­Pegel zu suchen, ohne von den Fürsprechern der Inkom­
petenz gestört zu werden. Keiner sollte vor den Auswir­
kungen seiner eigenen Dummheit bewahrt werden. Der
Gedanke der Gleichheit aller Menschen (auch im Sinne
von Gleichbehandlung vor dem Gesetz) wird abgelehnt. Es
klingen deutlich die Einflüsse des späten Nietzsche an,
wenn LaVey schreibt: „Wenn Schichtenbildung gleichbe­
deutend ist mit Ghettobildung, lasst es bleiben. Nennt es
Isolierung – oder wie ihr wollt. Doch wir brauchen unter­
schiedliche Gesetze für unterschiedliche Menschen, vo­
rausgesetzt, es gibt unterschiedliche Lebenswelten. Die
­Regeln, die denen auferlegt werden, die in einem Sünden­
Text Dagmar Fügmann
men. Deshalb gilt es, das Beste aus dem eigenen Leben zu
machen und sich möglichst von allem, was nicht zur „sata­
nistischen Elite“ gehört, abzugrenzen. Dies könnte eine Er­
klärung dafür sein, weshalb sich in satanistischen Kreisen
zahlreiche Selbstständige, viele akademisch gebildete Per­
sonen sowie eine große Zahl recht erfolgreicher Kunst­
schaffender finden. Wer sein eigenes privates Universum,
sein eigenes total environment, möglichst unabhängig
gestalten möchte, braucht Kreativität und die nötige
Finanzkraft.
In der Selbsteinschätzung als gesellschaftliche Elite
und der Ablehnung des Grundgedankens der Gleichheit al­
ler Menschen im Sinne von Rechtsgleichheit liegt sicher
auch die schwierigste Seite des zeitgenössischen Satanis­
mus. Zwar sei der Satanismus keine „Weltanschauung, die
meint, sie sei die einzig wahre“, wie eine Satanistin mir ge­
genüber betonte. Dennoch halten sich Satanisten für die
besseren, in jedem Fall aber für die fähigeren Menschen.
67
LeporeLLo
auf B R-KL ASSI K
Oder wie es der Herr in Jeans und Jesuslatschen, den ich
zu Beginn erwähnt hatte, einmal ausdrückte: „So wie man
heute einen Führerschein machen muss, damit man fest­
stellt: der Mann kann Auto fahren, so sollte es zum Bei­
spiel auch einen Wahlführerschein geben, dass man sagen
kann: der Mann hat Ahnung, der darf wählen. Also keine
Gleichheit der Menschen, sondern Rechtezuteilung nach
Fähigkeit.“
Warum die Vorstellungen von blutigen satanisti­
schen Ritualen und Opferhandlungen sich trotzdem hart­
näckig halten, mag unterschiedliche Gründe haben. Zum
einen liegt es sicher an der volkstümlichen Verwendung
des Begriffs Satanismus für Erscheinungen, die mit dem
organisierten Satanismus der Church of Satan und anderer
Gruppierungen des Satanismus schlicht nichts zu tun ha­
ben, sondern mit Vorstellungen, die historisch gesehen als
Teufelsanbetung oder Ähnliches bezeichnet wurden. Der
Begriff des Satanismus selbst tauchte explizit zum ersten
Mal bei dem englischen Historiker und Hofdichter Robert
Southey (1774–1843) auf, der Lord Byron als „Mitbegründer
einer satanischen Dichterschule“ bezeichnet. Des Weiteren
gibt und gab es Beschreibungen über blutige Opferrituale,
rituelle Vergewaltigungen und andere Untaten in allen Kul­
turen und Epochen der Menschheit: als Zuschreibung an
jene, die man ausgrenzen wollte. Der urchristlichen Ge­
meinde wurde ebenso wie Jahrhunderte später unter ande­
rem sogenannten Ketzern und Hexen rituelle Gewalt und
ritueller Mord unterstellt. Zum Dritten hängt die öffentli­
che Wahrnehmung von Satanismus als rituellem Gewalt­
system vielleicht auch mit den Zahlen zusammen, die
seit Jahren in einschlägiger Literatur herumgeistern.
Von tausenden Satanisten alleine in Deutschland ist hier
die Rede, die meuchelnd ihren finsteren Gelüsten nach­
gehen. Realistische Zahlen derer, die sich in Deutsch­
land dem Satanismus zurechnen, dürften eher bei maxi­
mal 500 Personen liegen. Ein weiterer Grund für die
Vorstellungen von Satanismus als gewalttätigem System
könnten die zu trauriger medialer Berühmtheit gelang­
68
ten „Satansmorde“ sein. Mit Schrecken erinnert man
sich vielleicht an den medienwirksamen Prozess gegen
das Ehepaar Manuela und Daniel Ruda. Die beiden töte­
ten 2001 einen Bekannten mit 66 Messerstichen, Mache­
tenhieben und Hammerschlägen – im Auftrag Satans,
wie sie vor Gericht aussagten. Inzwischen, 14 Jahre nach
der Tat und hunderte Therapiestunden später, wollen
beide nichts mehr wissen von ihrem selbstdesignten Sa­
tanismus.
Satanisten sind sich bewusst, dass sie mindestens
auf Unverständnis treffen würden, wäre bekannt, dass sie
Satanisten sind. Zumindest in Europa. In den USA gehen
Mitglieder satanistischer Gemeinschaften recht offen mit
ihrer Zugehörigkeit zu solchen Gruppierungen um. Zur
Frage, weshalb die Selbstbezeichnung „Satanismus“ bzw.
„Satanist“ dennoch für jemanden sinnvoll ist, obwohl er um
die Vorurteile diesem Begriff gegenüber weiß, lasse ich ab­
schließend noch einmal meinen Verbindungsmann vom An­
fang zu Wort kommen: „Die Bezeichnung ist perfekt ge­
wählt, weil sie einerseits alles das beschreibt, wovor sich die
einfachen Gemüter ängstigen. Die meisten Menschen ängs­
tigen sich davor, das zu leben, was sie wirklich leben wollen,
weil sie dann auch die Verantwortung übernehmen müssten
und die Konsequenzen tragen müssten, also lassen sie sich
lieber alles vorbeten. Das Wort hat andererseits eine Filter­
funktion. Wer sich davor ängstigt und nicht dahinter schaut,
der bleibt auch draußen, und das ist auch zu recht so. Des­
halb ist das Wort für mich perfekt.“
Dagmar Fügmann lehrt und forscht im Studiengang
­Philosophie und Religion an der Julius-­MaximiliansUniversität Würzburg. Ihre Dissertation schrieb sie
über zeitgenössischen Satanismus in Deutschland.
Mehr über den Bildkünstler auf S. 8
Bilder von James Rieck
Seite 64: The Board of Directors, 2006
Seite 66: The Shareholders, 2003
Seite 67: Management, 2008
Seite 68: Committee, 2008
Montag bis Freitag
16.05 – 18.00 Uhr
br-klassik.de
facebook.com/brklassik
Ihr musikalischer
Begleiter am Nachmittag
Musik, Informationen, Interview
Forschungsprojekt Bayerische Staatsoper
Folge 9
1933 – 1963
„Nicht reichsdeutsche“ Mitarbeiter
71
Auszug aus einem
Schreiben von Kultus­
minister Franz
­Goldenberger an die
­Generaldirektion der
Bayerischen
­Staats­theater vom
13. Februar 1932.
Die Bayerische Staatsoper beauftragte in der Jubiläumsspielzeit 2013/14 ein Forschungsteam des Instituts für Theaterwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München damit, die Geschichte des Hauses von 1933 bis 1963 zu
untersuchen. Auch in dieser Spielzeit berichten die Forscher in MAX JOSEPH kontinuierlich von ihrer Arbeit.
Quelle: Bayerisches
Hauptstaatsarchiv,
­Ministerium für Unterricht und Kultus, Nr.
45270 (Julius Patzak).
Im Ränkespiel der MAcht
Ausgewählte Fund­stücke und ­Archivmaterial
des Forschungsprojekts Bayerische Staatsoper
geben Aufschluss darüber, wie das NS-Regime
hinter den Kulissen des Nationaltheaters wirkte.
Der Historiker Karl-Dietrich Bracher charakterisiert in
seinem Aufsatz „Stufen totalitärer Gleichschaltung:
Die Befestigung der nationalsozialistischen Herrschaft
1933 / 34“ die NS-Diktatur als ein ständiges Gegen- und
Neben­
einander von Kompetenzen und Entscheidungs­
befugnissen verschiedener Personen, Gremien und Behörden. Durch „das Ineinandergreifen von zentralistischer
Lenkung und Befehlsübermittlung einerseits, von verhüllender und verschleiernder Delegation und Parallelschaltung der Verantwortungen andererseits“ waren Entscheidungen und Anordnungen von permanenten Spannungen
begleitet und der Gefahr ausgesetzt, von einer anderen –
vermeintlich oder tatsächlich übergeordneten – Stelle in
Zweifel gezogen oder angefochten zu werden. Diese konkurrierende Aufteilung von Befugnissen an verschiedene
Personen und Stellen begünstigte zum einen die übermächtige Stellung des „Führers“ als letzte Instanz im
Kompetenzgerangel und schuf zum anderen einen fruchtbaren Boden für verschleierte Entscheidungswege, persönliche Machtdemonstrationen und skrupellose Intrigen.
70
Auch an der Bayerischen Staatsoper wurden derartige
Kompetenzkämpfe ausgetragen. Als öffentliche Einrichtung wurde das Haus zu einer Arena, in der um Einfluss
und Geltung, Distanz und Nähe zu den Herrschenden, individuelle Vorteile und persönliche Schicksale gerungen
wurde. Dies belegen Ergebnisse aus der Archivarbeit des
Forschungsprojekts zur Personalsituation und Spielplangestaltung des Hauses in den 1930er Jahren. Bei der Sichtung der Akten standen folgende Fragen im Fokus: Wie
wurden personelle Veränderungen durchgesetzt? Welche
Rolle spielten politische Entscheidungsträger außerhalb
der Oper bei Besetzungsfragen und Verpflichtungen? Inwiefern waren Beschäftigte des Hauses den rassistischen
Repressionen des Regimes ausgesetzt? Wer bestimmte,
welche Stücke aus welchen Gründen auf den Spielplan gesetzt wurden? Die ausgewerteten Akten ermöglichen einen Einblick in die institutionellen Wechselbeziehungen
von Kunst und Politik.
Simon Gröger
Franz Goldenberger, 1926 bis 1933 bayerischer Staatsminister für Unterricht und Kultus, bezieht sich hier auf
die Anzahl der Ausländer, die 1932 an der Bayerischen
Staatsoper beschäftigt waren: Die aufgeführte Liste vermerkt, dass von 36 angestellten Sängerinnen und Sängern 21 „reichsdeutsch“ waren. Der Anteil ausländischer Sänger lag also bei 42 Prozent; einer von ihnen
war der österreichische Tenor Julius Patzak. Goldenberger bewertet diesen Anteil als zu hoch und fordert,
Dienstverträge von ausländischen Angestellten nur
noch in Ausnahmefällen und unter Vorlage von Begründungsschreiben zu verlängern. Erst ab 1933 sollte hierfür eine behördliche Genehmigung notwendig sein. Der
Fall belegt jedoch das nationalistische Klima bereits vor
1933. Auch Österreicher galten vor der Angliederung
Österreichs 1938 selbstverständlich als Ausländer und
unterlagen entsprechenden Auflagen. Dennoch blieb Julius Patzak nach Goldenbergers Intervention 1932 noch
13 Jahre an der Staatsoper beschäftigt; seine Dienstver-
träge wurden stets kommentarlos vom Ministerium verlängert. Ein Grund hierfür lag sicherlich in der festen
Etablierung des Sängers in München: Er war beim Publikum als Operntenor äußerst beliebt und engagierte
sich zudem bei zahlreichen Wohltätigkeits- und Sonderveranstaltungen. Ab 1933 trat Patzak auch bei NS-Veranstaltungen auf, etwa bei einem Wohltätigkeitskonzert
der SA. Das Regime machte sich offenbar den Starkult
um den Sänger zunutze und instrumentalisierte die Berühmtheit seiner Person zu propagandistischen Zwecken. Die Einstellung Patzaks zu den NS-nahen Veranstaltungen lässt sich aus den vorliegenden Quellen nicht
entnehmen. Jedoch liegt die Vermutung nahe, dass die
Bereitschaft zur Mitwirkung an NS-nahen Veranstaltungen die Weiterbeschäftigung des „nicht reichsdeutschen“ Julius Patzak an der Bayerischen Staatsoper
erheblich begünstigte.
Lena Scheungrab
Julius Patzak vor der
Bayerischen Staatsoper,
ohne Datum (Postkarte).
Quelle: Deutsches
­Theatermuseum
München,
Inv. Nr. II 43285.
72
Erst nicht „reichsdeutsch“, dann nicht „arisch“
73
Spielplanentscheidungen
Abschrift eines Schrei­
bens von Paul Demeter
(vermutlich die Eingabe
eines Bürgers) an
Staatsrat Ernst ­Boepple
vom 26.9.1934:
Auszug aus dem
„Allgemeine[n] Bericht
der dramaturgischen
Kommission“ zur
Märchenoper Schwarzer
Peter vom 8. Juni 1936.
Quelle: Bayerisches
Hauptstaatsarchiv:
­Intendanz Bayerische
Staatsoper, Personalakt:
426 (Hildegarde
­Ranczak), Teil I.
Quelle: Bayerisches
Hauptstaatsarchiv,
Intendanz Bayerische
Staatsoper, Sachakten,
1192 (Schwarzer Peter).
Hildegarde Ranczak
als Salome.
Quelle: Deutsches
Theatermuseum,
Archiv Hanns Holdt.
­ ildegarde Ranczak auf
H
einer Starpostkarte.
Quelle: Deutsches
Theatermuseum
München, Inv. Nr. II
37769, Foto: Anton Sahm.
Die Tatsache, dass Hildegarde Ranczak erst durch ihre
Heirat mit dem jüdischen Sänger Fritz Schaetzler im
Jahr 1931 die deutsche Staatsangehörigkeit erhielt, war
der Anlass für mehrere Hetzbriefe gegen die Sopranistin,
die zum Zeitpunkt ihrer Heirat lediglich die tschechische
Staatsbürgerschaft besaß. Ab 1933 hätte insbesondere das
„Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“
vom 7. April 1933, das die Entlassung „nicht arischer“
Personen anwies und das Personal staatlicher Institutionen im weiteren Sinn betraf, nicht zuletzt auch das Ende
ihrer Karriere bedeuten können. Auf obiges Schreiben hin
wurde die Bayerische Generalintendanz aufgefordert, die
„arische“ Abstammung von Schaetz­ler zu überprüfen: Als
ehemaliger Offizier im Ersten Weltkrieg war er davon vorerst befreit gewesen. Die Generalintendanz setzte sich in
einem Schreiben vom 3.12.1934 verstärkt für Ranczak ein
und erklärte, ein mögliches ­Ausscheiden der Sängerin be-
deute einen „großen künstlerischen Verlust für die bayerische Staatsoper“ – mit Erfolg: Nicht nur Ranczaks Vertrag an der Münchner Oper, auch der von Fritz Schaetzler
an der Staatsoper Stuttgart wurde verlängert. Als 1942
noch immer kein „Ariernachweis“ zu Fritz Schaetzler
vorlag, erklärte die Reichskanzlei, dass Schaetzler per
­
Führerbeschluss mit „deutschblütigen Personen gleichzusetzen“ sei. Zu diesem Zeitpunkt war die Ehe bereits
­geschieden und Hildegarde Ranczak mit dem Major der
deutschen Luftwaffe Hans Travaglio verheiratet. Der
­Karriere von Ranczak konnten diese Vorgänge nichts anhaben. Zum Kreis ihrer Bewunderer ­gehörte auch Adolf
Hitler: Nach der Aida-Premiere 1937, in der Ranczak die
Titelrolle sang, ließ er ihr 100 rote Nelken und 1000
Reichsmark zukommen.
Franziska Eschenbach
Der freischaffende Komponist Norbert Schultze produzierte für das NS-Regime auch Kriegs- und Hetzlieder;
sein wohl bekanntestes Stück wurde der Schlager Lili
Marleen von 1938. Zur Frage, ob seine bis dato noch
nicht aufgeführte Märchenoper Schwarzer Peter an der
Bayerischen Staatsoper gespielt werden solle, hatte die
Intendanz eine so genannte „Dramaturgische Kommission“ eingesetzt, bestehend aus dem Oberspielleiter Kurt
Barré, den Dirigenten Meinhard von Zallinger und Josef
Kugler sowie dem Dramaturgen M. H. Fischer. Die Kommission votierte einstimmig ablehnend; in seinem ergänzenden „Dramaturgischen Bericht“ attestierte Fischer
dem Werk gar „ … künstlerische[n] Infantilismus, der aus
dem Mangel an Gestaltung und Können eine Tugend machen möchte …“ Zudem bemängelte er, dass das Libretto
„auf sehr schwachen Füssen“ stehe und konstatierte:
„Primitivität des Inhalts gibt keinen Freibrief für Primi-
tivität der künstlerischen Form.“ Trotzdem wurde
Schwarzer Peter in den Spielplan der Staatsoper 1937/38
aufgenommen. Was letztlich zu dieser Entscheidung
führte, lässt sich den in München vorhandenen Akten
nicht entnehmen. Zwei Umstände sind dabei jedoch nicht
zu übersehen: Die „Vertriebsstelle und Verlag der Deutschen Bühnenschriftsteller und Bühnenkomponisten“,
die in der Struktur des NS-Staates quasi amtliche Funktion einnahm, hatte nachdrücklich eine Aufführung in
München gefordert. Auch stand der Komponist Schultze
als Lieferant von Kriegs- und Hetzliedern und als späteres NSDAP-Mitglied dem Regime nahe. Offen bleibt, ob
die Entscheidung zur Aufnahme in den Spielplan auf vorauseilendem Gehorsam beruhte oder auf direkter politischer Einflussnahme.
Klaus von Lindeiner
74
Kompetenzgewirr
„Eine Anordnung des Führers“
75
Schreiben des Intendan­
ten der Staatstheater
Nürnberg Johannes
­Maurach an den Münch­
ner Generalintendanten
der Bayerischen
­Staatstheater Oskar
­Walleck vom 30.7.1936.
Auszug eines Schreibens
von Generalintendant
Oskar Walleck an den
bayerischen
Innenminister und
Münchner Gauleiter
Adolf Wagner vom
14.6.1937.
Quelle: Bayerisches
Hauptstaatsarchiv,
­Bestand: Intendanz der
Bayerischen Staatsoper:
Personalakten, Akt Nr.
176 (Georg Hann).
Quelle: Bayerisches
Hauptstaatsarchiv,
Intendanz Bayerische
Staatsoper Personalakten
518, Bd. I:
Die Einladung von Georg Hann, Bass und prominentes
Ensemblemitglied der Bayerischen Staatsoper, zur
­Meistersinger-Vorstellung im Rahmen des Reichsparteitages 1936 erfolgte durch die Intendanz der Staatstheater
Nürnberg. Die Theaterleitung wandte sich allerdings direkt an Hann, ohne die Bayerische Staatsoper zu verständigen. Nachdem der Münchner Generalintendant
Oskar Walleck davon Kenntnis erhielt, rügte er das Vorgehen in einem scharfen Brief: „Es ist unmissverständlich, dass Sie die Leitung der Münchener Staatsoper
übergehen wollen, da Sie auch die Anwesenheit auf Proben nach Fühlungnahme mit einem Dirigenten Krauss
geregelt sehen wollen. Für Aufklärung Ihrer mir nach
bisheriger Stellungnahme unverständlichen Haltung
wäre ich Ihnen dankbar.“ Johannes Maurach, Intendant
in Nürnberg, betonte in obenstehender Antwort mehrfach den direkten Auftrag Hitlers zu Georg Hanns Verpflichtung – und Walleck mäßigte sofort seinen Ton. Das
Zitat belegt einen konkreten Eingriff Adolf Hitlers in
den Theaterbetrieb. Während die Bayerische Staatsoper
viele Gastspieleinladungen an Hann aus „Betriebsgründen“ abgelehnt hatte, war dies bei parteinahen Veranstaltungen nie der Fall. Hann setzte seine prominente
Position offenbar selbstbewusst ein: Als er später um
eine Freistellung bat, um vor der Meistersinger-Vorstellung als „Ehrengast des Führers“ an den Festlichkeiten
des Parteitags teilnehmen zu können, wurde diesem Antrag ebenfalls stattgegeben.
Peter Behýl
Dieser Brief des Generalintendanten Oskar Walleck
­bezieht sich auf den Abschluss eines über zehn Jahre laufenden Dienstvertrags mit dem Bühnenbildner Ludwig
Sievert im Jahr 1937. Der damalige bayerische Innenminister und Gauleiter von München-Oberbayern war Adolf
Wagner, der als Chef der Aufsichtsbehörde die Verträge
der Staatsoper zu genehmigen hatte. Walleck war von
Wagner so informiert, dass ein 10-Jahres-Vertrag mit Sievert nicht in Frage käme. Nun sollte Walleck aber auf
Wunsch von Generalmusikdirektor Clemens Krauss einen solchen unterzeichnen und verfasste daraufhin obiges
Schreiben an Wagner. Auffällig sind die angeführten
„Krauß-Gelder“, sonst nie erwähnte Finanzmittel, sowie
der indirekte Verweis auf die Pläne zum Bau eines neuen
Opernhauses („die mit dem Münchner Theaterleben zusammenhängenden Pläne“). Es ist wahrscheinlich, dass
sich Wagner als Vorgesetzter von Clemens Krauss und
Oskar Walleck widersprüchlich gegenüber beiden zur
Verpflichtung Sieverts äußerte – möglicherweise gezielt.
Denn im Akt ist auch ein Treffen von Wagner mit Sievert
und Krauss, aber ohne Walleck, vor der Vertragsausarbeitung dokumentiert. Obwohl das tatsächliche Verhalten
und die Motivation des Gauleiters unklar bleiben, treten
die politische Einflussnahme bei personellen Entscheidungsvorgängen an der Staatsoper und das gespannte
Verhältnis von Krauss und Walleck deutlich zutage.
Simon Gröger
76
Die Personalie Barré
SEIT 1954
Aus einem Schreiben
von Clemens Freiherr
von Franckenstein
­(Generalintendant der
Bayerischen Staats­
theater i. R.) an Arthur
Bauckner (Operndirek­
tor der Bayerischen
­Staatstheater i. R.) vom
14.8.1941.
MAßGEFERTIGTE
KLEIDUNG
AUS DEUTSCHLAND
Quelle: Bayerische
Staatsbibliothek
(Handschriftensammlung), Nachlass Arthur
Bauckner.
„Lieber Doctor, eben lese ich, dass dieser
Schweinsbarré Intendant in Danzig geworden ist!
So was kann einen ärgern. Hätte diesem
Hallunken einen langsamen Hungertod gegönnt.“
1934 fanden im Zuge der ideologischen Gleichschaltung
in den Bayerischen Staatstheatern größere personelle
Umstrukturierungen statt. Fast jeder Angestellte in leitender Funktion wurde ersetzt. Eine Ausnahme bildete
Kurt Borchardt, genannt Barré, der von 1928 bis 1938
Oberspielleiter der Bayerischen Staatsoper war und in
den Anfangsjahren intensiv von Generalintendant Franckenstein gefördert wurde. Barré durfte bleiben, obwohl
eine Intrige ihn beinahe zu Fall gebracht hätte: Im Februar 1934 druckte der Völkische Beobachter einen Verriss der Faschingsoperette Das verwünschte Schloß. Der
gekränkte Librettist Gustav Quedenfeldt verbreitete
daraufhin das Gerücht, Barré habe die schlechte Kritik
eingefädelt. Wenig später wandte sich der prominente
Musikschriftsteller Dr. Willy Krienitz mit einem Schreiben an die Generalintendanz, worin er Barré als „bösen
Geist“ bezeichnete und ihn beschuldigte, Teil eines Komplotts gegen die Opernleitung sowie Anhänger der
atonalen Musik zu sein. Barré, dem es gelang, sich zu
­
verteidigen und die Unterstellungen zu entlarven, spielte
in dieser turbulenten Phase offensichtlich nicht nur eine
Opferrolle. Max Reinhard, Direktor des Kulturamts der
Stadt München, notierte: „Barré [hat] in der Zeit des
Umbau [sic] [...], große Verdienste bei der Neuordnung
der Verheltnisse [sic] erwiesen.“ Das erklärt auch die
harschen Worte Franckensteins: Barré – früher noch
Franckensteins Protegé – hatte unmittelbar nach 1933
sämtliche avantgardistischen Ambitionen aufgegeben
und war NSDAP-, bald auch SA-Mitglied geworden.
­Offenbar konnte er sich so seine Position sichern und
genoss auch in späteren Streitfällen das Wohlwollen
wichtiger Parteifunktionäre. Franckenstein hingegen
wurde 1934 trotz seines Vertrages auf Lebenszeit in den
dauerhaften Ruhestand versetzt. Erst als 1937 Clemens
Krauss Opernintendant wurde und einen neuen
­Oberspielleiter mitbrachte, bröckelte Barrés Stellung.
Nach seinem Ausscheiden 1938 setzten sich wichtige
NSDAP-Funktionäre für ihn ein und sicherten ihm
auch künftig neue Engagements – wie 1941 die Intendanz in Danzig.
Philip C. Montasser
Die Verfasser der Texte sind Master-Studierende des Instituts für Theaterwissenschaft der LudwigMaximilians-­Universität München. Die Texte ­entstanden in einer Projektübung mit Archivarbeit im
Rahmen des ­Forschungsprojektes zur Geschichte der Bayerischen Staatsoper 1933 – 1963 unter der
­Leitung von Rasmus ­Cromme, Dominik Frank und Katrin Frühinsfeld. Scans und ­Reproduktionen
­wurden ermöglicht durch das Praxisbüro des Departments Kunstwissenschaften.
München - Maximiliansplatz 17
Mo.-Fr.
10.00 - 18.30 Uhr
Sa. 10.00 - 16.00 Uhr
Telefon (0 89) 230 76 533
oder nach Terminvereinbarung
Die Datenbank
Wir vermessen uns mit Apps. Wir geben uns preis mit Likes.
­Gleichzeitig füttern wir damit r­ iesige Datenspeicher. ­Verändern wir uns
dadurch? Seit wann s­ ammeln Menschen Daten? Mit ihren Fragen
­wandte sich die Schriftstellerin Anna Kim an die Harvard-­Historikerin
Rebecca Lemov.
78
der Träume
Ich gestehe: Ich habe ein Problem mit Apps, die mir sagen, wie ich leben
soll. Nicht, weil ich mir das nicht sagen lassen will. Sie haben meistens
nur eine andere Vorstellung vom Leben.
Nehmen wir zum Beispiel die Lese-App. Sie misst meine Lesegeschwindigkeit und sagt mir voraus, wie viele Stunden ich noch mit diesem
Buch verbringen werde. Das Lesen wird zu einem Wettlauf. Ich beginne,
für das Programm zu lesen statt für mich. Ich verzichte auf das Wiederlesen, das Verweilen bei Absätzen und Sätzen, der Inhalt wird zweitrangig;
ein anderes Ziel, ein vollkommen unerwartetes, hat sich zwischen mich
und das Buch gedrängt. Für die Lese-App ist nur das Zählen wichtig.
Mein Verhalten verändert sich, weil ich weiß, dass ich beobachtet
werde. Die App interessiert sich aber nicht nur für meine Lesegeschwindigkeit, sie sammelt auch die Daten vieler anderer Leser. Wir speisen damit einen riesigen Datenpool – nicht nur eine, sondern unendlich viele
Datenbanken. Dabei ist die Belohnung, die ich mir von diesem Verhalten
erwarten darf, stets eine Verbesserung, beispielsweise ein Boost meiner
Belesenheit durch die Lese-App oder ein Zulegen meiner Muskelkraft
durch eine Fitness-App. Seit ich nämlich entdeckt habe, dass sich – bereits vorinstalliert – auf meinem Handy ein Schrittzähler befindet, schaue
ich ständig nach, wie viele Schritte ich schon gegangen bin. Ich könnte
aber nicht sagen, dass ich wegen des Programms mehr Schritte mache.
Stattdessen fühle ich mich schuldig, wenn ich viel weniger gemacht habe.
Hier denke ich an den Begriff „human resources“, der im­­
­Englischen die Personalabteilung in Unternehmen bezeichnet und auch
hierzulande immer häufiger dafür verwendet wird. Wörtlich übersetzt
heißt es jedoch „menschliche Ressourcen“. Wenn man daran denkt, wie
wir unseren Alltag, unsere Gewohnheiten, aber auch Gedanken, Pläne
und Wünsche durch Apps, Online-Einkäufe oder auf sozialen Medien
wie Facebook als Daten zur Verfügung stellen, drängt sich die Frage auf:
Werden wir immer mehr zu menschlichen Ressourcen? Ich maile sie der
Historikerin Rebecca Lemov, die an der Harvard University Wissenschaftsgeschichte lehrt und sich mit der Geschichte des Sammelns von
Big Data beschäftigt.
Text und Interview Anna Kim
79
Anna Kim Frau Professor Lemov, werden wir immer mehr
zu „human recources“, zu menschlichen Ressourcen?
REBECCA LEMOV „Human resources“ bedeutet einerseits tatsächlich „Personal“. Man kann den Begriff aber auch weiter
fassen, dann bekommt er eine finstere Bedeutung, nämlich das
Beschlagnahmen des Menschen als Material, das der Wirtschaft, dem Militär, der Regierung und anderen mächtigen Regimes zur Hand geht. Auf diese Art werden Menschen zu Ressourcen, die gemanagt, manipuliert und ausgelagert werden
können. Dies wird nur intensiver werden mit den Diskontinuitäten, die von der digitalen Welt ausgehen, und wenn sich Big
Data, also sehr große Mengen von Datensätzen, mit immer neuen menschlichen Ressourcen verbinden. Was Facebook betrifft, so glaube ich, dass es uns all die Experimente, in die wir
bereits verstrickt sind, nur vorführt. Wahrscheinlich beschleunigt es auch diesen Prozess. Nehmen Sie zum Beispiel das
Face­book-Experiment von 2013, als Mark Zuckerbergs Firma
für eine Studie die Einträge im Nachrichtenstrom von einigen
hunderttausend Nutzern filterte und manipulierte. So wollte er
herausfinden, wie sich positive und negative Emotionen in
Netzwerken ausbreiten. Als dies herauskam, gab es einen großen Aufschrei in der Öffentlichkeit. Ich war erstaunt, dass die
Leute überrascht davon waren, dass vertrauliche Daten gesammelt und algorithmisch manipuliert worden waren. Damals wurde nur sichtbar, was schon die ganze Zeit über praktiziert wurde und wird.
AK Um das Sammeln von intimen Daten geht es auch in Ihrem neuen Buch Database of Dreams: The Lost Quest to Catalog Humanity. Darin schildern Sie die Geschichte einer
Wissenschaftsbewegung in den USA, die zwischen 1947 und
1961 versuchte, eine Datenbank der Träume zu erstellen.
Zwei Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs brach ein
großes amerikanisches Forschungsteam nach Mikronesien
auf, um die Bevölkerung und deren Lebensgewohnheiten zu
studieren. Das Team bestand unter anderem aus Ethnologen,
Psychologen und Sprachwissenschaftlern. Die Insulaner
wurden gebeten, an einer Reihe von Tests mitzuwirken, zum
Beispiel an Rorschachtests. So meinten die Forscher an
„Die Idee, Daten zu speichern, existierte bereits vor der entsprechenden
Technologie.“ – Rebecca Lemov
­ aten zu ­gelangen, die bis dahin nicht in gemessener Form
D
existierten: an Träume, Lebensgeschichten, Ängste und
­Ge­danken. Auf diese Weise gelangten sie an rund 100.000
Seiten Datenmaterial.
RLDie Bewohner wurden nicht nur gebeten, an einer Reihe von
Tests mitzuwirken. Die Wissenschaftler haben auch versucht,
ohne Umwege zu sammeln. Sie wollten die Daten direkt aus
dem Unbewussten pflücken. Dazu haben sie Techniken verwendet, die durch jahrzehntelange Feldforschung methodologisch verbessert und an die jeweilige Situation angepasst wurden. Das Sammeln begann schon im 19. Jahrhundert; zunächst
mit konkreten Kulturgegenständen wie zum Beispiel Körben.
Im 20. Jahrhundert wandte man sich abstrakteren Dingen zu,
wie Mustern oder Ritualen. In den 1930er Jahren nahm man
dann Träume und Tagträume ins Visier. Die Wissenschaft damals war an den alltäglichen Gedanken interessiert, die noch
niemand vorher sammeln wollte. Gemeinsam mit den ausgewerteten Tests sollten sie das Innenleben des Träumers oder Erzählers vollständig abbilden.
AK Aber wie verwandelt man etwas so Abstraktes und Persönliches wie einen Traum in Daten?
RLBei den Forschern des letzten Jahrhunderts lief es häufig
folgendermaßen ab: Sie baten die Menschen, ihnen ihre Träume zu erzählen, schrieben sie auf und sammelten sie in Papierform. Schließlich publizierten sie sie als sogenannte
Microcards. Das war eine Technologie, die in den 1950er Jahren als Konkurrenz zur Mikrofiche-Technologie aufkam, aber
nicht weiterentwickelt wurde. Die Microcards sollten auf der
ganzen Welt in einem primitiven Microcard-Netzwerk zur Verfügung stehen. Manchmal bezahlten die Wissenschaftler ihre
Studienobjekte auch für die Niederschrift ihrer Träume. Manche Anthropologen waren sogar bekannt dafür, jeden Morgen
wie der Milchmann eine Runde im Dorf zu drehen. Zu Freuds
Zeit und in seiner Nachfolge waren Träume ein wertvolles Gut.
Ironischerweise waren es ausschließlich die amerikanischen
Indianer, die ihre Träume aufschreiben konnten, da sie gewöhnlich gegen den Wunsch der Familie dazu gezwungen worden
waren, englische Sprachkenntnisse zu erwerben und ihre ursprüngliche Lebensweise aufzugeben. Von diesen Träumen
sagte man nachher, sie seien Zeugnisse für eine nicht weiße,
nicht westliche, ursprüngliche Lebensweise und Denkart.
Das Lesen wird zu einem Wettlauf. Ich beginne, für das Programm ­
zu lesen statt für mich. Ich verzichte auf das Wiederlesen, das Verweilen
bei Absätzen und Sätzen, der Inhalt wird zweitrangig.
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AK Etwa zur gleichen Zeit, nämlich ab 1957, führte ein gewisser Dr. Ewen Cameron am Allan Memorial Institute in Kanada Gehirnwäsche-Experimente an mehr als 100 seiner Patienten durch, die glaubten, sie würden von ihrer psychischen
Bilder Jon Rafman
Krankheit, zumeist Schizophrenie oder Depression, geheilt.
Sie hatten keine Ahnung, dass sie an Experimenten teilnahmen, in denen es darum ging, ihr Selbst mittels Elektroschocks und totalem Reizentzug zu zerstören, um es anschließend wieder aufzubauen. In Camerons Vorstellung war
der Mensch ein Datenträger, eine Festplatte, die man nach
Belieben löschen und wieder beschreiben konnte. Ein Vorgang, der seiner Meinung nach billiger und zeitsparender
war als eine Psychotherapie. Er war nicht an den vorhandenen Daten interessiert, sondern an der Reprogrammierung
der Hardware. Im Gegensatz dazu erklärten die in Mikronesien tätigen Wissenschaftler, die Testpersonen würden ihr
Innerstes preisgeben, ohne es zu bemerken. Instrumentalisiert wurden jedoch Camerons Patienten genauso wie die
Mikronesier. Woher kam dieses Interesse daran, den menschlichen Geist gefangen zu nehmen, zu entführen?
RLDer Wunsch, menschliche Gehirne zu, wie Sie sagen, entführen – einerseits die Gehirne von verletzlichen, da kranken,
andererseits die von verletzlichen, da geopolitisch fernen Menschen – hat seine Wurzeln im modernen und wissenschaftlichen Drang, sich einem Verständnis von Leben auf möglichst
objektive Weise zu nähern. Das äußerte sich zum einen in der
Bemühung, einen Blick von außen anzunehmen, und zum anderen darin, das Objekt der Wissbegierde zu analysieren und
zu erobern, indem es so lange zerlegt und die Einzelteile isoliert wurden, bis man sie verstanden hatte. „Instrumentale Vernunft“ ist das Banner, das modernen wissenschaftlichen Fortschritt leitet. Es impliziert, etwas so gut zu verstehen, dass man
es auch verändern kann. Bei beiden Projekten ging es genau
darum: zu verstehen, um zu verändern. Cameron war ein Arzt,
der für die Heilung von Schizophrenie den Nobelpreis gewinnen wollte. Er wollte, wenn auch auf e
­ iner abstrakteren Ebene,
das Leiden der Menschheit reduzieren. Die Anthropologen,
Psychologen und Soziologen d
­ agegen verwendeten zum sogenannten Wohl der Menschheit Individuen als Materialien, indem sie die Grundlagen menschlicher Kultur etwa über ihre
existierenden Variationen zu verstehen suchten.
AK Ein Sammler sammelt ja selten für eine beschränkte Zeit.
Wenn es die neue Microcard-Technologie nicht gegeben hätte, also die Möglichkeit, abertausend Seiten auf winzigem
Format abzufotografieren und zu speichern, wäre das Projekt
einer „Datenbank der Träume“ überhaupt durchführbar
gewesen?
RLDie „Datenbank der Träume“ wurde für die Ewigkeit angelegt, und das Microcard-Format erschien als eine vielversprechende Plattform, obwohl es sich als eine äußerst vergängliche
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AK Ich finde die Parallelen zur heutigen Zeit absolut erstaunlich: Wie die Wissenschaftler damals haben wir heute die
technischen Möglichkeiten und Mittel, eine ungeheure Menge an sogar intimen Daten zu sammeln und diese so lange
zu behalten, wie wir wollen – und diese Möglichkeiten sind
immens gestiegen. Amazon etwa sammelt nicht nur Daten
zum Kauf- und Leseverhalten seiner Kunden, sondern auch
zum Arbeitsverhalten der Angestellten, angeblich, um deren
Arbeitsleistung zu steigern. Ich bin sicher, das machen auch
noch andere.
RLJa, ich fand die Parallelen auch auffällig und vor allem bedeutsam. Es heißt oft, dass solche Entwicklungen von der Ankunft des digitalen Zeitalters abhängig wären. Das Computerzeitalter wird als eine wichtige Schwelle begriffen, im Fall der
„Datenbank der Träume“ jedoch war es ein analoges Gerät, das
noch dazu nach der Idee des Sammelns entwickelt wurde. Dies
zeigt, dass solche Schwellen nicht unbedingt vom technologischen Fortschritt bestimmt werden.
auch mutig finde ist, dass er genau beschreibt, wie all diese
Verbindungen, die 700 Sensoren und die Unzahl an Plattformen, auf denen er registriert ist, in ihm buchstäblich eine Bewusstseins-Krise ausgelöst haben: Er war von so viel Information umgeben, dass er Panikattacken bekam. Also begann er
zu meditieren, um sich selbst und die Grenzen seines Selbst
besser einschätzen zu können. Aufschlussreich ist jedoch
nicht, dass er eine Krise und Panikattacken bekam und schließlich über buddhistische Meditationen zu sich selbst zurückfand, sondern dass man an ihm sehen kann, dass bereits das
Wissen über sich selbst in Form von Daten das Selbst beeinflussen bzw. verändern kann.
AK Man kann also mit dem Sammeln von Daten in den Menschen eindringen, ihn erobern?
RLKann man das? Das ist eine wirklich wichtige Frage. Ich denke, es hängt davon ab, wie man Erobern definiert. Wenn man an
viele kleine Eroberungen denkt, die sich mit der Zeit addieren,
dann, glaube ich, ist es sehr wohl möglich, eine Person zu erobern. Durch virtuelle Stupser, Links, Likes, Programme, die die
Reaktionen der User messen, speichern und wieder ins System
einspeisen, ist es möglich, das „algorithmische Selbst“ für die
Entscheidungen und Winkelzüge der Technologie, in die es
eingebettet ist, empfänglich zu machen. Ja, eigentlich glaube
ich, dass sich bereits eine Art Eroberung vollzogen hat. Mehr über Anna Kim auf S. 8
AK Interessant ist in dem Zusammenhang auch, dass das
Sammeln immer mit Überwachen Hand in Hand zu gehen
scheint. Inwiefern geht es uns heute noch um den Versuch,
den Menschen, also uns zu verstehen?
Photo Jens mauritz
herausstellte. Ich nenne das in meinem Buch das „Pathos des
vergänglichen Formats“, und wir erleben es alle heute, wenn
wir alte Disketten oder andere tote Medien benutzen wollen,
aber nicht können. Interessant ist allerdings, dass es das Datenbank-Projekt bereits gab, bevor das Microcard-Format als
Lösung auftauchte. Die Idee, Daten zu speichern, sodass künftige Forscher diese erneut untersuchen könnten, existierte bereits vor der Technologie, die schließlich zusammengebastelt
wurde, um „für die Zukunft“ zu speichern.
RLDie Gründe für das Datensammeln sind so verschieden wie
die Menschen, die sie sammeln, denke ich. Aber vielleicht kann
man sie in zwei große Gruppen einteilen: die, die aus Neugier,
und die, die aus Angst sammeln.
AK Angst: Das ist ein gutes Stichwort. Angst vor Krankheiten, letztlich Tod? Gesundheits-Apps sollen uns ja Erleichterung und Sicherheit verschaffen, das Gefühl, das Sterben
verschieben zu können. Ein extremes Beispiel in der Kategorie „bewusster leben“ ist der Amerikaner Chris Dancy. Er
trägt täglich an die 700 Sensoren am Körper, die alles, was
er tut, messen und aufzeichnen. Er behauptet, dadurch besser, gesünder und bewusster zu leben. Aber was kann ich eigentlich über mich erfahren, wenn ich mein Leben derart vermesse?
RLIch finde sein Konzept der „gemessenen Selbst-Losigkeit“
sehr spannend. Es geht ihm nicht nur darum, der „am meisten
vermessene Mensch der Welt“ oder der „Versace des Silicon
Valley“ zu sein, wie er bezeichnet wird. Was ich interessant und
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Rebecca Lemov ist Professorin für Wissenschaftsgeschichte an der ­Harvard University.
In ihrem Buch Database of Dreams: The Lost
Quest to Catalog Humanity, das im November
2015 ­erscheint, beschäftigt sie sich mit der
Entstehung von Big Data in der experimen­
tellen Forschung vor dem digitalen Z
­ eitalter.
Sie war zwei Jahre Gastwissenschaftlerin am
Berliner Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte.
Die Bilder sind Stills aus Jon Rafmans
­Videoarbeit A Man Digging, 2013.
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Voller vorFreude
„A conductor is like a policeman inside a dream.“ – Omer Meir ­Wellber
Omer Meir Wellber
Der israelische Dirigent Omer Meir Wellber ist von Boitos
­Mefistofele fest überzeugt: „Das Werk ist viel, viel stärker als
jene bekannteren Faust-Opern von Gounod, Berlioz oder von
Busoni. Es ist für mich die komprimierteste Form des
Faust-Dramas“, erklärt er temperamentvoll und ergänzt:
­„Boito war ja eine Art Leonardo da Vinci, ein Universalgenie.
Er war Architekt, er zeichnete, hat Bücher geschrieben und
natürlich die Libretti für mehrere Verdi-Opern verfasst. Aber
selbst hat Boito nur zwei Opern komponiert.“ Und Wellbers
Erklärung, warum er von Boitos Werk so überzeugt ist, verblüfft: „Boitos Mefistofele ist nicht so perfekt wie jener Faust
von Gounod. Und er ist auch nicht so schön wie der Faust von
Berlioz.“ Mehr als Perfektion und Schönheit fasziniert den
Dirigenten nämlich die unkonventionelle und experimentelle
Weise, in der sich der Komponist dem Bösewicht Mephisto
nähert. Das sagt nicht nur einiges über Boitos Mefistofele­Partitur, sondern noch viel mehr über Omer Meir Wellber
selbst und seinen Anspruch an Kunst und Musik.
Der erst 34-jährige Wellber sieht, denkt und lebt über
Partiturseiten hinaus. Seine Karriere verlief bisher so schnell,
dass sie einem dann doch das strapazierte Wort „atemberaubend“ abnötigt. In Be’er Scheva wird Wellber 1981 geboren.
Die viertgrößte Stadt Israels liegt am Rande der Wüste Negev
und ist Schmelztiegel vieler Biografien: Beduinen, Araber,
Israelis treffen hier aufeinander. Bis heute verbindet ihn
durch seine Dirigate bei der New Israeli Opera Tel Aviv und
als Musikdirektor bei der Raanana Symphonette viel mit seiner Heimat. Mit fünf Jahren lernt Omer Meir Akkordeon, Klavier und Violine; hier in seiner Heimatstadt besucht er zunächst das Konservatorium, danach wechselt er an die
­Jerusalem Music Academy. Eine strenge rumänischstämmige
„Maestra“ lässt am Konservatorium die Studenten ganze
Symphonien abschreiben. Was manche als stumpfsinnig
84
empfinden, öffnet Omer Meir Wellber die Werke und eine unglaubliche Fähigkeit zu lernen; noch heute kann er die komplette Waldsteinsonate auswendig niederschreiben. Kein
Zweifel, der junge Mann ist vom Lernen besessen. Heute hat
Wellber fast 50 Opern im Repertoire. „Ich kann sehr schnell
lernen. Inzwischen zwinge ich mich geradezu, Neues langsam zu lernen“, sagt er über sich selbst. Und doch mache das
Lernen neuer Symphonien und Opern nur die Hälfte seiner
Studien aus. „Mich interessiert vor allem das Drumherum eines Werks. Ich lese zum Beispiel einen Berg von Büchern
über Boito. Ich will absolut alles erfahren über den Komponisten, über die Zeit in der er lebte, über die Geschichte und
die Umstände, in denen ein Werk entstand.“ Dieses faustische Graben und Suchen und dieses musikalische Talent
blieben einem Mann nicht verborgen, der Wellbers Mentor
werden sollte: Daniel Barenboim. „Ich habe alle Positionen
eines jungen Dirigenten durchlaufen: Assistiert, korrepetiert,
ich bin eingesprungen und hatte so bereits mit 21 Jahren
eine enorme musikalische Erfahrung.“ Fast selbstverständlich, dass der ehemalige Assistent von Barenboim heute als
einer der besten und talentiertesten Dirigenten seiner Generation gilt.
Er gastiert regelmäßig an der Semperoper in Dresden,
wo er einen beeindruckenden Erfolg mit Richard Strauss‘
­Daphne feierte und wo er von 2014 bis 2016 einen neuen
­Mozart-Da Ponte-Zyklus dirigiert, unter anderem Cosi fan
­tutte und Don Giovanni in Inszenierungen von Andreas
­Kriegenburg. Er war seit 2011 drei Jahre lang als Nachfolger
von Lorin ­Maazel Musikdirektor am Palau de les Arts Reina
Sofía in V
­ alencia. Sein Debüt beim Glyndebourne Festival
2014 führte zu einer sofortigen Wiedereinladung beim
­London Philharmonic­­Orchestra. Und auch an der Münchner
Oper konnte ihn das Publikum bereits erleben. Ein Erlebnis
war das von ihm geleitete Akademiekonzert im Februar 2015.
Omer Meir ­Wellber ­dirigierte da die sechste Symphonie von
Premieren Mefistofele, Der feurige Engel
Foto Tato Baeza
Forscherdrang und die Lust am Unbekannten treiben diese beiden
Dirigenten an: Omer Meir Wellber leitet in dieser Spielzeit
­Mefistofele von Arrigo Boito und Vladimir Jurowski die Oper
Der feurige Engel von Sergej Prokofjew – beides Münchner
­Erstaufführungen. Pascal Morché stellt die beiden Künstler vor.
„Perfektion bleibt ein Ziel am Horizont, aber diesen Horizont muss man
immer wieder von sich wegschieben. Man darf ihn niemals erreichen.“
– Vladimir Jurowski
Vladimir Jurowski
­ chostakowitsch. Die Antwort, warum er gerade dieses, eher
S
selten ­gespielte Stück aufs Programm setzte, ist knapp und
ziemlich typisch für ihn: „Ich habe diese Symphonie gewählt,
weil sie eben so selten gespielt wird. Was ich nicht kenne,
das ist wie frische Luft für mich.“ In der Erinnerung bleibt von
dieser „frischen Luft“ vor allem Wellbers Souveränität am
Pult, der berührende langsame Satz dieser Symphonie und
ein Dirigent, der in seiner tänzerischen Körpersprache und
in der Intensität seiner Gestik stark an jene Leonard
­Bernsteins erinnert.
„Ach, oh, ja: Bernstein!“, ein glücklicher, etwas
­sehnsüchtiger Seufzer entfährt denn auch dem schlanken
jungen Mann; schließlich nennt er tatsächlich zwei große Dirigenten-Legenden als seine Vorbilder: „Leonard Bernstein
und Jewgenij Mrawinskij.“ Emotional überbordend der eine,
rational genau der andere – beide Musikerpersönlichkeiten
scheinen sich wirklich in Wellbers Dirigaten wiederzufinden.
„Bernstein ist unglaublich wichtig für mich und es ist traurig,
dass ich ihn nie kennengelernt habe.“ Zufällig entdeckte er
aber ein Foto von „Lenny“ bei einem Auftritt in seiner Heimatstadt Be’er Scheva. Eine Trouvaille! Überhaupt ist der
Name Bernstein jenes Stichwort, das Wellber sofort dorthin
führt, wo Kunst und Musik ihre Aufgabe zu erfüllen haben: in
der Gesellschaft. „Es war eine so unglaubliche Menschlichkeit und große Humanität in allem, was er tat. Jedes Video,
jede CD beweist das: Es geht bei unserem ­Beruf ja gar nicht
nur um Musik. Es geht um viel, viel mehr.“ Und sein Anspruch
an Musik sprudelt aus dem jungen D
­ irigenten heraus. „Es
geht in der Musik nicht nur um Harmonie, Dynamik, Phrasierungen, Tempi, nicht darum, ob man etwas schnell oder langsam, laut oder leise spielt. Es geht immer nur einzig und allein
darum, warum man es tut.“ Was ist dann ein Dirigent? Wellber
antwortet dialektisch, esoterisch, poetisch auf Englisch:
„A conductor is like a p
­ oliceman inside a dream“.
Obwohl ihn bisher erst wenige Auftritte an die Münchner Oper führten, verehrt Omer Meir Wellber das Münchner
Opernhaus und sein Orchester sehr. Und dann gerät er plötzlich ins Schwärmen: „Bei einer Serie von Carmen-Vorstellungen, die ich im Nationaltheater leitete, dachte ich plötzlich:
Wahnsinn! Die Carlos Kleiber-Atmosphäre, die kann man hier
in München richtig fühlen. Man spürt, hier wurde der Tristan
uraufgeführt, hier dirigierte Kleiber!“ An diesem Haus wehe
ein ganz spezieller Geist: „Dass hier eine Probenbühne
­‚Bruno Walter-Saal‘ heißt, spricht sehr dafür.“
Der junge Dirigent, der von sich sagt „meine Karriere
geht schnell voran, ich hingegen langsam“, will zukünftig
mehr Symphonik dirigieren und weniger Opern. Gustav Mahlers Achte für Aufführungen im nächsten Jahr lerne er bereits. Im Jahr studiere er nun noch maximal drei Opern neu
ein. Ein Glück für Mefistofele, dass es in München auf einen
jungen ­Dirigenten trifft, der für Musik wahrhaftig brennt; ein
­Dirigent, der Neues will und wagt. Woher er die Zeit für das
Neue nehme? Omer Meir Wellber lacht: „Nun, ich schlafe
nicht sehr viel“.
Sergej Prokofjews Der feurige Engel und Arrigo Boitos Mefistofele haben durchaus Gemeinsamkeiten. In der Rahmenhandlung
und in den Motiven. Beide Opern spielen im Jahrhundert Fausts,
der Zeit, in der Aberglaube, kirchliche Dogmen und wissenschaftlicher Erkenntnisdrang den Menschen gleichermaßen
prägten. Und auch die Verlockungen zu Grenzüberschreitungen,
ins Terrain des Verborgenen, ähneln sich in beiden Stücken:
Faust ruft in seiner absoluten Wissensgier Mephisto auf den
Plan, so wie Renata die ekstatische Liebesbegegnung mit dem
Engel herbeisehnt. Noch überraschender sind allerdings die
ähnlichen Ansichten, die man zwischen den beiden Dirigenten
dieser zwei Neuproduktionen entdecken kann. Der russische Dirigent Vladimir Jurowski wird zwar in Journalistenpoesie schon
mal als „Niccolo Paganini des 21. Jahrhunderts“ bedichtet, er sei
von „geradezu dämonischer Aura, mit dunklen Augen und dunkler Mähne“. Nun ja. So verschieden in Figur, Aura und biografischer Prägung, so ähnlich sind die Dirigenten dieser Neuproduktionen in ihren Meinungen und Einstellungen zum heutigen
Opernbetrieb. „Ich lerne schnell und lasse mir doch Zeit beim
Lernen“, sagt auch Jurowski. Auch er hat „um die 50 Opern im
Repertoire“. Auch er nennt Neugierde seine Triebfeder. „Meine
Liebe gerade zu Werken, die aus bestimmten Gründen seltener
zu hören sind, ist enorm. Ich fühle mich da als ein Anwalt der
Musik.“ So gibt es kaum ein Stück von Prokofjew, das Jurowski
noch nicht dirigierte: „Ich habe 2005 in Paris Krieg und Frieden
dirigiert und mich dafür eingesetzt, dass 2006 in Glyndebourne
Die Verlobung im Kloster aufgeführt wurde und Semen Kotko im
November 2016 in Amsterdam konzertant aufgeführt wird. Die
anderen Opern wie Der Spieler und Maddalena habe ich mir für
die nächsten Jahre auch vorgenommen.“ Nur die einzig gängige
Oper von Prokofjew, Die Liebe zu den drei Orangen, hat er noch
nicht dirigiert und hat es auch fürs Erste nicht vor. Typisch:
­Jurowski ist niemand, der sich mit Altbekanntem anbiedert. Es
geht ihm um Herausforderung, und die anzunehmen erwartet er
auch vom Publikum: „Ich möchte, dass Menschen, die in ein Konzert oder in eine Opernaufführung gehen, nicht nur entspannen,
sondern auch emotional und intellektuell teilnehmen.“ Der
­feurige Engel ist kein Werk zum Entspannen; also ist es ein Werk
für Vladimir Jurowski, für diesen Mann, der 1972 in eine bekannte russische Musikerfamilie hineingeboren wurde. Sein Urgroßvater war schon Dirigent, der Großvater war Komponist, sein Vater
Michail Jurowski ebenfalls Dirigent. Zum engsten Freundeskreis
der Familie gehörten Musikerlegenden wie Schostakowitsch,
Ojstrach, Rostropowitsch, Kondraschin, Roschdestwenski und
viele andere. Schon in Moskau faszinierte ihn Der feurige Engel.
„Das Werk umgab ja wegen seiner sexuellen und mystischen
Konnotation immer eine gewisse Aura des Verbotenen“, erinnert
er sich heute an die späten 1980er Jahre in der damaligen
­Sowjetunion. Diese Oper jetzt in München endlich zu dirigieren,
sei für ihn „ein Glück, eine persönliche Premiere“. Vladimir
­Jurowski versucht, jede Verästelung eines neuen Werks zu
­ergründen. „Gewiss gibt es interessante Parallelen zur Roman-
Bildbearbeitung Alana Dee Haynes
87
vorlage des Feurigen Engels. Der Dichter Waleri Brjussow,
schrieb ja seinen Roman in einer Art Rachefeldzug als eine
­Parodie auf seine ehemalige Geliebte Nina Petrowskaja. Tatsächlich kam sie später in eine Anstalt mit einer schweren Nervenkrankheit und beging 1928, vereinsamt, verarmt und von ex­
zessivem Morphium- und Alkoholkonsum gezeichnet in Paris
Selbstmord, was Prokofjew übrigens mit Sicherheit nicht wusste, als er quasi zeitgleich das Schicksal der Renata komponierte“, erklärt Jurowski. „Der Komponist sah in seiner Hauptfigur
eine Person, die über eine Gabe verfügt, Dinge zu sehen und zu
hören, die vermeintlich ‚normale’ Menschen nicht wahrnehmen
können.“ Dass Prokofjew während der Arbeit an dieser Oper in
dem oberbayerischen Klosterort Ettal lebte, unterstütze die tiefenpsychologische Interpretation der Renata. Man merkt: Hier
geht jemand einem Werk auf den Grund.
Während Vladimir Jurowskis Studium am Musikkolleg
des Moskauer Konservatoriums – er ist gerade 18 Jahre alt – fällt
der eiserne Vorhang. Die Familie emigriert 1990 nach Deutschland. Vladimir besucht die Musikhochschulen in Dresden und
Berlin und beginnt mit 23 Jahren als Kapellmeister an der Komischen Oper in Berlin. „Das war die prägendste Zeit meines Lebens. Dort habe ich alles über meinen Beruf gelernt und verstanden. Diese Zeit nährt mich heute noch.“ Danach ging es schnell,
wieder einmal „atemberaubend“ schnell: 1996 Debüt am Royal
Opera House Covent Garden mit Nabucco; Jurowski ist da 24
Jahre alt. 1999 debütiert er an der New Yorker MET. Dann ist er
13 Jahre lang Musikdirektor in Glyndebourne. Seit 2007 ist Jurowski nun Chefdirigent des London Philharmonic Orchestra.
Die „big five“ Orchester der USA leitet er ebenso wie das
­Concertgebouw Orchestra oder die Berliner und Wiener
­Philharmoniker. In München dirigierte er zwar die Münchner
Philharmoniker und das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, nicht aber in der Oper. Höchste Zeit also,
dass dieser Mann ans Pult der Staatsoper tritt. „Besonders
freue ich mich, wieder mit dem Regisseur Barrie Kosky
­zusammenzuarbeiten. Wir sind ein Team und haben an der
Komischen Oper gemeinsam Moses und Aron produziert. Eine
wunderbare, intensive Arbeit“, erinnert sich Jurowski, „Nur
zum Schlafen verließen wir den P
­ robensaal.“
Berlin ist Vladimir Jurowskis Heimat geworden. Hier
lebt er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern. „Unsere
Tochter ist 19 und hat gerade Abitur gemacht.“ Obwohl sie davon träume, Theaterschauspielerin zu werden, habe sie sich
erstmal an der Uni beworben, um etwas „Anständiges“ wie
englische P
­ hilologie und Geschichte zu studieren. „Unser
sechsjähriger Sohn überlegt noch: Feuerwehrmann, Gärtner
oder Schlagzeuger.“ So international der dirigierende Vater inzwischen unterwegs ist, so meidet er doch entschieden die
sozialen Netzwerke der heutigen Kommunikationswelt. „Eine
vampirartige Angelegenheit“ nennt er zum Beispiel Facebook.
„Der Lebenssaft wird einem vom Internet schnell abgezapft“.
Als Schlüssel zu seinem Erfolg nennt Jurowski „die ständige
Unzufriedenheit mit sich selbst“. Er strebe immer die Perfektion an, dabei sehr genau wissend, dass es Perfektion nicht
88
gibt. „Sie bleibt ein Ziel am Horizont, aber diesen Horizont
muss man immer wieder von sich wegschieben. Man darf ihn
niemals erreichen.“ So sucht Vladimir Jurowski immer Neues,
Zeitgenössisches und bezeichnet sich dabei selbst auch als
„Geburtshelfer“ neuer oder unbekannter, buchstäblich unerhörter Werke. Es sei für ihn „innerstes Bedürfnis, unbekannte
Werke zu entdecken und ihre Schönheit und Aktualität den
Menschen zu zeigen.“ Denn schließlich sei „es ja ganz wunderbar, immer wieder zu La traviata, La bohème und Die
­Zauberflöte zurückzukommen. Aber wir Musiker wären doch
völlig verarmt, nur Museumsarbeit zu leisten. Oper ist kein
­Museum!“ Vehement zeigt der Dirigent seine Ablehnung über
Musik und Oper als kulinarische, gesellschaftliche Ober­
flächenpolitur: „Ich spreche deshalb auch unbedingt immer
von Musiktheater und nicht von Oper. Um lebendig zu bleiben, muss sich diese Kunstform immer wieder neu erfinden
und ­definieren.“ Wenn jemand so ehrlich für sein Metier einsteht, dann kann man ihm glauben, dass er auch Prokofjews
selten gehörte Partitur Der feurige Engel so vorstellt, dass
sie uns betrifft. 4 0 J A H R E N U B E RT
„In dieser Klasse ist
die nuVero die Königin
der Kompaktboxen“
Stereoplay 8/15
Pascal Morché lebt als Journalist und Texter in München. Im ­Jubiläumsjahr
2013 veröffentlichte er das Kalender-Buch 50 Jahre ­Nationaltheater München.
Omer Meir Wellber, geboren in Israel, studierte an der Musikakademie
in Jerusalem. In den vergangenen
Jahren debütierte er u.a. beim
­Gewandhausorchester Leipzig, dem
Orchestra Sinfonica della RAI
­Turino, dem Israel Philharmonic
­Orchestra, dem Pittsburgh Symphony Orchestra und dem London
­Philharmonic Orchestra, das er u.a.
beim Glyndebourne Festival leitete.
Außerdem ist er regelmäßiger Gastdirigent an der Semperoper Dresden, am Teatro La Fenice in Venedig
und an der Israeli Opera in Tel Aviv.
Von 2010 bis 2014 war er Music
­Director am Palau de les Arts Reina
Sofia in Valencia. Seit 2009 ist er
Musikdirektor des Raanana
­Symphonette Orchestra. An der
Bayerischen Staatsoper übernahm
er bisher Dirigate bei La traviata,
Carmen und beim 4. Akademie­
konzert 2014/15. In der aktuellen
Saison leitet Wellber hier die
Neuproduktion von Mefistofele.
Vladimir Jurowski, geboren in
­Moskau, begann seine musika­lische
Ausbildung am Staatlichen Moskauer P.-I.-Tschaikowski-­Konservatorium
und setzte sie an den Musikhochschulen in Berlin und Dresden fort.
Er war musikalischer Leiter des
­Glyndebourne F
­ estivals. Seit 2007
ist er Chef­dirigent des London­Philharmonic Orchestra. Außerdem ist er
Principal Artist des Orchestra of the
Age of Enlightenment und Künstlerischer Leiter des Russian State
­Academic Symphony ­Orchestra. Er
gastierte bei zahlreichen internationalen Orchestern, u.a. bei den ­Berliner
Philharmonikern, den ­Wiener Philharmonikern und beim Koninklijk
Concertgebou­workest in Amsterdam.
Er dirigierte u.a. an der Metropolitan
Opera in New York, am Teatro alla
Scala in Mailand und an der Semper­
oper Dresden. In der Saison 2015/16
gibt Jurowski sein Hausdebüt mit dem
2. Akademiekonzert, bevor er die Premiere von Der feurige Engel dirigiert.
Mefistofele
Oper in vier Akten mit Prolog
und Epilog
Von Arrigo Boito
Der feurige Engel
Oper in fünf Akten und sieben
Bildern
Von Sergej Prokofjew
Premiere am Samstag,
24. Oktober 2015,
Nationaltheater
Premiere am Sonntag,
29. November 2015,
Nationaltheater
STAATSOPER.TV:
Live-Stream der Vorstellung auf
www.staatsoper.de/tv am Sonntag,
15. November 2015
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Information +49 89 189 30 95-0
und www.pin-freunde.de
arBeIteN voN: Cory Arcangel, Georg Baselitz, Cosima von Bonin,
Daniele Buetti, Borden Capalino, Francesco Clemente, Johanna Diehl,
Guyton/Walker, Hubertus Hamm, Charline von Heyl, Andy Hope,
Erez Israeli, Wolfgang Laib, Jim Lambie, Zilla Leutenegger,
Adam McEwan, Mariko Mori, Ciara Phillips, David Reed,
Tomas Saraceno und vielen anderen
Sa 17.10.15 20:00 Uhr
Di 20.10.15 19:00 Uhr
Fr 23.10.15 20:00 Uhr
auch im Live-Stream auf www.staatsoper.de/tv
sponsored by
Arrigo Boito
Mefistofele
VORBESICHTIGUNG ab 7. November 2015
in der Pinakothek der Moderne
Musikalische Leitung Omer Meir Wellber
Inszenierung Roland Schwab
Cosima von Bonin
Smoke, 2008
Acryl, LED, Neon und Stahl
137 x 73 x 60 cm
Courtesy Galerie NEU, Berlin
Foto: Sigrid Körbler © Cosima von Bonin
René Pape, Joseph Calleja, Kristine Opolais, Heike Grötzinger, Andrea Borghini,
Karine Babajanyan, Rachael Wilson, Joshua Owen Mills
Sa
Do
So
Fr
Di
So
24.10.15
29.10.15
01.11.15
06.11.15
10.11.15
15.11.15
19:00 Uhr Premiere
19:00 Uhr
18:00 Uhr
19:00 Uhr
19:00 Uhr
19:00 Uhr auch im Live-Stream auf www.staatsoper.de/tv
Ausstattungspartner der
Bayerischen Staatsoper
ArtPrivat | Partner und Versicherer
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Jules Massenet
Sergej Prokofjew
Wolfgang Amadeus Mozart
Wolfgang Amadeus Mozart
Werther
Der feurige Engel
Die Zauberflöte
Don Giovanni
Musikalische Leitung Asher Fisch
Inszenierung Jürgen Rose
Musikalische Leitung Vladimir Jurowski
Inszenierung Barrie Kosky
Musikalische Leitung Asher Fisch
Inszenierung August Everding
Musikalische Leitung James Gaffigan
Inszenierung Stephan Kimmig
Rolando Villazón 25./28.10., Matthew Polenzani 31.10./04.11., Michael Nagy,
Christoph Stephinger, Kevin Conners, Tim Kuypers, Angela Brower,
Hanna-Elisabeth Müller, Johannes Kammler, Anna Rajah
Evgeny Nikitin, Evelyn Herlitzius, Heike Grötzinger, Elena Manistina,
Vladimir Galouzine, Kevin Conners, Okka von der Damerau, Igor Tsarkov, Goran Jurić,
Ulrich Reß, Tim Kuypers, Matthew Grills, Christian Rieger, Andrea Borghini,
Iris van Wijnen, Deniz Uzun
Georg Zeppenfeld, Mauro Peter, Markus Eiche, Albina Shagimuratova,
Hanna-Elisabeth Müller, Golda Schultz, Angela Brower, Okka von der Damerau,
Solisten des Tölzer Knabenchors, Alex Esposito, Leela Subramaniam, Ulrich Reß,
Kevin Conners, Christoph Stephinger, Wolfgang Grabow, Ingmar Thilo,
Ivan Michal Unger, Markus Baumeister, Walter von Hauff, Johannes Klama
Erwin Schrott, Goran Jurić, Marina Rebeka, Dmitry Korchak, Véronique Gens,
Alex Esposito, Eri Nakamura, Tareq Nazmi
So
Do
So
Mi
Sa
Mi
Fr
So
Di
Sa
So
Mi
Sa
Mi
25.10.15
28.10.15
31.10.15
04.11.15
18:00 Uhr
19:00 Uhr
19:30 Uhr
19:00 Uhr
29.11.15
03.12.15
06.12.15
09.12.15
12.12.15
19:00 Uhr
19:30 Uhr
19:00 Uhr
19:00 Uhr
19:00 Uhr
Premiere
auch im Live-Stream auf www.staatsoper.de/tv
23.12.15
25.12.15
27.12.15
29.12.15
02.01.16
18:00 Uhr
18:00 Uhr
17:00 Uhr
18:30 Uhr
18:00 Uhr
Francis Poulenc
Dialogues des Carmélites
Wolfgang Amadeus Mozart
Die Entführung aus dem Serail
sponsored by
Brenda Rae, Sofia Fomina, Benjamin Bruns, Matthew Grills, Tobias Kehrer,
Bernd Schmidt, Selale Gonca Cerit
Sa 07.11.15 19:00 Uhr
Mi 11.11.15 19:00 Uhr
Sa 14.11.15 18:00 Uhr
La bohème
Richard Wagner
Götterdämmerung
Musikalische Leitung Kirill Petrenko
Inszenierung Andreas Kriegenburg
Wolfgang Amadeus Mozart
Così fan tutte
Musikalische Leitung Constantin Trinks
Inszenierung Dieter Dorn
Golda Schultz, Angela Brower, Michael Nagy, Paolo Fanale, Tara Erraught,
Christopher Maltman
Lance Ryan, Markus Eiche, Hans-Peter König, Christopher Purves, Petra Lang,
Anna Gabler, Michaela Schuster, Eri Nakamura, Angela Brower, Okka von der Damerau,
Helena Zubanovich
So 13.12.15 16:00 Uhr
Mi 16.12.15 16:00 Uhr
Sa 19.12.15 16:00 Uhr
gefördert durch
Fr 20.11.15 19:00 Uhr
So 22.11.15 18:00 Uhr
Di 24.11.15 19:00 Uhr
Musikalische Leitung Asher Fisch
Inszenierung Otto Schenk
Kristin Lewis, Joyce El-Khoury, Dmytro Popov, Markus Eiche, Andrea Borghini,
Goran Jurić, Joshua Owen Mills, Christian Rieger, Peter Lobert, Igor Tsarkov,
Johannes Kammler
Mi 30.12.15 20:00 Uhr
So 03.01.16 18:00 Uhr
Di 05.01.16 19:00 Uhr
Sa 23.01.16
Do 28.01.16
Sa 30.01.16
Mo 01.02.16
19:00 Uhr
19:00 Uhr
19:00 Uhr
19:00 Uhr
Johann Strauß
Die Fledermaus
Musikalische Leitung Kirill Petrenko 31.12. / 01. / 04. / 06.01., Oksana Lyniv 08.01.
Nach einer Inszenierung von Leander Haußmann
Do 31.12.15
Fr 01.01.16
Mo 04.01.16
Mi 06.01.16
Fr 08.01.16
Richard Wagner
Die Walküre
Klaus Florian Vogt, Hans-Peter König, Thomas J. Mayer, Anja Kampe, Petra Lang,
Daniela Sindram, Daniela Köhler, Karen Foster, Lise Davidsen, Heike Grötzinger,
Helena Zubanovich, Alexandra Petersamer, Okka von der Damerau, Rachael Wilson
Laurent Naori, Christiane Karg, Stanislas de Barbeyrac, Sylvie Brunet,
Anne Schwanewilms, Susanne Resmark, Anna Christy, Heike Grötzinger,
Angela Brower, Alexander Kaimbacher, Ulrich Reß, Tim Kuypers,
Andrea Borghini, Igor Tsarkov, Johannes Kammler, Oscar Quezada (23.01. /30.01.),
Tobias Neumann (28.01./ 01.02.)
Bo Skovhus, Marlis Petersen, Christian Rieger, Daniela Sindram 31.12./01./04./06.01.,
Michelle Breedt 08.01., Edgaras Montvidas, Michael Nagy, Ulrich Reß, Anna Prohaska,
Cornelius Obonya, Eva Patricia Klosowski, Ivan Michal Unger
sponsored by
Musikalische Leitung Simone Young
Inszenierung Andreas Kriegenburg
Musikalische Leitung Bertrand de Billy
Inszenierung Dmitri Tcherniakov
Giacomo Puccini
Musikalische Leitung Ivor Bolton
Inszenierung Martin Duncan
Do 14.01.16 19:00 Uhr
So 17.01.16 18:00 Uhr
Mi 20.01.16 19:00 Uhr
18:00 Uhr
18:00 Uhr
19:00 Uhr
18:00 Uhr
18:00 Uhr
Engelbert Humperdinck
Hänsel und Gretel
Musikalische Leitung Tomáš Hanus
Inszenierung Richard Jones
Sa 28.11.15 17:00 Uhr
Mi 02.12.15 17:00 Uhr
Sa 05.12.15 16:00 Uhr
Sebastian Holecek, Helena Zubanovich, Angela Brower 14./15./18./21.12.,
Tara Erraught 22.12., Hanna-Elisabeth Müller 14./15./18./21.12., Eri Nakamura 22.12.,
Kevin Conners, Deniz Uzun, Leela Subramaniam
sponsored by
Mo 14.12.15
Di 15.12.15
Fr 18.12.15
Mo 21.12.15
Di 22.12.15
19:00 Uhr
18:00 Uhr
19:00 Uhr
18:00 Uhr
11:00 Uhr
Richard Strauss
Arabella
Musikalische Leitung Constantin Trinks
Inszenierung Andreas Dresen
Kurt Rydl, Doris Soffel, Anja Harteros, Hanna-Elisabeth Müller, Thomas J. Mayer,
Joseph Kaiser, Dean Power, Andrea Borghini, Tareq Nazmi, Erin Morley,
Heike Grötzinger, Johannes Kammler, Bastian Beyer, Vedran Lovric, Tjark Bernau
Mi 13.01.16 19:00 Uhr
Sa 16.01.16 19:00 Uhr
Di 19.01.16 19:00 Uhr
Mit
freundlicher
Unterstützung der
Mit freundlicher
Unterstützung
Mit freundlicher Unterstützung der
Gesellschaft zur Förderung der
Münchner Opernfestspiele e.V.
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Ballett
John Cranko
Onegin
Musik Peter I. Tschaikowsky
Musikalische Leitung Myron Romanul
Solisten und Ensemble des Bayerischen Staatsballetts
Bayerisches Staatsorchester
John Neumeier
Die Kameliendame
Musik Frédéric Chopin
Musikalische Leitung Michael Schmidtsdorff
Solisten und Ensemble des Bayerischen Staatsballetts
Bayerisches Staatsorchester
Mi 14.10.15
So 18.10.15
So 18.10.15
Mo 26.10.15
19:30 Uhr
14:30 Uhr
19:30 Uhr
19:30 Uhr
Marius Petipa, Ivan Liška
Le Corsaire
Musik Adolphe Adam, Léo Delibes
Musikalische Leitung Aivo Välja
Solisten und Ensemble des Bayerischen Staatsballetts
Bayerisches Staatsorchester
Fr
So
So
Sa
Fr
30.10.15
08.11.15
08.11.15
21.11.15
27.11.15
19:30 Uhr
15:00 Uhr
19:30 Uhr
19:30 Uhr
19:30 Uhr
Di
Fr
Fr
Sa
01.12.15
04.12.15
11.12.15
26.12.15
19:30 Uhr
19:30 Uhr
19:30 Uhr
18:00 Uhr
Jerome Robbins / Aszure Barton / George Balanchine
In the Night / Kreation Aszure
Barton / Sinfonie in C
Musik Frédéric Chopin, Curtis Macdonald, Georges Bizet
Musikalische Leitung Michael Schmidtsdorff
Solisten und Ensemble des Bayerischen Staatsballetts
Bayerisches Staatsorchester
So 20.12.15
Di 22.12.15
Mo 28.12.15
Fr 29.01.16
19:30 Uhr
19:30 Uhr
19:30 Uhr
20:00 Uhr
Premiere
Marius Petipa, Alexei Ratmansky
Paquita
Hauptsponsor
der Orchesterakademie
Musik Edouard-Marie-Ernest Deldevez, Ludwig Minkus
Musikalische Leitung Myron Romanul
Solisten und Ensemble des Bayerischen Staatsballetts
Bayerisches Staatsorchester
Matinee der Heinz-Bosl-Stiftung /
Junior Company
Ensemble des Bayerischen Staatsballetts II / Junior Company
Schüler und Studenten der Ballett-Akademie München
So 22.11.15 11:00 Uhr
So 20.12.15 11:00 Uhr
Sa
So
So
So
Di
09.01.16
10.01.16
24.01.16
24.01.16
26.01.16
19:30 Uhr
17:00 Uhr
15:00 Uhr
19:30 Uhr
19:30 Uhr
Menschen suchen ihre Zukunft in Städten,
die heute schon an morgen denken.
München wächst schneller als jede andere Stadt in Deutschland:
Prognosen zufolge werden im Jahr 2020 über 1,5 Millionen
Menschen in der bayrischen Landeshauptstadt leben. Aber in
München wächst nicht nur die Zahl der Einwohner. Die Stadt
hat ehrgeizige Ziele – für den Wirtschaftsstandort und für
die Lebensqualität der Menschen.
Neubauten und bei der Modernisierung bestehender Häuser.
Und sichere und wirtschaftliche Stromnetze binden mehr
Energie aus erneuerbaren Quellen ein und sorgen dafür, dass
sie genau dort zur Verfügung steht, wo sie gebraucht
wird. So wächst nicht nur die Wirtschaftskraft, sondern auch
die Lebensqualität.
Modernste Verkehrsleittechnik und ein gut ausgebautes Nahverkehrsnetz halten die Stadt in Bewegung und entlasten dabei
die Umwelt. Intelligente Gebäudetechnik spart Energie – bei
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siemens.com
Konzert
1. Kammerkonzert
Themenkonzerte
Zur Uraufführung von Miroslav Srnkas Oper South Pole
Ein Projekt mit Konzerten und Vorträgen in Zusammenarbeit mit der Max-PlanckGesellschaft
1. Themenkonzert
Do 14.01.16 19:00 Uhr
Thema Meereis im Erdsystem
2. Themenkonzert
Sa 16.01.16 19:00 Uhr
Thema Traumforschung
3. Themenkonzert
Mi 20.01.16 19:00 Uhr
Thema Vermessung der Atmosphäre
2. Akademiekonzert
4. Themenkonzert
Fr 22.01.16 19:00 Uhr
Thema Geschichte der Gefühle
Franz Liszt / Paul Hindemith / Sergej Prokofjew
5. Themenkonzert
Sa 23.01.16 19:00 Uhr
Thema Motoren der Zukunft
Alfred Schnittke / Ludwig van Beethoven / Dmitri Schostakowitsch
So 18.10.15 11:00 Uhr
Allerheiligen Hofkirche
Musikalische Leitung Vladimir Jurowski
Mo 02.11.15 20:00 Uhr
Di 03.11.15 20:00 Uhr
Die Veranstaltungsorte der einzelnen Themenkonzerte finden Sie auf
www.staatsoper.de/spielplan.
2. Kammerkonzert
Franz Schubert / Wolfgang Amadeus Mozart
So 15.11.15 11:00 Uhr
JETZ
Allerheiligen Hofkirche
ONL
Adventsmusik in St. Michael
ZUS
OperaBrass – Die Blechbläser der Bayerischen Staatsoper
Orgel Frank Höndgen
Wolfgang Amadeus Mozart / Krzysztof Penderecki / Benjamin Britten / Sergej
Prokofjew
Allerheiligen Hofkirche
3. Akademiekonzert
Leonard Bernstein / Darius Milhaud / Jacob ter Veldhuis / Peter I. Tschaikowsky
Musikalische Leitung Kristjan Järvi
Saxophon Branford Marsalis
!
Für Dich!
Ein Kinderlächeln. Was gibt es Schöneres? Mit Ihrer Hilfe
können noch mehr Kinder eine unbeschwerte Kindheit erleben.
Ihre Zuwendung an die SOS-Kinderdorf-Stiftung bewirkt mehr
Freude. Mehr Glück. Mehr Kindheit. Und das nachhaltig!
Mo 11.01.16 20:00 Uhr
Di 12.01.16 20:00 Uhr
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TEN
St. Michael
3. Kammerkonzert
So 10.01.16 11:00 Uhr
INE
TIF
Weihnachten mit OperaBrass – In Dulci Jubilo
Sa 12.12.15 20:00 Uhr
T
Petra Träg
089 12606-109
[email protected]
sos-kinderdorf-stiftung.de
Extra
Konzert des Opernstudios
Premierenmatinee
So 25.10.15 20:00 Uhr Cuvilliés-Theater
Der feurige Engel
So 15.11.15 11:00 Uhr
Porträtkonzert des Opernstudios
Operndialog
Solisten Marzia Marzo, Johannes Kammler
Mefistofele
So 15.11.15 14:00 Uhr
Mo 16.11.15 16:00 Uhr
Teil 1
Teil 2
Capriccio-Saal
Capriccio-Saal
Der feurige Engel
Sa 12.12.15 10:00 Uhr
So 13.12.15 10:00 Uhr
Teil 1
Teil 2
Capriccio-Saal
Capriccio-Saal
Do 29.10.15 19:30 Uhr Künstlerhaus
1. Kammerkonzert der
Orchesterakademie
Fr 20.11.15 20:00 Uhr
Allerheiligen Hofkirche
TV
Ariadne auf Naxos
Campus
Ballett extra
Proben zur Premiere In the Night / Kreation Aszure Barton / Sinfonie in C
Do 10.12.15 20.00 Uhr Ballett-Probenhaus
Hauptsponsor
der Orchesterakademie
ATTACA-Konzert
Ludwig van Beethoven / Jean Sibelius
ATTACA – Jugendorchester des Bayerischen Staatsorchesters
Musikalische Leitung Allan Bergius
Violine Albrecht Menzel
Di 24.11.15 19:00 Uhr Prinzregententheater
Porträtkonzert des Opernstudios
Solisten John Carpenter, Anna Rajah
Fr 11.12.15 19.30 Uhr Künstlerhaus
101
erleben Sie ausgewählte
23.10.2015
RichaRd StRauSS – ariadne auf Naxos
opern- und Ballettaufführungen
15.11.2015
aRRigo Boito – Mefistofele
live und kostenlos
12.12.2015
SeRgej PRokofjeW – der feurige engel
auf www.staatsoper.de /tv
19.03.2016
giuSePPe VeRdi – un ballo in maschera
12.06.2016
MaRiuS PetiPa / iVaN Liška – Le corsaire
26.06.2016
fRoMeNtaL haLéVy – La juive
31.07.2016
RichaRd WagNeR – die Meistersinger von Nürnberg
2015
2016
Die Vermesser
Für das Gelingen einer Opernaufführung müssen viele, sehr viele Dinge vermessen werden.
In der Spielzeit 2015/16 schildern Mitarbeiter der Oper in MAX JOSEPH ihr Handwerk.
Foto Wilfried Hösl
Foto Gerhardt Kellermann
Text Christiane Lutz
Folge 1: Hutmacherin Margarethe Luegmair-Ertl
Die Währung der Zukunft sind unsere Daten. Unternehmen benutzen und entwickeln komplizierte Algorithmen,
mit deren Hilfe sie tief in die Köpfe und Hirne ihrer Kunden blicken wollen, um Entscheidungen und Kaufvorgänge vorauszusehen. Die Vermessung des Kopfes samt
Hirn indes ist ein Vorgang, der an der Bayerischen
Staatsoper tagtäglich stattfindet. In die Köpfe schauen
kann auch Margarethe Luegmaier-Ertl nicht, wohl aber
mit einfachsten Mitteln die wichtigsten Größen erfahren.
Unzählige Köpfe hat die Hutmacherin in ihren 43
Berufsjahren vermessen. Dickschädel. Kinderköpfe.
Runde oder ovale Köpfe. Hoch erhobene Profiköpfe. Zur
Seite geneigte Debütantenköpfe. Zum Vermessen legt
sie zunächst die Hand auf. Die Finger am Hinterkopf, die
Handfläche am Scheitel, so spürt sie sofort, womit sie
es zu tun hat. Fast auf den Zentimeter genau kann sie
den Umfang erfühlen. Um das genaue Maß zu ermitteln,
braucht sie keinen Algorithmus, ihr genügt einfaches
Maßband, das sie um die Köpfe schlingt. Dabei kommt
meist ein Wert zwischen 58 und 63 Zentimetern raus.
Mehr als ein halber Meter Kopf. „Die Köpfe der Leute
werden aber immer größer“ sagt sie, „und immer runder.“
In den Regalen von Luegmair-Ertls Werkstatt stehen stumm ihre Holzköpfe, denen sie die Prototypen ihrer Hüte aufsetzt. Sie hat alles da, vom Kinderkopf zum
Stiernackenkopf, zwischen 50 und 64 Zentimeter Umfang. Einige Holzköpfe sind dunkel verfärbt und glänzen
abgegriffen, 80 Jahre alt sind einige. Luegmair-Ertl arbeitet mit Filz, Leder, falschem Leder, Kunststoffen, je
nachdem, was der Kostümbildner sich wünscht. Zur Zeit
schlingt sie Dornenkronen aus Draht und Plastik. 105
Stück sind bestellt für die Oper Der feurige Engel. Solche Massenproduktion findet sie natürlich ermüdend.
„Die Kostümbildner haben viele Ideen, aber wir müssen
die Kunst der Realität anpassen“, sagt sie. Eine Kopfbe-
Margarethe Luegmair-Ertl
vermisst und behütet
­Köpfe seit 43 Jahren.
deckung könne zum Beispiel das Hören oder das Singen
auf der Bühne beeinträchtigen. „Das geht natürlich
nicht, auch wenn sich der Kostümbildner vielleicht
eine Maske wünscht, aus der nur die Augen rausschauen.“ An ganz verrückten Produktionen arbeite sie allerdings nur noch selten. „Die Regisseure sind braver
geworden – wenn man sich die Hüte anschaut. David
Alden und seine Kostümbildnerin Buki Shiff machen
hingegen immer wilde Sachen. Oder die spanische
Theatergruppe La Fura dels Baus, die wollten abgefahrene Kopfbedeckungen aus Stahldraht, geschmückt
mit Leuchtkörpern und Federn.“ Für Produktionen immerhin, die heute noch zu sehen sind. Für solche Wünsche lötet und schweißt die Hutmacherin auch mal in
der Rüstwerkstatt.
Kommt ein Sänger dann zur Anprobe, ist das der
heikelste Moment ihrer Arbeit. Dann zeigt sich, ob ein
Modell sitzt oder nicht. Ob die Vision des Kostümbildners der Realität und den Bedürfnissen des Sängers
standhalten kann. Mit dem Kopfweitenmesser, einem
verstellbaren Holzring, der in einen Hut hineingeklemmt wird, überprüft sie, wie genau sie gemessen
hat. Ein antiquiert wirkender Dampfapparat kann fast
alle Materialien nachträglich formen, sogar weiten,
wenn ein Hut zu klein ist. Die Hutmacherin weiß längst,
welcher Sänger welche Hut-Vorlieben hat und wer am
liebsten überhaupt keine Kopfbedeckung aufsetzen
möchte. Das Gesicht und der Kopf sind eine intime Körperregion. Bisher hat sie mit Sängern und Kostümbildnern immer eine Lösung gefunden.
Manchmal träumt die Hutmacherin davon, eine
Revue auszustatten, mit vielen Federn und Pomp. Es
fasziniert sie, wie anders ein Mensch aussieht, wenn
er einen Hut trägt. Wie er damit die Aufmerksamkeit auf
sich ziehen kann. Wie er den Kopf hält, wie er plötzlich
ein anderer ist. Diesen Zauber kann allerdings niemand
vermessen. 103
Kurt Simonson, Sales Map from the Series Northwood Journals, 2006
MAX JOSEPH 2
Vorschau
#2 Vermessen:
Der Raum
South Pole – Uraufführung
Komposition von Miroslav Srnka, Libretto von Tom Holloway
Un ballo in maschera – Premiere
Giuseppe Verdi
Ich als Forscher: Klaus Maria Brandauer
MJ 2 2015 – 2016 erscheint am 22.1.2016.
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