85 & Neuroethik Neurophilosophie Jenseits von Mendel M. Synofzik, L. Schöls Die neue ethische Problematik in der prädiktiven neurogenetischen Diagnostik S eitdem im Jahre 1983 das für Chorea Huntington (Huntington’s Disease, HD) verantwortliche Gen lokalisiert werden konnte und damit erstmals eine prädiktive Testung von Risikopersonen in Familien mit bekannter HD möglich wurde, sind die damit verbundenen psychischen, sozialen und ethischen Probleme ausführlich in neurologischen und ethischen Fachkreisen diskutiert worden. Ethik bei Huntington-Gendiagnostik Die Problematik lässt sich anhand der vier zentralen Grundprinzipien der Bioethik darstellen (1). Eine prädiktive Diagnostik sollte empfohlen werden, wenn ● sie der Risikoperson einen Nutzen bringt (Prinzip des Wohltuns), ● ihr keinen Schaden zufügt (Prinzip des Nicht-Schadens) ● dem Willen der Risikoperson entspricht (Prinzip des Respekts der Autonomie). ● Angesichts der begrenzten Gesundheitsressourcen sollte sie zudem mit einem zu rechtfertigenden Ressourcenaufwand durchzuführen sein (Prinzip der Verteilungsgerechtigkeit). Werden diese Kriterien nicht erfüllt, dann sollte von der Diagnostik abgeraten werden. nerschaftliche und familiäre, aber auch die berufliche – durch Wissen um die kommende Erkrankung bzw. Nicht-Erkrankung gezielter planen zu können. Denn auch ein positiver Testbefund könnte einer Risikoperson Zeit geben, sich wohnlich, beruflich, emotional, medizinisch und familiär auf die HD-Manifestation vorzubereiten, welche nicht nur die Bewegungsabläufe, sondern auch Denk- und Verhaltensprozesse unwiderruflich und mit letztlich letaler Konsequenz betreffen wird. Somit unterstützt der prädiktive Gentest bei positivem Testergebnis die bewusste individuelle Selbstbestimmung und Lebensplanung der Risikoperson – ein Gut, das seit Kants „sapere aude!“ und dem Aufruf der Existentialisten, seine eigene Existenz trotz und gerade in allen Absurditäten des Daseins Das Thema in Kürze ● ● ● Prinzip des Wohltuns Der mögliche Nutzen einer prädiktiven Testung bei HD-Risikopersonen besteht zunächst in der Erleichterung, die bestehende Unsicherheit über das Erkrankungsrisiko zu beenden (sei es mit einem positiven oder einem negativen Ergebnis). Hinzu kommt der Wunsch, die Zukunft – insbesondere die partNervenheilkunde 2008; 27: 85–89 ● Prädiktive Gendiagnostik bei Chorea Huntington kann zu verschiedenen Schäden der Risikopersonen führen. Sie bedarf einer strengen Orientierung an den bioethischen Grundprinzipien und an den etablierten Leitlinien. Diese Leitlinien können für andere autosomal-dominante Erkrankungen mit vollständiger Penetranz in analoger Weise übertragen werden. Neuerdings entdeckt die Neurogenetik eine genetische Grundlage für viele weitere neurodegenerative Erkrankungen (z. B. M. Parkinson, frontotemporale Demenz), wo Genmutationen keine vollständige Penetranz zeigen und/oder nur als Suszeptibilitätsfaktoren im Rahmen einer multifaktoriellen Krankheitsgenese wirken. Bei diesen Erkrankungen sind der Nutzen, der Schaden und der Wille der Risikoperson oftmals schwerer zu bestimmen. Erste ethische Ansätze für die Entwicklung geeigneter Leitlinien werden hier vorgeschlagen. bewusst und individuell zu gestalten, von höchstem Wert in unserer Gesellschaft ist. Prinzip des Nicht-Schadens Diesem Nutzen steht eine möglicherweise erhebliche psychische und soziale Belastung der Risikopersonen sowie ihrer Familienmitglieder entgegen (welche angesichts des hohen Risikos depressiver Episoden bei HD bis zur Suizidalität führen könnte). Das Wissen, dass ● man an einer schweren, letalen Erkrankung erkranken wird, obwohl man zum Zeitpunkt der Testung noch gesund ist und mitten im Leben steht, ● diese Erkrankung bei nahen Verwandten zu qualvollen Leiden geführt hat, ● hinreichende Prophylaxe- oder Therapiemöglichkeiten fehlen, kann zu einer Traumatisierung der Risi-koperson im Falle eines positiven Testergebnisses führen (2). Des Weiteren könnten die Risikopersonen Diskriminierungen beim Abschluss einer Kranken-, Berufsunfähigkeits- oder Lebensversicherung und bei der Berufswahl oder dem Abschluss eines Arbeitsvertrages erfahren. Prinzip des Respekts der Autonomie Besondere Herausforderungen stellt die Wahrung der Autonomie der Entscheidung bei HD-Risikopersonen dar, da bei 40 bis 60% der Mutationsträger psychiatrische Symptome wie Depression, Suizidalität, Persönlichkeitsveränderungen oder kognitive Einschränkungen den charakteristischen motorischen Symptomen teilweise um Jahre vorausgehen (2). Hier steht dem Wunsch nach einer genetischen Testung das Risiko einer nachfolgenden emotionalen Instabilität, Depressivität oder gar Suizidalität ge- Downloaded from www.nervenheilkunde-online.de on 2017-06-03 | IP: 88.99.70.242 For personal or educational use only. No other uses without permission. All rights reserved. Nervenheilkunde 1–2/2008 86 & Neuroethik Neurophilosophie genüber, es müssen also Autonomieverpflichtungen mit Fürsorgeverpflichtungen (abgeleitet aus den Wohltunsüberlegungen) abgewogen werden. Bei dieser Abwägung bietet sich ein graduelles Vorgehen an (3): Je stärker die Autonomie einer Risikoperson eingeschränkt ist, desto sicherer muss vor einer Testung ausgeschlossen werden, dass es keine Hinweise für eine nachfolgende Gefährdung ihres geistig-seelischen Zustandes oder ihrer psychosozialen Beziehungen gibt. Doch selbst wenn eine Risikoperson keinerlei psychische oder kognitive Einschränkungen zeigt, das heißt, wirklich asymptomatisch ist, fällt es in der Praxis oftmals schwer zu entscheiden, wie man ihre Selbstbestimmung hinreichend respektieren kann. Denn nur wenige Personen sind in der Lage, die Folgen eines positiven Gentests auf alle Bereiche ihres Lebens abzuschätzen, z. B. die Stigmatisierung und Diskriminierung im Beruf und in der Familie, partnerschaftliche Probleme, Familienplanung, soziale Absicherung und langfristige eigene Lebensplanung. Diese Einschränkungen werden in den 1989 erstellten und 1994 überarbeiteten Richtlinien der Amerikanischen Gesellschaft für HD (4) insofern berücksichtigt, als diese nicht nur eine eingehende Informierung fordern, sondern auch eine absolut unabhängige, reiflich überlegte Testung zu einem Zeitpunkt geringen allgemeinen Stresses, eingebettet in ein Netzwerk adäquater psychosozialer und medizinischer Hilfen und ohne offensichtliche Gefahr für dasAuftreten stärkerer depressiver Symptome. rekten Gentest die pathogenetisch entscheidende Verlängerung einer repetitiven CAGTrinukleotidsequenz im Huntington Gen nachzuweisen. Selbst bei insgesamt knappen Ressourcen im deutschen Gesundheitswesen können die Kosten also nicht als wesentlicher Gegeneinwand gegen eine prädiktive Testung eingebracht werden. Für die Frage, ob ein Arzt zu einer präsymptomatischen Diagnostik bei einer HDRisikoperson an- oder abraten soll, gibt es keine allgemeine, transindividuell gültige Empfehlung. Vielmehr sollten die vier genannten Prinzipien in der jeweiligen individuellen Persönlichkeits- und Situationskonstellation stets neu einzeln reflektiert und ausformuliert werden, um dann nach einer Gewichtung und begründetenAbwägung zu einer abschließenden individual-spezifischen Entscheidung zu kommen (5). Es könnte sowohl für den Arzt als auch für die Risikoperson hilfreich sein, diesen Prozess explizit Schritt für Schritt in einem gemeinsamen, interaktiven Gespräch durchzuführen. Dadurch wird die Kohärenz und die Transparenz des Entscheidungsprozesses maximiert, was wiederum dazu führt, dass sowohl Arzt als auch Risikoperson (und eventuell seine Angehörigen) sich mit der abschließend getroffenen Entscheidung besser identifizieren können. Prinzip der Verteilungsgerechtigkeit Durch die Fortschritte der Neurogenetik in den letzten Jahren ist es gelungen, die genetische Grundlage einer Vielzahl weiterer neurodegenerativer Erkrankungen zu iden- Seit 1993 besteht die Möglichkeit, durch einen inzwischen relativ kostengünstigen di- Neue Entwicklungen in der Neurogenetik Abb. 1 Abschnitte des LRRK2-Gens und ihre funktionelle Bedeutung. Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Prof. Thomas Gasser, Tübingen. Nervenheilkunde 1–2/2008 tifizieren (6). Ein Teil dieser Erkrankungen folgt ebenfalls einem autosomal-dominanten Mendel’schen Erbgang mit vollständiger Penetranz, so z. B. die spinozerebellären Ataxien (SCA). Für diese Ataxien sind inzwischen 27 verschiedene Formen chromosomal lokalisiert worden, die Mehrzahl von diesen in den letzten 10 bis 15 Jahren. Der Fortschritt in der Genetik führt an dieser Stelle jedoch nicht zu qualitativ neuen ethischen Problemen, da auch die SCAs ● klar autosomal-dominant vererbt werden, ● eine vollständige Penetranz aufweisen und ● ihre Gendiagnostik relativ kostengünstig durchgeführt werden kann, sodass die vier ethischen Prinzipien weitgehend analog zur HD angewendet werden können. Wesentliche Unterschiede bestehen zwar z. B. in der psychisch-kognitiven Mitbeteiligung (schwere psychiatrische und kognitive Störungen bei HD, eher leichte exekutive Dysfunktion bei SCA), diese führen jedoch nicht zu einem qualitativen normativen Unterschied hinsichtlich der ethisch relevanten Argumente bei der präsymptomatischen Diagnostik. Entsprechend lassen sich auch die für HD ausgearbeiteten Richtlinien weitgehend übertragen. In den letzten Jahren wurden jedoch zunehmend genetische Grundlagen für neurodegenerative Erkrankungen aufgedeckt, die nicht einem Mendel’schen Erbgang mit vollständiger Penetranz folgen. Beim M. Parkinson (Parkinson’s Disease, PD) oder der frontotemporalen Demenz handelt es sich beispielsweise um ätiologisch komplexe Erkrankungen, bei der heterozygote Genmutationen z. B. Mutationen im Gen für Leucine-reiche Repeat-Kinase (LRRK2) oder im Progranulin-enkodierenden Gen (PGRN), keine vollständige Penetranz zeigen, sodass diese Mutationen letztlich nicht alleine für die Krankheitsmanifestation ausschlaggebend sind, sondern primär die Suszeptibilitäts-Schwelle senken (7). Aus der Beobachtung, dass ● manche heterozygote Genträger während ihres gesamten Lebens ohne Krankheitsmanifestation bleiben (Phänomen der „unvollständigen Penetranz“) und Downloaded from www.nervenheilkunde-online.de on 2017-06-03 | IP: 88.99.70.242 For personal or educational use only. No other uses without permission. All rights reserved. 87 & Neuroethik Neurophilosophie ● heterozygote Mutationen mit einem großen Spektrum unterschiedlicher klinischer Symptommanifestationen einhergehen können (Phänomen der „variablen Expressivität“), lässt sich folgern, dass entweder noch andere genetische oder noch weitere nicht-genetische Faktoren die Manifestation von PD bestimmen, und dass die Expression von PD-assoziierten Genen von Umwelt- und Altersfaktoren mit beeinflusst wird (8). Wie im Folgenden am Beispiel neu entdeckter heterozygoter Mutationen in PD-assoziierten Genen gezeigt werden soll, hat dieses zur Folge, dass die Spezifikation der vier Prinzipien in vielen Teilen anders ausfällt als bei HD oder anderen autosomal-dominanten Erkrankungen mit vollständiger Penetranz und dass auch eine mögliche Übertragung der HD-Richtlinien für die letztendliche Entscheidung nicht zielführend ist. Heterozygote Mutationen bei Parkinson Der Anteil der PD-Patienten, bei denen die Erkrankung auf einer genetischen Grundlage beruht, hängt von verschiedenen Variablen ab: Bei jungem Manifestationsalter, positiver Familienanamnese und bestimmtem ethnischen Hintergrund (z. B. nordafrikanische arabische Herkunft, Abb. 2) ist eine genetische Mitverursachung wahrscheinlich, bei spätem Krankheitsbeginn und leerer Familienanamnese dagegen eher unwahrscheinlich (7). Die häufigste Ursache eines genetisch bedingten PD sind Mutationen in dem erst 2004 entdeckten LRRK2-Gen, welche eine autosomal-dominant vererbte Parkinsonsymptomatik hervorrufen (9; Abb. 1). In ca. 1,5% aller PDIndex-Patienten lässt sich die häufigste LRRK2-Mutation – Gly2019Ser – nachweisen (10). Obwohl LRRK2-Mutationen grundsätzlich ein dominantes Vererbungsmuster zeigen, besteht eine unvollständige Penetranz, sodass selbst 80-jährige Mutationsträger beobachtet werden, die keine Symptome aufweisen. Der Grad der Penetranz der LRRK2-Mutationen ist noch nicht Abb. 2 Prävalenz verschiedener LRRK2-Mutationen bei Parkinson-Patienten im weltweiten Vergleich. Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Prof. Thomas Gasser, Tübingen. abschließend geklärt und wird sehr wechselnd mit 25 bis 85% angegeben (7). Hinzu kommt eine variable neuropathologische Expressivität: Bei ein und derselben LRRK2-Mutation finden sich in post-mortem-Analysen mal Lewy-Körperchen (hier jedoch in unterschiedlichen Hirnregionen), mal neurofibrilläre Bündel, mal weder Lewy-Körperchen noch neurofibrilläre Bündel (11). Es scheint also eine Reihe modifizierender genetischer und/oder epigenetischer Faktoren zu geben, welche die Penetranz und das Erscheinungsbild eines LRRK2-assoziierten PD bestimmen, ohne dass diese bei der Beratung zur prädiktiven Diagnostik mitgeteilt werden könnten. Neuerdings wurde erkannt, dass auch heterozygote Mutationen in autosomal-rezessiven PD-Genen – insbesondere Mutationen im Parkin-Gen (=PARK2, mit 10 bis 20% die häufigste Mutation bei früh beginnendem PD) und im PINK1-Gen (PTEN-induzierte putative Kinase 1, mit 1 bis 9% die zweithäufigste Mutation bei früh beginnendem PD) – als Suszeptibilitätsfaktor für PD fungieren können. Dabei scheint die Penetranz heterozygoter Parkin- oder PINK1-Mutationen mit 1 bis 25% noch geringer zu sein als bei LRRK2-Mutationen (7). Zusammenfassend sind die genetischen Grundlagen des PD heterogen: Auf der ei- nen Seite wurden inzwischen mindestens zwölf monogenetische PD-Formen mit Mendel’schem Erbgang identifiziert. Auf der anderen Seite führen heterozygote Mutationen in mindestens drei Parkinsongenen nicht notwendigerweise zur Erkrankung, können aber in Kumulation mit anderen genetischen Faktoren oder Umweltfaktoren wie Neurotoxinen oder vermehrtem oxidativen Stress zur Manifestation eines PD führen. Diesen heterozygoten genetischen Variationen kommt hierbei primär die Rolle eines Suszeptibilitätsfaktors und nicht die Rolle eines alleinigen „Krankheitsverursachers“ zu. Klinisch sind diese pathogenetisch unterschiedlichen PD-Formen meist nicht zu unterscheiden. Ethik bei Parkinson-Gendiagnostik Die zusätzliche Komplexität führt zu einer anders gelagerten Sachproblematik bei der Beratung zur prädiktiven Diagnostik, sodass auch die vier bioethischen Grundprinzipien in einer anderen Weise ausformuliert werden müssen. Downloaded from www.nervenheilkunde-online.de on 2017-06-03 | IP: 88.99.70.242 For personal or educational use only. No other uses without permission. All rights reserved. Nervenheilkunde 1–2/2008 88 & Neuroethik Neurophilosophie Prinzip des Wohlergehens Damit die prädiktive Diagnostik der Risikoperson einen Nutzen bringt, muss sie nicht nur wirksam sein, also eine reliable und valide Aussage über das Vorliegen oder NichtVorliegen einer Mutation in einem PD-assoziierten Gen erlauben, sondern auch ein für den Patienten erstrebenswertes Ziel erreichen. Eben hier ist jedoch unklar, worin dieses liegen sollte: Anders als bei HD oder SCA erhält ein heterozygoter Anlageträger keine absolute Planungssicherheit und wird auch nicht von der Unsicherheit befreit, ob er einmal erkranken wird oder nicht. Denn im Gegensatz zu HD oder SCA lassen die Ergebnisse der PD-Gendiagnostik für heterozygote Anlageträger keine wesentlichen, alltagsrelevanten Schlüsse auf die Erkrankung zu: Aus dem Vorliegen einer heterozygoten Mutation in einem PD-assozierten Gen lässt sich weder der Zeitpunkt noch der Verlauf noch der Phänotyp der Erkrankung vorhersagen. Vor allem aber kann – aufgrund der vorstehend genannten unvollständigen Penetranz – noch nicht einmal mit Sicherheit vorhergesagt werden, ob sich die Erkrankung überhaupt manifestieren wird: Eine heterozygote Mutation könnte mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit einhergehen, zu einem späteren Zeitpunkt einmal PD zu entwickeln, jedoch bleiben viele Genträger ebenso bis zum Lebensende asymptomatisch. Ein heterozygotes Testergebnis wird der Risikoperson also in vielen Fällen kaum einen wesentlichen Informationszugewinn liefern. Anders als bei HD oder SCA hätte es zudem auch keine direkte Bedeutung für die weitere Familienplanung, da ein bei heterozygoten Nachkommen erhöhtes PD-Erkrankungsrisiko (im späten Lebensalter) hierfür wohl kaum relevant sein wird. Aus einem solchen Testergebnis würden auch keine direkten Behandlungskonsequenzen folgen, da (i) im asymptomatischen Falle derzeit noch keine primärprophylaktischen neuroprotektiven Therapien zur Verfügung stehen, und (ii) im Falle eines Symptomatisch-Werdens die üblichen, bereits gut etablierten PD-Therapien (z. B. Medikamente, Tiefhirnstimulation) angewendet werden (im Unterschied zu HD und SCA, wo effektive Behandlungen nicht gegeben sind). Nervenheilkunde 1–2/2008 Offene Fragen ● ● ● ● Welche genaue Rolle kommt heterozygoten Mutationen bei der Entstehung von M. Parkinson zu und wie häufig sind diese Mutationen bei Patienten und Risikopersonen in Deutschland? Bei welchen weiteren neurologischen Erkrankungen wird man eine genetische Mitbeteiligung im Rahmen einer multifaktoriellen Genese finden? Welche Sorgen und welche Hoffnungen verbinden Risikopersonen mit einer prädiktiven Gendiagnostik bei einer multifaktoriell bedingten neurodegenerativen Erkrankung – und wie stehen sie im Anschluss an eine erfolgte Diagnostik dazu? Wie können praxisnahe Leitlinien zur prädiktiven genetischen Diagnostik bei multifaktoriell bedingten neurodegenerativen Erkrankungen entworfen werden? Prinzip des Nicht-Schadens Im Vergleich zu einer SCA- oder insbesondere HD-Risikoperson wird eine PD-Risikoperson im Falle eines heterozygoten Testergebnisses in den meisten Fällen weniger psychosozial beeinträchtigt sein, da das Auftreten und der Verlauf der Erkrankung aus den vorstehend genannten Gründen wesentlich unsicherer sind und zudem effektivere Behandlungen zur Verfügung stehen. Aufgrund des erhöhten Erkrankungsrisikos könnte der heterozygote Anlageträger jedoch im Vergleich zu einer nicht-getesteten Risikoperson eher geneigt sein, Zeit seines Lebens auf Parkinsonsymptome an sich selbst zu achten, und möglicherweise in der ständigen Sorge leben, im Laufe seines Lebens zu erkranken. Zudem könnte das erhöhte Erkrankungsrisiko für Kranken- oder Lebensversicherungen ein hinreichender Grund sein, schlechtere Versicherungskonditionen anzubieten. Prinzip der Autonomie Aufgrund der geringeren lebensweltlichen Konsequenzen im Falle eines heterozygoten Testergebnisses sind bei einer PD-Risikoperson auch geringere Anforderungen an die Selbstbestimmungsfähigkeiten zu stellen als bei einer HD- oder SCA-Risikoperson. Da bei heterozygoten PD-Mutationen jedoch das Konzept der „Erkrankungswahrscheinlichkeit“ eine wesentlich größere Rolle spielt, ist die Erfahrung aus der Medizin zu beachten, dass es für viele Patienten sehr schwer ist, mit dem komplexen, für die Lebensgestaltung unsicheren Konzept der Wahrscheinlichkeit umzugehen und es nicht vorschnell in eine klarere Binarität („werde ich nun krank oder nicht?“) aufzulösen. Somit sollte ein möglicher Wunsch nach einer prädiktiven Testung stets dahingehend hinterfragt werden, ob die PD-Risikoperson verstanden hat, dass beim Nachweis einer heterozygoter Mutation nur Wahrscheinlichkeiten genannt werden können, nicht jedoch Gewissheiten, und dass darüber hinaus die Wahrscheinlichkeitsangaben noch auf sehr wenigen Studien beruhen und daher mit einer großen Unsicherheit behaftet sind. Prinzip der Verteilungsgerechtigkeit Da verschiedene PD-assoziierte Gene sehr groß sind (z. B. Parkin) oder eine große Zahl an Exons enthalten (z. B. 51 Exons in LRKK2), ist eine Mutationsanalyse wesentlich technisch aufwändiger, mit mehr Laborarbeit verbunden und teurer als z. B. bei den Trinukleotiderkrankungen HD und SCA. Allokationsethische Überlegungen verbieten die Durchführung einer Diagnostik, wenn sie nicht durch einen klaren Nutzen legitimiert werden kann. Fazit und Ausblick Aus der Anwendung der vier Prinzipien lässt sich eine normative Bewertung der prädiktiven PD-Gendiagnostik gewinnen, welche wie folgt zusammengefasst werden kann: Die prädiktive Gendiagnostik kann eindeutig positive (zwei autosomal-rezessi- Downloaded from www.nervenheilkunde-online.de on 2017-06-03 | IP: 88.99.70.242 For personal or educational use only. No other uses without permission. All rights reserved. 89 & Neuroethik Neurophilosophie ve PD-Mutationen) und eindeutig negative (keine PD-Mutation) Ergebnisse liefern, die analog zu den Befunden bei HD und SCA mitgeteilt werden können. Im Falle von einzelnen heterozygoten Mutationen liefert sie jedoch mehrdeutige Ergebnisse, welche für die Risikoperson oftmals keinen wesentlichen, alltagsrelevanten Nutzen haben, ihr aber unter Umständen in verschiedenen Hinsichten schaden könnten und einen hohen Aufwand an Arbeits- und Kostenressourcen erfordert. Hierdurch entsteht eine besondere Herausforderung für den Neurologen oder Neurogenetiker: Führt er eine prädiktive PD-Gendiagnostik für klinische Zwecke durch, so muss er jeden Einzelfall kritisch reflektieren, um in Abhängigkeit der individuellen Gesamtkonstellation diejenigen Risikopersonen zu identifizieren, bei denen eine prädiktive Gendiagnostik mit einem klaren alltagsrelevanten Nutzen verbunden ist, der die möglichen Schäden überwiegt. Für die Forschung mag die prädiktive PD-Gendiagnostik durch den Nutzen legitimiert werden, eine prospektive Beobachtung der natürlichen Krankheitsentstehung sowie möglicherweise auch eine Untersuchung neuroprotektiver Behandlungen zu ermöglichen. Dieses muss jedoch streng mit den vorstehend genannten Schadensrisiken für die PD-Risikoperson abgewogen werden. Wendet man die vorgestellte Argumentation auf die genetische Diagnostik bei symptomatischen PD-Patienten an, so zeigt sich, dass diese fast gleichsinnig ausfällt: Für die klinische Praxis erbringt sie nur selten einen Zusatznutzen, führt jedoch zu verschiedenen Schadensrisiken und einem hohem Verbrauch an Arbeits- und Kostenressourcen. Insofern sollte sie auf eine Gruppe streng selektierter PD-Patienten beschränkt bleiben, bei denen die Gendiagnostik mit einer klar umschriebenen Nutzenserwartung verbunden ist. Beispielsweise könnte sie im Falle eines jugendlichen oder sehr frühen PD-Erkrankungsbeginns oder bei eindeutig positiver Familienanamnese weitere umfangreiche Differenzialdiagnostik eingrenzen und die Unsicherheit der erkrankten Person über die Ätiologie ihrer Erkrankung reduzieren. Literatur 1. Beauchamp T, Childress J. Principles of Biomedical Ethics. 5th ed. New York, Oxford: Oxford University Press 2001. 2. Meincke U, Kosinski C, Zerres K, Maio G. Psychiatrische und ethischenAspekte der genetischen Diagnostik am Beispiel von Chorea Huntington. Nervenarzt 2003; 74(5): 413–419. 3. DeGrazia D. The ethical justification for minimal paternalism in the use of the predictive test for Huntington's disease. J Clin Ethics 1991; 2(4): 219–28; discussion 228–40. 4. Guidelines for the molecular genetics predictive test in Huntington's disease. International Huntington Association (IHA) and the World Federation of Neurology (WFN) Research Group on Huntington's Chorea. Neurology 1994; 44(8): 1533–1536. 5. Marckmann G. Einführung eines klinischen Ethik-Komitees (KEK). In: Napiwotzky A, Student JC, editors. Was braucht der Mensch am Lebensende? Ethisches Handeln und medizinische Machbarkeit. Stuttgart: Kreuz 2007, 134–147. 6. Rieß O, Schöls L, editors. Neurogenetik. Stuttgart: Kohlhammer 2002. 7. Klein C, Lohmann-Hedrich K, Rogaeva E, Schlossmacher MG, Lang AE. Deciphering the role of heterozygous mutations in genes associated with parkinsonism. Lancet Neurol 2007; 6(7): 652–662. 8. Klein C, Schlossmacher MG. The genetics of Parkinson disease: Implications for neurological care. Nat Clin Pract Neurol 2006; 2(3): 136–146. 9. Zimprich A, Biskup S, Leitner P, Lichtner P, Farrer M, Lincoln S et al. Mutations in LRRK2 cause autosomal-dominant parkinsonism with pleomorphic pathology. Neuron 2004; 44(4): 601–607. 10. Hedrich K, Winkler S, Hagenah J, Kabakci K, Kasten M, Schwinger E et al. Recurrent LRRK2 (Park8) mutations in early-onset Parkinson's disease. Mov Disord 2006; 21(9): 1506–1510. 11. Wszolek ZK, Pfeiffer RF, Tsuboi Y, Uitti RJ, McComb RD, Stoessl AJ et al. Autosomal dominant parkinsonism associated with variable synuclein and tau pathology. Neurology 2004; 62(9): 1619–1622. Korrespondenzadresse: Matthis Synofzik M. A. Zentrum für Neurologie Hertie-Institut für Klinische Hirnforschung Hoppe-Seyler-Str.3, 72076 Tübingen Downloaded from www.nervenheilkunde-online.de on 2017-06-03 | IP: 88.99.70.242 For personal or educational use only. No other uses without permission. All rights reserved. Nervenheilkunde 1–2/2008