Jenseits von Mendel

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Neuroethik
Neurophilosophie
Jenseits von Mendel
M. Synofzik, L. Schöls
Die neue ethische Problematik in der prädiktiven neurogenetischen
Diagnostik
S
eitdem im Jahre 1983 das für Chorea Huntington (Huntington’s
Disease, HD) verantwortliche Gen
lokalisiert werden konnte und damit erstmals eine prädiktive Testung von Risikopersonen in Familien mit bekannter HD möglich wurde, sind die damit verbundenen psychischen, sozialen und ethischen Probleme
ausführlich in neurologischen und ethischen
Fachkreisen diskutiert worden.
Ethik bei Huntington-Gendiagnostik
Die Problematik lässt sich anhand der vier
zentralen Grundprinzipien der Bioethik darstellen (1). Eine prädiktive Diagnostik sollte empfohlen werden, wenn
● sie der Risikoperson einen Nutzen bringt
(Prinzip des Wohltuns),
● ihr keinen Schaden zufügt (Prinzip des
Nicht-Schadens)
● dem Willen der Risikoperson entspricht
(Prinzip des Respekts der Autonomie).
● Angesichts der begrenzten Gesundheitsressourcen sollte sie zudem mit einem zu
rechtfertigenden Ressourcenaufwand
durchzuführen sein (Prinzip der Verteilungsgerechtigkeit).
Werden diese Kriterien nicht erfüllt, dann
sollte von der Diagnostik abgeraten werden.
nerschaftliche und familiäre, aber auch die
berufliche – durch Wissen um die kommende
Erkrankung bzw. Nicht-Erkrankung gezielter planen zu können. Denn auch ein positiver
Testbefund könnte einer Risikoperson Zeit
geben, sich wohnlich, beruflich, emotional,
medizinisch und familiär auf die HD-Manifestation vorzubereiten, welche nicht nur die
Bewegungsabläufe, sondern auch Denk- und
Verhaltensprozesse unwiderruflich und mit
letztlich letaler Konsequenz betreffen wird.
Somit unterstützt der prädiktive Gentest bei
positivem Testergebnis die bewusste individuelle Selbstbestimmung und Lebensplanung der Risikoperson – ein Gut, das seit
Kants „sapere aude!“ und dem Aufruf der
Existentialisten, seine eigene Existenz trotz
und gerade in allen Absurditäten des Daseins
Das Thema in Kürze
●
●
●
Prinzip des Wohltuns
Der mögliche Nutzen einer prädiktiven Testung bei HD-Risikopersonen besteht zunächst in der Erleichterung, die bestehende
Unsicherheit über das Erkrankungsrisiko zu
beenden (sei es mit einem positiven oder einem negativen Ergebnis). Hinzu kommt der
Wunsch, die Zukunft – insbesondere die partNervenheilkunde 2008; 27: 85–89
●
Prädiktive Gendiagnostik bei Chorea
Huntington kann zu verschiedenen
Schäden der Risikopersonen führen.
Sie bedarf einer strengen Orientierung
an den bioethischen Grundprinzipien
und an den etablierten Leitlinien.
Diese Leitlinien können für andere
autosomal-dominante Erkrankungen
mit vollständiger Penetranz in analoger Weise übertragen werden.
Neuerdings entdeckt die Neurogenetik eine genetische Grundlage für viele weitere neurodegenerative Erkrankungen (z. B. M. Parkinson, frontotemporale Demenz), wo Genmutationen keine vollständige Penetranz zeigen und/oder nur als Suszeptibilitätsfaktoren im Rahmen einer multifaktoriellen Krankheitsgenese wirken.
Bei diesen Erkrankungen sind der
Nutzen, der Schaden und der Wille
der Risikoperson oftmals schwerer zu
bestimmen. Erste ethische Ansätze
für die Entwicklung geeigneter Leitlinien werden hier vorgeschlagen.
bewusst und individuell zu gestalten, von
höchstem Wert in unserer Gesellschaft ist.
Prinzip des Nicht-Schadens
Diesem Nutzen steht eine möglicherweise
erhebliche psychische und soziale Belastung der Risikopersonen sowie ihrer Familienmitglieder entgegen (welche angesichts
des hohen Risikos depressiver Episoden bei
HD bis zur Suizidalität führen könnte). Das
Wissen, dass
● man an einer schweren, letalen Erkrankung erkranken wird, obwohl man zum
Zeitpunkt der Testung noch gesund ist
und mitten im Leben steht,
● diese Erkrankung bei nahen Verwandten
zu qualvollen Leiden geführt hat,
● hinreichende Prophylaxe- oder Therapiemöglichkeiten fehlen, kann zu einer
Traumatisierung der Risi-koperson im
Falle eines positiven Testergebnisses
führen (2).
Des Weiteren könnten die Risikopersonen
Diskriminierungen beim Abschluss einer
Kranken-, Berufsunfähigkeits- oder Lebensversicherung und bei der Berufswahl oder
dem Abschluss eines Arbeitsvertrages erfahren.
Prinzip des Respekts der Autonomie
Besondere Herausforderungen stellt die
Wahrung der Autonomie der Entscheidung
bei HD-Risikopersonen dar, da bei 40 bis
60% der Mutationsträger psychiatrische
Symptome wie Depression, Suizidalität,
Persönlichkeitsveränderungen oder kognitive Einschränkungen den charakteristischen
motorischen Symptomen teilweise um Jahre
vorausgehen (2). Hier steht dem Wunsch
nach einer genetischen Testung das Risiko
einer nachfolgenden emotionalen Instabilität, Depressivität oder gar Suizidalität ge-
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genüber, es müssen also Autonomieverpflichtungen mit Fürsorgeverpflichtungen
(abgeleitet aus den Wohltunsüberlegungen)
abgewogen werden. Bei dieser Abwägung
bietet sich ein graduelles Vorgehen an (3): Je
stärker die Autonomie einer Risikoperson
eingeschränkt ist, desto sicherer muss vor einer Testung ausgeschlossen werden, dass es
keine Hinweise für eine nachfolgende Gefährdung ihres geistig-seelischen Zustandes
oder ihrer psychosozialen Beziehungen gibt.
Doch selbst wenn eine Risikoperson keinerlei psychische oder kognitive Einschränkungen zeigt, das heißt, wirklich asymptomatisch ist, fällt es in der Praxis oftmals
schwer zu entscheiden, wie man ihre Selbstbestimmung hinreichend respektieren kann.
Denn nur wenige Personen sind in der Lage,
die Folgen eines positiven Gentests auf alle
Bereiche ihres Lebens abzuschätzen, z. B.
die Stigmatisierung und Diskriminierung im
Beruf und in der Familie, partnerschaftliche
Probleme, Familienplanung, soziale Absicherung und langfristige eigene Lebensplanung. Diese Einschränkungen werden in den
1989 erstellten und 1994 überarbeiteten
Richtlinien der Amerikanischen Gesellschaft für HD (4) insofern berücksichtigt, als
diese nicht nur eine eingehende Informierung fordern, sondern auch eine absolut unabhängige, reiflich überlegte Testung zu einem Zeitpunkt geringen allgemeinen Stresses, eingebettet in ein Netzwerk adäquater
psychosozialer und medizinischer Hilfen
und ohne offensichtliche Gefahr für dasAuftreten stärkerer depressiver Symptome.
rekten Gentest die pathogenetisch entscheidende Verlängerung einer repetitiven CAGTrinukleotidsequenz im Huntington Gen
nachzuweisen. Selbst bei insgesamt knappen Ressourcen im deutschen Gesundheitswesen können die Kosten also nicht als wesentlicher Gegeneinwand gegen eine prädiktive Testung eingebracht werden.
Für die Frage, ob ein Arzt zu einer präsymptomatischen Diagnostik bei einer HDRisikoperson an- oder abraten soll, gibt es
keine allgemeine, transindividuell gültige
Empfehlung. Vielmehr sollten die vier genannten Prinzipien in der jeweiligen individuellen Persönlichkeits- und Situationskonstellation stets neu einzeln reflektiert und
ausformuliert werden, um dann nach einer
Gewichtung und begründetenAbwägung zu
einer abschließenden individual-spezifischen Entscheidung zu kommen (5). Es
könnte sowohl für den Arzt als auch für die
Risikoperson hilfreich sein, diesen Prozess
explizit Schritt für Schritt in einem gemeinsamen, interaktiven Gespräch durchzuführen. Dadurch wird die Kohärenz und die
Transparenz des Entscheidungsprozesses
maximiert, was wiederum dazu führt, dass
sowohl Arzt als auch Risikoperson (und
eventuell seine Angehörigen) sich mit der
abschließend getroffenen Entscheidung
besser identifizieren können.
Prinzip der Verteilungsgerechtigkeit
Durch die Fortschritte der Neurogenetik in
den letzten Jahren ist es gelungen, die genetische Grundlage einer Vielzahl weiterer
neurodegenerativer Erkrankungen zu iden-
Seit 1993 besteht die Möglichkeit, durch einen inzwischen relativ kostengünstigen di-
Neue Entwicklungen in der
Neurogenetik
Abb. 1 Abschnitte des LRRK2-Gens und ihre funktionelle Bedeutung. Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Prof.
Thomas Gasser, Tübingen.
Nervenheilkunde 1–2/2008
tifizieren (6). Ein Teil dieser Erkrankungen
folgt ebenfalls einem autosomal-dominanten Mendel’schen Erbgang mit vollständiger Penetranz, so z. B. die spinozerebellären
Ataxien (SCA). Für diese Ataxien sind inzwischen 27 verschiedene Formen chromosomal lokalisiert worden, die Mehrzahl von
diesen in den letzten 10 bis 15 Jahren. Der
Fortschritt in der Genetik führt an dieser
Stelle jedoch nicht zu qualitativ neuen ethischen Problemen, da auch die SCAs
● klar autosomal-dominant vererbt werden,
● eine vollständige Penetranz aufweisen
und
● ihre Gendiagnostik relativ kostengünstig
durchgeführt werden kann, sodass die
vier ethischen Prinzipien weitgehend
analog zur HD angewendet werden können.
Wesentliche Unterschiede bestehen zwar
z. B. in der psychisch-kognitiven Mitbeteiligung (schwere psychiatrische und kognitive Störungen bei HD, eher leichte exekutive
Dysfunktion bei SCA), diese führen jedoch
nicht zu einem qualitativen normativen Unterschied hinsichtlich der ethisch relevanten
Argumente bei der präsymptomatischen Diagnostik. Entsprechend lassen sich auch die
für HD ausgearbeiteten Richtlinien weitgehend übertragen.
In den letzten Jahren wurden jedoch zunehmend genetische Grundlagen für neurodegenerative Erkrankungen aufgedeckt, die
nicht einem Mendel’schen Erbgang mit
vollständiger Penetranz folgen. Beim M.
Parkinson (Parkinson’s Disease, PD) oder
der frontotemporalen Demenz handelt es
sich beispielsweise um ätiologisch komplexe Erkrankungen, bei der heterozygote
Genmutationen z. B. Mutationen im Gen für
Leucine-reiche Repeat-Kinase (LRRK2)
oder im Progranulin-enkodierenden Gen
(PGRN), keine vollständige Penetranz zeigen, sodass diese Mutationen letztlich nicht
alleine für die Krankheitsmanifestation ausschlaggebend sind, sondern primär die Suszeptibilitäts-Schwelle senken (7). Aus der
Beobachtung, dass
● manche heterozygote Genträger während ihres gesamten Lebens ohne Krankheitsmanifestation bleiben (Phänomen
der „unvollständigen Penetranz“) und
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heterozygote Mutationen mit einem großen Spektrum unterschiedlicher klinischer Symptommanifestationen einhergehen können (Phänomen der „variablen Expressivität“),
lässt sich folgern, dass entweder noch andere genetische oder noch weitere nicht-genetische Faktoren die Manifestation von PD
bestimmen, und dass die Expression von
PD-assoziierten Genen von Umwelt- und
Altersfaktoren mit beeinflusst wird (8). Wie
im Folgenden am Beispiel neu entdeckter
heterozygoter Mutationen in PD-assoziierten Genen gezeigt werden soll, hat dieses
zur Folge, dass die Spezifikation der vier
Prinzipien in vielen Teilen anders ausfällt
als bei HD oder anderen autosomal-dominanten Erkrankungen mit vollständiger Penetranz und dass auch eine mögliche Übertragung der HD-Richtlinien für die letztendliche Entscheidung nicht zielführend ist.
Heterozygote Mutationen bei
Parkinson
Der Anteil der PD-Patienten, bei denen die
Erkrankung auf einer genetischen Grundlage beruht, hängt von verschiedenen Variablen ab: Bei jungem Manifestationsalter,
positiver Familienanamnese und bestimmtem ethnischen Hintergrund (z. B. nordafrikanische arabische Herkunft, Abb. 2) ist eine genetische Mitverursachung wahrscheinlich, bei spätem Krankheitsbeginn
und leerer Familienanamnese dagegen eher
unwahrscheinlich (7). Die häufigste Ursache eines genetisch bedingten PD sind Mutationen in dem erst 2004 entdeckten
LRRK2-Gen, welche eine autosomal-dominant vererbte Parkinsonsymptomatik hervorrufen (9; Abb. 1). In ca. 1,5% aller PDIndex-Patienten lässt sich die häufigste
LRRK2-Mutation – Gly2019Ser – nachweisen (10). Obwohl LRRK2-Mutationen
grundsätzlich ein dominantes Vererbungsmuster zeigen, besteht eine unvollständige
Penetranz, sodass selbst 80-jährige Mutationsträger beobachtet werden, die keine
Symptome aufweisen. Der Grad der Penetranz der LRRK2-Mutationen ist noch nicht
Abb. 2 Prävalenz verschiedener LRRK2-Mutationen bei Parkinson-Patienten im weltweiten Vergleich. Abdruck mit
freundlicher Genehmigung von Prof. Thomas Gasser, Tübingen.
abschließend geklärt und wird sehr wechselnd mit 25 bis 85% angegeben (7). Hinzu
kommt eine variable neuropathologische
Expressivität: Bei ein und derselben
LRRK2-Mutation finden sich in post-mortem-Analysen mal Lewy-Körperchen (hier
jedoch in unterschiedlichen Hirnregionen),
mal neurofibrilläre Bündel, mal weder
Lewy-Körperchen noch neurofibrilläre
Bündel (11). Es scheint also eine Reihe modifizierender genetischer und/oder epigenetischer Faktoren zu geben, welche die Penetranz und das Erscheinungsbild eines
LRRK2-assoziierten PD bestimmen, ohne
dass diese bei der Beratung zur prädiktiven
Diagnostik mitgeteilt werden könnten.
Neuerdings wurde erkannt, dass auch heterozygote Mutationen in autosomal-rezessiven PD-Genen – insbesondere Mutationen
im Parkin-Gen (=PARK2, mit 10 bis 20% die
häufigste Mutation bei früh beginnendem
PD) und im PINK1-Gen (PTEN-induzierte
putative Kinase 1, mit 1 bis 9% die zweithäufigste Mutation bei früh beginnendem PD) –
als Suszeptibilitätsfaktor für PD fungieren
können. Dabei scheint die Penetranz heterozygoter Parkin- oder PINK1-Mutationen mit
1 bis 25% noch geringer zu sein als bei
LRRK2-Mutationen (7).
Zusammenfassend sind die genetischen
Grundlagen des PD heterogen: Auf der ei-
nen Seite wurden inzwischen mindestens
zwölf monogenetische PD-Formen mit
Mendel’schem Erbgang identifiziert. Auf
der anderen Seite führen heterozygote Mutationen in mindestens drei Parkinsongenen
nicht notwendigerweise zur Erkrankung,
können aber in Kumulation mit anderen genetischen Faktoren oder Umweltfaktoren
wie Neurotoxinen oder vermehrtem oxidativen Stress zur Manifestation eines PD führen. Diesen heterozygoten genetischen Variationen kommt hierbei primär die Rolle eines Suszeptibilitätsfaktors und nicht die
Rolle eines alleinigen „Krankheitsverursachers“ zu. Klinisch sind diese pathogenetisch unterschiedlichen PD-Formen meist
nicht zu unterscheiden.
Ethik bei Parkinson-Gendiagnostik
Die zusätzliche Komplexität führt zu einer
anders gelagerten Sachproblematik bei der
Beratung zur prädiktiven Diagnostik, sodass auch die vier bioethischen Grundprinzipien in einer anderen Weise ausformuliert
werden müssen.
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Prinzip des Wohlergehens
Damit die prädiktive Diagnostik der Risikoperson einen Nutzen bringt, muss sie nicht
nur wirksam sein, also eine reliable und valide Aussage über das Vorliegen oder NichtVorliegen einer Mutation in einem PD-assoziierten Gen erlauben, sondern auch ein für
den Patienten erstrebenswertes Ziel erreichen. Eben hier ist jedoch unklar, worin dieses liegen sollte: Anders als bei HD oder
SCA erhält ein heterozygoter Anlageträger
keine absolute Planungssicherheit und wird
auch nicht von der Unsicherheit befreit, ob
er einmal erkranken wird oder nicht. Denn
im Gegensatz zu HD oder SCA lassen die
Ergebnisse der PD-Gendiagnostik für heterozygote Anlageträger keine wesentlichen,
alltagsrelevanten Schlüsse auf die Erkrankung zu: Aus dem Vorliegen einer heterozygoten Mutation in einem PD-assozierten
Gen lässt sich weder der Zeitpunkt noch der
Verlauf noch der Phänotyp der Erkrankung
vorhersagen. Vor allem aber kann – aufgrund der vorstehend genannten unvollständigen Penetranz – noch nicht einmal mit Sicherheit vorhergesagt werden, ob sich die
Erkrankung überhaupt manifestieren wird:
Eine heterozygote Mutation könnte mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit einhergehen, zu einem späteren Zeitpunkt einmal
PD zu entwickeln, jedoch bleiben viele
Genträger ebenso bis zum Lebensende
asymptomatisch. Ein heterozygotes Testergebnis wird der Risikoperson also in vielen Fällen kaum einen wesentlichen Informationszugewinn liefern. Anders als bei
HD oder SCA hätte es zudem auch keine direkte Bedeutung für die weitere Familienplanung, da ein bei heterozygoten Nachkommen erhöhtes PD-Erkrankungsrisiko
(im späten Lebensalter) hierfür wohl kaum
relevant sein wird. Aus einem solchen Testergebnis würden auch keine direkten Behandlungskonsequenzen folgen, da (i) im
asymptomatischen Falle derzeit noch keine
primärprophylaktischen neuroprotektiven
Therapien zur Verfügung stehen, und (ii) im
Falle eines Symptomatisch-Werdens die üblichen, bereits gut etablierten PD-Therapien
(z. B. Medikamente, Tiefhirnstimulation)
angewendet werden (im Unterschied zu HD
und SCA, wo effektive Behandlungen nicht
gegeben sind).
Nervenheilkunde 1–2/2008
Offene Fragen
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Welche genaue Rolle kommt heterozygoten Mutationen bei der Entstehung von M. Parkinson zu und wie
häufig sind diese Mutationen bei Patienten und Risikopersonen in
Deutschland?
Bei welchen weiteren neurologischen
Erkrankungen wird man eine genetische Mitbeteiligung im Rahmen einer
multifaktoriellen Genese finden?
Welche Sorgen und welche Hoffnungen verbinden Risikopersonen mit einer prädiktiven Gendiagnostik bei einer multifaktoriell bedingten neurodegenerativen Erkrankung – und wie
stehen sie im Anschluss an eine erfolgte Diagnostik dazu?
Wie können praxisnahe Leitlinien zur
prädiktiven genetischen Diagnostik
bei multifaktoriell bedingten neurodegenerativen Erkrankungen entworfen werden?
Prinzip des Nicht-Schadens
Im Vergleich zu einer SCA- oder insbesondere HD-Risikoperson wird eine PD-Risikoperson im Falle eines heterozygoten Testergebnisses in den meisten Fällen weniger
psychosozial beeinträchtigt sein, da das
Auftreten und der Verlauf der Erkrankung
aus den vorstehend genannten Gründen wesentlich unsicherer sind und zudem effektivere Behandlungen zur Verfügung stehen.
Aufgrund des erhöhten Erkrankungsrisikos
könnte der heterozygote Anlageträger jedoch im Vergleich zu einer nicht-getesteten
Risikoperson eher geneigt sein, Zeit seines
Lebens auf Parkinsonsymptome an sich
selbst zu achten, und möglicherweise in der
ständigen Sorge leben, im Laufe seines Lebens zu erkranken. Zudem könnte das erhöhte Erkrankungsrisiko für Kranken- oder
Lebensversicherungen ein hinreichender
Grund sein, schlechtere Versicherungskonditionen anzubieten.
Prinzip der Autonomie
Aufgrund der geringeren lebensweltlichen
Konsequenzen im Falle eines heterozygoten
Testergebnisses sind bei einer PD-Risikoperson auch geringere Anforderungen an
die Selbstbestimmungsfähigkeiten zu stellen als bei einer HD- oder SCA-Risikoperson. Da bei heterozygoten PD-Mutationen
jedoch das Konzept der „Erkrankungswahrscheinlichkeit“ eine wesentlich größere
Rolle spielt, ist die Erfahrung aus der Medizin zu beachten, dass es für viele Patienten
sehr schwer ist, mit dem komplexen, für die
Lebensgestaltung unsicheren Konzept der
Wahrscheinlichkeit umzugehen und es nicht
vorschnell in eine klarere Binarität („werde
ich nun krank oder nicht?“) aufzulösen. Somit sollte ein möglicher Wunsch nach einer
prädiktiven Testung stets dahingehend hinterfragt werden, ob die PD-Risikoperson
verstanden hat, dass beim Nachweis einer
heterozygoter Mutation nur Wahrscheinlichkeiten genannt werden können, nicht jedoch Gewissheiten, und dass darüber hinaus
die Wahrscheinlichkeitsangaben noch auf
sehr wenigen Studien beruhen und daher
mit einer großen Unsicherheit behaftet sind.
Prinzip der Verteilungsgerechtigkeit
Da verschiedene PD-assoziierte Gene sehr
groß sind (z. B. Parkin) oder eine große Zahl
an Exons enthalten (z. B. 51 Exons in
LRKK2), ist eine Mutationsanalyse wesentlich technisch aufwändiger, mit mehr Laborarbeit verbunden und teurer als z. B. bei
den Trinukleotiderkrankungen HD und
SCA. Allokationsethische Überlegungen
verbieten die Durchführung einer Diagnostik, wenn sie nicht durch einen klaren Nutzen legitimiert werden kann.
Fazit und Ausblick
Aus der Anwendung der vier Prinzipien
lässt sich eine normative Bewertung der
prädiktiven PD-Gendiagnostik gewinnen,
welche wie folgt zusammengefasst werden
kann: Die prädiktive Gendiagnostik kann
eindeutig positive (zwei autosomal-rezessi-
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ve PD-Mutationen) und eindeutig negative
(keine PD-Mutation) Ergebnisse liefern, die
analog zu den Befunden bei HD und SCA
mitgeteilt werden können. Im Falle von einzelnen heterozygoten Mutationen liefert sie
jedoch mehrdeutige Ergebnisse, welche für
die Risikoperson oftmals keinen wesentlichen, alltagsrelevanten Nutzen haben, ihr
aber unter Umständen in verschiedenen
Hinsichten schaden könnten und einen hohen Aufwand an Arbeits- und Kostenressourcen erfordert. Hierdurch entsteht eine
besondere Herausforderung für den Neurologen oder Neurogenetiker: Führt er eine
prädiktive PD-Gendiagnostik für klinische
Zwecke durch, so muss er jeden Einzelfall
kritisch reflektieren, um in Abhängigkeit
der individuellen Gesamtkonstellation diejenigen Risikopersonen zu identifizieren,
bei denen eine prädiktive Gendiagnostik mit
einem klaren alltagsrelevanten Nutzen verbunden ist, der die möglichen Schäden
überwiegt. Für die Forschung mag die prädiktive PD-Gendiagnostik durch den Nutzen legitimiert werden, eine prospektive Beobachtung der natürlichen Krankheitsentstehung sowie möglicherweise auch eine
Untersuchung neuroprotektiver Behandlungen zu ermöglichen. Dieses muss jedoch
streng mit den vorstehend genannten Schadensrisiken für die PD-Risikoperson abgewogen werden. Wendet man die vorgestellte
Argumentation auf die genetische Diagnostik bei symptomatischen PD-Patienten an,
so zeigt sich, dass diese fast gleichsinnig
ausfällt: Für die klinische Praxis erbringt sie
nur selten einen Zusatznutzen, führt jedoch
zu verschiedenen Schadensrisiken und einem hohem Verbrauch an Arbeits- und Kostenressourcen. Insofern sollte sie auf eine
Gruppe streng selektierter PD-Patienten beschränkt bleiben, bei denen die Gendiagnostik mit einer klar umschriebenen Nutzenserwartung verbunden ist. Beispielsweise könnte sie im Falle eines jugendlichen
oder sehr frühen PD-Erkrankungsbeginns
oder bei eindeutig positiver Familienanamnese weitere umfangreiche Differenzialdiagnostik eingrenzen und die Unsicherheit
der erkrankten Person über die Ätiologie ihrer Erkrankung reduzieren.
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Korrespondenzadresse:
Matthis Synofzik M. A.
Zentrum für Neurologie
Hertie-Institut für Klinische Hirnforschung
Hoppe-Seyler-Str.3, 72076 Tübingen
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