Zutiefst erschüttern: | Nachrichten auf ZEIT ONLINE Seite 1 ZEIT ONLINE Startseite » Wissen Archivtexte wurden automatisch digitalisiert und können Fehler enthalten. » Infraschall ist zwar nicht hörbar, kann aber erstaunliche Wirkungen hervorbringen Zutiefst erschütternd Jochen Pade | © DIE ZEIT, 28.05.1993 Nr. 22 Von Jochen Pade Demutspfeifen" - das Wort bezeichnet nicht etwa gewisse Zeitgenossen, sondern vielmehr meterhohe Orgelpfeifen, deren Töne so tief sind, daß sie unhörbar bleiben, aber dennoch eine bedrückende Stimmung verbreiten können. Bei passenden Gelegenheiten angeblasen, sollen die mächtigen Flöten die Demut der gläubigen Gemeinde vertiefen, so wird jedenfalls erzählt. Dies ist nur eine der vielen erstaunlichen Geschichten über die Wirkungen extrem tieffrequenter Luftschallwellen. Der sogenannte Infraschall gilt anderen beispielsweise als Ursache von Nervenzusammenbrüchen und muß für viele weitere Mißhelligkeiten des modernen Lebens hinhalten. Längst gehört das Thema Infraschall zum Repertoire der Kritik an unserer technischen Zivilisation. Ein Grund für die Unzahl falscher Vorstellungen mag darin liegen, daß „bisher im Vergleich zum hörbaren Schall nur wenige fundierte Kenntnisse und Ergebnisse vorliegen", wie Rüdiger Borgmann vom Bayerischen Landesamt für Umweltschutz meint. Das Gebiet des Infraschalls beginnt unterhalb der menschlichen Hörschwelle von etwa sechzehn bis zwanzig Hertz (Hz). Zum Vergleich: Der tiefste Ton auf einem üblichen Klavier schwingt mit ungefähr achtundzwanzig Hz; die neun farblich abgesetzten Zusatztasten großer Konzertflügel, zum Beispiel des Imperial der Firma Bösendorfer, führen hinunter bis zum sogenannten Subkontra-C von rund sechzehn Hz. Für Infraschall gelten die gleichen physikalischen Gesetzmäßigkeiten wie für Hörund für Ultraschall. Vor allem wegen der großen Länge der Infraschallwellen, die bis zu einigen hundert Metern betragen kann, weisen sie zudem gewisse Eigentümlichkeiten auf wie etwa die geringe Dämpfung: So konnte zum Beispiel nach dem Ausbruch des Vulkans Krakatau im Jahre 1883 der Infraschallanteil des Eruptionsknalls noch nachgewiesen werden, nachdem er zweieinhalbmal um die Erde gelaufen war. Die unhörbaren Bässe sind keineswegs ein seltenes Phänomen. Meeresbrandung und Wasserfälle, Donner, Lawinen, Erdbeben und Meteore - neben Vulkaneruptionen gibt es noch viele weitere natürliche Infraschallquellen. Die verbreitetste und gleichzeitig eine der kräftigsten ist der Wind; schon bei steifen Brisen werden Pegel von 110 Dezibel (dB) erreicht, bei Sturm 135 dB und mehr. Ähnlich hohe Werte, die bei hörbarem Schall schon über der Schmerzschwelle liegen würden, können übrigens auch beim Autofahren mit offenem Fenster oder Schiebedach auftreten. Die Technik ist für den Löwenanteil der heutigen Infrabeschallung und der damit zusammenhängenden Probleme verantwortlich. In Verkehrsmitteln, unter Brücken und in Tunnels kann der Zeitgenosse zum Teil beachtlichen Pegeln ausgesetzt sein. Neben Heizungs-, Klimaoder Lüftungsanlagen als weitverbreiteten Störenfrieden gibt eine ganze Reihe industrieller Prozesse hohe Infraschallemissionen ab; entsprechend erheblich kann die Belastung am Arbeitsplatz sein. Ganz legal übrigens, da - anders als für Hörschall - der Immissionsschutz noch keine Grenzwerte vorschreibt. In Wohnund Erholungsgebieten hingegen gelten hohe Pegel als vergleichsweise selten. Zu deutlichen Belästigungen kann es aber auch hier kommen, wenn sich zum Beispiel in benachbarten Industriebetrieben Schwingungen von Maschinen auf großflächige Gebäudeteile wie Wände oder Dächer übertragen. 1 | 2 </1993/22/Zutiefst-erschuetternd?page=2> | 3 </1993/22/Zutiefst-erschuetternd?page=3> | 4 </1993/22/Zutiefst-erschuetternd?page=4> | 5 </ weiter » </1993/22/Zutiefst-erschuetternd?page=2> 1993/22/Zutiefst-erschuetternd?page=5> | http://www.zeit.de/1993/22/Zutiefst-erschuetternd 02.02.2009 20:54:39 Zutiefst erschüttern: | Nachrichten auf ZEIT ONLINE Seite 1 ZEIT ONLINE Startseite » Wissen TEIL 2 Für Infraschall sind nur wenige nützliche Anwendungen bekannt. Immer mal wieder en vogue sind Berichte über den Einsatz von Infraschall zur Intelligenzsteigerung (die mittlere Frequenz der sogenannten Alphawellen des menschlichen Gehirns liegt mit sieben Hertz im Infraschallbereich) - sicher öffentlichkeitswirksam, aber in keiner Weise wissenschaftlich belegbar. Belegt ist dagegen die Eignung des Infraschalls als Putzhilfe. Mit einem sogenannten Infrafon werden Kessel, Filter und andere Gerätschaften von trockenen Staubteilchen gereinigt. Etwas künstlerischer mutet Sensorround an: Vor rund Die unhörbaren Schallwellen helfen wohlnicht beim Denken, aber beim Putzen zwanzig Jahren wurde dieses Tonsystem mit Infraschallkomponenten für einen Film namens „Earthquake" entwickelt; den Zuschauern sollte ein möglichst echter Eindruck vom Grammeln der Naturkatastrophe geboten werden. Als Vogelscheuche scheint der stille Lärm schlecht zu funktionieren; Versuchen, mit seiner Hilfe Stadttauben zu vertreiben, war kein Erfolg beschieden. Wie läßt sich Infraschall wahrnehmen? Bässe, die durch Bodenschwingungen übertragen werden, können den ganzen Körper zum Kribbeln bringen. Infraschall als Luftschwingung wirkt dagegen nur auf die gasgefüllten Hohlräume in Lunge, Nasenund Stirnhöhle und im Darm; das bei weitem sensibelste Organ ist indessen das Ohr. Wahrnehmungsschwelle im Bereich tiefer Frequenzen « </1993/22/Zutiefst-erschuetternd?page=1> 1 </1993/22/Zutiefst-erschuetternd?page=1> | 1993/22/Zutiefst-erschuetternd?page=4> | 2 | 3 </1993/22/Zutiefst-erschuetternd?page=3> | 4 </ 5 </1993/22/Zutiefst-erschuetternd?page=5> | weiter » </1993/22/Zutiefst-erschuetternd?page=3> ZEIT ONLINE ist Teil der Verlagsgruppe Georg von Holtzbrinck. Weitere Angebote » http://www.zeit.de/1993/22/Zutiefst-erschuetternd?page=2 02.02.2009 20:57:19 Zutiefst erschüttern: | Nachrichten auf ZEIT ONLINE Seite 1 ZEIT ONLINE Startseite » Wissen TEIL 3 /Vahrnehmungsjt— ------- schwelle ft^ ----- _~ ~ Freq Jens 0 2 4 8 16 31,5 63 125 250 Infraschall Hörschall -VW Quelle: Uni Oldenburg Im vertrauten Sinne „hören" kann es die extrem tiefen Töne nicht - es fehlt zum Beispiel die Tonhöhenempfindung. Statt dessen reagiert das Ohr mit hartnäckigen Druckgefühlen und undeutlichen Schallempfindungen, die dem wummernden Flattern im offenen Auto ähneln. Daß darüber hinaus die eigentlich unhörbaren Geräusche zuweilen förmlich „hörbar" zu werden scheinen, mag von der nichtlinearen Informationsverarbeitung des Ohres herrühren, die unhörbare Tieffrequenzen durch Oberwellen ergänzt, die im hörbaren Bereich liegen. « </1993/22/Zutiefst-erschuetternd?page=2> 1 </1993/22/Zutiefst-erschuetternd?page=1> | 1993/22/Zutiefst-erschuetternd?page=4> | 2 </1993/22/Zutiefst-erschuetternd?page=2> | 3 | 4 </ 5 </1993/22/Zutiefst-erschuetternd?page=5> | weiter » </1993/22/Zutiefst-erschuetternd?page=4> ZEIT ONLINE ist Teil der Verlagsgruppe Georg von Holtzbrinck. Weitere Angebote » http://www.zeit.de/1993/22/Zutiefst-erschuetternd?page=3 02.02.2009 20:58:23 Zutiefst erschüttern: | Nachrichten auf ZEIT ONLINE Seite 1 ZEIT ONLINE Startseite » Wissen TEIL 4 Infraschall läßt sich bis zu Frequenzen von ein bis zwei Hertz hinunter wahrnehmen. Dabei hängt die Wahrnehmungsschwelle von der Frequenz ab; da das Ohr zu tiefen Frequenzen hin immer unempfindlicher wird, führen dort nur recht hohe Pegel zu merklichen Reaktionen (siehe Zeichnung). In dem Mischgebiet zwischen Infraund „normalem" Schall geht die Wahrnehmungsschwelle stetig in die übliche Hörschwelle über; auf ähnliche Weise lassen sich Kurven gleicher Wahrnehmungsstärke für die Gebiete von Infraund Hörschall ausmessen. Diese Kurven sind Mittelwerte, gewonnen aus den Wahrnehmungen vieler Versuchspersonen; die Erfahrung einzelner mag davon mehr oder weniger differieren. Die Kurven zeigen: Damit Infraschall wahrnehmbar ist, muß sein Pegel derart hoch liegen, daß bei Hörschall schon Schutzmaßnahmen zur Vermeidung von Gehörschäden erforderlich wären. Die Frage, wie Infraschall auf die Gesundheit des Menschen wirkt, läßt sich noch nicht umfassend beantworten und zwar, so Rüdiger Borgmann, „aufgrund der bisher wenig abgesicherten, zum Teil auch widersprüchlichen Meßergebnisse" \or allem bei schwächeren Infraschallgeräuschen. Unbestritten ist, daß bei extrem hohen Schallpegeln körperliche Schädigungen eintreten. Infraschall mit 170 dB soll bereits nach zehnminütiger Einwirkdauer zum Reißen der Lungenbläschen und damit zum Tod führen. Andere Untersuchungen berichten davon, daß bei Pegeln über 160 dB mit einer mechanischen Beschädigung des Tromnelfells sowie des Mittelund Innenohres zu rechten ist. Atemund Kopfschmerzen, Abnahme des Leistungsund Konzentrationsvermögens, allgemeine Streßreaktionen, Ohrenklingen und -rauschen, Benommenheit - das sind einige der vielen Reaktionen, die sehr hohe Infraschallpegel zwischen 140 dB und 155 dB auslösen können. Die Erscheinungen sind ganz ähnlich wie bei sehr tieffrequenföm Hörschall; die wesentliche Ausnahme: Das im Innenohr liegende Gleichgewichtsorgan scheint sich besonders gut durch Infraschall beeinflussen zu lassen - Waffenexperten haben daher schon überlegt, ob sich mit Hilfe der stillen Bässe eine intensive künstliche „Seekrankheit" mit all ihren unangenehmen Folgen auslösen läßt. Es liegt auf der Hand, daß sich Uniformträger aller Art für den sound of silence interessierten. Während des Zweiten Weltkrieges wurde in England und Japan, rund zwanzig Jahre später mit den sogenannten Todesposaunen von Marseille auch in Frankreich die Möglichkeit untersucht, Infraschall als tödliche Waffe oder zumindest als Streßkanone einzusetzen. Um in einem Radius von 250 Metern letale Wirkung hervorzurufen, wären aber derart hohe Schalleistungen aufzubringen, daß man diese Systeme als impraktikabel einstufen muß allemal im Vergleich zu so smarten Schöpfungen wie der Neutronenbombe. Solange Infraschall nicht wahrnehmbar ist, scheint er keinerlei physiologische Wirkung zu haben. Die Psyche kann der unhörbare Lärm aber schon direkt ab der Wahrnehmungsschwelle beeinflussen (heimlich, still und leise). Rüdiger Borgmann: „Man kann davon ausgehen, daß ein störender oder belästigender Effekt bereits ab der Wahrnehmbarkeitsschwelle auftritt. Das äußert sich in Unsicherheit und Angstgefühlen, Sensibilisierung und Fixierung auf die wahrgenommenen Geräusche." Demutspfeifen könnten also vielleicht tatsächlich funktionieren. Angesichts des großen Materialaufwandes und des seltenen Einsatzes dürfte der gewünschte Demutseffekt allerdings mit den erprobten Mitteln herkömmlicher Art wesentlich leichter zu erzielen sein. Und so verwundert das Ergebnis einer kleinen Umfrage unter Orgelfachleuten nicht: Niemand weiß von der Existenz solcher Pfeifen; allenfalls hat der eine oder andere davon erzählen hören. « </1993/22/Zutiefst-erschuetternd?page=3> 1 </1993/22/Zutiefst-erschuetternd?page=1> | 22/Zutiefst-erschuetternd?page=3> | 2 </1993/22/Zutiefst-erschuetternd?page=2> | 3 </1993/ 4 | 5 </1993/22/Zutiefst-erschuetternd?page=5> | weiter » </1993/22/Zutiefst-erschuetternd?page=5> ZEIT ONLINE ist Teil der Verlagsgruppe Georg von Holtzbrinck. Weitere Angebote » http://www.zeit.de/1993/22/Zutiefst-erschuetternd?page=4 02.02.2009 20:58:59