Lässt sich die Pflicht einer sechsmonatigen Alkoholabstinenz vor

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Lässt sich die Pflicht einer sechsmonatigen Alkoholabstinenz vor Aufnahme auf die Warteliste für eine Lebertransplantation ethisch rechtfertigen? Ein Positionspapier Ad‐hoc‐Gruppe Ethik der Transplantationsmedizin* Hintergrund Aktuell wird kontrovers diskutiert, ob die sogenannte 6‐Monatsregel bei der Organvermittlung zur Lebertransplantation medizinisch, ethisch und rechtlich zu rechtfertigen ist. Der Regel zufolge müssen Patienten mit einer alkoholinduzierten Leberzirrhose vor Aufnahme auf die Warteliste mindestens sechs Monate alkoholabstinent gelebt haben. In Deutschland und den USA ist diese Regel gegenwärtig Teil der Richtlinien zur Lebertransplantation. Die medizinische Sinnhaftigkeit dieser Regel wird jedoch von aktuellen klinischen Studien in Frage gestellt: Daher wurde die Regel in einigen europäischen Ländern bereits aufgegeben. Pilotstudien in Frankreich und Großbritannien untersuchen gegenwärtig die verschiedenen praktischen Möglichkeiten einer Lebetransplantation ohne vorherige Abstinenz. Die Ständige Kommission Organtransplantation (StäKO) hat die Richtlinien der Bundesärztekammer (BÄK) zur Lebertransplantation gerade überarbeitet (vgl. Dtsch Arztebl 2015; 112(31‐32): A‐1348). Sie hat dabei die Regel beibehalten, dass Patienten mit einer alkoholinduzierten Leberzirrhose erst nach einer anamnestisch 6‐monatigen Alkoholabstinenz auf die Warteliste aufgenommen werden. In der aktuellen Überarbeitung der Richtlinie will die Ständige Kommission Organtransplantation (StäKO) diese Regel offenbar beibehalten. Die ethischen Bedenken sollen durch eine Öffnungsklausel aufgefangen werden: Die interdisziplinäre Transplantationskonferenz des Transplantationszentrums kann in begründeten Ausnahmefällen von der 6‐Monatsregel abweichen, die „insbesondere vorliegen bei akut dekompensierter alkoholischer Lebererkrankung, Notwendigkeit und Erfolgsaussicht für die Transplantation“ (Abschnitt III.2.1, S. A5). Zuvor ist eine gutachterliche Stellungnahme einer unabhängigen Sachverständigengruppe einzuholen, deren Mitglieder von der StäKO benannt werden. Der vorliegende Beitrag möchte im Folgenden die ethischen Argumente zur 6‐Monatsregel darstellen, kritisch prüfen und in der Schlussfolgerung die Position begründen, dass die 6‐
Monatsregel unter dem gegebenen Wissens‐ und Diskussionsstand ethisch nicht gerechtfertigt ist. Eine systematische Übersicht aller empirischen Daten zum Zusammenhang von Alkoholkarenz und Erfolg einer Lebertransplantation ist dabei nicht Ziel dieser Arbeit. Ethische Gründe für und gegen die 6‐Monatsregel Für die geforderte 6‐monatige Abstinenz vor Aufnahme auf die Warteliste bei alkoholinduzierter Leberzirrhose werden vor allem zwei Gründe angeführt, die beide aus ethischer Sicht zunächst plausibel und daher beachtenswert sind: a) Patientenorientierte Gründe: Die 6‐Monatsregel sei, so die Verteidiger dieser Regel, im Interesse der alkoholkranken Patienten, da sich insbesondere durch eine Alkoholabstinenz die Leberfunktion verbessern und damit u.U. eine Lebertransplantation vermieden werden könne. Somit würden den Patienten auch die Risiken einer Lebertransplantation und der damit verbundenen lebenslangen Immunsuppression erspart bleiben. b) Allokationsorientierte Gründe: Die 6‐Monatsregel fördere eine effektive Nutzung der begrenzt verfügbaren Spenderorgane, da Patienten mit mittelfristiger Alkoholabstinenz eine längere Überlebenszeit nach Lebertransplantation hätten (z.B. aufgrund einer niedrigeren Rezidivwahrscheinlichkeit) und deshalb bei der Transplantation zu bevorzugen seien. Im Folgenden möchten wir darstellen, dass diese Gründe zwar prima facie plausibel sind, aber keine ausreichende ethische Rechtfertigung für die 6‐Monatsregel bieten. Patientenorientierte Gründe Ohne Zweifel ist eine Lebertransplantation erst nach Ausschöpfen kurativer Therapiemöglichkeiten der alkoholbedingten Lebererkrankung angezeigt. Dies umfasst insbesondere eine vollständige Alkoholkarenz, durch die sich die Leberfunktion wieder erholen kann. Eine starre zeitliche Vorgabe erscheint medizinisch jedoch nicht sinnvoll. Ob sich die Organfunktion wieder verbessern kann oder nicht und daher eine Transplantation indiziert ist, lässt sich nur in Abhängigkeit vom Schweregrad der Leberzirrhose nach einer unterschiedlich langen Zeitspanne beurteilen. Über patientenorientierte Gründe lässt sich somit zwar die therapeutische Bedeutung einer Alkoholkarenz begründen; keinesfalls jedoch eine starre, patientenunabhängige Grenze von 6 Monaten und damit auch nicht die 6‐
Monatsregel bei der Aufnahme auf die Warteliste. Allokationsorientierte Gründe Sofern eine effektive Nutzung der knappen Ressource ‚Organ‘ als Kriterium für die Aufnahme in die Warteliste für akzeptabel gehalten wird (wie dies implizit die allokationsorientierten Gründe voraussetzen), so ist aus Gerechtigkeitsgründen die mögliche Einschränkung der Erfolgsaussicht bei allen Patienten gleichermaßen zu berücksichtigen. Dies darf also nicht nur bei Patienten mit einer alkoholinduzierten Zirrhose gelten (siehe hierzu auch die Konsistenzerfordernis der Richtlinien der BÄK gem. § 16 Abs. 1 S. 1 Nrn. 2 und 5 Transplantationsgesetz, TPG.). Es ist konsistenter Weise also zu fordern, dass Patienten mit einer vergleichbar eingeschränkten Erfolgsaussicht beim Zugang zur Warteliste gleich behandelt werden – was bislang aber nicht durchgängig der Fall ist. Die 6‐Monatsregel soll sicherstellen, dass nur solche Patienten die knappe Ressource ‚Organ‘ in Anspruch nehmen, die eine geringere Wahrscheinlichkeit eines Rückfalls in ihre Alkoholkrankheit und damit eine höhere Erfolgsaussicht bei der Lebertransplantation haben. Dahinter steht die Annahme, dass Patienten mit einem erneuten Alkoholkonsum nach der Transplantation insgesamt schlechtere Überlebenswahrscheinlichkeiten sowie schlechtere Aussichten auf eine gute Lebensqualität haben, da sie das transplantierte Organ durch den Rückfall wieder schädigen könnten und dann möglicherweise erneut eine Transplantation bräuchten. Um die 6‐Monatsregel zu begründen, wäre folglich evidenz‐basiert zu zeigen, dass (1) die 6‐monatige Abstinenz ein hinreichend valider Prädiktor für die künftige Alkoholabstinenz und damit die Verhinderung eines Rezidivs in die alkoholbedingte Lebererkrankung ist und (2) die Erfolgsaussicht der Transplantation bei einer alkoholinduzierten Leberzirrhose bei rückfälligen Patienten so stark eingeschränkt ist, dass dies – im Vergleich zu anderen Patienten – einen Ausschluss von der Warteliste rechtfertigt. Die geforderte 6‐monatige Alkoholabstinenz schließt Patienten von einer potenziell lebensrettenden Therapie aus. Angesichts der besonderen Tragweite dieser Regelung sind neben der ethischen Begründung besondere Anforderungen an die Verlässlichkeit und Eindeutigkeit der zugrundeliegenden Evidenz zu stellen. Mit anderen Worten: Die Datenlage zur prädiktiven Kraft der 6‐Monatsregel muss konsistent und überzeugend ist. Sie müsste eindeutig zeigen, dass die Überlebenszeiten rückfälliger Patienten signifikant schlechter sind als die von Patienten aus Vergleichskollektiven. Bislang scheinen diese Voraussetzungen nicht erfüllt. Eine systematische prospektive Evaluation der 6‐monatigen Karenzzeit ist bislang nicht berichtet. Es scheinen also keine eindeutigen empirischen Ergebnisse vorzuliegen, die zeigen, dass es sich bei den 6 Monaten Alkoholabstinenz für sich genommen um einen verlässlichen prädiktiven Faktor und nicht um eine willkürlich festgesetzte Grenze handelt. Im britischen National Health Service etwa wird in den Regelungen zur Evaluation vor Lebertransplantation explizit darauf hingewiesen, dass eine erfolgreiche Vorhersage von Rückfällen nicht über einen einzelnen Indikator (Zeitangabe) erfolgen kann, sondern über die kombinierte Beurteilung verschiedener individueller Faktoren.1 Die unsichere bzw. widersprüchliche Evidenz zur Validität der 6‐Monatsregel reicht folglich nicht aus, um bestimmte Patienten von einer medizinisch indizierten, häufig lebensrettenden und vom Patienten gewünschten Therapie auszuschließen. Doch selbst wenn sich herausstellen sollte, dass die 6‐Monatsregel ein eindeutiger Prädiktor für Rückfälle von alkoholkranken Patienten ist, wäre zu fordern, dass die Erfolgsaussicht der Transplantation bei rückfälligen Patienten im Vergleich zu anderen Patienten mit einer Indikation zur Lebertransplantation so stark eingeschränkt ist, dass dies einen Ausschluss von der Warteliste rechtfertigt. Es gibt derzeit Hinweise darauf, dass diese Unterschiede kleiner ausfallen als man gemeinhin annimmt. In einer Studie von Schmeding et al. etwa lag die 10‐Jahresüberlebensrate auch bei Patienten mit Rückfall noch bei 67% (vs. 80%) (Schmeding et al. 2011). Ein Unterschied zwischen 67% und 80% hinsichtlich einer 10‐
Jahresüberlebensrate scheint aus ethischer Sicht nicht groß genug zu sein, um die enorme Benachteiligung einer bestimmten Personengruppe mit alkoholinduzierter Leberzirrhose zu rechtfertigen und einen Ausschluss von der Warteliste zu begründen, der mit hoher Wahrscheinlichkeit zum baldigen Tod des Patienten führen wird. Im Ergebnis stellen die beiden patienten‐ und allokationsorientierten Gründe derzeit keine hinreichende ethische Begründung der 6‐Monatsregel dar. Gibt es weitere Gründe? Wenn die beiden prima facie plausiblen ethischen Gründe nicht ausreichend tragfähig sind, stellt sich die Frage, ob vielleicht andere, meist nicht explizit ausgeführte Gründe, eine Rolle bei der Argumentation spielen. In der Fachliteratur wird manchmal ein dritter Grund für die Posteriorisierung von Personen mit Alkoholabusus genannt, nämlich die „Berücksichtigung gesellschaftlicher Allokations‐Präferenzen“, wie z.B. Volk argumentiert (Volk 2012): „In general, physicians should not make decisions on the basis of (often uninformed) majority opinion. However, there exists the very real possibility that broadening transplantation for AH [alcoholic hepatitis] could undermine public trust in the transplant system and possibly harm organ donation rates.” 1
POLICY POL 195/4 „Liver Transplantation: Selection Criteria and Recipient Registration“, http://odt.nhs.uk/pdf/liver_selection_policy.pdf (v.a. S. 6) Formatiert: Deutsch (Deutschland)
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Dieser dritte Grund wäre bereits aus juristischer Sicht problematisch, da ein solcher Grund für die Priorisierung bzw. Posteriorisierung bei der Organallokation bislang nicht im TPG vorgesehen ist. Ein weiteres, hiermit eng verknüpftes Argument findet sich in der Diskussion um die ‚selbstverantwortete‘ Erkrankung: Landläufig wird an alkoholindizierter Leberzirrhose erkrankten Personen gerne unterstellt, sie seien selbst schuld und hätten daher kein Recht auf eine ‚gespendete‘ Leber bzw. eine solidarisch finanzierte Lebertransplantation. Dieses Argument ist in diesem Kontext höchst problematisch, da es zum einen ignoriert, dass die Alkoholabhängigkeit eine anerkannte Erkrankung mit einer komplexen Ätiopathogenese ist. Zum anderen sieht das Sozialgesetzbuch keine Einschränkung der Leistungspflicht der Krankenkassen bei Selbstverschulden der Erkrankung vor. Ob es der 6‐Monatskarenzregel bedarf, um im Patienteninteresse seitens der Transplantationszentren sicherzustellen, dass Patienten in der Behandlung ihrer Alkoholerkrankung so umfassend unterstützt wurden, dass ihnen eventuell eine mit enormen Risiken behafteten Behandlung wie die Lebertransplantation erspart werden könnte oder andernfalls eine Adhärenz zu einer ggf. lebenslangen Immuntherapie möglich ist, kann gefragt werden. Diese Bedingungen könnte und sollte aber auch durch andere Maßnahmen zur Suchtbehandlung bei alkoholinduzierten Lebererkrankung bzw. einen weniger strikten Zeitvorgabe abgedeckt werden. Schlussfolgerung Zusammenfassend ist festzustellen, dass es aktuell keine hinreichend tragfähigen ethischen Argumente für die 6‐Monatsregel bei alkoholinduzierter Leberzirrhose gibt. Die neue Ausnahmeregelung ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Sie löst aber das Problem der fehlenden Evidenz und damit unzureichenden ethischen Begründung der 6‐Monatsregel nicht. Eigentlich wäre die Sachverständigenkommission in Zukunft standardmäßig bei allen Patienten mit akut dekompensierter alkoholischer Lebererkrankung einzuschalten: Denn nach welchen anderen als im TPG genannten Kriterien soll die lokale Transplantationskonferenz entscheiden, ob sie bei einem Patienten mit akut dekompensierter alkoholischer Lebererkrankung von der 6‐Monatsregel abweichen und die unabhängige Sachverständigengruppe einschalten will oder eben nicht? Damit hätten wir aber die paradoxe Situation, dass derjenige, der auf Grundlage der im TPG vorgegebenen Kriterien von der nicht evidenzbasierten und damit ethisch nicht gerechtfertigten 6‐
Monatsregel abweicht, dies vor einer Sachverständigengruppe begründen muss. Solange die 6‐Monatsregel nicht durch valide und aussagekräftige empirische Studien und systematische Literaturübersichten zum Zusammenhang von Alkoholkarenz und Prognose nach Lebertransplantation gestützt ist, sollte sie folglich auch nicht Bestandteil einer Richtlinie der Bundesärztekammer zur Organtransplantation sein. Referenzen Schmeding, M., C. Heidenhain, R. Neuhaus, P. Neuhaus, and U. P. Neumann. 2011. "Liver transplantation for alcohol‐related cirrhosis: a single centre long‐term clinical and histological follow‐up." Dig Dis Sci 56 (1):236‐43. doi: 10.1007/s10620‐010‐1281‐7. Siegmund‐Schultze, N. 2014. "Die Verteilung des Mangels." Deutsches Ärzteblatt 111 (45). Volk, M. 2012. "Liver transplantation for alcoholic hepatitis." Gastroenterology 142 (4):1037‐8. doi: 10.1053/j.gastro.2012.02.026. *Mitglieder der Ad-hoc-Gruppe „Ethik der Transplantationsmedizin“: Prof. Dr. med.
Alena Buyx, PD Dr. med. Dr. phil. Ralf Jox, Prof. Dr. med. Georg Marckmann, Prof.
Dr. Silke Schicktanz, Prof. Dr. med. Dr. phil. Daniel Strech, Dr. Verina Wild
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