1 Hessischer Rundfunk hr2-kultur Redaktion: Dr. Arne Kapitza Wissenswert Sprechen und Lesen (2) Wie Sprechen die Grammatik ändert Von Martin Maria Schwarz Sendung: 29.03.2011, 08.30 Uhr, hr2-kultur Regie: Marlene Breuer Sprecher: Martin M. Schwarz O-Töne: (p) ww sl2* 11-036 Copyright: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Der Empfänger darf es nur zu privaten Zwecken benutzen. Jede andere Verwendung (z.B. Mitteilung, Vortrag oder Aufführung in der Öffentlichkeit, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verteilung oder Zurverfügungstellung in elektronischen Medien, Übersetzung) ist nur mit Zustimmung des Autors/der Autoren zulässig. Die Verwendung zu Rundfunkzwecken bedarf der Genehmigung des Hessischen Rundfunks. 2 O-Ton 1 Bastian Sick (über Dativ und Genitiv) Der Entertainer Bastian Sick. Seine Kolumnen und mittlerweile auch seine Bühnenshows haben seit Jahren Hochkonjunktur. Offensichtlich hat der gelernte Journalist und „Sprachpfleger“ in der Bevölkerung einen Nerv getroffen mit seinen zugespitzten Einwürfen und Kommentaren zum sprachlichen Verhalten und Fehlverhalten der Deutschen. Nimmt man noch die Szene der Kabarettisten und Comedians – wie beispielsweise Marius Jung - hinzu, kann man sagen, dass grammatische Normverletzungen derzeit einen ganzen Berufsstand ernähren. O-Ton 2 Marius Jung: Dabei geht es immer wieder um die gleichen Sachverhalte: sprachliche Fehlleistungen von unfreiwilliger Komik, um das Verschwinden des Genitivs, die falsche Anwendung von Konjunktiven oder den Verzicht auf Nebensätze in der gesprochenen Sprache. Von der Häufung von Anglizismen im Deutschen ganz zu schweigen. Die Humoristen stellen sich - ob bewusst oder nicht - damit an die Seite der vielen Sprachhüter im Land, die dieselben Mängel geißeln. Doch was findet hier eigentlich statt? Sind die reklamierten Defizite ein Zeichen für Sprachverfall, wie die Kritiker im Land immer meinen, oder markieren sie einfach nur einen Sprachwandel? Joachim Herrgen ist Professor am Forschungsinstitut „Deutscher Sprachatlas“ in Marburg. Er beobachtet und untersucht solche Phänomene seit langem. Für ihn handelt es sich um Umbrüche, die für die Sprachentwicklung von Beginn an kennzeichnend sind: O-Ton 3 Herrgen: Der Sprachwandel ist ein kontinuierlicher Prozess, und Sprache wandelt sich seitdem Menschen sprechen. Und wenn sie von Kritikern 3 hören, das ist doch hier Sprachverfall, dann heißt das nur, dass ein solcher Kritiker Sprachwandel bemerkt hat und das nicht gut findet. Sprachwandel findet generell statt. Und wenn wir deutsche Texte lesen, die vor tausend Jahren geschrieben wurden, dann können wir die ohne Wörterbuch und Grammatik nicht mehr verstehen, weil wir es mit einem kontinuierlichen Prozess des Sprachwandels zu tun haben; und den haben wir auch in der Gegenwart. Der Verweis auf die mittelhochdeutsche Sprache, wie sie sich zwischen dem 11. und 14. Jahrhundert formte, ist hilfreich. Macht er doch deutlich, wie stark der Wandel grammatischer Formen sein kann. Ein Verb wie z.B. das Wort ‚bellen‘ wurde im Mittelalter noch stark konjugiert. Im grammatischen Sinne „stark“ ist ein Verb, wenn der Vokal in der Vergangenheitsform und anderen Formen wechselt. „Schwach“, wenn der Vokal bleibt. Damals sagte man nicht: „Der Hund bellte‘… O-Ton4 Herrgen: Das hieß: ‚der Hund ball‘. Es hat sich zum schwachen Verb entwickelt. Das ist kein Einzelfall. Die starken Verben tendieren dazu, sich zu schwachen Verben zu entwickeln. Warum? Die schwachen Verben sind die regelmäßigen Verben im Deutschen. Die starken Verben sind irregulär gewissermaßen und diese Irregularität wird abgebaut. Sprachveränderungen verlaufen also nicht willkürlich, sondern sie folgen einer inneren Logik, bei den Verben von Unregelmäßigkeit Richtung Regelmäßigkeit. Lässt sich diese Regel auch bei einem der meist zitierten Phänomene, dem Abbau des Genitivs, feststellen? O-Ton5 Herrgen: Es ist tatsächlich so dass der Genitiv verschwindet. Aber auch hier ist die Frage: Sollen wir uns sprachkritisch darüber erregen? Und sollen wir sagen, warum sprechen die Leute nicht mehr wie es richtig ist? Oder sollen wir einfach mal hinschauen wie die Tendenzen des Sprachwandels sind? Und da können wir eben im Deutschen schon seit althochdeutscher Zeit einen Abbau der Kasusmarkierungen feststellen. Einen späten Zustand können wir uns alle bei einer anderen germanischen Sprache anschauen: Im Englischen, wo wir den Kasus eben nicht mehr oder sehr viel schwächer markiert haben. 4 Das sind sehr langfristige Sprachwandelerscheinungen,und die haben sehr wenig mit aktuellen Erscheinungen zu tun. Was wiederum bedeutet, dass wir uns mitten in einem Prozess befinden, der vor sehr langer Zeit begonnen hat. Doch warum – die Frage drängt sich ja auf - ist der Genitiv ein Fall, der für die Deutschen anscheinend unattraktiv geworden ist? O-Ton 6 Herrgen Die Menschen haben den Eindruck, dass das, was sie mit Genitivkonstruktionen ausdrücken können, sie auch durch Dativkonstruktionen ersetzen können. Das ist eine Erscheinung, die von der gesprochenen Sprache dann letztlich auch in die Schriftsprache kommt. Auch die Konjunktiv-Formen werden in der gesprochenen Sprache nicht so verwendet, wie es das komplizierte grammatische Regelwerk vorschreibt. Konjunktiv 1, also Formen wie „habe“, „sei“ und „könne“ werden zusehends ersetzt durch Konjunktiv 2 mit Formen wie „hätte“, „wäre“ und „könnte“: O-Ton7 Herrgen: Der Konjunktiv 2 wird generalisiert. Nicht: „Er sagte, er sei“, sondern „Er sagte, er wäre“. Diese Unterscheidung treffen heute viele nicht mehr, und man hat den Eindruck, dass diese Unterscheidung im Verschwinden begriffen ist. Vielleicht ist das eine feinsemantische Unterscheidung, und viele sagen: Diese Funktion brauche ich nicht. Dabei ist hat der Konjunktiv 2 wichtige Funktionen. Mit ihm wird ausgedrückt, dass eine Situation nicht möglich ist: „Wenn ich ein Vöglein wär‘ …, flög‘ ich zu Dir“. Und wie verhält es sich mit einer weiteren sprachlichen Auffälligkeit, einer, die sich wohl die meisten von uns angewöhnt haben, ohne dass wir uns dieser in unserer täglichen Kommunikation stets bewusst wären? Die wenigsten sprechen ja einen Kausalsatz, der mit dem Wörtchen ‚weil‘ beginnt, noch als klassischen Nebensatz. Nicht einmal Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, die von Berufs wegen um 5 einen guten sprecherischen Ausdruck bemüht sind, wie z.B. der Literaturkritiker Denis Scheck: O-Ton8 (Auszug aus Interview) Scheck:Ich sage gerne Donald Duck (mit u), weil ich meine ja gar nicht den von Carls Barks gezeichneten amerikanischen Donald Duck, sondern den deutschen Donald Duck, den Erika Fuchs gezeichnet hat Längst ist es üblich geworden, dass wir hinter der Konjunktion ‚weil‘ gedanklich einen Doppelpunkt setzen: O-Ton9 Herrgen: Grammatisch ist das eine Verwendung der Hauptsatzstellung, in einem Nebensatz der durch weil eingeleitet wird. Das ist eine grammatische Veränderung, die in der Forschung.ausführlich beschrieben worden ist. Es geht hier darum, dass eine bestimmte Hauptsatzstellung generalisiert wird. Joachim Herrgen begreift dies als Teilaspekt eines allgemeinen Trends hin zu kürzeren Sätzen. An die Stelle von umfangreichen Satzgefügen trete eine Aufeinanderfolge von Hauptsätzen, eine Tendenz, die auf dem Einfluss der Massenmedien beruhe. Aber ist das nicht ein doch ein Phänomen, das rein auf die gesprochene Sprache beschränkt bleibt? Nur bedingt, meint Herrgen: O-Ton 10 Herrgen: Wir finden sehr häufig das Eindringen von mündlicher Sprache in die schriftliche. Denken Sie mal an e-mails, die sehr stark von mündlicher Sprache geprägt sind .Man unterscheidet zwischen einer medialen Schriftlichkeit und einer konzeptionellen Schriftlichkeit. Wir finden viele Sätze, die sind tatsächlich geschrieben. Sie sind aber konzeptionell mündlich. D.h. sie sind so verfasst als sei es ein gesprochenes Wort. Haben Sie es bemerkt? Professor Herrgen sagte soeben „Wir finden viele Sätze, die sind tatsächlich geschrieben“; damit reihte er also zwei Hauptsätze aneinander, 6 anstatt die Nebensatzkonstruktution zu verwenden, die gelautet hätte: „Wir finden viele Sätze, die tatsächlich geschrieben sind“. Am wenigsten anfällig zeigt sich die deutsche Schriftsprache für Veränderungen, die es in der gesprochenen Sprache auf phonetischer Ebene gibt. So scheint der „ä“Umlaut zusehends durch den „e“-Laut ersetzt zu werden: O-Ton 11 Herrgen Das ist eine ganz interessante Erscheinung, der Gegenwartssprache. Uns fällt gar nichts mehr dabei ein, wenn wir jemanden sagen hören, das will ich Dir mal erkleeren. Das heißt doch eigentlich erklären. Das ist Keese – dabei heißt es doch Käse. Das ist eine ganz starke aktuelle Tendenz in der Gegenwartssprache. Das lang gesprochene ‚ä‘ wird abgebaut und durch ein ‚e‘ ersetzt. Aber wie kann man den Verlust eines Lautes erklären, der doch wichtig ist, um Bedeutungsunterschiede auszudrücken? Hängt das etwa mit einer phonetischen Trägheit seitens der sprechenden Bevölkerung zusammen? Joachim Herrgen winkt auch hier ab: O-Ton 12 Herrgen: Wir haben in der deutschen Sprache eine Unterscheidung bei den Langvokalen zwischen ä und e. Bei den Kurzvokalen haben wir nur einen ä-Laut. Wie bei hätte oder Wette. Und das ist gewissermaßen eine Asymmetrie des Systems. Wenn man nun den langen ä-Laut wie in Bären aufgibt, erreicht man ein symmetrisches System. Kurz- und Langvokale sind dann gleich aufgebaut. Dass dieser Umbau der phonetischen Tektonik Vorteile für die Sprechenden hat, liegt für Herrgen auf der Hand: O-Ton 13 Herrgen: Wir müssen an den Spracherwerb durch die Kinder denken. Wenn Kinder eine Sprache lernen, dann hören sie einen gewissen Input durch die Eltern und bauen sich daraufhin ihr Sprachsystem im Kopf selbst. So sind 7 wir als Menschen angelegt. Worauf wir auch angelegt sind, dass wir dieses Sprachsystem möglichst regulär aufbauen. Wir möchten möglichst klare und einfache Regeln und im Sinne solcher klarer Regeln ist, wenn ich symmetrische Systeme habe. Das ist ein sehr starker Impetus im Sprachwandel. Solche Kräfte sind es offensichtlich, die in der Gegenwart unseren Umbau steuern. Und wie weit werden diese Kräfte reichen? Auch bis in das Schriftdeutsche hinein? Das wäre ja dann gleichsam die Legalisierung eines sprechsprachlichen Prozesses, gegen die sich eine konservative Sprachkritik ja meistens sträubt. Auf kurze Zeit gesehen wird sie damit wahrscheinlich auch Erfolg haben, auf längere Frist hin ist es aber unwahrscheinlich, dass diese Entwicklung institutionell aufgehalten werden kann: O-Ton 14 Herrgen: Entweder wird es ihn in der ersten Phase noch geschrieben geben, aber er wird nicht mehr gesprochen. Und noch später irgendwann wird es auch in der Schreibung aufgegeben. Die Schreibung ist viel konservativer als die Lautung. Deswegen haben wir es in den Sprachen immer mit historischen Schreibungen zu tun. Es werden Dinge in der Lautung aufgegeben, die in der Schreibung noch mitgeschleppt werden. Aber im Endzustand könnte es dazu kommen. Wird die Sprache durch diese Veränderungen ärmer, wie gerne behauptet wird? Verliert sie an Ausdrucksmöglichkeiten, Varianz und Schönheit? Die Vermutung liegt ja nahe, wenn bestimmte Teile der Sprachgrammatik oder lautliche Eigenheiten aufgegeben werden. O-Ton 15 Herrgen Nein, die Sprache verarmt nicht, sie verändert sich. wir können nicht von einer Verarmung sprechen. Der Ersatz ist schon da, und deswegen kann auf bestimmte Formen verzichtet werden. Das können sie in jeder Sprachgeschichte millionenfach beobachten. Die Sprache ist ein Organ der Menschen, das sie sich geschaffen haben, um zu kommunizieren. Und wenn sie neue kommunikative Zwecke haben, dann verändern sie ihre Sprache. Das ist keine Verarmung, das ist Wandel. 8 Deshalb lohnt zum Schluss noch ein Blick auf eine weiteres Objekt der Kritik durch konservative Sprachkritiker und Spottgegenstand von Kabarettisten: Der Anglizismus, die direkte oder abgewandelte Übernahme von Wörtern und Redewendungen aus dem Englischen: O-Ton Dieter Nuhr (über „directors“ „team-secretaries“ „executive-officers“ In der verdichteten Reihung - wie hier aus dem Munde des Kabarettisten Dieter Nuhr – muten die Beispiele kurios bis grotesk an. Doch selbst wenn Anglizismen gehäuft auftauchen, ist das noch kein Beweis für ihr Überleben in unserer Sprache, meint Joachim Herrgen: O-Ton 16 Herrgen:. Das ist im Moment so eine modische Kritik und geht rasch vorbei. Diese Fremdwörter oder Lehnwörter werden in die Sprache integriert und sind sogar eine Bereicherung. Was ist das Problem ein gewisses Bauwerk als Tunnel zu bezeichnen? Was ist das Problem ein bestimmtes Kleidungsstück als Pullover zu bezeichnen? Und bei aktuellen Beispielen wie Computer oder Sneakers wird es sich zeigen. Entweder wird sie die Sprache, d.h. die Sprechenden als Bereicherung aufnehmen oder aber sie werden aussortiert und vergessen. In letzter Konsequenz sind es immer wir, die Sprechenden, die in der täglichen Kommunikation darüber entscheiden, wohin sich eine Sprache entwickelt. Natürlich wird es auch immer Kontrollinstanzen geben, die, wie die Schulen, sogar sanktionsberechtigt sind, wenn die geltenden Normen nicht eingehalten werden. Es wird auch weiter Sprachinstitute geben und „Sprachreiniger“. Aber ihre Macht ist relativ und zeitlich begrenzt, wenn die Mehrheit der Sprechenden Grammatik, Satzund Wortbildungen in andere Richtungen lenken als die, die heute von der DudenRedaktion oder der Kultusminister-Konferenz als gültig erklärt werden: 9 O-Ton 17 Herrgen: Man wird eine sprachliche Entwicklung niemals aufhalten können. Sie können einen Fluss auf Dauer niemals aufhalten. Er wird sich seinen Weg suchen. Und so ist das mit der sprachlichen Entwicklung. Es ist schön, ein bestimmtes kulturelles Erbe zu pflegen. Aber an der Sprachentwicklung, an der Sprachdynamik ändert das nichts.