lEBEN und WERK

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Gunter E. Grimm
FrIEDRICH
DÜRRENMATT
Prof. Dr. Gunter E. Grimm, bis 2010 Lehrstuhlinhaber für Neuere deutsche Literatur an der Universität Duisburg-Essen. Arbeits­schwerpunkte
sind u.a. Literatur der Aufklärung, Geschichte der deutschen Lyrik, Wissenschafts- und Mentalitätsgeschichte. Autor zahlreicher Monografien und Aufsätze sowie Herausgeber von Sammelbänden, Editionen und Reihenwerken,
darunter Lessings Werke, Herders Werke, Arbeitsbücher zur Literaturgeschichte,
Einführungen Germanistik sowie Literatur kompakt und die Internetportale
www.goethezeitportal.de und www.nibelungenrezeption.de
Der Autor
Gunter E. Grimm
Friedrich Dürrenmatt
Literatur Kompakt – Bd. 5
ISBN: 978-3-8288-3118-6
© Tectum Verlag Marburg, 2013
Reihenkonzept und Herausgeberschaft: Gunter E. Grimm
Projektleitung Verlag: Christina Sieg
Layout: Sabine Manke
Bildnachweis Cover: Friedrich Dürrenmatt bei der Verleihung des ErnstRobert-Curtius-Preises, 1989, Fotografie von Elke Wetzig (Lizenz: CC-by-SA 3.0)
Besuchen Sie uns im Internet
www.tectum-verlag.de
www.literatur-kompakt.de
Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben
sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Inhalt
I. Die Lust an der Katastrophe. Dürrenmatts Aktualität – 9
II. Zeittafel – 15
III. Leben und Werk – 21
Grafik: Dürrenmatt kompakt – 36/37
IV. Voraussetzungen, Themen, Werk-Aspekte – 39
1. Ausgangspositionen eines Autors – 39
2. Hauptthemen, Motive, Bilder – 48
3. Gattungen, Schreib- und Stiltendenzen – 61
Grafik: Wichtige Punkte – 76/77
V. Die Korrumpierung der Welt – Das dramatische Werk – 79
1. Gestaltungen des Grotesken. Zur Dramaturgie des Einfalls – 79
2. Auf der Suche nach der eigenen Bühnenform.
Das dramatische Frühwerk – 88
3. Rache, Mut und Korruption (Der Besuch der alten Dame) – 99
4. Spiel mit der Apokalypse (Die Physiker) – 110
5. Unsterblichkeit als Stigma (Der Meteor) – 121
6. Rückzug von der Bühne. Das dramatische Spätwerk – 132
VI. Weltmodell Labyrinth – Das erzählerische Werk – 139
1. Zwischen Existentialismus und Unterhaltung.
Frühe Erzählungen und Romane – 139
2. Die Macht des Zufalls. Die Kriminalromane – 145
3. Das Erinnerungsprojekt Stoffe – 161
4. Untergangsszenarien (Der Winterkrieg in Tibet) – 169
5. Gefangen im Spiegelkabinett (Minotaurus. Eine Ballade) – 180
6. Experimentelles Erzählen. Das Prosa-Spätwerk – 200
VII. Intermediale Wirkung – Der Roman Das Versprechen
und seine Verfilmungen – 205
VIII. Literaturverzeichnis – 219
IX. Werkübersichten und Konkordanz – 241
Glossar – 247
Abbildungsverzeichnis – 253
Register – 261
Ein Schriftsteller kann nur schreiben. Aber was hat
die Literatur denn heute noch für eine Funktion? Sie
hat keine mehr. Theater und Literatur – das spielt sich
in einer Ecke ab. Heute kommt man ohne Lesen und
Schreiben gut durch die Welt. Literatur ist heute doch
nur noch ein aufgeklebtes Etikett. Ein Schriftsteller
versucht, sich über die Welt klarzuwerden. Wenn er
Leser hat, hofft er, daß auch sie diese Klarheit gewinnen. Es ist die Pflicht eines Menschen sich über diese
Welt klarzuwerden. Und ich als Schriftsteller erfülle
eine Pflicht, wenn ich über die Lage der Menschheit
nachdenke.«
Dürrenmatt im Gespräch 1986 mit Klaus B. Harms; Gespräche 3, 250
IMPULS
I. Die Lust an der Katastrophe
Friedrich Dürrenmatt ist seit über zwanzig Jahren tot. Die Welt hat sich seit
seinem Tod auf damals nicht vorhersehbare Weise geändert. Er hat noch die
Anfänge vom Ende des ‚Kalten Kriegs‘ zwischen den zwei Weltkriegs-Supermächten erlebt, die gravierenden Änderungen – das Auseinanderbrechen der
Sowjetunion und den rasanten Aufstieg Chinas zur Weltmacht – hingegen
nicht mehr. Aus einem politisch-ideologischen Stellungskrieg wurde
mittlerweile ein globaler ökonomischer ‚Krieg‘. Das Kapital in seiner
rüdesten Form – als Herrschaft der Banken und der internationalen
Trusts – regiert mittlerweile das Weltgeschehen. Daran hätte Dürrenmatt seine ‚Freude‘ gehabt, denn auch diese Gefahr hat er hellsichtig
vorausgesehen.
Dürrenmatt war ein Kind der Nachkriegszeit, der Ära des ‚Kalten
Kriegs‘. Dies erklärt seine Vorstellung einer antagonistischen politischen Welt und seine apokalyptische Grundgestimmtheit. Als Theaterautor feierte Dürrenmatt seinen Höhepunkt nach Der Besuch der alten
Dame Ende der fünfziger und mit den Physikern Anfang der sechziger
9
Dürrenmatts
Aktualität
Jahre. Und auch heute noch ist er auf der Bühne präsent: Immerhin war die
Komödie Der Besuch der alten Dame in der Spielzeit 2010/11 mit 143.000
Besuchern das meistfrequentierte deutschsprachige Theaterstück.
Wichtig für eine Beschäftigung mit Dürrenmatts Œeuvre sind jedoch nicht
die historischen Erfolge und Misserfolge und schon gar nicht Dürrenmatts
Selbsteinschätzung, wichtig ist, was uns heute noch angeht. Mit einigen seiner
Texte hat Dürrenmatts den Nerv der Zeit getroffen. Einiges ist heute nicht
mehr aktuell: etwa die christlichen Themen Sünde, Hybris, Gnade, die sein
Frühwerk prägen und die sich in verschlüsselter und verweltlichter Form bis
in sein Spätwerk hinein nachweisen lassen. Ebenso das Jonglieren mit Gedankengebilden der ‚Kalten-Kriegs-Ära‘. Anders verhält es sich bei Themen wie
der Omnipotenz des Geldes und der Finanzkrise, der Entfremdung und Isolierung des Menschen in der modernen Gesellschaft, dem Ausgeliefertsein des
Menschen an die »Barbarei der Zivilisation« (33, 89), der Verstümmelung des
Subjekts und dem Einsatz in einer anonym verwalteten Welt, der Automation
und Allmacht der Technik, der Umweltzerstörung und Vernichtung der Lebensbedingungen. Das Bild vom Labyrinth und dessen einsamem Bewohner
Minotaurus hat sein literarisches und zeichnerisches Werk von den Anfängen
bis zum Ende in immer neuen Varianten begleitet.
Wertung
An Friedrich Dürrenmatt haben sich schon zu seinen Lebzeiten die Geister
geschieden. Die einen hielten ihn für ein Genie, einen literarischen Giganten,
die anderen für einen in verschiedenen Gattungen mehrfach gescheiterten Autor. Die einen sahen in ihm einen Moralisten und Humanisten, die anderen
einen Ironiker oder sogar Zyniker, wieder andere einen nicht ernst zu nehmenden Spaßmacher und Clown.
Der Literaturwissenschaftler Hans Mayer hat eine Hymne angestimmt: »Dürrenmatt gehört zu den ganz wenigen Genies der Nachkriegsliteratur deutscher
10
Georg Büchner
Sprache. Ein Meteor wie Büchner und Kafka. Dieser
geniale Mensch hatte eine unheimliche Witterung von
wirklichen Zuständen, und man hat es überhaupt nicht
wahrgenommen, man hielt ihn für einen Clown, weil er
einen Clown gespielt hat. Dabei ist er einer der tiefsten
Denker und einer der klügsten politischen Schriftsteller«
(LB, Rückumschlag).
Dagegen ließe sich der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki anführen, der bei aller Anerkennung von Dürrenmatts literarischer Potenz
Zweifel an dessen Ernsthaftigkeit vorbringt:
Gar kein Zweifel: Dieser schwerfällige Mann aus der schweizerischen Provinz gehört zu den unverwechselbaren Figuren der
Karl Valentin
europäischen Literatur nach 1945. Dürrenmatt ist beinahe ein
Genie, nur eben ein albernes, vielleicht sogar das albernste in diesem
Jahrhundert. Er gehört – und das gibt es in deutschen Landen nur sehr
selten – zu den Predigern mit Pfiff, er fungiert als ein professioneller Prophet, dem es gefällt, Schreckliches zu verkünden, und dem es gelingt, dabei niemandem die Laune zu verderben. Ja, er ist ein pessimistischer, ein
pechschwarzer Poet, der aber immer wieder Allotria treibt und dann, halb
drohend und halb lachend, behauptet, es sei Philosophie, wenn nicht gar
Theologie. Gern beruft er sich auf Karl Barth, doch habe ich zuweilen den
Verdacht, daß man ihn eher in der Nähe von Karl Valentin sehen sollte
(FAZ, 30.11.1985).
Insbesondere über das Spätwerk gehen die Meinungen auseinander. Die negative Variante findet sich in der 1988 erschienenen Monografie von Jan Knopf,
der dem späten Dürrenmatt ein schöpferisches Stehenbleiben attestiert und
sein Spätwerk als eine Form des Recyclings längst bekannter Themen und Mo11
IMPULS
Franz Kafka
tive disqualifiziert (Knopf 1988, S. 194). Dagegen hält Peter Rüedi in seiner
Biografie Dürrenmatts Spätwerk für den Gipfel seines Schreibens. Für ihn hat
Dürrenmatt aus einer Not eine Tugend gemacht und sich aus allen schöpferischen Krisen und Katastrophen gerettet. Dürrenmatts Kunst sei insgesamt
»eine Kunst des Scheiterns« (R, 712). Jedes Scheitern sei indes für ihn Anstoß
gewesen, in einer anderen Gattung und mit anderen Formen weiterzuarbeiten
und Neues zu schaffen. Dies gelte in besonderem Maß für das Alterswerk:
»Seine Wiedergeburt mit dem Mitmacher-Komplex, den Zusammenhängen,
den Stoffen ist ein Geheimnis. Hörte ich ihn nicht vom letzten Ufer her grollen, würde ich sagen: ein Wunder, das dem seiner Geburt als Schriftsteller
nicht nachsteht« (R, 107).
Forschung
In den sechziger Jahren gehörten die Dramen der zwei Schweizer Autoren Max
Frisch und Friedrich Dürrenmatt zu den meistgespielten Stücken auf deutschen Theatern. Blickt man auf die Programme der Bühnen der Gegenwart,
so finden sich von Dürrenmatt nur noch zwei Dramen, und diese in schöner
Regelmäßigkeit: Der Besuch der alten Dame und Die Physiker, die schon zu
seinen Lebzeiten den größten Erfolg hatten. Während sich eine wissenschaftliche Erforschung von Max Frischs Werk schon lange etabliert hat, gab es
zu Dürrenmatt überwiegend nur didaktische Handreichungen. Erst seit etwa
zwanzig Jahren hat sich eine ernsthafte Forschung entwickelt, die mit der Einrichtung einer Dürrenmatt-Forschungsstelle in engem Zusammenhang steht.
So sind die meisten Untersuchungen philologisch in engerem Sinn, und nicht
zufällig widmen sie sich der wissenschaftlichen Erschließung des komplexen
Spätwerks. Heute sind Interpretationen einzelner Werke eher selten geworden,
dagegen sind werkgeschichtliche Untersuchungen zu Motiven, Einflüssen
und Bild-Text-Beziehungen in den Vordergrund gerückt. Die lange Zeit ausstehende Biografie hat Peter Rüedi geliefert. Sie führt von den Anfängen bis
zu Dürrenmatts internationalem Durchbruch mit dem Stück Der Besuch der
12
IMPULS
alten Dame, handelt aber die Spätzeit nur kursorisch ab. Trotz kritischer Bemerkungen im Einzelnen basiert sie auf einer verehrenden Grundeinstellung.
Anders als etwa Gerhard P. Knapp und Jan Knopf will die vorliegende Einführung keine historische oder systematische Darstellung von Dürrenmatts
Gesamtwerk liefern, sondern dessen Relevanz für die Gegenwart aufzeigen.
Sie betrachtet das Werk aus dem Abstand einer halben Generation: Was hat
es uns heute noch zu sagen und was ist an seine Entstehungszeit gebunden?
Entsprechend soll dies nicht vorrangig an seiner Person aufgezeigt werden,
sondern an seinen Schriften. Im Zentrum stehen die nach wie vor bekannten
Texte, die Repertoirestücke, die Kriminalromane und einige experimentelle
Spätprodukte wie die Ballade Minotaurus oder die Erzählung Der Winterkrieg
in Tibet. Daneben hat Dürrenmatt auch Hörspiele und Gedichte verfasst, die
hier aber unberücksichtigt bleiben, während seine Essays und Reden indirekt
in die Darstellung einfließen. Dabei gilt es durchaus, neue Akzente zu setzen.
So findet das unter werkbiografischen Aspekten wichtige und hochkomplexe
Spätwerk Stoffe größere Aufmerksamkeit als in bisherigen Monografien. Berücksichtigt wird auch das zeichnerische Werk. Dürrenmatt war eine Doppelbegabung, auch wenn der Bildkünstler nicht den gleichen Rang wie der
Schriftsteller beanspruchen kann. Lohnend ist es dabei vor allem, die Querverbindungen zwischen Literatur und Bildkunst aufzuzeigen. Sie erlauben es,
manche Themen und Motive, die sein Werk in beiden Ausprägungen durchziehen, besser zu verstehen. Ebenso wichtig sind Dürrenmatts Überlegungen
zur Politik und zur Kosmologie. Erstere erfolgen dabei aus Schweizer Blickwinkel, während letztere den Stellenwert dieser ‚irdischen‘ Welt im Weltall
verdeutlichen und damit relativieren. Diese Einführung will damit als Kombination von Überblicksdarstellung und Einzelanalysen es dem Leser ermöglichen, die genauer betrachteten Werke in den Lebenszusammenhang und die
Werkbiografie Dürrenmatts einzuordnen.
13
Intention des Buchs
Landschaft bei Ballenbüel, Konolfingen im Kanton Bern, 2010
ZEITTAFEL
II. Zeittafel
1921
1928–1937 5. Januar, Geburt von Friedrich Dürrenmatt als Sohn des Pfarrers
Reinhold Dürrenmatt und seiner Frau Hulda, geb. Zimmermann, in
Konolfingen (Emmental, Kanton Bern)
Besuch der Primarschule in Stalden, der Sekundarschule im Nachbardorf Großhöchstetten, des Freien Gymnasiums, dann des privaten
Humboldtianum in Bern 1941
Kurzzeitige Mitgliedschaft in der frontistischen »Eidgenössischen
Sammlung«
Maturitätsprüfung, Studium der Germanistik, Philosophie und
Kunstgeschichte in Bern
1942 Kurzes Volontariat beim »Berner Tagblatt«, Fortsetzung des Studiums
der Philosophie und der Literatur in Zürich und 1943 in Bern
1943
Fertigstellung der Komödie Der Knopf, erste Erzählungen (Weihnacht,
Der Folterknecht, Die Wurst, Der Sohn)
1944 Militärdienst
1945
Erste Veröffentlichung (Der Alte) in der Berner Tageszeitung »Der
Bund«
1946
FD bricht sein Studium ab, heiratet die Schauspielerin Lotti Geissler
(geb. 1919) und entscheidet sich für die Laufbahn als freier Schriftsteller
Umzug nach Basel
15
1947
FD verfasst Theaterkritiken für die Berner Zeitschrift »Die Nation«
Die Uraufführung des Dramas Es steht geschrieben am Schauspielhaus
Zürich wird ein Theaterskandal
Sohn Peter wird geboren (es folgen 1949 Tochter Ruth und 1951
Tochter Barbara)
1948
Uraufführung des Dramas Der Blinde am Stadttheater Basel
Umzug des Ehepaars nach Schernelz am Bielersee
1949
Uraufführung der Komödie Romulus der Große am Stadttheater Basel
Umsiedlung nach Ligerz
1950
Der Kriminalroman Der Richter und sein Henker erscheint in Fortsetzungen im »Schweizerischen Beobachter«
Diagnostizierung von FDs Diabetes
1951
FD schreibt den zweiten Kriminalroman Der Verdacht, Theaterkritiken für »Die Weltwoche« (bis 1953) und Hörspiele (Der Prozess um
des Esels Schatten, Nächtliches Gespräch mit einem verachteten Menschen) im Auftrag deutscher Rundfunkanstalten
1952
Erfolgreiche Uraufführung des
Stücks Die Ehe des Herrn Mississippi an den Münchner Kammerspielen
FD erwirbt ein Haus am Pertuisdu-Sault in Neuchâtel, das er bis
an sein Lebensende bewohnt
FD knüpft die Verbindung zu Peter Schifferli, dem Gründer und
Leiter des Arche Verlags, in dem
der frühe Erzählungsband Die
Stadt (darunter Der Tunnel) erscheint. Schifferli bleibt bis zum
Bruch 1979 FDs Verleger
1953
Uraufführung des Stücks Ein Engel kommt nach Babylon an den
Münchner Kammerspielen
Lotti und Friedrich Dürrenmatt, 1958
16
Ansicht von Neuchâtel
ZEITTAFEL
1955
»Unterhaltungskomödie« Grieche sucht
Griechin
1956
Uraufführung der Tragikomödie Der
Besuch der alten Dame am Schauspielhaus Zürich
1957
Treatment zum Film Es geschah am hellichten Tag, aus dem FD den um einen
philosophischen Rahmen erweiterten
Roman Das Versprechen entwickelt
1959
Die Uraufführung der Oper Frank der
Fünfte am Schauspielhaus Zürich (Musik Paul Burkhard, Regie Oskar Wälterlin) wird ein Misserfolg
1962
Uraufführung der Komödie Die Physiker am Schauspielhaus Zürich. Die Physiker sind in der Spielzeit 1962/63 das meistgespielte deutschsprachige
Stück, politikbedingt wieder in der Spielzeit 1982/83
1963
FD baut ein zweites Haus auf seinem Grundstück in Neuchâtel
1965
Tod von FDs Vater
1966
Uraufführung der Komödie Der Meteor am Schauspielhaus Zürich
Umarbeitung des Dramas Es steht geschrieben zur Komödienfassung
Die Wiedertäufer
Theater-Schriften und Reden
1967
Uraufführung der Komödie Die Wiedertäufer am Schauspielhaus Zürich
Reise zum 4. Sowjetischen Schriftstellerkongress nach Moskau, Begegnung mit dem Philosophen Jean-Paul Sartre und der Schriftstellerin Simone de Beauvoir. Das Politbüro inspiriert ihn zur Erzählung
Der Sturz
1968
Rede vor Studierenden in Mainz Monstervortrag über Gerechtigkeit
und Recht
Im August übernimmt FD die Ko-Direktion an den Basler Theatern
zusammen mit Werner Düggelin
17
Schauspielhaus Zürich
1969
FD wird Mitherausgeber der neuen Zürcher Wochenzeitung »Sonntags-Journal« (bis 1971), erleidet wegen Überbelastung einen Herzinfarkt
Während des Kuraufenthalts in Vulpera beginnt FD mit der Arbeit an
Stoffe – Geschichte meiner Schriftstellerei
Im Oktober gibt FD wegen anhaltender Differenzen und Krankheit
die praktische Theaterarbeit am Basler Theater auf (»Basler Experiment«)
Große Reise in die USA, nach Mexiko und in die Karibik
Sätze aus Amerika (publiziert 1970)
1970
Berufung in den Verwaltungsrat des Zürcher Schauspielhauses
Uraufführung des »Übungsstücks« Porträt eines Planeten am Schauspielhaus Düsseldorf
1971
FD entscheidet sich gegen das Angebot, Direktor des Zürcher Schauspielhauses zu werden
1972
Premiere von FDs Woyzeck-Bearbeitung am Schauspielhaus Zürich
1973
Die Uraufführung der Komödie Der Mitmacher am Schauspielhaus
Zürich wird ein Misserfolg, FD wendet sich in der Folge zeichnerischen Projekten zu und beschließt seinen Rückzug vom Theater
1974
Reise nach Israel, Ehrenmitgliedschaft der Ben-Gurion-Universität
Beerschewa
Die Dankesrede Zusammenhänge erscheint wesentlich erweitert 1976
in Buchform (1980 nochmals durch Nachgedanken erweitert)
1975
Tod von FDs Mutter
Im November hält FD auf dem 4. PEN-Kongress in Wien eine Rede
gegen die antiisraelische Resolution der UNO
1976
Erste Ausstellung von FDs Bildern im Hotel »du Rocher« in Neuchâtel
Veröffentlichung von Der Mitmacher. Ein Komplex
1977
18
In der Paulskirche Verleihung der Buber-Rosenzweig-Medaille, Rede
Über Toleranz
Ehrendoktor der Universität Nizza und
der Hebräischen Universität Jerusalem
Uraufführung der Komödie Die Frist im
Züricher Kino Corso
1978
Umfassende Ausstellung der Bilder in
der Züricher Galerie des Verlegers Daniel
Keel
1979
Aus Anlass des 100. Geburtstags von Albert Einstein hält FD an der
ETH Zürich den Vortrag Albert Einstein
FD verlässt den Arche Verlag und wechselt zu Daniel Keels Diogenes
Verlag
Daniel Keel, 1999
1980
Werkausgabe in 29 Bänden (für die FD seine Stücke überarbeitet hat)
und einem Zusatzband Über Friedrich Dürrenmatt
1981
März bis Juni: Writer in Residence an der University of Southern California, Los Angeles
Zum 60. Geburtstag Festakt im Schauspielhaus Zürich mit Verleihung des Ehrendoktors der Universität Neuchâtel,
Veröffentlichung der Autobiografie Stoffe I–III
1983
Tod von FDs Frau Lotti
Ehrendoktor der Universität Zürich
Uraufführung der Komödie Achterloo am Schauspielhaus Zürich
Dezember (bis Januar 1984): Reise nach Griechenland und Südamerika
1984
Heirat mit der Schauspielerin und Journalistin Charlotte Kerr
1985
Publikation von Minotaurus. Eine Ballade (mit Zeichnungen des Autors)
Reise nach Ägypten
FD führt das (seit 1957) liegen gebliebene Fragment des Kriminalromans Justiz fort und fügt einen neuen Schluss an. Der Roman erscheint im »Stern« als Fortsetzungsroman und als Buchausgabe
19
ZEITTAFEL
1986
1987
Publikation Der Auftrag oder Vom Beobachten des Beobachters der Beobachter. Novelle in 24 Sätzen
Georg-Büchner-Preis und Ehrenpreis des Schiller-Gedächtnispreises
von Baden-Württemberg
Teilnahme am Moskauer Friedensforum im Zeichen von Michail
Gorbatschows Perestroika (»für eine atomfreie Welt, für das Überleben der Menschheit«)
Reisen in die Türkei, nach Italien und Spanien
1988
Uraufführung von Achterloo IV im Rahmen der Schwetzinger Festspiele
1989
FD vermacht seinen literarischen Nachlass der Schweizerischen Eidgenossenschaft, geknüpft an die Bedingung, ein Schweizerisches Literaturarchiv einzurichten
Reise nach Schweden
Veröffentlichung des Romans Durcheinandertal
1990
Polenreise und Besuch der KZ-Gedenkstätten Auschwitz und Birkenau
Turmbau. Stoffe IV–IX
Die Rede Die Schweiz – ein Gefängnis anlässlich der Verleihung des
Gottlieb-Duttweiler-Preises an den tschechischen Präsidenten Václav
Havel in Rüschlikon bei Zürich erregt in der Schweiz Unmut
FD hält die Laudatio Die Hoffnung, uns am eigenen Schopfe aus dem
Untergang zu ziehen auf den sowjetischen Generalsekretär Michail
Gorbatschow in Berlin
14. Dezember: FD stirbt in Neuchâtel an Herzversagen
2000
11. Januar: Gedenkfeier im Berner Münster.
September: Eröffnung des Centre Dürrenmatt in seinem Wohnhaus
in Neuchâtel
2011
28. Dezember: Tod von FDs zweiter Ehefrau Charlotte Kerr
20
Hulda Dürrenmatt, um 1915
III. Leben und Werk
Friedrich Dürrenmatt wurde am 5. Januar
1921 im kleinen Emmentaler Dorf Konolfingen im Kanton Bern als Sohn des protestantischen Pfarrers Reinhold Dürrenmatt und seiner Frau Hulda,
geb. Zimmermann, geboren. Sein Großvater Ulrich Dürrenmatt war Zeitungsredakteur und betätigte sich in der Freizeit
als satirischer Dichter, was vielleicht Friedrich Dürrenmatts
schriftstellerische Ambitionen geweckt hat. In der Schule fiel
der junge Dürrenmatt nicht als besondere Leuchte auf, unverkennbar war damals aber schon seine Neigung zum Malen
und Schreiben. Die eher negative Beurteilung von Kostproben
Dürrenmatt’scher Zeichenkunst durch den Direktor der Kunsthalle Bern, Max Huggler, stellte sicher Weichen für die künftige
Ulrich Dürrenmatt, vor 1908
Berufswahl.
1935 zogen die Eltern in die Hauptstadt Bern um, wo Friedrich Dürrenmatt
das Freie Gymnasium und danach das private Humboldtianum besuchte.
Bern muss auf den Dorfjungen einen gewaltigen Eindruck gemacht haben, es
erschien ihm geradezu als ein Labyrinth, undurchschaubar und unentrinnbar.
21
Bern
LEBEN und WERK
Reinhold Dürrenmatt, um 1915
Berner Bahnhofsplatz, 1930er Jahre
Militärdienst
Im Januar 1940 war Dürrenmatt als Füsilier der Gebirgsinfanterie zugeordnet
worden und musste im Juni die Rekrutenschule besuchen. Wegen seines labilen Gesundheitszustandes und seiner Kurzsichtigkeit wurde er jedoch schon
nach drei Wochen in den militärischen Hilfsdienst versetzt. Dürrenmatt zog
in eine Mansarde über der neuen Wohnung der Eltern; statt Tapeten zu kleben, bemalte er die Wände – eine künstlerische Praxis, die er beibehalten sollte.
Matura und Studium
Im September 1941 legte er die Maturitätsprüfung (Alte Sprachen) ab. Entgegen den Wünschen des Vaters studierte er nicht Theologie, sondern Germanistik, Philosophie und Kunstgeschichte in Bern, in Zürich (wo er Literaturvorlesungen bei Emil Ermatinger und Emil Staiger hörte) und wieder in
Bern. Dürrenmatt schwankte zu dieser Zeit bei der Wahl seines Berufsziels
22
Schon während der Studienzeit zeigte sich Dürrenmatts Interesse für Philosophie; er las Platon, Kant, Schopenhauer, Kierkegaard, Nietzsche und erwog
eine Dissertation über das Thema »Kierkegaard und das Tragische«. Da sich
Europa im Krieg befand, musste er ab Juli 1944 in Interlaken, ab Dezember
bis Januar 1945 an der Grenze zu Frankreich in La Plaine bei Genf den militärischen Hilfsdienst ableisten. Die erste Publikation des kleinen Textes Der Alte
in der Berner Tageszeitung »Der Bund« beflügelte dann seine Arbeit an den
weiteren Erzählungen Das Bild des Sisyphos, Der Theaterdirektor, Der Hund
sowie am Drama Es steht geschrieben.
Als Dürrenmatt die Schauspielerin Lotti Geissler kennenlernte, entschied er Familie und
sich für die Laufbahn als freier Schriftsteller. Er brach sein Studium ab und
Schriftstellerdasein
heiratete. Das junge Paar zog nach Schernelz am Bielersee
in eine kleine Wohnung der Schwiegermutter Cécile Falb,
wo Dürrenmatt sogleich die Wände bemalte. Die Familie,
die bald Nachwuchs erhielt (1947 Sohn Peter, 1949 Tochter Ruth, 1951 Tochter Barbara), lebte in sehr beengten
Verhältnissen. Um den Unterhalt zu finanzieren, musste
Dürrenmatt das Schreiben von Theaterkritiken übernehmen. Die Uraufführung des Dramas Es steht geschrieben am
Schauspielhaus Zürich unter der Regie von Kurt Horwitz
im April 1947 war ein Theaterskandal, brachte Dürrenmatt
aber einen anerkennenden Brief Max Frischs und dessen
jahrzehntelange Freundschaft ein. Immerhin bekam er für
den Erstling den Preis der »Welti-Stiftung für das Drama«. Szenenansicht Es steht geschrieben, Zürich, 1946/47
23
LEBEN und WERK
zwischen Schreiben und Malen. Neben seiner malerischen Betätigung arbeitete er an seinem dramatischen Erstling Der Knopf und verfasste Erzählungen
(Weihnacht, Der Folterknecht, Die Wurst, Der Sohn). Daneben absolvierte er
ein kurzes Volontariat beim »Berner Tagblatt«.
Für Schriftsteller gab es in den frühen Nachkriegsjahren nur zwei einträgliche
Verdienstquellen: Rundfunkarbeiten und Unterhaltungsliteratur. Insbesondere die Honorare, die deutsche Rundfunkanstalten für Hörspiele bezahlten,
waren heiß begehrt. Obwohl er persönlich von dieser Kunstform nicht viel
hielt, war er sich nicht zu schade, eine Reihe von erfolgreichen Hörspielen zu
liefern. Einige von ihnen hat er später für die Bühne bearbeitet, die er als die
höhere Kunstform betrachtete. Ähnliches galt für den Kriminalroman, der
eindeutig zum Unterhaltungsgenre zählte. Jedenfalls hatte er keine Probleme,
Kriminalromane zu schreiben, ‚Kunst da zu tun‘, »wo sie niemand vermutet«
(30, 71f.). Freilich dürfte der Kriminalroman Dürrenmatt auch thematisch
entgegengekommen sein, weil sich in ihm sein Generalthema – die Schuld
des Einzelnen und die Wiederherstellung der Gerechtigkeit – auf spannende
Weise gestalten ließ.
In seiner lebenslangen Beschäftigung mit der Religion und dem Christentum
spiegelt sich Dürrenmatts eigene Auseinandersetzung mit der Welt des Vaters.
Christliche Themen bildeten von früh an die Folie zu Dürrenmatts Schriftstellerei, mit christlichen Themen und Motiven hat er sich bis in die Spätzeit
beschäftigt. Zur Loslösung von
Reformationsdenkmal von Paul Landowski in Genf mit (von li. nach re.)
Guillaume Farel, Johannes Calvin, Théodore de Bèze, John Knox, 1909
der Vaterwelt gehörte auch deren
geistige ‚Überwindung‘. Von der
frühen Auseinandersetzung mit
christlichen Argumenten zeugt
seine Positionsbestimmung (im
Brief vom 7. Februar 1948) gegenüber dem Katholiken Kurt
Horwitz, der ihn zu bekehren versucht hatte. Darin bekannte sich
Dürrenmatt zum Protestantismus,
obwohl er grundsätzliche BedenReligion
24
Trotz der Uraufführung des Dramas Der Blinde im Stadttheater Basel musste
Dürrenmatt weiterhin Brotarbeiten auf sich nehmen und beispielsweise Sketche für das Zürcher »Cabaret Cornichon« verfassen. Er arbeitete verbissen an seinem gigantischen Drama Der Turmbau zu Babel, musste
es aber nach vier Akten als unrealisierbar aufgeben – bis auf wenige Überreste hat er die Papiere vernichtet. Die Uraufführung der Komödie
Romulus der Große im April 1949 am Stadttheater Basel unter der Regie Ernst Ginsbergs brachte einen beachtlichen Erfolg. Bertolt Brecht bot
ihm die Stelle eines Dramaturgen am Berliner
Ensemble an. Dürrenmatt lehnte jedoch ab.
Bertolt Brecht, 1954
Während sich mit dem als Fortsetzungsroman im »Schweizerischen Beobachter« erscheinenden Kriminalroman Der Richter und sein Henker endlich
auch finanzieller Erfolg einstellte, kam ein unerwarteter gesundheitlicher
Rückschlag. Die Diagnose Diabetes veränderte Dürrenmatts Leben. Dennoch
musste er weiter schreiben, um den Unterhalt für seine wachsende Familie
zu bestreiten. So entstanden ein zweiter Kriminalroman Der Verdacht, Theaterkritiken für »Die Weltwoche« und – im Auftrag deutscher Rundfunkan25
Arbeit am
Durchbruch
LEBEN und WERK
ken gegenüber der die Kirche sprengenden Reformation hatte. Er konzedierte
zwar, der Protestantismus sei eine »abtrünnige Kirche«, hielt aber für seine
Person entschieden an ihm fest: »Ich bin Protestant. Um dieses Wort in seiner
ganzen Tragweite zu belassen: Ich bin eine Folge dessen, was der Protestantismus seinem Wesen nach ist, eine Folge des Abfalls.« Die aus diesem Abfall
entstandene »geschichtliche Wirklichkeit« sei nicht mehr revidierbar, und so
bleibe dem Protestanten »nur die Hoffnung aber nicht die Gewissheit«, »Gnade zu finden« (zit. nach R, 304-306).
stalten – verschiedene Hörspiele
(Der Prozess um des Esels Schatten,
Nächtliches Gespräch mit einem
verachteten Menschen). Das Stück
Die Ehe des Herrn Mississippi wurde an den Münchner Kammerspielen unter der Regie von Hans
Blick über das erste Wohnhaus Dürrenmatts in Neuchâtel
Schweikart
mit Erfolg uraufge(nach Umbau durch Mario Botta nun das Centre Dürrenmatt), 2004
führt. Das machte ihn allmählich
auch in Deutschland bekannt und das Dramenschreiben lukrativ. So riskierte
er – auf Pump – den Erwerb eines Haus in Neuchâtel; Dürrenmatt sollte es
bis an sein Lebensende bewohnen. Jetzt knüpfte er auch die Verbindung zum
Verleger Peter Schifferli, dem Gründer und Leiter des Arche Verlags, der bis
zum Bruch 1979 der Verleger aller seiner Werke wurde.
Ein weiterer Erfolg war die Premiere des zum Turmbau-Komplex gehörenden Schauspiels Ein Engel kommt nach Babylon im Dezember 1953 an den
Münchner Kammerspielen, das der Regisseur Hans Schweikart als Satire inszenierte. Dürrenmatt fühlte sich vom Regisseur missverstanden; kurzzeitig
erwog er sogar, keine Theaterstücke mehr zu schreiben. In diesen Jahren arbeitete Dürrenmatt an zahlreichen Projekten nebeneinander (dem satirischen
Unterhaltungsroman Grieche sucht Griechin, der Novelle Mondfinsternis, dem
Hörspiel und der Erzählung Die Panne). Den eigentlichen Durchbruch als
Bühnenautor erlebte er mit der Uraufführung der Tragikomödie Der Besuch
der alten Dame im Januar 1956 am Schauspielhaus Zürich, bei der Oskar Wälterlin Regie führte und Therese Giehse die alte Dame spielte. Ein Weltautor
war geboren, und in den folgenden Jahren trat das Stück einen Siegeszug über
die Bühnen der ganzen Welt an. Dies hatte für Dürrenmatt die erfreuliche
Konsequenz, dass seine Geldnöte ein für alle Mal aufhörten und er fortan in
bequemem Wohlstand leben konnte.
26
Während die Uraufführung der Komödie Herkules und der Stall des Augias im
Schauspielhaus Zürich abermals ein Fehlschlag wurde, gelang ihm mit der
Komödie Der Meteor nochmals ein durchschlagender Erfolg. Großen Anteil
daran hatte auch Leonard Steckels fulminante Darstellung des Protagonisten
Schwitter. Spiegelte sich im Meteor das eigene schriftstellerische Ich, so basierte die Erzählung Der Sturz auf den Eindrücken, die Dürrenmatt während
seines Aufenthaltes beim 4. Sowjetischen Schriftstellerkongress in Moskau
gewonnen hatte. Dürrenmatt hat sich mit Weltpolitik in fiktionalen Werken
auf satirische und ironische Weise auseinandergesetzt; über Israels Lebensrecht
27
Schaffensdrang
LEBEN und WERK
Eugène Ionescos scherzhaften Rat, hätte er dieses Stück geschrieben, würde
er sich zur Ruhe setzen, hat Dürrenmatt nicht befolgt. Vielmehr produzierte
er ununterbrochen weiter, und zwar in den unterschiedlichsten Genres. Die
Devise hieß: Experimentiere lieber mit vollem Risiko als dich zu wiederholen! So wechselten in seiner Produktion Theaterstück, Hörspiel, Filmtreatment, Roman (Das Versprechen, Justiz) und Erzählung (Mister X macht Ferien).
Daneben feilte er ständig an den bereits vorliegenden Stücken und erstellte
neue Fassungen – eine Arbeitsweise, die er bis in seine späte Zeit beibehalten
hat. Vor allem den jeweiligen Schluss schrieb er ständig – oft noch in der
Hauptprobe – um. Nicht alle Projekte waren von Erfolg gekrönt. Zusammen
mit dem Komponisten Paul Burkhard erarbeitete er eine Oper, die »Komödie
einer Privatbank« Frank der Fünfte; ihre Uraufführung am Schauspielhaus Zürich wurde ein Misserfolg. An den Erfolg der Alten Dame konnte er dann aber
mit der 1961 geschriebenen und im Februar 1962 am Schauspielhaus Zürich
uraufgeführten Komödie Die Physiker anknüpfen. Das Stück, eine Replik auf
die atomare Bedrohung Anfang der sechziger Jahre, wurde in der Spielzeit
1962/63 das meistgespielte deutschsprachige Stück. Die glänzenden Einnahmen erlaubten es Dürrenmatt, im nächsten Jahr ein zweites Haus auf seinem
Grundstück in Neuchâtel zu erbauen, zu dem sich in den siebziger Jahren ein
drittes Haus gesellte: die ‚Republik Dürrenmatt‘ war geschaffen.
äußerte er sich dagegen ernsthaft in mehreren Reden und Essays (Israels Lebensrecht 1967, Zusammenhänge 1974/1976, Nachgedanken 1980).
Schon immer hatte Dürrenmatt es bedauert, über kein eigenes Theater wie
Bertolt Brecht zu verfügen. Umso bereitwilliger nahm er die Chance wahr,
die sich ihm bot, als er im August 1968 zusammen mit Werner Düggelin die
Ko-Direktion an den Basler Theatern übernehmen konnte. »Das erste Jahr mit
Düggelin war meine schönste Theaterzeit überhaupt«, hat er im Rückblick
bekannt (Gespräche 2, 228). Mit großem Engagement stürzte er sich in diese
aufreibende Arbeit, erstellte eigene Bearbeitungen von Werken Shakespeares
(König Johann) und Strindbergs (Play Strindberg), kümmerte sich um praktische Theaterarbeit und übernahm obendrein die Mitherausgeberschaft der
neuen Züricher Wochenzeitung »Sonntags-Journal« (bis 1971).
Herzinfarkt
und Rückschau
Kein Wunder, dass diese nervenzehrende Tätigkeit in einem Herzinfarkt 1969
mündete. Der Warnschuss ließ ihn innehalten und führte ihn dazu, Rückschau auf das eigene Leben und Schreiben zu halten. Hier liegen die Anfänge
seiner Autobiografie Stoffe – Geschichte meiner Schriftstellerei. Die angehäuften
Probleme und Emotionen entluden sich während einer Pressekonferenz im
Oktober 1969, auf der Dürrenmatt die praktische Theaterarbeit am Basler
Theater Knall auf Fall hinwarf. In seiner Rechenschaft Mein Rücktritt von den
Basler Theatern zittert noch die Emotion nach (30, 155–161).
Von der Theaterarbeit zur Prosa
Das Schauspielhaus in Zürich konnte kein Ersatz dafür sein. Dürrenmatt wurde in den Verwaltungsrat des Zürcher Schauspielhauses berufen und lieferte
Textbearbeitungen (Urfaust, Woyzeck, Emilia Galotti; Porträt eines Planeten),
doch das Angebot, Direktor des Zürcher Schauspielhauses zu werden, lehnte
er wohlüberlegt ab. Dort erlebte er auch das größte Debakel seiner Theaterlaufbahn: den Durchfall seines neuen Stücks Der Mitmacher, bei dem er in
letzter Minute selbst die Regie übernommen hatte. Die Frustration über die28
LEBEN und WERK
sen Misserfolg kompensierte Dürrenmatt zwar, indem er sich zeichnerischen
Projekten zuwandte, doch schien sich die Mitmacher-Krise zu einer Schreibkrise auszuwachsen. Obendrein hat Dürrenmatt seinen Entschluss, sich definitiv vom Theater zurückzuziehen, immer wieder selbst durchbrochen. Dennoch ist es unverkennbar, dass er sich in der zweiten Lebenshälfte verstärkt der
erzählenden Prosa zugewandt hat. Das mag auch aus der Erkenntnis heraus
geschehen sein, dass sein Theatermodell in den siebziger Jahren nicht mehr
gefragt war, so wenig wie das Lehrtheater Brechts. Die Verfechter des Regietheaters und des Ausstattungstheaters, die das Gewicht auf die Inszenierung
legten, konnten mit seinem Modell eines ‚Gegenwelten‘ entwerfenden Theaters nichts mehr anfangen.
Zahlreiche zeitgenössische Betrachter sahen in dem nach der Mitmacher-Krise
entstandenen Werk nur eine Verlängerung dieser Krise, die sich in ständigen
Rechtfertigungen bekundete, und erkannten statt neuer Themen nur Wiederaufnahmen und Variationen älterer Stoffe und Motive. Die neuere Forschung
sieht diese Spätphase anders und sucht ihrer Komplexität gerecht zu werden.
Von einem Versiegen der erfinderischen Kraft zu sprechen, dürfte übertrieben
sein. Richtig ist, dass Dürrenmatt auf ältere Projekte zurückgriff. Dies lässt
sich aber auch als Ausdruck einer verstärkt einsetzenden Selbstreflexion interpretieren. Dabei muss man nicht gleich den Tonfall der Schweizer Bewunderer
annehmen und wie Peter Rüedi die Altersprosa Dürrenmatts als »veritables
Wunder« preisen (Rüedi 2004, S. 304). Aber doch gilt es anzuerkennen, dass
Dürrenmatt es vermochte, »sich in seiner späten Prosa am eigenen Schopf aus
dem ihn niederziehenden Sumpf der ungünstigen Verhältnisse« zu ziehen (R,
706).
In den späten Jahre entstanden zahlreiche Reden über Literatur (Büchner,
Schiller), über Politik (Über Toleranz), über Naturwissenschaft (Albert Einstein) und über die Schweiz. Oft geschah dies aus Anlass der eigenen Ehrung,
29
Persönliche
Umbrüche
der Feier eines runden Geburtstags oder der Verleihung eines Doktorhuts oder
einer Ehrenmedaille. Auf der Bühne hingegen waren die neuen Stücke (Die
Frist 1977; Achterloo 1983) nur noch eine Randerscheinung. Hinzu kam ein
privates Unglück: Im Januar 1983 starb Dürrenmatts Frau Lotti. Aus der Depression, in die der auf seine Frau stark angewiesene Autor fiel, rettete ihn die
Bekanntschaft mit der Journalistin Charlotte Kerr. Er heiratete sie im Mai des
folgenden Jahres. Sie sorgte dafür, dass Dürrenmatt liegen gebliebene Arbeiten
fertig stellte und neue Projekte in Angriff nahm.
Dürrenmatt und
die Schweiz
Dürrenmatt hat nie außerhalb der Schweiz gelebt, sie war sein Zuhause. Das
heißt aber nicht, dass er ausschließlich ein »Nesthocker« war. Auch wenn
er nicht aus Begeisterung reiste und obendrein durch seine Diabetes eingeschränkt war, hat er doch zahlreiche und auch große Reisen unternommen.
Dazu gehörten Dienstreisen, also Reisen, um Reden vor bestimmten politischen oder literarischen Foren zu halten, um Ehrungen und Preise entgegenzunehmen oder zu bestimmten Aufführungen seiner Stücke. Sie waren zahlreich und führten in europäische Länder, in die Sowjetunion, in den Vorderen
Orient und in die USA. So absolvierte Dürrenmatt zwischen November 1969
und Januar 1970 eine große Reise in die USA (Philadelphia, Florida, New
York), nach Mexiko (Maya-Ausgrabungsstätten in Yukatan) und in die Karibik (Karibische Inseln, nach Jamaika, Puerto Rico). An der Temple University,
Philadelphia, erhielt er im November den Ehrendoktor verliehen. Auf dieser
Reise entstanden die kritischen Sätze aus Amerika. Von März bis Juni 1981
war er ‚Writer in Residence‘ an der University of Southern California in Los
Angeles.
Reisen
In der zweiten Ehe mit Charlotte Kerr kamen zahlreiche touristische Reisen
hinzu, nach Schweden, Frankreich, Italien, Spanien, Ägypten und Südamerika. Dürrenmatt war kein Reiseschriftsteller. Er hat keine Reisetagebücher
geführt oder Reiseberichte verfasst. Immerhin haben verschiedene Reisen ihn
30
Die Aktivitäten als Essayist und viel gefragter Redner dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass
Friedrich Dürrenmatt: Skizze der Inka-Stätte
Dürrenmatt auch als Prosaautor keine durchschlaSacsayhuamán, Peru, Filzstiftzeichnung, 1984
genden Erfolge mehr hatte: Weder der nach Jahren
erneut aufgegriffene und mit Mühe beendete Kriminalroman Justiz (1985) noch der satirische Roman Durcheinandertal (1989)
vermochten die Kritik zu überzeugen oder große Publikumserfolge zu werden.
Allzu verklausuliert und oft mit äußerster Knappheit sind die Handlungsverläufe geschildert, ohne rechte Liebe zum Detail und vielleicht auch zu experimentell. Die mit eigenen Zeichnungen versehene Prosa­ballade Minotaurus
ist ein solches Beispiel, ebenso die Novelle Der Auftrag, die ursprünglich als
Treatment für ein Filmprojekt Charlotte Kerrs bestimmt war, schließlich auch
die letzte Arbeit, der gattungsmäßig schwer einzuordnende Text Midas oder
Die schwarze Leinwand. Den größten Erfolg hatte er mit seiner originellen Autobiografie Stoffe, die sich im Rückblick als das Hauptwerk seiner späten Jahre
erweist, auch wenn sie nicht zu einem Abschluss gekommen ist. Hier halten
sich Anschauung und Reflexion einigermaßen die Waage.
Das letzte Jahr war gekennzeichnet von reger Tätigkeit. Im Frühjahr reiste
Dürrenmatt nach Polen, besichtigte Warschau und Krakau und besuchte die
KZ-Gedenkstätten von Auschwitz und Birkenau. Immer noch hatte er Lust
31
Letztes Lebensjahr
LEBEN und WERK
zu Glossen und Essays, aber auch zu Zeichnungen
inspiriert, die von spontaner Kreativität zeugen. Ein
hübsches Beispiel ist die Skizze der Inka-Stätte Sacsayhuamán bei Cusco (DM, S. 173). Bei genauem
Betrachten lässt sich erkennen, dass Dürrenmatt
den Felsblöcken anthropomorphe Züge verleiht.
Unversehens verwandelt sich die Zyklopenmauer in
eine Front wehrhafter Giganten.
an der Provokation. Im November hielt er die Rede Die Schweiz – ein Gefängnis anlässlich der Verleihung des Gottlieb-Duttweiler-Preises an den tschechischen Präsidenten Václav Havel in Rüschlikon bei Zürich und erntete damit
blanke Häme. Im selben Monat hielt er in Berlin die Laudatio Die Hoffnung,
uns am eigenen Schopfe aus dem Untergang zu ziehen auf den sowjetischen Generalsekretär Michail Gorbatschow, den Begründer von »Perestroika« (Umgestaltung) und »Glasnost« (Informationsfreiheit). Im Vorfeld des siebzigsten
Geburtstags erschien der Sammelband Herkules und Atlas. Lobreden und andere Versuche über Friedrich Dürrenmatt bei Diogenes.
Als Dürrenmatt am 14. Dezember 1990 völlig unerwartet an Herzversagen
starb, war die Welt auf die Feier seines siebzigsten Geburtstags eingestellt. Ein
Skeptiker und zuweilen ein Zyniker, ein philosophischer Weintrinker und todesbewusster Lebensgenießer, ein süffisanter Provokateur und ein anregender
Plauderer hatte sich von der Bühne Welt verabschiedet. Im Grund hatte er
den feierlaunigen Mitmenschen wieder ein Schnippchen geschlagen. Für das
Überleben seines Ruhms hatte er freilich noch selbst gesorgt, indem er seinen literarischen Nachlass der Schweizerischen Eidgenossenschaft vermachte – unter der Bedingung, dass ein Schweizerisches Literaturarchiv eingerichtet
wurde, das auch die Pflege seines eigenen Werks gewährleistete. Er mochte
sich selbst wie ein Meteor vorgekommen sein, eingeschlagen in das ernsthafte
irdische Getriebe, das er selbst gar nicht immer so ernst genommen hatte. Von
seiner Souveränität zeugt, dass er sein von Krankheiten überschattetes Leben
heiteren Sinnes gemeistert hat. Sein Diktum, er habe nicht für die Therapie,
lediglich für die Diagnose einer einigermaßen heillosen Welt zu sorgen, hat er
schriftstellerisch auf launige Weise umgesetzt. Von welchem Schriftsteller des
20. Jahrhunderts ließe sich dies noch sagen?
Dürrenmatts Werk bietet nach wie vor viele Anregungen für den, der Thesen,
Reflexionen und Denkspiele schätzt, literarisches Schachspiel gewisserma32
Durch den Menschen wird alles paradox, verwandelt sich der Sinn in Widersinn, Gerechtigkeit in Ungerechtigkeit,
Freiheit in Unfreiheit, weil der Mensch
selber ein Paradoxon ist, eine irrationale
Rationalität. So läßt sich Ihren tragischen
Grotesken auch die Schweiz als Groteske
gegenüberstellen: als ein Gefängnis, als ein
freilich ziemlich anderes, als es die Gefängnisse waren, in die Sie geworfen wurden,
lieber Havel, als ein Gefängnis, wohinein
sich die Schweizer geflüchtet haben. Weil
alles außerhalb des Gefängnisses übereinander herfiel und weil sie nur im Gefängnis sicher sind, nicht überfallen zu werden,
fühlen sich die Schweizer frei, freier als alle
andern Menschen, frei als Gefangene im
Gefängnis ihrer Neutralität.
Rede von Friedrich Dürrenmatt anlässlich der Verleihung des Gottlieb-Duttweiler-Preises an den
tschechischen Präsidenten Václav Havel im November 1990 (Auszug)
ßen (Der Schachspieler hieß auch seine wohl letzte, posthum in der FAZ vom
5.9.1998 publizierte Erzählung). Es ist eine Fundgrube von Erkenntnissen, Fragestellungen, Zweifeln und ein eindrucksvolles Zeugnis misstrauischer Skepsis.
33
LEBEN und WERK
Doch die Wirklichkeit, in der die Schweizer träumen, ist anders. Als Dramatiker,
lieber Václav Havel, haben Sie die Wirklichkeit, in der Sie gelebt haben, bevor der
politische Dogmatismus zusammenbrach,
in Bühnenstücken dargestellt, die viele
Kritiker zum absurden Theater zählen. Für
mich sind diese Stücke nicht absurd, nicht
sinnlos, sondern tragische Grotesken, ist
doch das Groteske der Ausdruck der Paradoxie, der Widersinnigkeit, die entsteht,
wenn eine an und für sich vernünftige
Idee, wie sie der Kommunismus darstellt
– läßt sich eine gerechtere Gesellschaftsordnung denken –, in die Wirklichkeit
verpflanzt wird – auch das Urchristentum war schließlich kommunistisch, und
was ist aus dem Christentum geworden?
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Werke (Auswahl)
Kinder
Wird zum
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Bern Zürich
Lebensereignisse
Wechsel auf
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Gymnasium
Humboldtianum
Umzug
nach Bern
* 5.1.1921
Konolfingen , CH
Eintritt in die
Primarschule
in Stalden
Eintritt in die Eintritt ins
Sekundarschule in Freie GymGroßhöchstetten nasium
1921 1923 1925 1927 1929 1931
Erste
Theatererfolge
Bern
Studium der
Kunstgesch.,
Dt. Literatur,
Philosophie,
Naturwis.
Studienunterbrechungen:
Abbruch
des Studiums
Arche-Verlag
wird FDs
Stammverlag
Heirat
mit Lotti
Geissler
Diabetes- Hausdiagnose kauf
Umzug
Matura Volon- Militär- nach
Umzüge nach:
(Abitur) tariat dienst Basel Schernelz Ligerz Neuchâtel
1933 1935 1937 1939 1941 1943 1945 1947 1949 1951 1953 1955
Reisen
(Auswahl)
Begegnungen
Historisch-Kultureller
Albert Einstein
Hintergrund
Max Frisch
Bertolt
Brecht
Peter
Schifferli
Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg
Adolf Hitler, Reichsparteitag, 1933
Churchill, Roosevelt
und Stalin, 1945
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Antisemitismus
und Genozid
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Umbrüche in Naturwissenschaften und Kultur
Kalte
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Fällt bei den
Kritikern durch
Übernahme der MitherausgeberKo-Direktion schaft Zürcher
an den Basler Wochenzeitung
Theatern
Herzinfarkt
Tod des
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Simone de Beauvoir
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Einmarsch der UdSSR
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Imperialismus und
Freiheitsbewegungen
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Fidel Castro,
1961
Protest- und
Friedensbewegung
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