Luschützky Diachrone Morphologie WS13 Morphologie - Grundlagen! Definitionen: - Wort: Bedeutung (Signatum) ↔ ️ Morphologie ↔ ️ Lautform (Signans)! - orthographisches Wort: alles, was zwischen 2 Spatien steht! - phonetisches Wort: alles, was potenziell zwischen 2 Sprechpausen stehen kann! - phonologisches Wort: alles, was durch die Distribution phonologischer Einheiten und die Domäne phonologischer Prozesse gekennzeichnet ist! - prosodisches Wort: alles, was einen Hauptakzent trägt! - syntaktisches Wort: jede minimale freie Form! - morphotaktisches Wort: in komplexen Wörtern ist die Abfolge der Konstituenten nicht variabel (Prinzip der internen Stabilität und internen Kohäsion)! - semantisches Wort: die Bedeutung ist ein „einheitlicher Vorstellungsinhalt“! - Inhaltswörter (Autosemantika), offene Klasse ↔ ️ Funktionswörter (Synsemantika), geschlossene Klasse! - Deklinabilia: alle flektierbaren Wortarten, offene Klasse ↔ ️! - Indeklinabilia: alle unflektierbaren Wortarten, geschlossene Klasse (Bsp.: Partikel)! - Wortfamilie: Verwandtschaft auf der Ebene des Signans (Bsp.: fliegen, Fliege, Flug)! - Wortfeld: Verwandtschaft auf der Ebene des Signatums (Bsp.: fliegen, segeln, gleiten)! - Archaismen: Reliktformen, Bsp.: mitnichten! - Neologismen: Neubildungen (mit produktiven sprachl. Mitteln), Bsp.: chillen, Mail, shaken! - Allotropie: Dialektformen usw., nicht regelhaft gebildete Varianten zu semantischen Gegenstücken Bsp.: kreuchen und fleuchen! - Lexikalisierung: Form wird als ganzes, in ihrer ganzen Komplexität, im Lexikon abgespeichert! - Lexikologie: Lehre vom Wortschatz und seiner Zusammensetzung. Die Abgrenzung der Wortbildung von der Lexikologie ist unscharf.! - Lexikographie: praktische Umsetzung der Lexikologie (Wörterbücher)! 1 Luschützky Diachrone Morphologie WS13 - Grammatiktheorie: Lehre von der Form, Funktion und Bedeutung sprachlicher Einheiten und Konstruktionen! - Grammatikographie: Praktische Umsetzung der Grammatiktheorie (Sprachbeschreibungen)! - Etymologie: Lehre von der Wortherkunft und der Entstehung komplexer Wortformen! - Grammatikalisierungstheorie: Lehre von der Entstehung grammatischer Konstruktionen! - Morphonologie: Schnittstelle zwischen Morphologie und Phonologie! - Morphosyntax: Bezeichnung für die Funktionseinheit von Morphologie und Syntax! - primäre Evidenz: physikalisch fassbar, messbar! - sekundäre Evidenz: liefert Indizien; indirekte Evidenz! - Flexion: flektierbare Wortaren haben lexikalisch gesehen immer die gleiche Bedeutung (Bsp.: schwimmen - schwamm - geschwommen)! - Derivation: haben lexikalisch gesehen unterschiedliche Bedeutungen (Bsp.: binden Band); es gibt ein breites Übergangsgebiet (Kontinuum!)! - Prototypische Flexion: Wortart ändert sich nicht sondern nur ein morphologischsemantisches Merkmal (Bsp.: Tempus, Modus, Numerus usw.)! - Prototypische Derivation: Wechsel der Wortart Substantiv - Verb z.B.! - Augmentativ: Vergrößerungsform eines Substantivs und Gegensatz zum Diminutiv. (Bsp.: Spanisch: botella - Flasche, wird zu botellon - große, dicke Flasche)! - Diminutiv: Verkleinerungsform eines Substantivs ! - Pejorativ: ein sprachlicher Ausdruck, der das Bezeichnete abwertet! - Mejorativ: ein sprachlicher Ausdruck, der das Bezeichnete aufwertet! - Monosemie: Eindeutigkeit von Wörtern (Wörter mit nur einer Bedeutung)! - Polysemie: Mehrdeutigkeit von Wörtern (Wörter mit mehreren Bedeutungen)! - Homonymie: zwei ursprungsverschiedene Wörter sind gleichlautend! - Suppletivismus: Bildung verschiedener Wortformen unter Verwendung verschiedener Wurzeln (Bsp.: gut - besser)! - Modifikation: die Beifügung von Zusatzinformation zu einem sprachlichen Element (einem Wort, einer Phrase, einem Satz) durch ein anderes sprachliches Element.! - Affigierung: das Anhängen bzw. Einfügen eines Affixes an bzw. in einen Wortstamm! 2 Luschützky Diachrone Morphologie WS13 - Konversion: Umwandlung in eine andere Wortart ohne Veränderung der Morpheme des Wortes. Konversion (auch Nullableitung genannt) schafft ein neues Wort aus einem vorhandenen ohne jede morphologische Veränderung des Wortes, durch bloße Veränderung seiner syntaktischen Gebrauchsweise.! - Analogie: Übertragung von durch Lautwandel entstandenen Mustern in nichtauslösende Kontexte. Analogie braucht immer eine Motivation (Bsp.: Benennungsbedarf) und ein Motiv (ein Vorbild).! - Allomorphie:! 1. Zwei Morpheme M1 und M2 können Allomorphe sein, wenn sie die selbe Funktion/Bedeutung haben und wenn sie in komplementärer Distribution stehen.! 2. Komplementäre Distribution heißt: Der Kontext, in dem M1 auftaucht, ist ein anderer als der, in dem M2 auftaucht.! - Pseudoderivat: ein komplexes Wort, das so aussieht als ob es von einer Basis abgeleitet wurde, die es aber gar nicht gibt.! - Approximativsuffix: nähert sich an die Funktion eines anderen Suffixes an.! - Hiatus: Zusammenstoß von 2 Vokalen auf beiden Seiten einer Silbengrenze.! - kompositionale Bedeutung von Wörtern: die Bedeutung kann aus der Bedeutung der einzelnen Konstituenten und den Relationen zwischen diesen erschlossen werden.! - Allativ: ein grammatischer Kasus (Fall), der die Bewegung in Richtung auf einen Ort hin bzw. hin zu einer Person ausdrückt. Der Allativ ist komplementär zum Ablativ, zwischen diesen beiden steht der Adessiv.! - Synkretismus: ist das Zusammenfallen von Beugungsformen, im Deutschen beispielsweise dieselbe Endung bei verschiedenen Kasus. Synkretismen kommen vor allem in der indogermanischen Sprachfamilie vor. Morphologisch ausgedrückt sind Synkretismen Marker mit identischer Form, die unterschiedliche Werte eines Merkmales ausdrücken.! - Inchoativ: bezeichnet die Aktionsart eines Verbs, die eine beginnende Handlung ausdrückt. Beispiel: Das Wort „brennen“ als duratives Verb zeigt den Verlauf einer Handlung an, während „entbrennen“ als inchoatives Verb den Beginn und „verbrennen“ als das resultative Verb das Ende einer Handlung bezeichnet. Ob eine Handlung als inchoativ verstanden wird oder nicht, differiert zwischen den Sprachen.! - Metonymie: ein sprachlicher Ausdruck wird nicht in seiner eigentlichen wörtlichen Bedeutung, sondern in einem nichtwörtlichen übertragenen Sinn gebraucht.! 3 Luschützky Diachrone Morphologie WS13 Produktivität: = Verfügbarkeit von morphologischen Prozessen zur Bildung neuer Lexeme und Wortformen. Ist in der Flexionsmorphologie wichtiger als in der Wortbildung, es gibt aber einen Überlappungsbereich. Für die diachrone Morphologie ist auch das Unproduktive von Bedeutung. Bsp.: Pluralbildung im Deutschen: viele verschiedene Arten der Pluralbildung (9 Typen), wenn es keine vorgebildete Form gibt, kommt meistens ein -s (= default Pluralbildung).! Produktivität in der Wortbildung:! Derivation: Kategoriewechsel von einer Wortart in die andere:! Bsp.: Substantiv zu Adverb ist im Deutschen sehr unproduktiv, weil es wenige Primäradverbien gibt. Die meisten Adverbien werden im Deutschen aus Adjektiven gebildet. ! Adjektiv zu Substantiv ist ein produktiver Prozess. Ein produktiver Prozess muss auch eine gewisse semantische Konstanz haben. 4 Luschützky Diachrone Morphologie WS13 Morphologischer Wandel! Diachroner Wandel: 3 Hauptbereiche: Formwandel - Funktionswandel - Bedeutungswandel! Formwandel:! ist in erster Linie durch Lautwandel initiiert („blinde“ Wirkung der Lautgesetze - nehmen auf Morphologie keine Rücksicht).! • Schwund durch phonologischen Abbau (häufigstes Phänomen): Bsp.: ae. fisc-ian > ne. to fish (Übergang von Affigierung zu Konversion)! • Homonymie durch phonologischen Abbau: Bsp.: dt. ver- geht auf 3 versch. Partikeln zurück, die im Gotischen noch geschieden waren: faur-, fra- und fair- ! • Vermehrung der formalen Manifestation von Morphemen durch Lautwandel (via Phonologisierung): Bsp.: mobile Diphthonge im Italienischen und Spanischen: Latein: bonus : bonitas; Italienisch: buono : bontà; Spanisch: bueno : bondad! • Weitere Ausbreitung durch Analogie: In der Morphologie ist die Analogie nur innerhalb von Paradigmen wirksam, wo die von ihr vorausgesetzte Proportion herrscht. Morphologische Formen, die nicht in solchen Proportionen stehen, sind isoliert und können folglich auch nicht paradigmatisch ausgeglichen werden. So gab es seit alters von dem Substantiv weg auch das Adverb weg (beide [vɛk]). Der Nominativ Singular des Substantivs wurde von der Analogie (Einsetzung eines Langvokals) erfasst, das Adverb nicht. Es lautet daher bis auf den heutigen Tag [vɛk].! - Analogische Ausbreitung von Stammallomorphie: Bsp.: frühneuhochdeutsch: tak, ta:ges, ta:ge - neuhochdeutsch: ta:k, ta:ges, ta:ge! - Analogische Ausbreitung von Suffixallomorphie: Bsp.: lat. filia : filius! - Reallomorphisierung (Inversion) Bsp.: Ausgangsform a, an vor Vokalen - Regelinversion: mine apple, mine nut > mine apple, my nut > my apple, my nut! - Allotropie (als Form der Lexikalisierung), sind meist Einzelfälle: allomorphe Stämme nehmen verschiedene Bedeutungen an; Bsp.: Verdunklung : Verdunkelung! 5 Luschützky Diachrone Morphologie WS13 - schwache Morphologisierung: die Allomorphie wird zu einem Kosignal Bsp.: sleep : slept - hat zusätzlich zur Endung noch die morphologische Allomorphie ausgelöst, die zuvor nur rein phonologisch bedingt war.! - starke Morphologisierung: die Allomorphie wird zum alleinigen Signans einer morphologischen Kategorie Bsp.: Umlaut: foot : feet; Vater : Väter! • Formwandel durch irreguläre Lautentwicklung: Bsp.: dt. ent- > emp- wie in empfangen (mhd. entvahen), aber: entfernen, entfliehen..! • Formwandel durch Reanalyse (Metanalysis): Bsp.: dt. -ing > -ling: ahd. edil-ing „Adeliger“ reanalysiert als edi-ling, danach Jüngling, Feigling,…! • Analogische Ausbreitung: sind meistens auf semantische Werte zurückzuführen (Konnotation, Denotation), z.B.: dt. Herkunftsbezeichnungen und Bewohnernamen! • Kontamination auf lexikalischer Ebene: Bsp.: dt. Kartoffel x Erdäpfel > Erdoffel (regional)! • Affixkontamination: Bsp.: nordital. -mentre < lat. -enter x -mente ! • Affixpleonasmus: eine Bedeutung wird mehrfach auf unterschiedliche Weise ausgedrückt. Bsp.: dt. Prinzessin < Prinzess < frz. princesse - Prinzessin ist schon feminin, auch ohne „in“! • Ellipse: aus etwas mehrgliedrigem wird ein Teil ausgelassen. Aus diesen ausgelassenen Teilen können neue Suffixe mit neuer Bedeutung entstehen. Bsp.: dt. atomwaffenfrei > atomfrei, Atomkraftwerksgegner > Atomgegner usw..! • Deallomorphisierung: extreme Auswirkung der Redistribution; beseitigt Alternationen in Stämmen durch paradigmatischen Ausgleich. Allomorphie kann durch Analogie wieder verschwinden. Bsp.: Präteritalausgleich im Deutschen: mhd.: reit : riti : reit : ritum : ritut : ritun nhd.: ritt : rittest : ritt : ritten : rittet : ritten Bsp.: lat. Rothazismus (s wird zu r zwischen V): Stämme wurden durch Ausgleich restrukturiert, in der Wortbildung dadurch Regelinversion! • Formale Veränderung von Morphen in Stämmen durch Paradigmenspaltung: Bsp.: engl. shade : shadow (< aengl. sceadu; oblique Kasus sceaduwe)! 6 Luschützky Diachrone Morphologie WS13 • Formale Veränderung von Morphen in Affixen durch Lautwandel! • Reduktion von Allomorphie durch Redistribution: paradigmatischer Ausgleich Bsp.: lat. Rhotazismus Nominativ-r generalisiert in polysyllabischen Maskulina und Feminina (honor, labor, fragor, arbor etc.) -s erhalten in Neutra und monosyllabischen Maskulina und Feminina (flos, mos, mus, sus, ius etc.)! - Redistribution durch semantische Spezialisierung Bsp.: mhd. gast: gestiu > gastiu im Instrumental Sg. weil die anderen Fälle im Sg. auch mit „a“ sind! - Redistribution durch strukturelle Analogie Bsp.: nhd. geben: ich gib > ich gebe nach dem Vorbild der Verben mit Umlaut in der 3.Sg. wie tragen, schlagen, laufen…! • Metanalysis (Neugliederung; Reanalyse) lexikalisch-morphologische und grammatische Struktur kann uminterpretiert werden. Reanalyse setzt Analogie voraus! So könnte ae. cherries zum Beispiel nicht als Pluralform reanalysiert werden, wenn es nicht bereits Pluralformen auf s gäbe. Reanalyse führt nicht zu Anatomieverlust, ist nicht graduell und schafft nie etwas Neues.! 1. Monomorphose: Bsp.: Nasalinfix -n- im Hethitischen welches faktitive Verben von Adjektiven bildete. Unter Vorraussetzungen konnte das transitive Verb mittels einem Suffix -nu vom intransitiven gebildet reanalysiert werden.! 2. Dimorphose (und Rückbildung): engl. pea < ae. pi(o)se (< lat. pīsum, gr. pison)! 3. Luxation (Verschiebung)! 1. Luxation der Morphemgrenze: dt. Tisch-ler, Däum-ling (vgl. Däumelinchen)! 2. Luxation der Wortgrenze: dt. Natter/Otter - Otter entstand durch Luxation des Artikelauslauts! Bedeutungswandel und Funktionswandel! Die lexikalische Bedeutung enthält enzyklopädische Information, die kategoriale Bedeutung enthält nur strukturelle Information.! Bsp.: frz. pommier „Apfelbaum“ < pomme „Apfel“ ➡ ️ die jeweilige Bedeutung ergibt sich entweder aus der lexikalisierten Gesamtbedeutung (bei etablierten Bildungen) oder aus einer Interpretation auf der Basis von enzyklopädischer, konzeptueller und struktureller 7 Luschützky Diachrone Morphologie WS13 Information (bei Neubildungen). Nur in der Flexionsmorphologie und bei ganz produktiven Ableitungsmustern ist die Bedeutung komplexer Wörter kompositional.Grammatikalisierung:! Sprachwandelprozesse, durch die ein sprachliches Zeichen an Autonomie verliert, seine Bedeutung abstrakter wird, seine Distribution stärker geregelt wird und seine phonologische Form reduziert wird (nicht zwingend). Ausgangspunkt der Grammatikalisierung ist entweder eine syntaktische Konstruktion oder ein Kompositum. Das Gesamtphänomen der Grammatikalisierung ist zu einem guten Teil Bedeutungswandel (lexikalische Bedeutung wird zu grammatischer Bedeutung), Bsp.: Vollverb > Auxiliarverb; Temporaladverb > Tempusmarker.! Komponenten des Grammatikalisierungsprozesses: Verlust der! • pragmatischen Signifikanz! • semantischen Komplexität ! • syntaktischen Autonomie ! • morphologischen Binnenstruktur ! • phonetischen Substanz! Grammatikalisierungskette: Diskursstrategie > syntaktische Konstruktion > Wortform Inhaltswort > Funktionswort > Affix Bsp.: engl. to be going to > „Futur“ (I’m gonna do it, aber *I’m gonna the beach) Deiktische Erosion: Bewegungsverben > Tempusmarker, Aspektmarker, Modusmarker! Function contiguity hypothesis (für Sequenzen von Einzelveränderungen): Zwischen den einzelnen Stufen der Grammatikalisierungskette bestehen implikative Beziehungen, Bsp.: ein Lokativmarker kann nur dann zur Dativmarkierung dienen, wenn er auch als Allativmarker dient oder gedient hat.! Qualitative Schritte:! 1. Desemantisierung (semantic bleaching), Verblassen der lexikalischen Bedeutung! 2. Extension (context generalization), Verwendung in neuen Kontexten! 3. Entkategorialisierung: Verlust morphosyntaktischer Lexemeigenschaften! 4. Erosion (phonetic reduction), Verlust von lautlicher Substanz! Kronassersches Gesetz: die allgemeine Richtung der Bedeutungsentwicklung ist vom Konkreten zum Abstrakten.! Abstraktion (semantische Verblassung) ist entweder! 8 Luschützky Diachrone Morphologie WS13 - strukturerhaltend z.B.: tà „Kopf, Haupt“ > „geistige Fähigkeit“, „Hauptsache“, „Art, Klasse“! - strukturverändernd (category shift): Wechsel der Wortart oder der syntaktischen Kategorie z.B.: tá „Kopf, Haupt“ > Postposition, Konjunktion „über, in auf, um zu, weil“! Prinzip der morphosemantischen Asymmetrie: Der Bedeutungswandel geht dem Formwandel voraus.! Bedeutungsverschiebung (conceptual shift): = erste Stufe der Veränderung. Die Bedeutung ändert sich, aber das grammatische Verhalten bleibt unverändert.! Polygrammatikalisierung: Grammatikalisierung in verschiedene Richtungen. Bsp. ein Verb wird zu Tempusmarker, Adposition und Konjunktion.! Traugott-Progression: Propositionale Bedeutung > textuelle Bedeutung > expressive Bedeutung (Bsp.: engl. but, while, after, probably,..)! Greenberg-Progression: Demonstrativum > Definitheitsmarker > Genus- oder Klassenmarker > Schwund oder Konkreszenz (Verwachsung)! Givonsches Gesetz: „Today’s morphology is yesterday’s syntax“! Gesetz der potentiellen Stagnation: Grammatikalisierung kann an jedem Punkt der Grammatikalisierungskette zum Stillstand kommen.! Kontextinduzierte Reinterpretation: pragmatisch induzierte Nebenbedeutungen werden zu Hauptbedeutungen Bsp.: Ewe (Kwa) megbé „Rücken“ > „Rückseite“ > „Raum dahinter“ > „hinter“ > „spät“ > „geistig zurückgeblieben“ Einzelne Äußerungen pendeln oft mehrdeutig zwischen solchen Abstufungen.! Hybridform: Zwischenstation der Grammatikalisierung, bei der altes und neues Verhalten koexistieren (Bsp.: megbé „Rücken“ = sowohl Nomen als auch Postposition als auch Adverb). Hybridformen entstehen durch Persistenz, d.h. Erhaltung ursprünglicher lexikalischer Bedeutung trotz Grammatikalisierung. Beispiele: Kenianisches Swahili-Pidgin: mimi na-ona ile gari kwisha fika - ile = DEM/REL ungrammtikalisierte Lesart: „Ich sah das Auto, es ist angekommen“ (ile = Demonstrativum) grammatikalisierte Lesart: „Ich sah das Auto, das angekommen ist“ (ile = Relativum)! 9 Luschützky Diachrone Morphologie WS13 Prinzip des Lokalismus: Ausdrücke mir räumlicher Bedeutung sind kognitiv grundlegender und dienen daher als Rohmaterial für Metaphern und Grammatikalisierung.! - Körperteilmodell: Menschliche Körperteilbezeichnungen als Lokaladverbien und Adpositionen! - Hirtenmodell: Tierische Körperteilbezeichnungen als Lokaladverbien! - Landschaftsmodell: Landschaftsbezeichnungen > Lokaladverbien und Adpositionen! Prinzip der Zentrizität: Referenzpunkte für vertikale räumliche Begriffe (oben/unten) sind für Sprecher und Hörer gleich zentriert, für horizontale (vorne/hinten) aber nicht, darum tendieren Letztere eher zum Körperteilmodell, erste eher zum Landschaftsmodell.! Erwerbsmodell: Ausdruck der Bedeutung „haben“ durch etwas, das ursprünglich „halten, nehmen, ergreifen“ bedeutete. Bsp.: dt. haben < idg. *kap- „ergreifen“! Stochastisches Probabilitätsprinzip: Häufige Verben mit genereller Bedeutung werden am ehesten grammatikalisiert.! Vollendung der Grammatikalisierung:! • Anachronismusprobe: Die Grammatikalisierung ist vollendet, wenn Ausgangs- und Endstufe koexistieren können. Bsp.: engl. „I am going to go home“ („gehen“ > Futur)! • Widerspruchsprobe: Die Grammatikalisierung ist vollendet, wenn ihr Endprodukt in Kontexten vorkommen kann, in denen das Vorkommen der Ausgangsstufe semantisch ausgeschlossen ist.! Zwischenstufe der Entwicklung: = Semi-Affixe oder Affixoide Bsp.: dt. -mäßig: das Element existiert noch autonom, z.Bsp.: mit mäßigem Erfolg, die Bedeutung in Zusammensetzungen entspricht jedoch nicht mehr der Bedeutung der autonomen Form: umsatzmäßig war 2012 ein Rekordjahr! Regrammatikalisierung (interne Grammatikalisierung):! = Übergang von einer grammatischen Bedeutung zu einer anderen. ! • Bsp.: Derivationsaffixe können zu Flexionsmarkern werden: Bsp.: Demonstrativum > Artikel, Aspektmarker > Tempusmarker, Kasusform eines Verbalnomens > Infinitiv, Kommutativ > Instrumental, Stammbildungssuffix > 10 Luschützky Diachrone Morphologie WS13 Pluralendung, Umverteilung bei Synkretismus (Bsp.: partieller Synkretismus im Althochdeutschen Paradigmen)! • Bsp.: Flexionsmarker können zu Derivationsmarkern werden: Bsp.: dt. Genitivendung -s > Adverbialsuffix in flugs, mittags, nachts, … (Genitiv von Nacht ist nicht nachts!)! Degrammatikalisierung:! = Funktionsverlust, Verlust der grammatischen Bedeutung eines Elements! - Die Unidirektionalität der Grammatikalisierung als Sprachwandelsprozess, der zu immer abstrakteren Morphembedeutungen führt, wird auf Grund von Fällen in Zweifel gezogen, wo eine Umkehrung der Grammatikalisierungsrichtung vorliegt. Bsp.: dt. Präfix ur- > Adj. urig, Adv. ur > Adj. ur (eine ure Geschichte)! - Verlust grammatischer Bedeutung durch semantische Isolation (Lexikalisierung) Bsp.: engl. forget < ae. forg(i)etan ≈ dt. vergessen < ahd. firgezzan < urg. *fergetan, ‘verlieren’ (< idg. *per ‘(hin)weg’ + *ghe(n)dh- ‘nehmen, ergreifen’)! - Univerbierung: Bsp.: dt. heute < ahd. hiu tagu „seines Tages“ (vgl. seinerzeit) Die Univerbierungsprobe ist positiv, wenn das einer Univerbierung unterzogene Wort „mit sich selbst“ syntaktisch verknüpft werden kann (beschränkt auf komplexe Wörter, die Verbstämme enthalten). Bsp.: engl. this may be wrong : this is maybe wrong! Komposition:! In den altindogermanischen Sprachen sind die Komposita Stammkomposita (primäre Komposita); die nominalen Kategorien (Kasus, Numerus), die in freien Nomina durch Ablautmuster und Endungssätze ausgedrückt werden, sind im Erstglied neutralisiert, beim Adjektiv auch das Genus. Daneben gab es aber immer schon Komposita, die aus freien Phrasen univerbiert waren (sekundäre Komposita, z.B. dt. Hungersnot < mhd. hungers nōt). Das Nebeneinander von flektierten und unflektierten Vordergliedern führte zu einer Reanalyse mancher Flexionsendungen als zum Stamm gehörig, in anderen Fällen entstanden daraus die sogenannten Fugenelemente (= Interfixe), z.B. Nominalkomposita mit genetivischem Vorderglied, Typus Sonnenuhr (Sonnen ist alter Genetiv).! • Kompositionsaffigierung: Affixoide (Halbaffixe - stehen im Übergang zw. Affix und Kompositum): ein Kompositionsglied entfernt sich von der Bedeutung, die es als freies Morphem hat. Bsp.: dt. -mäßig, -frei, -werk, usw.! 11 Luschützky Diachrone Morphologie WS13 • Affixverschmelzung: ein sekundäres Derivat wird von den Sprachbenutzenden nicht auf das primäre Derivat zurückgeführt, sondern auf dessen Basis. Bsp.: alter Bildungstyp von Nomina loci auf frz. -ie (tuilerie) wird unproduktiv, weil sich -erie (Verschmelzung aus -ie und -ier) „Ort wo etwas hergestellt und/oder verkauft wird“ (boulangerie) durchsetzt. Weltweite Verbreitung: ital. + span. -eria (pizzeria), engl. -ery (nunnery), dt. -erei (Bücherei).! • Reanalyse der Derivationsbasis: eine Ableitung wird auf eine homonyme, aber kategorial heterogene Basisform zurückgeführt. Bsp.: Frz. {chasse}V + {eur}AG → chasseur ‘Jäger’ > {chasse}N + {eur}AG → chasseur ‘Jäger’ – es entsteht ein neuer denominaler Ableitungs- typ (z.B. chronique → chroniqueur ‘Chronist, Berichterstatter’), da die Basis chasse sowohl als Verbstamm als auch als Nomen actionis aufgefasst werden kann.! • Affixsubstitution: Zwei Typen von Derivaten treten so häufig gemeinsam auf, dass Bildungen aus einander abgeleitet werden und nicht von der gemeinsamen Basis. Bsp.: Dt. Nomina agentis auf -er können ohne Rückgriff auf eine verbale Basis aus Nomina actionis auf -ung abgeleitet werden - Schulleitung → Schulleiter (es gibt kein Verbum ×schulleiten).! • Morphogenese durch Sekretion: ein Teil eines Simplex wird als grammatisches Morphem interpretiert. Bsp.: Engl. oft : often, drunk : drunken sind phonologische Varianten; früher auch {hard}V : {harden}V – hier wurde -en als Kausativ/ Inchoativsuffix interpretiert und wurde produktiv: sharpen, lessen, shorten usw.! • Rückbildung (back formation): Engl. babysitter → to babysit, stage manager → to stage-manage, vacuum cleaner → to vacuum-clean usw. führte zur Entstehung eines neuen Kompositionstyps N+V.! - Distributionserweiterung von Affixen durch Rückbildung: Bsp.: Dt. Gegensprechanlage → gegensprechen; gegen- als neues Präverb in gegenlesen, gegenzeichnen usw.! • Semantische Infektion: ein Affix erhält durch seine Verbindung mit bestimmten Derivationsbasen eine evaluative (bewertende) semantische Färbung. Bsp.: lat. -alia war ursprünglich neutrales Kollektivsuffix (genitalia, numeralia, victualia usw.), wurde aber im Romanischen pejorativ: frz. canaille ‘Pöbel, Lumpenpack’.! 12 Luschützky Diachrone Morphologie WS13 • Metonymische Bedeutungserweiterung: Ein Affix wird durch seine Verbindung mit bestimmten Derivationsbasen in spezifischen semantischen Bereichen etabliert. Bsp.: span. -ado bildet Nomina status vom Typ episcopado; durch Beschränkung auf bestimmte Derivationsbasen (Ämter usw.) ergibt sich Metonymie hinsichtlich Zeit, Ort und Numerus, sodass das Suffix später produktiv zur Bildung von Kollektiva und Nomina temporis und loci verwendet werden kann: alumnado „Studentenschaft“ usw.! • Redistribution: lat. ipse, ipsa, ipsum flektiert wie iste und ille, außer im NOM und AKK.SG.NEUTR. Ausgangspunkt: idg. Personalpronomen *so-, AKK *som > *sum, iteriert *sum-sum / *sam-sam > *sumpsum / *sampsam mit Sprosskonsonant; darauf wurde ein Paradigma *so-p-so (> *sop-se), sa-p-sa usw. aufgebaut; danach wurde das außer Gebrauch gekommene *so- durch *is- ersetzt: *so-pse > *ispse, dissimiliert > ipse. Das isolierte –pse wurde sodann als Partikel aufgefasst. Bei Plautus: eapse, eumpse, eampse, neben ipsa und ipsum. Bis in klassische Zeit gibt es adverbielles rēāpse (< rē eāpse) ‘in der Tat, wirklich’. Vereinzelt erscheint Doppelflexion (eine plausible Zwischenstufe der Entwicklung): eum-pse > eum-ps-um > ips-um; eopse > eopso > ipso (Verlust der Binnenflexion) lat. *is-dem {m} > īdem, weil *id-em {n} (wörtlich ‘eben dieses’) > idem: Umdeutung zu i-dem, darauf aufbauend eadem, *eumdem > eundem usw.! • Pleonasmus (Mehrfachmarkierung): Bsp.: Engl. child, pl child-er, childer-en (children); dt. *ge-essen > gessen > gegessen! Morphologischer Transfer durch Sprachkontakt: Morphologischer Transfer setzt in der Regel lexikalischen Transfer voraus, d.h. Übertragung von gebundenen Morphemen erfolgt immer in einem lexikalischen Zusammenhang. Bsp. für ein Suffix: -ier- (im Infinitiv -ieren) Funktion: Bildung denominaler und deadjektivischer Verben mit der ungefähren Kategorialbedeutung „Zustandsveränderung“, „Versetzung in einen Zustand“, „Applikation. Bsp.: plakatieren, aktivieren, verbarrikadieren, usw. Herkunft: französische Verben auf -ier und -ir In vielen Verben ist -ier- wenige ein Suffix, das an eine Grundform antritt (wie in kodieren, kursieren), sondern vielmehr ein Wortausgang bzw. ein stammbildendes Affix: justieren, sanieren, spazieren, logieren (:Logis), inhalieren (: Inhalation) Als produktives Suffix wird -ier- auch auf germanische Erblexeme angewendet. Bsp.: halbieren, blockieren, schattieren, blondieren, usw.! ! 13 Luschützky Diachrone Morphologie WS13 Unterschieden wird zwischen:! 1. transferierter Morphologie als solcher (a. Morphemtransfer, b. Regeltransfer) Bsp. a.: dt. Plural -en im Rätoromanischen: vacchen „Kühe“ Bsp. b.: Verbalaspekt im Romani durch Übernahme slawischer Verbalformen! 2. morphologischer Adaptierung geht in der Regel Hand in Hand mit morphologischem Transfer. Der morphologische Transfer- und Adaptierungsprozess gliedert sich in mehrere Phase, wobei die Entwicklung in jeder dieser Phasen auch zum Stillstand kommen kann:! 1. Erstübernahme, z.B.: durch eine Gruppe zweisprachiger Individuen! 2. Propagierung, z.B.: druch prestigeträchtige Sprachbenutzer! 3. Produktivisierung, vor allem durch Anwendung auf indigens lexikalisches Material! 4. Nativisierung druch gebersprachenferne Sprechergruppen! In allen Phasen kann graphische, phonologische, morphologische und semantische Adaptierung erfolgen (die Wahrscheinlichkeit hierfür steigt tendenziell von Stufe 1-4). Bsp.: engl. stimmhaftes Plural-s im Dt. (die Kids, die Girlies), durch Auslautverhärtung und graphische Unterdifferenzierung ist die Allomorphie der Gebersprache beseitigt. ! 3. morphologischer Integration lexikalischer Transferelemente ändert primär nichts am morphologischen System der Nehmersprache, verändert aber die zahlenmäßige Zusammensetzung morphologischer Klassen und stärkt so unter Umständen die Markierungsfunktion bestehender Schemata. Bsp.: Genuszuweisung von Fremdwörtern im Deutschen erfolgt entweder nach etymologischen, morphonologischen oder semantischen Kriterien. 14