Kreative Energie – das Beste, was wir haben Rolf Oerter Eine andere Form von Energie: die „geistigen“ Kräfte. Kreative Energie hat die Menschheit zur (begrenzten) Herrschaft über die Natur verholfen und uns ungeahntes Wissen über Mensch und Welt beschert. Jeder technische Fortschritt ist letztlich das Ergebnis kreativer Energie! Was ist Kreativität? Begriff: Etwas Neues schaffen, das vorübergehend oder auf Dauer Bestandteil der Kultur wird Apollo (Olympia) Autour du cercle 1940 (mit 74 Jahren) Tanzende Zehnjährige Flugzeugkonstruktionen eines Fünfjährigen Origami eines Zehnjährigen Krokodil, hergestellt von einem Fünfjährigen Csikszentmihalyi: Kreativität ist nur in Wechselbeziehungen innerhalb eines Systems wirksam, das sich aus drei Hauptelementen zusammensetzt: • Domäne, • Feld • das Individuum, das neue Ideen entwickelt. Bryson: Eine kurze Geschichte von fast allem. Goldmann Verlag, 2005 Wechselbeziehung zwischen Person und Domäne Domäne Kreative Leistung Kreativer Akteur Feld Wichtige Arten (Domänen) von Kreativität und ihre Genese Körperexpressivität Bewegung Tanz Reigen Sport Sport und Tanzkultur Interesse an Personen Interesse an Sachen Musik Bildhaftes Sachen Technik Sprache Gestalten Waren Konstruktion Soziale Kreativität Rollenspiel Drama Musikkultur Bildende Kunst Naturwissenschaftliche Kreativität Ökologische Kreativität Theater Oper Literatur Ökonomische Kreativität Politische Kreativität Das Feld Personen, die den Zugang zur Domäne überwachen Nicht selten dysfunktional - Mandelbrot: Fraktale-Theorie - Eratosthenes (um 276-194 v. Chr.) berechnete den Erdradius um wenige Prozent genau - Robert Koch wurde von Fachkollegen nicht ernst genommen - Paul Wegeners Theorie der Kontinentalverschiebung wurde ignoriert Dennoch bleibt das Feld als Instanz unentbehrlich: Aneignung eines umfangreichen Wissens (Expertise) Verinnerlichung der Maßstäbe des Feldes (Aussortieren des Schrotts) hohe Motivation, Begeisterung, hingezogen sein, fasziniert sein Die oft entscheidenden Bedingungen für Kreativität Zusammentreffen günstiger Umstände Häufigste Äußerung von erfolgreichen Kreativen: Ich habe einfach Glück gehabt, zur richtigen Zeit mit den richtigen Leuten am richtigen Ort gewesen zu sein. Ergo: Zufall Ort Zeit Personen Zur Phänomenologie der Kreativität Neuheitseindruck Ichferne: Intuition, Inspiration Ideenfluss: Überwältigtsein, Bedrängtsein Imagination Emotionale Erregung Der kreative Prozess Kreativität als natürlicher Prozess, der biologisch aus den Aktivitäten Wiederholung, Variation und Strukturierung resultiert. Fünf Schritte - Vorbereitungsphase: unbewusste oder bewusste Beschäftigung mit dem Problem - Inkubations- oder Reifungsphase - Einsicht, Aha-Erlebnis - Bewertung - Ausarbeitung. Edison: Kreativität ist 5% Inspiration und 95% Transpiration Schon die Einsicht, viel mehr aber die Ausarbeitung können sehr anstrengend sein Weitere Aspekte Kreative Hochleistungen (z. B. große wissenschaftliche Entdeckungen) basieren, wie Weisberg zu zeigen versucht, auf denselben kognitiven Prozessen, die wir alle haben. Zusammenspiel von konvergentem und divergentem Denken - eher rekursiv als linear Konvergentes Denken Ziel Divergentes Denken Suche! Ziel Der kreative Prozess: Der Einfall stellt sich oft plötzlich und bei herabgesetztem Bewusstsein her. Deshalb entstand die Deutung der Intutition und Inspiration (von außen kommend) Beispiele: Kékulé: soll die Ringformel im Halbschlaf (oder beim Aussteigen aus einer Kutsche) gefunden haben Crick , der zusammen mit Watson die Doppelhelix der DNA-Struktur gefunden hat, berichtet in seinem Tagebuch, dass er frühmorgens im Labor am Schreibtisch mit Modellen der Basenpaare spielte und beim Herumschieben die entscheidende Idee hatte. Schrieffer fiel die mathematische Beschreibung des supraleitenden Zustands 1957 in der New Yorker U-Bahn ein. Bardeen, Erfinder des Transistors, und Träger zweier Nobelpreise in Physik, hatte den entscheidenden Einfall für die Idee der Supraleitung bei einem von seiner Frau veranstalteten Abendessen, bei dem ein schwedischer Gast eingeladen war. Bardeen, der während des ganzen Abends einsilbig war, erklärte seiner Frau hinterher lächelnd, dass ihm während des Abendessens die entscheidende Idee gekommen sei. Oft ist es vorteilhaft, entlegenere Regionen aufzusuchen Auch solche, in denen man nichts zu finden erwartet Eine einfache Methode vom Nahen zum Entfernten zu kommen, ist der Assoziationstest Assoziationen zur „Farbe“ Reihenfolge 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 Person A rot blau gelb schwarz freundlich wohnlich heiter überflüssig Form Teint Person B rot grün lila braun rosa falb hell dunkel Kleid attraktiv Neurologischer Exkurs Das Gehirn benötigt überproportional viel an Zucker- und Sauerstoffzufuhr. Besonders anspruchsvoll sind dabei die assoziativen Felder im Cortex, die als Erzeuger des Bewusstseins gelten. Sowohl wegen des hohen Energieaufwandes als auch wegen der geringen Speicherkapazität des Arbeitsspeichers werden informationsverarbeitende Vorgänge tunlichst ausgelagert. Schätzungsweise dringen weniger als 0,1% sämtlicher Hirnaktivitäten ins Bewusstsein vor. Diese Selektion ist notwendig, weil pro Sekunde mehr als elf Millionen Bits auf unser Hirn eintreffen Dagegen: beim Lesen eines Satze verarbeitet man 45 Bits/sec, beim Rechnen 12 Bits/sec (Kast, B.: Wie der Bauch dem Kopf beim Denken hilft. Die Kraft der Intuition. Frankfurt/Main, 2007) Die kreative Persönlichkeit Alle Menschen sind kreativ Szene aus: Rhythm is it genetische Prädisposition für eine Domäne Franz Schubert Picasso Aber zusätzlich: Neugier, Staunen sich Zugang zum Feld verschaffen oder erkämpfen aktive Genotyp-Umwelt-Interaktion Umwelt Genotyp Beispiele: Gershwin, Frank Sinatra; generell: Wahl des Studienfaches. Passung Alter? Beispiele früher kreativer Höchstleistungen Mozart und Schubert hinterließen ein gewaltiges musikalisches Opus, obwohl sie nur Mitte dreißig alt wurden. Einstein war 26, als er die Spezielle Relativitätstheorie veröffentlichte; Heisenbergs formulierte sein Postulat der Unschärferelation ebenfalls mit 26. In der Computerbranche, an der Börse und bei Unternehmensgründungen sinkt das Lebensalter in den letzten 10 – 15 Jahren permanent nach unten. Ein historischer Überblick über wichtige kreative Hochleistungen sowie eine Sammlung wichtiger kreativer Beiträge der letzten 50 Jahre zeigen, dass die größte Häufigkeit kreativer Leistungen zwischen 20 und 35 Jahren liegt. Gegenbeispiele: Kandinsky: seine revolutionäre Malerei beginnt erst nach dem Alter von 40 Jahren Tizian: hat noch mit über 80 Jahren gemalt Autour du cercle 1940 (mit 74 Jahren) Accord réciproque 1942 (mit 76 Jahren) Giuseppe Verdi 1813-1901 Othello: Uraufführung 1887 in Mailand (mit 74 Jahren) Falstaff: Uraufführung 1893 in Mailand (mit 80 Jahren) Immanuel Kant: 1724-1804 Kritik der reinen Vernunft: 1780 (mit 56 Jahren) Kritik der Urteilskraft: 1790 (mit 66 Jahren) Das Ende aller Dinge: 1794 (Religionskritische Schrift mit 70 Jahren) Verhältnis von Wissen und Kreativität Kreativität erfordert meist Expertenwissen (Beispiele: Mathematik, Physik, Biologie, Wirtschaft, Politik) Andererseits kann zu viel an Wissen Kreativität hemmen, da für alle Fragen bereits Lösungen zur Verfügung stehen. Dies würde erklären, warum viele große Entdeckungen im frühen Erwachsenenalter gemacht wurden. Wenn umfangreiches Erfahrungs- und Weltwissen für kreative Leistungen erforderlich ist, treten hohe kreative Leistungen im höheren Alter auf (Beispiel: Philosophie, Politik) Kreativität und Expertise 10-Jahresregel: Experte wird man nach ca. 10 Jahren intensiver Tätigkeit in einer Domäne Erst dann sind kreative Hochleistungen zu erwarten Kreativität im Erwachsenenalter beruht auf Expertise Kreativität im Kindesalter beruht auf Wissensdefiziten, die Wissenslücken werden durch kreative Akte zu schließen versucht. Der sozio-kulturelle Ansatz Kreativität als gemeinsame Leistung: einige moderne Beispiele aus Kunst und Wissenschaft Kreativität in der Gruppe, Teamkreativität Heute werden Fortschritte in Wissenschaft, Technik und Wirtschaft nur durch die Zusammenarbeit vieler erzielt Beispiele: Jazz-Ensembles und Bands Die Entstehung eines Films: die Anteile am Endprodukt sind verteilt und bleiben oft anonym. Beispiel: 50 Personen lieferten kreative Beiträge zur Endfassung des Films Raumfahrt, Astronomie (Very Large Telescope VLT): Feinabgestimmte Zusammenarbeit von Tausenden von Wissenschaftlern. Large Hadron Collider: 2500 Forscher. Dennoch gilt nach wie vor: Kreativität ist das Erzeugnis einzelner menschlicher Gehirne und entsteht nicht dubios irgendwie außerhalb von ihnen. Innovation Die Umsetzung kreativer Energie Was ist Innovation? Zur Innovation gehört eine neue Idee („kreative Energie“), die sich als nützlich erweist, die in die Praxis umgesetzt wird und die von der Gesellschaft oder einer maßgebliche Gruppe der Gesellschaft als wertvoll und wünschenswert angesehen wird. Zur Innovation gehören vier Bedingungen: Die Kreativen Finanzierung Abnehmer, Interessenten Beschleunigung der Innovation in der Menschheitsgeschichte Hackmesser: wird 1 ½ Millionen Jahre unverändert benutzt; Faustkeil ca. ½ Mill. Jahre. Beschleunigte Entwicklung vor 10-12 Tausend Jahren Erneute Beschleunigung ab der Renaissance (Physik) 19. Jh.: rasante industriell-technische Entwicklung Im 20. Jh. gab es mehr Forschritte in Wissenschaft und Technik als in der gesamten menschlichen Entwicklung zuvor. Heute wird unsere kreative Energie durch Werbung und die Produktion raffnierter, aber überflüssiger Geräte absorbiert. Dies ist angesichts drängender Probleme, wie rücksichtloser Raubbau der Ressourcen unseres Planeten, des Klimawandels und Umweltschutzes sowie der Überbevölkerung der Erde bedenklich. Innovationen können auch zerstörerisch sein Bankenkrise: verantwortungsloses Risikoverhalten Genmanipulation: unkontrollierbare Folgen FCKW: Zerstörung der Ozonschicht Pflanzenschutzmittel E 605 (erst seit 2002 verboten) Innovation wozu? Rahmen: ein tragfähiges ethisches Menschenbild •menschenwürdiges Leben •globale Gerechtigkeit •Mensch und Umwelt •Innovation muss sinnstiftend für die junge Generation sein, die einerseits Innovation erzeugt, andererseits Innovation zu ertragen hat. Daher: Innovation nicht nur in Technik und Warenproduktion, sondern auch in Erziehung und Bildung, Verwaltung, Politik und Gesellschaft. Prinzipien, die Innovation leiten sollen Wohlbefinden Selbstwirksamkeit, Kontrolle Freiheit in Grenzen Lebenszeitperspektive Fairness und Sozialverträglichkeit Nachhaltigkeit Best Practice Beweglichkeit Lebenslanges Lernen Auseinandersetzung mit inflationärer Technik Wir benötigen alle unsere kreative Energie, um mit den meist selbstverschuldeten Problemen fertig zu werden Dies ist nur durch eine konzertierte Aktion von Politik, Wirtschaft und Wissenschaft möglich. Es gibt Hoffnung auf ein Umdenken (was selbst wieder einen kreativen Akt darstellt), aber viel zu wenige sind aufgeklärt genug uns willens, über diese unsere Situation nachzudenken und in ihr angemessen zu handeln. Das ist alles, was wir haben