Nachhaltigkeit als neues Sozialprinzip - Katholisch

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Nachhaltigkeit als neues Sozialprinzip
(Christliche Sozialethik III: Umwelt- und Entwicklung)
von Prof. Dr. Markus Vogt
LMU München, SS 2008, Fr 10-12 Uhr
Nachhaltigkeit ist ein zentraler Leitbegriff der Politik im 21. Jahrhundert, der davon ausgeht,
dass die Ziele der sozialen Gerechtigkeit, der ökologischen Tragfähigkeit und der
wirtschaftlichen Effizienz nur erreichbar sind, wenn man in neuer Weise ihre komplexe
Wechselwirkung beachtet. Wenn man ihn ernst nimmt, impliziert er ein neues Verständnis von
Wohlstand, Lebensqualität und Technikverantwortung. Obwohl Nachhaltigkeit auch in der
katholischen Sozialethik eine wachsende Rolle spielt, ist seine konkrete Bedeutung und
Zuordnung zu den traditionellen Leitbegriffen bisher nicht hinreichend geklärt. Die Vorlesung
fasst aktuelle Forschungen zu theologischen und ethischen Grundlagen der globalen Umweltund Entwicklungspolitik zusammen und diskutiert konkrete Konsequenzen für gesellschaftliche,
kirchliche und persönliche Handlungsfelder.
Die Vorlesung erhebt nicht den Anspruch die Fülle der in der Gliederung genannten Aspekte
vollständig zu entfalten, sondern behält sich vor, je nach Interesse und Aktualität auszuwählen.
I. Einführung
(1) Einführung zur Fragestellung und Methode der Vorlesung
- persönliche Vorbemerkungen und aktuelle Anknüpfungen in Kirche und Forschung
- Welche Kompetenzen haben Theologie und Kirche im Nachhaltigkeitsdiskurs?
- Perspektiven für ein Forschungsprogramm: Nachhaltigkeit als neues Sozialprinzip
(2) Die Umweltkrise im Spiegel des gesellschaftlichen Diskurses
-
Phasen des ökologischen Diskurses im Spiegel der Literatur
Wahrnehmungsprobleme: Blinde Flecken unseres natürlichen „Frühwarnsystems“
Deutungsmodelle: „Grenzen des Wachstums“: Ressourcenverknappung,
Bevölkerungsentwicklung und konsumorientierter Lebensstil
Die Vergesellschaftung der Umweltschäden (U. Beck; H. Höhn)
II. Zusammenhänge von Umwelt, Gerechtigkeit und Frieden
(3) Der globale Klimawandel als Brennpunkt neuer Gerechtigkeitskonflikte
-
Keine Gerechtigkeit ohne Klimaschutz, kein Klimaschutz ohne Gerechtigkeit
Fakten und Prognosen zum Klimawandel
Gesellschaftliche Folgen des Klimawandels
CO2-Gerechtigkeit: Kriterien und Perspektiven für einen neuen global deal
(4) Die Gefährdung des Friedens durch Ressourcenkonflikte
-
Energie und Wasser als Schlüsselkonflikte des 21. Jahrhunderts
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-
Hunger contra Überfluss: Ökologische und agrarpolitischen Zusammenhänge
Migration und neue Kriege im Kontext von Ressourcenkonflikten
Biodiversität und Artensterben: aktuelle Analysen zur UN-Konferenz in Bonn
III. Das Leitbild „nachhaltige Entwicklung“
(5) Nachhaltige Entwicklung: Vision für einen neuen Gesellschaftsvertrag oder
unverbindlicher „Alleskleber“?
-
Kleine Begriffsgeschichte zur „nachhaltige Entwicklung" (sustainable
development): Von der Forstwirtschaft zum Leitprogramm für globale
Zukunftspolitik
- Quellentexte zur politischen Ausformulierung (UNCED-Konferenzen in Rio de
Janeiro und Johannesburg, Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung, BayernAgenda 21, „Zukunftsfähiges Deutschland“ etc.)
- Systematischer Zugang: Die Vernetzung der drei Dimensionen Soziale
Gerechtigkeit, Ökologische Tragfähigkeit und Ökonomische Effizienz
- Zur Rolle ethischer Leitbilder in der offenen Gesellschaft
(6) Annäherungen an den ethischen Strategiekern von Nachhaltigkeit
-
Starke Nachhaltigkeit: Naturkapital als dynamische Basis von Wohlstand
Soziale Nachhaltigkeit: Die Entdeckung der Natur als Reichtum der Armen
Ökologische Ökonomie: Ein neues Wohlstandsmodell
Energie und Arbeit: Eine doppelte Krise als Chance
Partizipation: Mittel und Ziel im Suchprozess nachhaltiger Entwicklung
(7) Theologische Beiträge zum Nachhaltigkeitsdiskurs
-
Sustainable Society: Wegbereitung durch den Weltrat der Kirchen
Ganzheitliche Entwicklung: Stellungnahmen des katholischen Lehramtes
Europäische Versammlungen für Frieden, Gerechtigkeit und Schöpfungsverantwortung
Nachhaltigkeit in Solidarität und Gerechtigkeit: Kirchliche Einmischung in
Deutschland
Praktizierter Schöpfungsglaube: Bewährungsprobe im kirchlichen Alltag
Die Erdcharta: Perspektiven für ein ökologisches Weltethos
IV. Begründungsansätze: Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit
(8) Schöpfungstheologische Ausgangspunkte
-
Das Christentum als geistesgeschichtliche Wurzel der Umweltkrise?
Biblische Grundlagen: Schöpferische Unterschiede
Ethische Leitbegriffe christlicher Schöpfungstheologie
Schöpfungstheologie im interreligiösen Diskurs
(Tiefen-)Ökologie und Religion
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(9) Naturverständnis und christliche Ethik
-
Natur als Spiegel des menschlichen Selbstverständnisses
Begriffsklärung (etymologisch, metaphysisch, naturwissenschaftlich,
gesellschaftstheoretisch, theologisch)
Natur und Freiheit: Das Problem des naturalistischen Fehlschlusses
Transformation des Naturrechts im Kontext von Anthropologie und Ökologie
Ökologie als Gesellschaftskritik (politische Ökologie)
(10) Philosophische Begründungstypen der Umweltethik
-
Fragebogen: “Welcher Ethiktyp sind Sie?“
Begründungstypen ökologischer Ethik: Die Würde des Menschen oder „Vermeidung von „Leid“? „Leben“ und „Rechtsgemeinschaft der Natur“ als Basis?
„Ökologische Aufklärung“ der Anthropozentrik
Retinität: Vernetzung als Schlüsselprinzip einer ökologischen Sozialethik; naturphilosophische, schöpfungstheologische und gesellschaftstheoretische Begründungen
(11) Ressourcenkonflikte und intergenerationelle Gerechtigkeit
-
Reichweite und Grenzen der Verantwortung in komplexen historischen Prozessen
Woran kann man das Postulat „gleiche Lebenschancen für künftige Generationen“
messen?
Perspektiven für eine „Ökologie der Zeit“
V. Handlungsfelder für eine nachhaltige Gesellschaft
(12) Politische Dimensionen: „Global Marshallplan“
-
Institutioneller Wandel: Voraussetzungen für Ressourcengerechtigkeit
Leitplanken für eine Ökologische Marktwirtschaft auf Weltebene
Die Bedeutung von Mikrokrediten für die Armutsüberwindung
„Kyoto-plus“: Politische Ansätze und Barrieren für Klimagerechtigkeit
(13) Nachhaltigkeit und Energie
-
Zur Bedeutung von Energie für Armut, Entwicklung und Wohlstand
Analysen zur Reichweite der verschiedenen Energieträger
„Solare Weltwirtschaft“: Chancen und Barrieren
Wege für eine nachhaltige Energiewirtschaft
(14) Mobilität: Unser Umgang mit Raum und Zeit
-
Kulturkritik und ethische Analysen der Beschleunigungsgesellschaft
Daten zum deutschen Mobilitätsverhalten
Perspektiven für eine nachhaltige Mobilität
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(15) Konsumverhalten: gesellschaftliche Trends und neue Chancen der Ethik
-
Daten zum deutschen Konsumverhalten
Postmoderne Dematerialisierung der Werte?
„Simplify your life“: Bedürfnisethik zwischen Haben und Sein
„Politik mit dem Einkaufskorb“: Chance für eine Revolution von unten?
(16) Zur Rolle der Ethik im Programm „Bildung für nachhaltige Entwicklung“
-
Die UN-Dekade „Bildung für eine nachhaltige Entwicklung“ (BfnE)
Lernschritte und Handlungsfelder der BfnE
Schlussfolgerungen für ein Bildungsethik
Zur Rolle der Theologie in Forschung und BfnE
VI. Resümee
(17) Nachhaltigkeit als viertes Sozialprinzip christlicher Ethik?
-
Religiöse Potentiale für Nachhaltigkeit (die Außenperspektive des Worldwatch
Institutes)
Vom Leitbild zum Prinzip: Konsequenzen und Anforderungen an Nachhaltigkeit im
Kontext der Katholischen Sozialprinzipien (Anknüpfungen und Innovationen)
Offene Fragen; Abschlussdiskussion
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I. Einführung zur Fragestellung und Methode der Vorlesung
1. Notwendige Lernprozesse in Kirche und Gesellschaft
Die vielschichtigen Phänomene der Umweltkrise prägen das Leben der Menschen zu
Beginn des 21. Jahrhunderts: Große Wohlstands- und Freiheitschancen stehen einer
ebenso großen Hilflosigkeit gegenüber. Die sozialen und ökologischen
Nebenwirkungen der wirtschaftlichen und zivilisatorischen Globalisierung führen zur
Verelendung ganzer Völker sowie zu einer tief greifenden Veränderung der
Lebensbedingungen auf dem Planeten Erde. Die Zukunftsfähigkeit unseres
Zivilisationsmodells ist wesentlich abhängig von einer ethisch-politischen Antwort auf
die Vernetzung zwischen
ökologischen,
sozialen
und
wirtschaftlichen
Herausforderungen der weltweiten Entwicklung.
Christinnen und Christen sind davon überzeugt, dass dem Menschen eine Zukunft
zugesagt ist, die Heil und Erlösung bedeutetet, die alle Menschen und die gesamte
Schöpfung einschließt1. Diese Zukunft bedeutet Verantwortung für die Mitmenschen,
besonders die Ärmsten und gleichermaßen für die ökologischen Lebensräume der
kommenden Generationen. Christinnen und Christen sind überzeugt, dass das biblische
Menschenbild und der biblische Schöpfungsglauben eine zukunftsfähige Orientierung
ausmachen, und dass die Kirche als „Sakrament der Völker“ (LG 1) Zeichen und
Werkzeug für die Vereinigung der Menschen mit Gott (= Heil) und für die Einheit der
Menschen (= ethisches Fundament einer gelingenden Globalisierung) ist. Eben dieses
Heil ist nicht jenseits der Verantwortung für die Welt und menschenwürdige
Lebensbedingungen zu finden.
Zugleich müssen Christinnen und Christen anerkennen, dass ihr eigener Beitrag zu
Fehlentwicklungen und Verantwortungslosigkeit im Umgang mit der Schöpfung
erheblich ist, und dass die Antworten der Kirche und der christlichen Ethik auf die
ökologischen Herausforderungen nur geringe Orientierungskraft entfalten:
-
Durch die Kritik am biblischen Herrschaftsauftrag „macht euch die Erde untertan“
(Gen 1, 28) und die ideologisch aufgeladene Konfrontation bio- oder anthropozentrischer Letztbegründung ist christliche Umweltethik zum Großteil in eine
unfruchtbare Defensivposition geraten.
-
Versuche einer systematischen Antwort auf die Umweltproblematik gibt es eher im
Rahmen der Individualethik (z.B. auf der Grundlage der Maxime „Ehrfurcht vor
dem Leben“) oder eine naturmystisch aufgeladenen Spiritualität; diesen Ansätzen
fehlt weitgehend die gesellschaftstheoretische Basis. Es fehlt an Antworten, die über
kulturphilosophische Grundsatzreflexionen, individualethische Appelle und
Anklagen der politischen und wirtschaftlichen Akteure hinauskommen.
-
Die theologischen und ethischen Optionen der Schöpfungsverantwortung werden
nur unzureichend in einen Zusammenhang gebracht mit den aktuellen Entscheidungs- und Strukturproblemen der Umwelt- und Entwicklungspolitik. Es fehlt ein
Schlüssel, um den Schöpfungsglauben in konkrete Regeln für sozialverträgliches
1
Gen 9; Kol 1.
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Wirtschaften zu übersetzen und auf dieser Basis für einen Ausgleich zwischen
Ökologie und Ökonomie fruchtbar zu machen.
-
Aufgrund der mangelnden Anwendung der anspruchsvollen schöpfungsethischen
Appelle im Bereich kirchlicher Verwaltung ist eine tiefe Glaubwürdigkeitslücke
entstanden. Die katholische Kirche ist eher Nachzügler als Impulsgeber im Umweltdiskurs2. Sie hat methodische Probleme, ihren ethischen Einfluss in der sich rapide
verändernden pluralen Weltgesellschaft geltend zu machen.
Die Umweltfrage ist bisher noch kein systematisches Grundelement christlicher Soziallehre.3 Das Fehlen einer Klärung der sozialethischen Grundlage für die Antwort der
Kirchen auf die Umweltfrage in ihren tiefen ökonomischen, entwicklungspolitischen
und kulturellen Zusammenhängen wurde exemplarisch deutlich im Entwurf der
Diskussionsgrundlage zum Konsultationsprozess: Ökologische Problemfelder tauchten
nur vereinzelt und als ein die Kirche nicht näher angehendes Randphänomen auf. Das
gleicht einer Verharmlosung der Situation. Zusammenhänge zwischen dem Verständnis
von Arbeit, Wirtschaft und Schöpfung/Umwelt werden ignoriert. Deshalb bleiben
kirchliche Stellungnahmen zu ökologischen Fragen häufig auf der Ebene moralischer
Appelle stehen. An moralischen Appellen aber besteht gerade im Umweltdiskurs kein
Mangel, sondern eher eine „Überversorgung“, die die Motivation erdrückt.
2. Nachhaltigkeit: Chance für "politikfähige" Übersetzung der Schöpfungsethik
Die qualitativ neue Herausforderung besteht darin, dass die Phänomene der global
beschleunigten Entwicklung von Armut und Umweltzerstörung in einem engen inneren
Zusammenhang stehen und deshalb gemeinsam analysiert und bewältigt werden
müssen. Wirtschaftlicher Wohlstand, soziale Gerechtigkeit und ökologische
Tragfähigkeit stehen heute aufgrund der engen Verflechtung weltweiter Wirkungszusammenhänge so sehr in einer wechselseitigen Abhängigkeit, dass sie nicht einzeln
oder gar gegeneinander gesichert werden können. Ohne eine systematische Verknüpfung und weltweite Einbindung bleiben die Konzepte der Wirtschafts-, Sozial- und Umweltethik nur kurzatmige Symptombehandlungen.
Diese Analyse ist nicht neu: Sie liegt dem Leitbild der „Nachhaltigkeit“ zugrunde, auf
den sich 1992 bei der Weltkonferenz für Umwelt und Entwicklung die Völkergemeinschaft verständigt hat. Nachhaltigkeit wurde dort definiert als ökologisch
tragfähige, sozial gerechte und wirtschaftlich effiziente Entwicklung. In der Agenda 21
wurde ein konkreter Fahrplan für diese Vision als Grundlage der Politik im 21.
Jahrhundert von den obersten Vertretern von 179 Staaten anerkannt und unterschrieben.
Von dem Anspruch der Nachhaltigkeit, als Querschnittsthema alle Reflexions- und
Handlungsbereiche zu durchdringen, ist ihre Entfaltung und Rezeption jedoch weit
entfernt. Der Mehrzahl der Bürgerinnen und Bürger ist das Leitbild der Nachhaltigkeit
schlicht unbekannt. In der Praxis jenseits der verbalen Appelle auf großen Konferenzen
hat es sich bestenfalls als Randbereich gesellschaftlicher Verantwortung etabliert. Im
Konflikt mit anderen Ansprüchen und Optionen hat es meistens einen nachgeordneten
Stellenwert.
2
3
So H. Langendörfer, in: Vogt/Lippert: Bündnispartner für die Schöpfung - Kirche und
Umweltverbände im Dialog, Benediktbeuern 1999, 27-33.
Korff 1996, 453f.
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Dies zeigt sich deutlich an zahlreichen Entscheidungen im Bereich wirtschaftlicher
Grundoptionen, der Verwaltung, der Energieversorgung, der Bauplanung, des Mobilitätsverhaltens und der Entwicklungspolitik4. Der Gedanke der Nachhaltigkeit kann
jedoch nicht Nebensache sein, denn damit würde das Konzept einer aufs Ganze
angelegten Integration der unterschiedlichen Belange zum Türöffner für Beliebigkeit.
Wer Nachhaltigkeit als Nebensache behandelt, lässt den Begriff zur Leerformel werden.
Die Herausforderung des Leitbilds nachhaltiger Entwicklung für die Kirche besteht
darin, dass es die fundamentale Vernetzung der ökologischen, sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Globalisierung deutlich macht: Es geht nicht um Einzelprobleme,
sondern um die ethischen Grundlagen, Regeln und Ziele gesellschaftlicher Entwicklung.
Nachhaltigkeit fordert eine neue Verständigung darüber, was die tragenden Grundwerte
des Lebens sind, wie wir weltweite Gerechtigkeit und Überlebensfähigkeit sichern
können, aus welchen Quellen die Reformfähigkeit von Politik und Gesellschaft gestärkt
werden kann. Damit werden Einzel- und Fach-Fragen gebündelt zu einer grundlegenden
ethischen Herausforderung, die auch die Kirchen unmittelbar angeht.
Der ganzheitliche Anspruch der Nachhaltigkeit erfordert, ihn entweder in der Mitte des
Selbstverständnisses und der eigenen Tradition zu verankern oder ihn abzulehnen. Trotz
sehr früher kirchlicher Impulse und Rezeptionen von Nachhaltigkeit sind die Kirchen
jedoch noch weit entfernt von einer soliden Verankerung im christlichen Glauben, in
den ethischen Grundhaltungen des Alltags, in den politischen Zielen und der
praktischen Organisation kirchlicher Institutionen. Frage ist, ob der Ansatz der
Nachhaltigkeit ohne Widersprüche mit dem biblischen Schöpfungsglauben und der
Tradition christlichen Ethik verbunden werden kann und wie diese ihrerseits zu einer
Vertiefung von Nachhaltigkeit beitragen können.
Christliche Schöpfungsverantwortung findet nur dann im Leitbild der Nachhaltigkeit
ihren zeitgemäßen Ausdruck, wenn sie ihrerseits eine ethische und religiöse Dimension
dieses Leitbildes aufdecken und aus den eigenen Quellen heraus interpretieren kann.
Welchen Erkenntnisgewinn bringt die schöpfungstheologische Argumentationsfigur,
dass (ein) Gott die Welt geschaffen hat, zur Begründung des Umweltschutzes in einer
modernen, pluralistischen Gesellschaft? Was kann die theologische Interpretation ökologischer und sozialer Verantwortung im Globalisierungsprozess zur kirchlichen und
gesellschaftlichen Verständigung und entsprechend verantwortlichem Handeln beitragen? Nur wenn der christliche Glaube einen originären Beitrag zum Verständnis und
zur Umsetzung von Nachhaltigkeit leistet, ist das Leitbild kirchlich rezeptionsfähig und
verdient eine Ausarbeitung und Anerkennung im Rahmen der katholischen Sozialethik.
3. Herausforderungen für eine Erweiterung der Sozialprinzipien
Die Globalisierung der ökologischen und sozialen Frage lässt sich ethisch nicht hinreichend beantworten mit dem Aufstellen von Einzelnormen, sondern fordert ein Hinterfragen der Grundsätze, nach denen Politik und Wirtschaft organisiert werden. Es geht
darum, normative Leitlinien soziale Konflikte sowie die Gestaltung der
gesellschaftlichen Strukturen nach allgemeinen Gesichtspunkten transparent zu machen,
zu erklären, zu ordnen und zu gestalten. Genau dies ist die Ebene der Sozialprinzipien5.
4
5
Vgl. UNEP 1999; UNEP 2002 (Berichte zu Johannesburg).
Sozialprinzipien sind die ethische Grammatik für den Strukturaufbau der Gesellschaftsordnung.
Theologisch betrachtet haben sie ihren Ort auf der grundsätzlichen Ebene der Übersetzung biblischer
Vogt Nachhaltigkeit [Zsfg 1] 8
Hier ergibt sich jedoch ein Dilemma: Die klassischen Sozialprinzipien Personalität,
Solidarität und Subsidiarität, die den systematischen Kern katholischer Sozialethik
ausmachen, sind auf den zwischenmenschlichen Bereich bezogen. Sie können daher
keine hinreichende Antwort auf ökologische Herausforderungen geben. Auch die
Komplexität der Globalisierungsprozesse ist eine qualitativ neue Herausforderung. Auf
der Ebene der Sozialprinzipien kommt die Umwelt- und Entwicklungsfrage nicht vor.
Der Beginn des 21. Jahrhunderts ist sozialethisch betrachtet eine Umbruchzeit, die
dadurch gekennzeichnet ist, „dass Deutungs- und Orientierungsmuster ihre Plausibilität
verlieren und Gesellschaften sich herausgefordert sehen, sich neu der Grundlage ihres
Selbstverständnisses und damit ihrer Zukunftsfähigkeit zu vergewissern. Dabei kann es
durchaus auch zur Ausprägung neuer Prinzipien kommen, mit denen dem Gang der
geschichtlichen Entwicklung Rechnung getragen wird.“6 Von ihrer Geschichte her sind
die Sozialprinzipien auf eine Erweiterung hin angelegt: Sie sind nicht gleichzeitig
entstanden, sondern über Jahrhunderte gewachsen als ethische Antwort auf
geschichtlich jeweils neue Herausforderungen.
Bei den Prinzipien der Personalität und der Solidarität hat die Kirche ethische Impulse
von außen aufgenommen (Personbegriff von Kant als Grundlage der Aufklärung; Solidarität war zunächst ein Klassenkampfbegriff im Sozialismus und den Gewerkschaften).
Die zunächst „säkularen“ Begriffe wurden mit der eigenen Tradition verknüpft und so
ethisch und theologisch neu ausgedeutet. Von daher liegt es in der konzeptionellen
Linie der Sozialprinzipien, dass sie erweitert werden, wenn sich qualitativ neue
geschichtliche Herausforderungen stellen und dass dabei auch ethische Begriffe und
Reflexionen von außen in die kirchliche Tradition aufgenommen werden können.
Daraus ergibt sich die zentrale Fragestellung dieser Vorlesung: Sie sucht die Anschlussfähigkeit, den Stellenwert und die Verbindlichkeit des Prinzips der Nachhaltigkeit im
Kontext des christlichen Schöpfungsglaubens und der katholischen Sozialprinzipien zu
klären. Die Aufgabe liegt darin, den umfassenden Anspruch und die Verbindlichkeit
dieses Leitbildes deutlich zu machen, ohne in die Engführung eines ökologischen
Naturalismus zu verfallen, der weder mit dem Schöpfungsglauben noch mit dem ersten
und grundlegenden Sozialprinzip der Personalität vereinbar wäre.
Ein christlicher Zugang zum Leitbild der Nachhaltigkeit muss deutlich machen, dass
diesem nicht als ökologischem Fachbegriff, sondern als ethisch-politischem Programm
und als einer kulturellen Aufgabe eine revolutionäre Bedeutung zukommt. Zu dieser erweiterten Interpretation von Nachhaltigkeit versucht diese Vorlesung aus spezifisch
schöpfungstheologischer, naturphilosophischer, wirtschaftstheoretischer und politischethischer Perspektive einen Beitrag zu formulieren.
Folgende Fragen und Thesen gilt es zu prüfen:
-
6
Kann Nachhaltigkeit in seiner Begründung konsistent mit dem Schöpfungsglauben
verbunden werden und trägt ihre Zuordnung zu den traditionellen Sozialprinzipien
dazu bei, den Stellenwert und Zusammenhang ökologischer und entwicklungspolitischer Fragen auf prinzipieller Ebene sowie im Kontext der Tradition christlicher
Ethik zu klären?
Imperative in ordnungsethische Kategorien, die der offenen Dynamik moderner Gesellschaft und
Wirtschaft Rechnung tragen.
Baumgartner/Korff 1999, 225.
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-
Kann Nachhaltigkeit als ordnungsethisches Rahmenkonzept dienen, das die Grundoptionen christlicher Schöpfungsverantwortung unter den Bedingungen moderner
Gesellschaft zur Geltung bringt und so eine Brücke bietet zu ihrer politisch und
wirtschaftsethisch wirksamen Entfaltung? Ist Nachhaltigkeit also eine Art "missing
link" zwischen Schöpfungsglauben und gesellschaftlichem Umwelt- und
Entwicklungsdiskurs? Findet Schöpfungsverantwortung im Prinzip der
Nachhaltigkeit ihren zeitgemäßen Ausdruck?
-
Besteht eine Strukturparallele zwischen der mangelnden Politikfähigkeit des
Schöpfungsglaubens und der geschichtlichen Erfahrung mit der christlichen Interpretation der Caritas, die Jahrhunderte lang nur tugendethisch verstanden und für
wesentliche Problemfelder erst in der Verbindung mit dem Personalitäts- und
Solidaritätsprinzip politikwirksam wurde? Kann der als sozialethisches Prinzip
interpretierte Gedanke der Nachhaltigkeit in ähnlicher Weise wie die anderen
Prinzipien als Übersetzung biblischer Imperative in ordnungsethische Kategorien
dienen, um ihnen politische Gestaltungskraft zu verleihen und ihre Konsequenzen
für (post-)moderne Gesellschaften zu verdeutlichen?
-
Führt die Verknüpfung der Sozialprinzipien mit dem Nachhaltigkeitsmodell dazu,
dass die Reflexion „im Schneckenhaus des Naturrechts“7 verkrustet oder lässt sich
im Gegenteil von dem Nachhaltigkeitsdiskurs im Kontext moderner Anthropologie,
Ökologie und Quantenphysik die Tradition des Naturrechtes erneuern? Ist die Erweiterung der Sozialprinzipien um Nachhaltigkeit ein notwendiger Schritt, um ihre
naturrechtliche Tradition heute verständlich zu machen für aktuelle Problemfelder
zu entfalten?
-
Kann christliche Sozialethik eine Spur zu konsistenten Antworten auf die
Vernetzung zwischen den Herausforderungen der Globalisierung finden? Ist
Nachhaltigkeit ein Rahmenkonzept, in dem sich heute die Zusammenhänge
zwischen ökologischer, wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Verantwortung für
die Folgen der Globalisierung besser analysieren und bündeln lassen und in dem die
christlichen Antworten hierzu ein qualitativ angemessenes aggiornamento und eine
verständliche Sprache finden?
-
Ist Nachhaltigkeit ein Kontext, in dem sich auch für die traditionellen Prinzipien der
Personalität, Solidarität und Subsidiarität neue und heute notwendige
Interpretationsaspekte zeigen?
Wenn diese Fragen positiv beantwortet werden, ergibt sich, dass Nachhaltigkeit als
gleichberechtigtes sozialethisches Prinzip in der christlichen Tradition verankert werden
muss, wobei dies sowohl als Integration wie auch als Erweiterung zu gestalten wäre.
Schöpfungsglaube und Sozialethik: Vertiefte Begründung der Nachhaltigkeit
Positiv formuliert sind die Leitthesen, die in dieser Vorlesung untersucht werden sollen,
folgende: Zwischen dem Leitbild nachhaltiger Entwicklung und christlicher
Schöpfungsverantwortung besteht ein Ergänzungsverhältnis: Einerseits ist christliche
Schöpfungsverantwortung heute auf nachhaltige Entwicklung verwiesen, um
gesellschaftliche Wirksamkeit entfalten, andererseits kann die Begründung und
7
Hengsbach 1993, bes. 33-56 (B. Emunds: Das naturrechtliche Schneckenhaus. Kritik der katholischen
Soziallehre am Beispiel des Ansatzes von Lothar Roos).
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Umsetzung des Leitbildes vom christlichen Schöpfungsglauben und Menschenbild her
wichtige Orientierungshilfen erhalten. Der Glaube kann entscheidende Anstöße geben,
um Nachhaltigkeit in ihrer kulturellen und ethischen Dimension zu vertiefen und so den
notwendigen Kurswechsel zu einer nachhaltigen Entwicklung auf der Ebene des
individuellen und gesellschaftlichen Wertewandels zu unterstützen.
Dabei geht es nicht um eine christliche Vereinnahmung des Begriffs, sondern darum,
ihn mit christlichen Inhalten zu verknüpfen und dadurch neue Dimensionen des Begriffs
auszuleuchten. Auf diese Weise wird er zu einem Interpretationskontext der christlichen
Botschaft, der ihre aktuelle Bedeutung für die moderne Gesellschaft vergegenwärtigt.
Der Nachhaltigkeitsdiskurs kann und soll als Brücke für die Kommunikation zwischen
Kirche und moderner Gesellschaft dienen.
4. Bisherige Beiträge der Kirchen zum Leitbild der Nachhaltigkeit
Christinnen und Christen haben bereits einen nicht unerheblichen Beitrag zur
Entwicklung des Leitbilds nachhaltiger Entwicklung geleistet:
-
Der Entwicklungsbegriff aus der Enzyklika Populorum Progressio von 1967 hat –
vermittelt durch einige katholische Mitglieder des Club of Rome - die frühen
Konzeptionen der UNO zur Verbindung von Umwelt- und Entwicklungsprogrammen, aus denen das Nachhaltigkeitskonzept hervorgegangen ist, beeinflusst8.
Das kirchliche Verständnisses von Entwicklungszusammenarbeit und die
Zielperspektive eines „integralen Humanismus“9 unter Einbeziehung der
ökologischen Komponente10 wird in den Dokumenten von Rio aufgegriffen.
-
Bereits 1974 hat der Ökumenische Rat der Kirchen eine Stellungnahme für eine
„nachhaltige Gesellschaft“ (sustainable society) verabschiedet.11 Der ökumenische
konziliare Prozess für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung war ein
wichtiger Wegbereiter der Nachhaltigkeitsidee12. So gibt es unmittelbare
Zusammenhänge zwischen der Trias des konziliaren Prozesses und der Trias von
Ökologie, Ökonomie und Sozialem, die die Botschaft von Rio ist. Viele Texte der
Versammlungen des konziliaren Prozesses von Stuttgart und Dresden haben
Formulierungen der Texte von Rio geprägt13. Führende Persönlichkeiten stehen für
die Verbindung beider Prozesse. Bisher fehlt eine systematische wissenschaftliche
Untersuchung dieser Zusammenhänge.
8
9
10
11
12
13
Vgl. E. Masini, Ein nachhaltiger Lebensstil als Heusforderung für ein christliches Europa, in Vogt/
Numico 2007:
Populprum Progressio Nr. 14-16.19-21.42.
Apostolisches Schreiben „Octogesima Advenients [1971], 21.
1975 bis 1983 war die Arbeit des ÖRK auf das Programm “Just, Participatory and Sustainable
Society” ausgerichtet (Stückelberger 1997, 195-205), was nicht nur eine sehr frühe Rezeption des
Begriffs “sustainable development” bedeutet, sondern zugleich eine wegeweisende Verknüpfung mit
demokratischer Partizipation, was sich in der Konzeption der Agenda 21 niedergeschlagen hat.
CCEE 1989; Ernst 1990; Rosenberger 2001. Zwar wird „Frieden“ meist nicht unmittelbar benannt als
konstitutives Element der Nachhaltigkeit, die Friedensproblematik ist jedoch intensiv in den
Dokumenten von Rio reflektiert und einbezogen (z.B. Rio-Deklaration Nr. 24-26). Darüber hinaus
besteht ein enges Verhältnis zwischen „Frieden“ und „Entwicklung“. so hat Papst Paul VI formuliert:
„Entwicklung ist dein neuer Name für Frieden.“ wobei das Verbindungsglied die Gerechtigkeit als
Voraussetzung und Ziel beider ist.
Zum Beispiel der heutige UNEP-Direktor Klaus Töpfer oder Lukas Vischer vom World Council of
Churches in Genf (weitere Personen mit Belegen dokumentieren, anhand des Vgl. von Rosenberger
2001 und der Agenda 21 sowie der Dokumente von Rio ..)
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-
Die integrale Sichtweise der Umweltfragen, die sich mit dem Nachhaltigkeitskonzept durchzusetzen beginnt, entspricht zutiefst dem Ansatz christlicher Schöpfungsverantwortung: Christliche Schöpfungsverantwortung hat nie die Natur für sich
alleine, sondern stets die Geschichte des Menschen in und mit ihr im Blick. Für die
Wahrnehmung ökologischer Anliegen bedeutet dies, dass sie von vornherein in
einem soziokulturellen Zusammenhang gesehen werden. Dies entspricht dem
ethischen Ansatz der Rio-Deklaration und der Agenda 21, die Menschenschutz und
Naturschutz, Armutsbekämpfung und Umweltvorsorge als Einheit verstehen14.
Die Aufgabe, den Begriff Nachhaltigkeit mit der christlichen Soziallehre zu verknüpfen,
wird in dem 1997 veröffentlichten Wort des Rates der Evangelischen Kirche in
Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz Für eine Zukunft in Solidarität und
Gerechtigkeit klar formuliert15: "Die christliche Soziallehre muss künftig mehr als bisher das Bewusstsein von der Vernetzung der sozialen, ökonomischen und ökologischen
Problematik wecken. Sie muss den Gedanken der Bewahrung der Schöpfung mit dem
einer Weltgestaltung verbinden, welche der Einbindung aller gesellschaftlichen Prozesse in das - allem menschlichen Tun vorgegebene - umgreifende Netzwerk der Natur
Rechnung trägt. Nur so können die Menschen ihrer Verantwortung für die nachfolgenden Generationen gerecht werden. Eben dies will der Leitbegriff einer nachhaltigen,
d.h. dauerhaft umweltgerechten Entwicklung zum Ausdruck bringen."16
Dieser Appell wird in der Schrift der Kommission VI der Deutschen Bischofskonferenz
„Handeln für die Zukunft der Schöpfung“ aufgenommen, ethisch entfaltet und durch
eine Verknüpfung des Leitbilds der Nachhaltigkeit mit christlicher Schöpfungstheologie, Ethik, Pastoral, Bildung, Politik und Infrastruktur konkretisiert17. Insbesondere in
entwicklungspolitischen und weltwirtschaftlichen Zusammenhängen ist die theologischethische Reflexion des Leitbilds der Nachhaltigkeit mit heftiger Kritik mancher
Verwendungen in Politik und Wirtschaft verbunden18.
Der Hintergrund kirchlicher Texte ist wichtig für das Anliegen dieser Vorlesung: Die
Aufnahme des Leitbildes der Nachhaltigkeit in den Reigen der Sozialprinzipien ist nicht
allein eine akademische Entscheidung, sondern ein Prozess der Entwicklung kirchlicher
Meinungsbildung und Praxis. Da die Sozialprinzipien von ihrer Geschichte her nicht
nur Gegenstand der Sozialethik sind, sondern in besonderer Weise auch Ausdruck
lehramtlicher Stellungnahmen, ist die Aufnahme von Nachhaltigkeit in den Kontext der
Sozialprinzipien auch eine Frage der lehramtlichen Entscheidung. Deshalb kann der
Anspruch sozialethischer Forschungen dazu nur begrenzt sein, sie kann nicht mehr, als
Denkanstöße geben, diese mit vorhandenen Ansätzen verknüpfen, diese zu bündeln und
in einen neuen Horizont zu stellen.
5. Der Kontext von Lehramt und Praxis im Anspruch eines Leitbildes
Es wäre nicht sinnvoll, das Prinzip der Nachhaltigkeit nur theoretisch aufzugreifen,
ohne damit den Anspruch zu verbinden, die kirchliche Praxis entsprechend neu
14
15
16
17
18
Vgl. bes. Rio-Deklaration, Nr. 1; Agenda 21, Nr. 3.
Vgl. EKD/DBK 1997, Nr. 122-125.224-232; Kommission VI der DBK 1998; Lochbühler 1997;
Münk 1998; Diefenbacher/Döring/Vogt 2001.
EKD/DBK 1997, Nr. 125.
DBK - Kommission VI 1998.
EECCS 1996; ZdK 1998. Einige Texte der Ökologischen Arbeitsgruppe der DBK z.B. „Schöpfungsverantwortung im liberalisierten Strommarkt“, „Nachhaltige Mobilität“ oder „Neuorientierung für eine nachhaltige Landwirtschaft“ konkretisieren den Gedanken der Nachhaltigkeit für zentrale Handlungsfelder.
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auszurichten. Um das Prinzip der Nachhaltigkeit in der Mitte des christlichen Glaubens
zu verankern und aus dieser Inspiration heraus einen eigenen Beitrag zu seinem
Verständnis und seiner Umsetzung zu leisten, sind deshalb pastorale und praktische
Handlungsfelder wesentlich angefragt: Feste, Gebete und Lebensformen können dem
Engagement für eine nachhaltige Entwicklung eine spirituelle Mitte geben19.
In der Diskussion um nachhaltige Lebensstile ist christliche Spiritualität gefragt.
Christliche Feste wie z.B. das Entedankfest, können dem familiären Engagement
wichtige Impulse geben. Die Verbindung mit konkreten pastoralen und
bürgerschaftlichen Prozessen gibt der sozialethischen Reflexion Bodenhaftung,
Glaubwürdigkeit und spezifisch kirchliche Handlungsfelder, in denen getestet werden
kann, wie ernst es der Kirche mit ihren eigenen ethischen Prinzipien ist und in denen
der kirchliche Zugang zu den Fragen der Nachhaltigkeit Profil gewinnen kann.
Die Pflicht zu einem Engagement für Umwelt und Entwicklung ergibt sich für die
Kirche nicht zuletzt aus der Struktur des christlichen Glaubens selbst: Dieser versteht
sich nicht als eine bloß abstrakte, sondern als Wahrheit mit praktischer und
gemeinschaftsbildender Bedeutung. Er verlangt von der Kirche das Zeugnis durch
entschlossenes Handeln. Der Schöpfungsglaube ist eine „Tat-Sache“ in ganz praktischer
Hinsicht: Schöpfung meint nicht nur eine Erklärung für den Anfang der Welt, sondern
eine lebendige, ethisch relevante Hinordnung der Weltwirklichkeit auf den in ihr
gegenwärtigen und verborgenen Gott. Wer von Schöpfung redet, verpflichtet sich damit
zu einem verantwortlichen Umgang mit allen Geschöpfen.
Es ist unglaubwürdig, die Liebe Gottes zu allen Geschöpfen zu verkünden, ohne damit
die Bereitschaft zu verbinden, die Güter der Schöpfung zu schützen, zu pflegen und
gerecht zu teilen. Diese Verantwortung kann heute nicht hinreichend individualethisch
wahrgenommen werden, sondern braucht eine Übersetzung in politische und
wirtschaftliche Strukturen. Eben dafür steht das Konzept der nachhaltigen Entwicklung.
6. Welche Kompetenzen haben Theologie und Kirche im Nachhaltigkeitsdiskurs?
Die Weite des Prinzips Nachhaltigkeit kann leicht in eine programmatische
Selbstüberforderung führen, die alle Weltprobleme gleichzeitig lösen will und deshalb
nichts erreicht. Deshalb ist es wichtig, nicht nur von ethischen Postulaten der Kirche
und an die Kirche zu sprechen, sondern auch von den spezifischen Kompetenzen und
ihren Grenzen. Gerade angesichts des durch knappe Kassen und einen Mentalitätswandel – auch und besonders in der jüngeren Generation – ausgelösten Rückzugs auf
die so genannten „Kernkompetenzen“ ist es wichtig, zu fragen, was Nachhaltigkeit mit
diesen Kernkompetenzen von Kirche und Glaube zu tun hat, und wie aus dieser Bestimmung heraus die kirchliche Verantwortung begrenzt und strukturiert werden kann.
Deshalb sei skizzenhaft auf einige spezifisch kirchliche Kompetenzen hingewiesen, die
die christlichen Kirchen für eine Nachhaltigkeit einbringen können:
-
19
Nachhaltigkeit braucht strukturelle Verankerung mit langfristigen Perspektiven.
Hierfür kann die Kirche von ihrem Selbstverständnis und ihrer Struktur her als
älteste und auf Langfristigkeit (Ewigkeit) ausgerichtete Institution einen wichtigen
Dienst leisten. Die ethische Basis der Nachhaltigkeit, nämlich Verantwortung für
kommende Generationen, ist eine Frage der Bereitschaft zu langfristigem Denken.
Glaube und Kirche sind wesentlich darauf angelegt, den Zeithorizont unserer
Vgl. Vogt: Der Zukunft Heimat geben. Die Kirchen im Agenda 21-Prozess.
Vogt Nachhaltigkeit [Zsfg 1] 13
Wertmaßstäbe zu erweitern. Nachhaltigkeit ist ein Zeitproblem, und die Ordnung
der Zeit ist ein Grundanliegen der der jüdisch-christlichen Tradition.
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Nachhaltigkeit erfordert eine Anerkennung des Eigenwertes der Natur. Das
christliche Schöpfungsverständnis kann dies auf eine Weise fördern, die nicht auf
mystisch-voraufklärerischen Konzepten beruht und deshalb (im Rahmen eines
wechselseitigen Lernprozesses) mit moderner Naturwissenschaft und Technik
vereinbar ist. Das religiöse Verhältnis zur Natur als Schöpfung, als „Spur Gottes“,
als Raum geschenkten Lebens ist ein kraftvolles Gegengewicht zur Reduktion der
Naturwahrnehmung als „Warenlager“ für menschliche Konsuminteressen.
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Nachhaltigkeit steht und fällt mit der Befähigung zu globaler Solidarität. Diese Forderung wird in der kirchlichen Sozialverkündigung und Praxis konkretisiert (Hilfswerke, Kirche als Weltgemeinschaft und als älteste globale Institution,
Entwicklungsarbeit der Orden etc.). Da Solidarität nicht primär ein Erkenntnisproblem ist, sondern vor allem eine Frage der Motivation, kann christliche Verkündigung und kirchliche Praxis hier Vieles beitragen, was philosophische Begründungen und politische Appelle zu globaler Solidarität nicht vermögen.
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Nachhaltigkeit braucht eine Überwindung des massenhaften Konsums, der sich vor
allem zu Lasten der Natur in den Entwicklungsländern auswirkt. Dies ist vor allem
eine Frage der Werte und der Vermittlung eines Selbstbewusstseins, das sich
unabhängig von äußerem Besitz und kurzfristigen Erlebniswerten anerkannt weiß.
Genau darauf zielen christliche Pastoral und Bildung. Das christliche Menschenbild
bietet wichtige Orientierungshilfen für einen nachhaltigen Lebensstil und motiviert
zum Dienst der Versöhnung und der Gerechtigkeit.
-
Nachhaltigkeit ist eine Zukunftsvorsorge, deren motivierende Hoffnung nicht
Fortschrittsoptimismus ist, sondern die Vision eines gelungenen Lebens in den
Grenzen der Natur. Eine solche Hoffnung findet sich im christlichen Glauben; sie
wendet die Erfahrung der eigenen geschöpflichen Grenzen in die Chance, das Leben
als Geschenk anzuerkennen, dessen Ursprung und Ziel der Mensch nicht selbst
machen und bestimmen kann, und dessen Glück er erfahren kann, wenn er seine
Existenz in die Hände Gottes legt und in solidarischer Gemeinschaft lebt.
Das asymmetrische Verhältnis zwischen Schöpfungsglauben und Nachhaltigkeit
Wenn es gelänge, diese vielfältigen Aspekte zu entfalten, könnte Nachhaltigkeit durch
die Verbindung mit christlicher Ethik und durch die Mitwirkung der Kirchen
wesentliche Dimensionen gewinnen. Dabei ist jedoch zu beachten, dass zwischen
Schöpfungsglauben und Nachhaltigkeit ein asymmetrisches Verhältnis herrscht: Der
Glaube verpflichtet zu Nachhaltigkeit – Nachhaltigkeit setzt jedoch nicht notwendig den
Glauben voraus. Ähnlich wie in der sehr vielschichtigen und widersprüchlichen
„Leidensgeschichte“20 des Verhältnisses zwischen Kirche und Menschenrechten wird
den Kirchen im Leitbild der Nachhaltigkeit die politische Konsequenz ihres eigenen
Glaubens entgegengebracht. Sie müssen sich in einem konfliktreichen Lernprozess des
„aggiornamento“ die Substanz des eigenen Glaubens neu aneignen.
20
Maier, H.: Welt ohne Christentum – was wäre anders?, Freiburg 2002.
Vogt Nachhaltigkeit [Zsfg 1] 14
Man kann dies jedoch auch positiv sehen: Die Auseinandersetzung mit dem Prinzip der
Nachhaltigkeit bietet die Chance einer Wiederentdeckung des Schöpfungsglaubens. Die
Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Mensch und Natur ist – neben den Fragen
nach Identität und Gerechtigkeit in der postmodernen Welt - eine der zentralen, ungelösten und eben deshalb auch religionsproduktiven Herausforderungen. Als Frage nach
den größeren Zusammenhängen, in die unser Leben eingebunden ist und die es tragen,
führt die ökologische Krise zu religiösen Fragen. Zukunftsfähigkeit ist immer auch eine
religiöse Frage. Die Unglaubwürdigkeit in Sachen Ökologie kostet die Kirchen nicht
nur viele tausend Mitglieder im Jahr, besonders in der jüngeren Generation, sondern
macht es ihr auch schwer ein konstruktives Verhältnis zu den neuen Formen der
Religiösität zu finden, die heute nicht selten im Kontext der Ökologie aufbrechen.
Im Bereich der „Tiefenökologie“ gibt es jedoch auch viele ersatzreligiöse Elemente, die
sich entweder als ökologische Apokalyptik oder als Idylle einer sinnstiftenden Geborgenheit des Menschen in der Natur äußern.21. Gerade deshalb ist jedoch eine Auseinandersetzung der Kirche mit diesen unterschiedlichen Gruppierungen und Bewegungen
unerlässlich. Das Leitbild der Nachhaltigkeit ist dabei für die christliche Kritik ersatzreligiöser Ökologie als „Heilslehre“22 eine wesentliche Chance, weil es seinen Ursprung
nicht in einem esoterischen Kontext hat. Inzwischen ist die gesellschaftliche Rezeption
des Leitbildes der Nachhaltigkeit jedoch weit über die Bedeutung einer Managementregel hinausgewachsen und bedarf einer grundlegenden ethischen und religiösen
Ausdeutung, damit sein fundamentaler Anspruch nicht im Leeren hängt.
Die Beteiligung an der interdisziplinären gesellschaftlichen Suche nach Antworten auf
die ökologische Herausforderung ist auch für die christliche Ethik ein Lernprozess.
Zunächst sind auf der Ebene des Prinzipiellen der Stellenwert und die Adressaten
ökologischer und entwicklungspolitischer Imperative angesichts des Pluralismus und
der offenen Dynamik moderner Gesellschaft und Wirtschaft zu klären. Verbindliche
Konkretisierung können diese nur im Dialog mit den unterschiedlichen Wissenschaften
und gesellschaftlichen Akteuren erreichen und einfordern. Dabei ist auch christliche
Ethik ein wichtiger Gesprächspartner, allerdings nur dann, wenn sie sich selbst als
interdisziplinäre Wissenschaft versteht. Sozialethik hat ihren Ort in besonderer Weise in
solchen Lernprozessen; denn sie geht davon aus, dass in der biblischen Ethik als der
norma normarum die Imperative für die Gestaltung der Gesellschaft nicht fertig
vorgegeben, sondern gestaltungsoffen aufgegeben sind. Sie bedürfen der je neuen
Übersetzung, um tatsächlich zur Orientierung zu dienen. Dies ist methodisch bei der
folgenden Vorlesung vorausgesetzt.
21
22
Vgl. Maxeiner, D./Miersch, M. (1996): Öko-Optimismus, München, 114-122.
Trepl, L. (1991): Ökologie als Heilslehre: Zum Naturbild der Umweltbewegung, in: Politische Ökologie 25, 39-45.
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