11. Philosophicum Lech Die Gretchenfrage 1 21. September 2007 Säkularismus als Herausforderung Prof. Dr. Ednan ASLAN M.A. (Leiter der Forschungseinheit Islamische Religionspädagogik, Universität Wien) Einleitende Bemerkungen Sehr geehrte Damen und Herren! In meinem Beitrag geht es nicht darum, die Stellung des Säkularismus im Islam zu analysieren, bzw. theologisch zu begründen. Es soll und kann auch nicht das Ziel meines Beitrages sein, einen Beleg dafür zu liefern, ob der Islam eine säkularisierungsfähige Religion darstellt. Um das Ziel, das ich mit meinem Beitrag verfolge, verständlich zu machen, gestatten Sie mir einige grundsätzliche Ausführungen: Der Islam als Religion erhebt nicht den Anspruch ein in sich vollkommen abgeschlossenes Gebilde darzustellen. Im Gegenteil, so wie im Leben selbst, ist auch im Islam alles einem unaufhörlichen Entwicklungsprozess unterworfen. Die verschiedenen Rechtsschulen (Mazahib) entstanden nicht nur in der Glaubenspraxis des Islams, sondern auch aus den Hauptglaubensinhalten der Muslime heraus (Aqidah-Schulen: Aschari, Mutazila, usw.). In der Geschichte des Islam sind unzählige Aqidah-Schulen entstanden, die den Text gleich nach dem Ableben des Propheten unterschiedlich verstanden haben. Sogar noch zu Lebzeiten des Propheten wurde der Text in unterschiedlicher Weise interpretiert und verstanden. An diesen Ausführungen wird, so hoffe ich, deutlich, dass die Theologie, wie wir sie als Laien mit Religion gleichsetzen, keine abgeschlossene Lehre darstellt, sondern mit der geistigen Reife der Menschen steigt und fällt. So kann sie sich stets neu definieren. Im Rahmen verschiedener Darstellungen werden wir zwar solche Diskussion im innerislamischen Diskurs ansprechen, das Hauptziel meines Beitrages besteht jedoch darin, das Säkularismusverständnis und die Säkularismuserfahrung der Muslime im europäischen Kontext zu reflektieren. Hiermit möchte ich nicht zuletzt den Darlegungen widersprechen, die den Wandel unter den Muslimen nicht wahrnehmen und den Muslimen eine unveränderliche Zukunft prophezeien. Die Präsenz der Muslime in Europa ist eine besondere Herauforderung für die hiesige Politik und die heutige Gesellschaft. Die steigende Zahl der Muslime und der Moscheen in Europa sowie nicht zuletzt die muslimischen Schüler an den öffentlichen Schulen stellen eine unvorhergesehene Herausforderung für Politik, Wirtschaft und Gesetzgebung dar. Für die Muslime ihrerseits besteht die neuartige Erfahrung vor allem darin, als Minderheit in einer pluralistischen Gesellschaft zu leben und sich als Teil dieser Gesellschaft zu identifizieren und an ihr zu partizipieren. Der Islam kennt in seiner Geschichte unterschiedliche Gesellschaftsmodelle, in denen unterschiedliche Kulturen und Religionen unter den islamisch-legitimierten Regeln zusammenlebten. Es existierten auch theologische Konzepte, die den vorübergehenden Aufenthalt der Muslime in einer nicht islamisch geprägten Gesellschaft regelten. Dass die Muslime in einer pluralistisch-christlich geprägten Gesellschaft auf Dauer bleiben und diese als Heimat ansehen, stellt für die islamische Theologie eine neuartige Herausforderung dar. Die klassische Jurisprudenz sah hierin vor allem die Gefahr der Assimilation, die die Zukunft der Muslime gefährde, und empfahl die Auswanderung in das Haus des Friedens. „Darul Islam- Darussalam“. Der sich so einstellende, innere Frieden wäre nach dieser Theorie nur durch eine islamische Lebensweise möglich, die das Gewissen nicht wegen allzu vieler Kompromisse belaste. Eine solche Lebensweise könne nur eine rein islamische Gesellschaft ermöglichen. 11. Philosophicum Lech Die Gretchenfrage 2 21. September 2007 Nun leben wir in einer Gesellschaft, die größtenteils ihre Inspiration und ihren Einfluss und dementsprechend auch ihre Regeln nicht mehr aus dem Glauben bezieht. Die Präsenz des Islam in Europa fordert die Muslime also heraus, ihre Religion in ihrer neuen Gesellschaft neu zu definieren. Diese Herausforderung impliziert eine intensive Säkularismusdiskussion, da es in diesem Zusammenhang vor allem darum gehen muss, dass die Muslime die Stellung ihrer Religion in ihrem Leben neu einordnen. Auf der anderen Seite wird von den Muslimen ein Bekenntnis zur bestehenden Gesellschaftsordnung erwartet. In einigen Ländern wird dieses Bekenntnis durch fragwürdig anmutende Eignungstests festgestellt, in anderen Ländern wiederum stehen die Muslime unter einem Generalverdacht und müssen ihre Verfassungstreue ständig unter Beweis stellen. Annäherungen an den Begriff des Säkularismus, seine Übersetzung und sein Verständnis Soll der Prozess der Integration erfolgreich verlaufen, so ist es von großer Bedeutung, was die Muslime unter den jeweiligen Begriffen verstehen und welche Erfahrungen ihr Verständnis dieser Werte und Begriffe prägen. Säkularismus und Laizismus sind solche Begriffe, die unter den Muslimen zur Irritationen und zu einem Definitionschaos führen. Wir sprechen vielleicht die gleiche Sprache und verwenden gleiche Begriffe. Nach einem netten Gespräch erkennen wir jedoch, dass wir uns nicht verstanden haben. Die Nicht-Muslime gelangen zur Erkenntnis, dass aus den Muslimen nichts wird, während die Muslime wiederum meinen, dass diese Nichtmuslime schon der Verderbnis anheimgefallen seien und weiterführende Gespräche auch sie selbst verderben würden. Das Verständnis dieser Begriffe ist bereits in den Ländern, in denen sie geprägt worden sind, nicht einheitlich. Bei der Übertragung auf andere Kulturen und Religionen entstehen weitere begriffliche Missverständnisse, so dass eine sachliche Diskussion oft nicht möglich ist. Probleme der Übersetzung In den klassischen muslimischen Sprachen Arabisch, Türkisch und Persisch finden wir keine adäquate Erklärung für diese Begriffe. Eine erste Übersetzung des Begriffs des Säkularismus als „Al Maniy (Verweltlichung) findet sich in dem arabischen Lexikon „Muhit al Muhit“, das der libanesische Christ Butrus al Bustani (1819-1883) im Jahre 1870 verfasst hat. Er hat diesen Begriff mit „Al Maniya“ übersetzt. Im Anschluss daran übernahm Dr. Khalil Saada diesen Begriff in sein medizinischen Lexikon. Es ist übrigens kein Zufall, dass dieser Begriff zum ersten Mal von einem Christen übersetzt worden ist. In einigen anderen Lexika wird dieser Begriff mit „Ilmaniyya (Verwissenschaftlichung) übersetzt. Diese Übersetzung ist bis heute die gebräuchlichste in den arabischsprachigen Ländern. Im Persischen wird dieser Begriff mit „Bihuda, la Madhab“ (Orientierungslosigkeit) oder als „Gayri Dini“ (Religionsfeindlichkeit) übersetzt. Shala Lahiji wies in einem Interview mit dem SDR auf diese Tatsache hin und führte aus, dass sie sich nicht gern als Säkularistin bezeichnen lasse, denn der Begriff des Säkularismus werde im Iran oft mit Atheismus gleichgesetzt. Dies sei aber ein Vorwurf, dem sich niemand aussetzen wolle. 11. Philosophicum Lech Die Gretchenfrage 3 21. September 2007 Die Türken haben sich für den Begriff des „Laizismus“ entschieden, der eher ein politischer Begriff ist und aus dem Wortschatz der französischen Revolution stammt. Hierunter wird die institutionelle Trennung von Staat und Kirche verstanden. Die Republik Türkei hat sich am französischen Modell orientiert und diesen Begriff unübersetzt übernommen. Das große Hindernis für die Universalisierung des Säkularismus besteht darin, dass er in einem bestimmten historischen Kontext entstanden ist, und in anderen kulturellen und religiösen Kontexten nicht seiner Bedeutung gemäß verstanden wird. Der Säkularismus ist ständig im Wandel und zeigt unterschiedliche Gesichter in Europa, aber die Bedeutung dieses Begriffes bleibt in den meisten muslimischen Kontexten unverändert. Die Diskussionen in den islamischen Ländern um diesen Begriff scheitern immer wieder daran, dass die entsprechende Auffassung dieses Begriffs – wie oben am Beispiel der persischen Übersetzung gesehen - selbst ein Hindernis für eine inhaltliche Aufklärung und Versachlichung darstellt, zumal er nicht unbedingt ideologisch oder intellektuell, sondern auch psychologisch und sprachwissenschaftlich abgelehnt wird. Probleme des Verständnisses des Begriffes des Säkularismus im Westen Die Problematik von Übersetzung und Verständnis wird nicht zuletzt dadurch verschärft, dass auch im Westen kein einheitliches Begriffsverständnis existiert. Dieser Begriff, der ursprünglich, d.h. seit dem 16. Jahrhundert, einen rechtlichen Charakter besessen hat, um die Statusveränderungen von Klerikern zu bezeichnen, ist bereits hier durch unterschiedliche Interpretationen gekennzeichnet. In Deutschland wurde er erstmals zur Zeit der Besetzung durch Napoleon im Zusammenhang mit der Enteignung des kirchlichen Besitzes verwendet. Erst später gewann dieser Begriff seine geschichtsphilosophische Bedeutung. Daneben bestehen sozialwissenschaftliche und philosophisch-rechtliche Konnotationen, die ihrerseits höchst unterschiedlich sind. Durch Aufklärung, französische Revolution und den Sozialismus erlangte der Säkularismus seine Bedeutung im heutigen Europa. Nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Praxis als anzustrebender Wert in demokratischen Gesellschaften, der das Verhältnis zwischen Kirche und Staat regelt, zeigt der Säkularismus in den verschiedenen europäischen Ländern höchst unterschiedliche Ausprägungen. Von Dänemark bis Frankreich beobachten wir sehr unterschiedliche Formen der Trennung von Staat und Kirche. E. Karusz 1 und Gilles Kepel 2 sprechen sogar von einer Rückkehr der Religionen und der Desäkularisierung von Europa. Probleme des Verständnisses des Säkularismus in der islamischen Welt Vor diesem Hintergrund stellt sich nun die Frage, wie die Muslime diesen Begriff diskutieren und was sie unter ihm verstehen. Um dies besser nachvollziehen zu können, möchte ich gerne den Stand der Diskussionen im arabisch-türkisch und persischsprachigen Raum zusammenfassen: Die Säkularisierung der islamischen Gesellschaften begann parallel zur Modernisierung dieser Gesellschaften. Die Folgen der Säkularisierung und Modernisierung der islamischen Gesellschaften sind sehr unterschiedlich. Sowohl die militante Modernisierung, bzw. die Säkulari- 1 2 Krausz, E.: Religion and Secularization, A Matter of Definitions, Social Compass, XVIII, 1971/2 Kepel, G.: Tanrinin Intikami (La Revanche de Dieu), Istanbul 1991 11. Philosophicum Lech Die Gretchenfrage 4 21. September 2007 sierung als auch die Identitätskrise dieser Völker sind als Folgen der Modernisierungstendenzen anzusehen. 3 Die Untersuchungen zum Säkularismus und Laizismus in den islamischen Ländern stimmen vor allem in diesem Punkt überein, dass der Säkularismus ein Diktat des Staates darstelle und der Wirklichkeit widerspreche. Muhammad Ammara, ein muslimisch-konservativer Denker schreibt in seinem Werk „Ad Dawlatul Islamiya Baynal Ilmaniyya was Sultatildiniya“, dass ein säkularer Staat eine Alternative zum religiösen Staat und eine säkulare Gesellschaft eine Alternative zur „heiligen Gesellschaft“ darstelle. Der Islam kenne jedoch weder einen islamischen Staat noch eine heilige Gesellschaft, da sowohl klerikale als auch religiöse Institutionen unbekannt seien. „Der Islam erkennt keine Instanz zwischen dem Menschen und seinem Schöpfer an“ 4 Damit lehnt er die Notwendigkeit des Säkularismus in den islamischen Gesellschaften ab. „Der Islam braucht weder Säkularismus noch seine Institutionen“ 5 Diese Meinung vertreten nicht nur die religiös orientierten Intellektuellen, die das Diktat der autoritären Staaten als Ursache für den Misserfolg des Säkularismus sehen. Auch viele Linksintellektuelle in der Türkei schließen sich dieser Meinung an. 6 Neben diesen Auffassungen existieren auch extreme Richtungen, die den Säkularismus als einen westlichen Kampf gegen den Islam verstehen. Nach Al Karadawi fordert der Islam mit seinen materiellen und moralischen, individuellen und sozialen Ansprüchen den Säkularismus heraus. Der Kampf zwischen Islam und Säkularismus sei somit unausweichlich. Gemäß dem Islam sei das Leben eine Ganzheit und eine Trennung zwischen Staat und Religion nicht möglich.7 Chomeini vertritt eine ähnliche Meinung: „Eine Sammlung von Gesetzen genügt nicht, um die Gesellschaft zu verbessern. Man braucht eine Exekutive, um die Gesetze zum Wohle der Menschen in die Tat umzusetzen. Daher hat Gott, der Allmächtige, nicht nur Gesetze, d.h. das islamische Gesetzeswerk offenbart, sondern auch einen Staat, eine Exekutive und ein Verwaltungssystem geschaffen.“ 8 Auf der anderen Seite gibt es auch islamische Intellektuelle und Theologen, die den Säkularismus in ihrem Religionsverständnis als dem Wesen der Religion entsprechend für notwendig halten. Nasr Hamid Abu Zayd weist die Säkularismuskritik der muslimischen Theologen als unsachlich und unwissenschaftlich zurück. Seiner Auffassung nach besitzt die Säkularismuskritik zwei Wurzeln: „Erstens, Säkularismus nimmt den Kritikern ihre einzige religiös begründete Legitimation, zweitens, eine heilige Autorität mit absolutem Wahrheitsanspruch wird in Frage gestellt.“ 9 Nach ihm ist unter Säkularismus nichts anderes als ein wissenschaftliches Verständnis und eine wissenschaftliche Interpretation der Religion zu verstehen. Säkularismus als einen Kampf gegen die Religion zu verstehen, der die Religion aus der Gesellschaft zu entfernen versuche, widerspreche dem richtigen Säkularismusverständnis. 3 4 5 6 7 8 9 Cagdar, K.: Türkiye`de devlet ve siniflar, Istanbul 1990, S. 70-76 Ammara, M.: Laiklik ve Dini Fanatizm arasinda Islam Devleti, Istanbul 1991, S. 268 Ebd., S. 269 Sencer, M.: Dinin Türk toplumundaki etkikleri, Istanbul 1974; Arsel, I.: Teokratik devlet anlayisindan demokratik devlet anlayisina, Ankara 1975 Kardavi, Y.: Tarihi hesaplasma, islam und Laiklik (übersetzt aus dem Arabischen), Istanbul 1994, S.138 Chomeini, A.: Der islamische Staat, Berlin 1983, S. 31 Ebu, Zeyd, Nasr, Hamid: Naqdul Khitab ad Din, Ankara 2002, S. 231 11. Philosophicum Lech Die Gretchenfrage 5 21. September 2007 Yasar Nuri Öztürk, Dekan der theologischen Fakultät von Istanbul, sieht im Säkularismus die Chance, die Stellung der Religion in der Gesellschaft zu stabilisieren. Durch den Säkularismus würden die religiösen Autoritäten zu ihren ursprünglichen Aufgaben zurückkehren. 10 Die Diskussion in den islamischen Ländern um Säkularismus und Laizismus besitzt eine Reihe von Aspekten, die die Erfahrungen der Muslime in ihren jeweiligen Ländern mit der Säkularismuspraxis widerspiegeln. In der Tat geht es den Säkularismusgegnern nicht vorrangig um den Säkularismus selbst, sondern um eine allgemeine Abrechnung mit den politischen Systemen in ihren Ländern. Der Säkularismus ist innerhalb dieser Argumentation nichts anderes als ein Herrschaftsinstrument der politischen Systeme, die ihren Bürgern nicht nur keine persönliche und religiöse Freiheiten einräumen, sondern ihnen ihre Freiheiten und Denkgrenzen vorschreiben und nicht selten die religiöse Autorität selbst beanspruchen. Die mit dem Begriff „Säkularismus“ verbundene Praxis trägt somit entscheidend zu einer „Verteufelung“ dieses Begriffes in den islamischen Ländern bei. Säkularismus und Migration an europäischen Beispielen Aus diesen Gründen erachte ich es für sehr relevant, die Erfahrungen der muslimischen Völker mit dem Säkularismus Revue passieren zu lassen. Im Rahmen meines Beitrages ist es nicht möglich, die gesamte islamische Landkarte zu untersuchen. Vielmehr möchte ich drei Länder, die auch für die Migration in Europa von Bedeutung sind, analysieren. Algerische Migranten prägen die Migration in Frankreich und sind auch ein gutes Beispiel für die Migranten anderer arabischen Länder. Die Migranten aus der Türkei stellen vor allem im deutschsprachigen Raum einen nicht zu unterschätzenden Teil der Bevölkerung. Schließlich ist die pakistanische Migration in Großbritannien gerade in den aktuellen Migrationsdiskussionen in Europa von großer Relevanz. Die erwähnten Einwanderungsländer repräsentieren auch sehr unterschiedliche Beispiele für die Säkularismuspraxis in Europa: Algerien und algerische Migration in Frankreich Algerische Muslime machten ihre ersten Erfahrungen mit dem Säkularismus während der französischen Besetzung. Aufgrund dieser Besetzung besitzt Frankreich seinerseits eine langjährige Erfahrung mit den Muslimen. Algerien war zwar seit 1848 eine französische Kolonie und die Kolonialherren hatten während ihrer Besatzung die Stellung der Religionen in ihrem Land schon geregelt und in einem Gesetz vom 1905 niedergeschrieben. Die Muslime in Algerien blieben jedoch außerhalb dieser Regelungen. Der Laizismus in Frankreich berücksichtigte kaum die religiösen Minderheiten. In Frankreich lehnte der Laizismus die Einmischung der Religionen in die Politik ab. Im Gegensatz hierzu förderten die französischen Regierungen in Algerien die Arbeit der katholischen Missionare, da man - wie Jean Bauberot ausführt - nach Außen die katholische Religion als einen Teil der französischen Kultur und Zivilisation verteidigte.11 Der muslimische Autor Bachir Al Ibrahimi, der sich damals für den Laizismus in Algerien einsetzte, schrieb: „Frankreich brachte nach Algerien die Missionare und finanzierte deren Arbeit und gab Ihnen 10 11 Öztürk, Y.N.: Kur`an verilerine göre Laiklik, Istanbul 2003, S. 10 Baubérot, J.:Vers un nouveau pacte laque, Genève 1990, S.41 11. Philosophicum Lech Die Gretchenfrage 6 21. September 2007 die Arbeitsfreiheit, um ihnen in Algerien zu erlauben, was ihnen zuhause verwehrt worden ist.“ 12 Der Islam besaß für die Franzosen eine besondere Bedeutung und stand unter der Kontrolle des Staates. Islamische Angelegenheiten lagen im Kompetenzbereich einer Abteilung des Innenministeriums. Ähnliches werden wir auch bezüglich der Säkularismuserfahrung der Türken feststellen. Muslimische Geistliche bestanden deshalb unter dieser Besatzung auf der Trennung von Staat und Religion. Frankreich seinerseits lehnte dies jedoch vehement ab. Nach einer Sitzung von 2000 Ulama im Jahr 1934 wandten sich die Konferenzteilnehmer in einem Telegram an die französische Regierung. Dieses Telegram wurde später in der berühmten Zeitschrift von Ben Badis veröffentlicht: „Hier möchten wir unsere Loyalität an Frankreich kundtun und möchten Sie auf die Missstände, die wegen des Verbotes der arabischen Sprache und Gottesdienstverbote entstehen aufmerksam machen. Wir bitten Sie um die Gewährleistung der Sprachfreiheit, Religionsfreiheit und Pressefreiheit in Algerien.“ 13 Dieses Telegramm und auch die weiteren Laizismuswünsche der Ulama und der Intellektuellen in Algerien blieben unbeantwortet. Edouard Herriot kritisierte im französischen Parlament die antilaizistische Praxis der französischen Regierung in Algerien und machte auf die Folgen dieser Doppelmoral aufmerksam: „Wenn es so weitergeht, wird aus Frankreich eine Kolonie seiner ehemaligen Kolonien.“ Nach der Unabhängigkeit blieben die postkolonialen algerischen Regierungen dieser Tradition treu und versuchten den Islam fortwährend unter Kontrolle des staatlichen Apparates zu halten, so dass der Islam keinen ernst gemeinten Säkularisierungsversuch von Seiten der neuen Machthaber in Algerien erfuhr. Die Religion stellte für den jungen Staat eine Bedrohung dar, der Staat seinerseits war für die Ulama eine Bedrohung. Beide empfanden sich gegenseitig als Risiko und Gefahr. Da Frankreich kein Konzept zur Säkularisierung der Muslime besaß, veränderte sich die Situation auch durch die anhaltende Migration vieler algerischer Muslime nicht grundlegend. Der Bau der Pariser Moschee von 1935 und des islamisch-französischen Krankenhauses in Bobigny, mit denen die Muslime beschwichtigt werden sollten, zeigen die Konzeptlosigkeit der französischen Regierung den Muslimen gegenüber. Es entstand eine islamische Parallelgesellschaft, der von Seiten der französischen Regierung mit ständigem Misstrauen begegnet wurde. Betrachtet man das französische Beispiel so kann eindeutig festgestellt werden, dass weder die Integration noch gar eine Assimilation der Muslime in die französische Gesellschaft mit deren impliziten Werten vollzogen worden ist. Die Muslime sahen Gründe dieser misslungenen Integration und ihre Benachteiligung in den Grundwerten der französischen Regierung, die islamfeindlich seien. Der Islam wurde als eine unwandelbare, archaische Religion lediglich geduldet. Eine Säkularisierung des Islam war für die französische Politik unvorstellbar, da in ihren Augen nur eine Vernichtung des Islam eine solche Säkularisierung bedeutet hätte. Somit konnte eine beidseitige Annäherung ohne gegenseitiges Misstrauen nicht gelingen. Die Reaktion des Staates nach dem 11. September auf die Muslime und die Reaktion der muslimischen Migranten auf die französische Politik haben das Verhältnis zwischen den europäi12 13 Bin Seyh, Suheyb: Laik dünyada Islam, Istanbul 1998, S.70 Al Shibab, 12. August 1934 11. Philosophicum Lech Die Gretchenfrage 7 21. September 2007 schen Werten und Muslimen in Frankreich nicht verbessert, sondern vielmehr schwer beschädigt. Die Befreiung Algeriens von den Franzosen bedeutete für das Volk keine Freiheit. Die Freiheit hat weder das aufklärerische Denken begünstigt noch einen Anschluss an die Moderne gefördert. Die lediglich auf materieller Ebene vollzogene „Modernisierung“ erzeugte keine natürliche Modernität. Sie hat lediglich die patriarchalische Struktur in Algerien in modernisierter Form beibehalten. 14 Pakistan und muslimische Migration in Großbritannien Pakistan war seit seiner Gründung 1947 das Labor für einen islamischen Staat und für eine ideale muslimische Gesellschaft. Die Gründer dieses Staates wollten nach dem Beispiel des Propheten Muhammed eine Gesellschaft aufbauen und paradiesische Verhältnisse auf Erden schaffen. Leider ist ihnen dies nicht gelungen. Eine Synthese zwischen dem Islam und der Demokratie war von Anfang an zum Scheitern verurteilt, weil der junge Staat mit dieser Synthese überfordert war. Nach Newman blieb diese Wunschsynthese ein Kardinalproblem der Muslime bis hin zur Gegenwart. 15 Der Charakter der Pakistanischen Gesellschaft als eines Versuchslabors bestand dennoch weiter und der islamische Anspruch, der sich in der realen Gesellschaft nicht genügend vertreten sah, führte ebenfalls zur Entwicklung einer Parallelgesellschaft. Was dem Staat selbst nicht gelingen wollte, sollte in den islamischen Bewegungen entwickelt werden, obwohl Iqbal und Jinnah, die geistigen und politischen Führer des neuen Pakistan, zwischen Islam und demokratischen Werten keinen Widerspruch sahen. Für Iqbal besaß der Islam ohne die Demokratie keine Zukunft. In diesem Prozess war der Islam nicht nur eine staatliche Aufgabe, sondern es bestand die Herausforderung, dass der Staat islamisch zu gestalten sei. Der Staat selbst und die muslimische Bevölkerung sahen sich dazu verpflichtet. Diese Pflicht war u.a. ein Hindernis für die Säkularisierung des Staates. Der Staat versuchte einen an sich selbstverständlichen Prozess mit islamischen Quellen zu begründen. Der stetig anwachsende Peripherie-Islam seinerseits suchte nach den Fehlern und Versäumnissen im staatlichen Vorgehen. Die Verschränkung zwischen Staat und Islam verhinderte die Verwirklichung der demokratischen Werte in der jungen Gesellschaft von Pakistan. Diese Wunschsynthese ist in Pakistan immer noch aktuell. Ihren Niederschlag findet sie in der äußerst problematischen Beziehung zwischen dem Staat und dem Islam, die auf gegenseitigem Misstrauen und beidseitigen Unterstellungen beruht. Aus dieser Situation heraus, aus dem Konflikt zwischen Staat und Islam, begaben sich die pakistanischen Muslime nach Großbritannien. Die in Großbritannien erlebte, vermeintliche Befreiung war keine wirkliche Befreiung. Mit dem Gefühl einer kulturellen und politischen Unterlegenheit suchten die Muslime ihre Identität in Europa. Muslimische Organisationen intensivierten aus unterschiedlichen Gründen ihre Arbeit in der Diaspora. Eine offene Wertediskussion wurde jedoch nicht geführt, da sowohl die christlichen Briten als auch die pakistanischen Muslime von ihren Werten absolut überzeugt waren. Für die Muslime benötigte der Islam weder Reformen noch Wandel. Die Briten glaubten es sich 14 15 Turki, M.: Herrschaft und Demokratie in der arabischen Welt, in: Polylog, 17 (2007), S. 11 Newman, K.J.: Pakistan unter Ayub Khan und Zia-ul-Haq, Köln 1986, S. 152 11. Philosophicum Lech Die Gretchenfrage 8 21. September 2007 leisten zu können, den Islam freundlich zu dulden, aber ein Werteaustausch und eine Werteintegration waren weder für die Muslime noch für die Mehrheitsgesellschaft vorstellbar. So besitzen beide Seiten folgendes Bild vom Islam: Islam ist Islam und bleibt wie er ist. Die muslimischen Organisationen, die die jungen Menschen in den Moscheen sahen, bildeten sich ein, dass dies die selben Muslime wie in Pakistan oder noch aus der Zeit Muhammads seien. Die jungen Muslime, die sich, ohne es direkt auszusprechen, mit demokratischen Werten identifizieren konnten, fanden weder durch diese Theologen noch durch die Mehrheitsgesellschaft Anerkennung. Es war nur eine Frage der Zeit, dass die Folgen des Auseinanderwachsens deutlich werden sollten. Die Türkei und die türkische Migration nach Europa Die Türken haben den Säkularismus mit der Verwestlichung gleichgesetzt. Dieses Verständnis hat sich seit den ottomanischen Reformversuchen von 1839 kaum verändert. Es ist daher ein Trugschluss, dass die Türken die Säkularismusdiskussion erst mit den Reformversuchen von Mustafa Kemal Atatürk begonnen habe. Die Diskussionen sind wesentlich älter. Die Ottomanen wollten seit 1839 durch die europäischen Gesetze das Reich reformieren. Wenn auch in der ersten Verfassung der Republik der Islam als Staatsreligion proklamiert wurde, blieb Atatürk dieser Tradition treu und führte ohne Kalifat und Sultanat diese Reformen mit großer Härte weiter. Sein Kampf blieb nicht nur im Rahmen der staatlichen Organisationen. Er verstaatlichte die gesamten religiösen Institutionen. Der langsame Reformversuch der Ottomanen wurde zwar enorm beschleunigt, die Folgen jedoch dieser allzu schnellen Reformen zeigen ihre Wirkungen immer noch in der Allgegenwart der türkischen Politik auch in religiösen Belangen. Stiftungsschulen, Schleier, Turban, Mystische Sekten, religiöse Hochschulen, arabisches Alphabet und fromme Stiftungen wurden innerhalb eines schnellen Prozesses verboten. Die Türken machten ihre Erfahrungen mit dem Säkularismus ohne die Demokratie. Sie wurden zu einer persönlichen und gesellschaftlichen Lebens- und Denkweise verpflichtet. Es entstand ein Kampf zwischen Staat und Religion. Eine sachliche Auseinandersetzung blieb im Schatten dieses Kampfes unmöglich. Atatürk und seine Reformen stellten für viele Menschen einen Kampf gegen die Religion und eine blinde Nachahmung des Westens dar. Für die Kemalisten waren die traditionellen Muslime ein Hindernis für den Fortschritt und mussten vernichtet werden. Betrachtet man diesen Zusammenhang ist es zutreffend, wenn man wie mein Kollege Olivier Abel ausführt: „Wenn republikanischer Laizismus stehen bleibt, dann kann ein demokratischer Säkularismus sich nicht entwickeln.“16 Der republikanische Laizismus in der Türkei war ein Hindernis für die Verwirklichung der demokratischen Freiheitsrechte der Bevölkerung. Die Religion blieb unter der Kontrolle und Herrschaft des republikanischen Laizismus. Ähnliche Erfahrungen machten die Muslime auch in anderen islamischen Ländern wie z.B. in Tunesien unter Burgiba und Zaynal Abidin. Auch hier wurden die Menschen ohne demokratische Freiheitsrechte zu einer staatlich organisierten, religiösen Lebensweise verpflichtet. Die Verwestlichung in diesem Sinne war nur eine halbherzige Orientierung. Ich möchte hier den Laizismus auch nicht auf liberalen Säkularismus reduzieren. Wenn republikanischer Laizis- 16 Abel, O., Arkoun, M., Mardin, S.: Avrupa’da etik, din ve Laiklik, Istanbul 1994, S. 31 11. Philosophicum Lech Die Gretchenfrage 9 21. September 2007 mus stehen bleibt, dann kann sich ein liberaler Säkularismus ebenfalls nicht positiv entwickeln. Die Spannung zwischen den Herrschenden und den religiösen Organisationen bleibt so stets virulent und entlädt sich in Schwächephasen der Herrschenden in bewaffneten Kämpfen oder anderen Gewaltformen. Die Türkei und Tunesien sind dafür gute Beispiele, dass der staatliche Laizismus die Entwicklung eines demokratischen Säkularismus be-, ja sogar verhindert. Das Verhältnis zwischen religiösen Menschen und dem Staat blieb in der Türkei bis zur Regierung Erdogan sehr gespannt. Mit dem Beginn der Regierungszeit Erdogans ist jedoch nicht nur für mich eine Normalisierung der Beziehungen und – hiermit verbunden - eine sachliche Auseinandersetzung mit dem Säkularismus möglich geworden. Das Ergebnis verschiedener Umfragen zeigen 17 , dass eine Normalisierung der Beziehungen nicht nur in der Türkei, sondern auch in den anderen islamischen Ländern ein gesundes Säkularismusverständnis fördern könnte. Zusammenfassend lassen sich am Beispiel dieser Länder folgende Ergebnisse nennen: - Die Muslime setzen den Säkularismus mit Verwestlichung gleich. - Säkularismus sei in einem anderen Kontext entstanden und für die Muslime in ihrem Kontext als Begriff unverständlich und überflüssig. - Säkularismus sei eine Antwort auf das christliche Religionsverständnis und könne auf ein islamisches Religionsverständnis nicht übertragen werden. - Verwestlichung stelle ein staatliches Diktat dar und sei nicht in einem gesellschaftlichen Konsensprozess entstanden. - Die islamische Tradition bekräftige zwar eine gewisse Trennung zwischen Religion und Politik. Die Politik wolle jedoch stets den Islam für ihre Zwecke missbrauchen. Die Befürworter von Säkularismus und Verwestlichung vertreten die Meinung: 17 - Der Islam sei nicht reformierbar. - Ohne die Veränderung der äußerlichen und persönlichen religiösen Lebensweisen sei ein gesellschaftlicher Wandel nicht möglich, deshalb müssen die religiösen Freiheiten eingeschränkt werden. - Die Übernahme der westlichen Werte sei unausweichlich, da ohne diese Übernahme eine Entwicklung nicht möglich sei. - Der Islam vertrete stets politische Ambitionen und müsse unter staatlicher Kontrolle stehen, damit die islamische Gefahr gebannt wird. - Der Islam sei in seiner Geschichte immer ein Teil des Staates, gewinne und besitze daher keine anderen Traditionslinien. Sezen, Y.: Türk toplumunun laiklik anlayisi, Istanbul 2000 11. Philosophicum Lech Die Gretchenfrage 10 21. September 2007 Probleme des Säkularismus in westlichen Staaten am Beispiel der Vereinigten Staaten Nicht nur in den arabischen Staaten sind Probleme, die mit der Entwicklung des Säkularismus verbunden sind, virulent. In den USA beobachten wir einen sehr gut funktionierenden Säkularismus. Weil aber der republikanische Laizismus nicht gut funktioniert, zeigt der Säkularismus keine Entwicklung mehr. Deshalb steht die amerikanische Politik im Spannungsfeld der Diskussionen von Glaubensgemeinschaften und Liberalismus. Thomas Metzinger warnt am Beispiel der USA dezidiert vor den Gefahren der Desäkularisierung und Gegenaufklärung und führt aus: „Amerika haben wir schon verloren. Ich denke, das ist eigentlich kein westliches Land mehr“ 18 Islam und politische Ordnung Aufgrund dieser doch sehr niederschmetternden Ergebnisse erscheint es notwendig, dass wir uns sachlich mit dem Islam beschäftigen, um feststellen zu können, ob Islam und Säkularismus wirklich nicht vereinbar sind, ob der Islam ein Hindernis für die Integration der demokratischen Werte darstellt, oder ob es sich hierbei um weithin gepflegte Klischees handelt. Der Islam schreibt kein politisches System vor. Er regelt die ethischen Grundlagen des menschlichen Zusammenlebens in einer Gesellschaft. Die erste Gesellschaftsordnung in Medina, die immer noch als ein ewiges Beispiel für den politischen Islam gilt, war nicht ein Ergebnis einer politischen Ideologie, sondern Folge des praktischen Zusammenlebens verschiedner Kulturen und Religionen in Medina. Der Koran schrieb weder damals noch nach der Beendigung der Offenbarung irgendeine politische Ordnung vor. Der politische Islam ist eine späte Entwicklung in der islamischen Geschichte. Die politischen und wirtschaftlichen Niederlagen, bzw. die Kolonialisierung der Muslime erforderte eine intensive Auseinandersetzung mit den Gründen des Zurückbleibens und des Versagens der Muslime. Afghani und Abduh richteten den Fokus ihres Kampfs nicht nur auf den Kolonialismus sondern auch auf die politischen Systeme in den islamischen Ländern und kritisierten die traditionellen Ulama wegen ihrer unflexiblen, ja sturen Haltung gegenüber Wissenschaft und Entwicklung. Auf der Suche nach einer politischen Lösung entdeckte man den Islam wieder und versuchte diesen gegen den Kolonialismus und der Überlegenheit des Westens als den wahren Islam und als politische Macht zu begründen. Scheich Muhammed Rashid Rida (1865-1935) war der erste ägyptische Islamwissenschaftler, der den Begriff „Islamischer Staat“ unter dem Einfluss der westlichen Nationalstaaten in die Diskussion einbrachte. Sein diesbezügliches Verständnis bildet bis heute das Zentrum des politischen Islam. 19 Die nachfolgenden islamischen Bewegungen blieben dieser Linie treu. Der Umstand, dass diese Ideen gerade in Ländern wie Ägypten und Pakistan ihre Anhänger fanden, die in einem Kampf gegen den Kolonialismus ihre eigenen Identitäten suchten, ist gewiss kein Zufall. Die Ikhwan-i Muslimin Bewegung in Ägypten und die Jamatil Islam in Pakistan, die immer noch in Europa aktiv arbeiten, sind auf diese Tradition zurückzuführen. Der politische Islam in der Schia Welt ist eigentlich viel jünger als in der sunnitischen Welt. Chomeinis Doktrin - Walayati Faqih - Herrschaft der Rechtsgelehrten, ist unter der SchiaUlama vor allem deshalb äußerst umstritten, da die Kritiker dieser Doktrin anführen, dass die Menschen ohne den verborgenen Imam-Mahdi keine gerechte Herrschaft erhalten können. 18 19 Die Zeit, 16. August 2007, S.31 Rosenthal, E.I.J.: Islam in the modern national state, Cambridge 1965 11. Philosophicum Lech Die Gretchenfrage 11 21. September 2007 Imam Chomeini betrachtete seine Theorie deshalb auch als eine vorübergehende Theorie, die durch das Auftauchen des 12. Imams ihre Gültigkeit verlieren würde. Damit ist der politische Islam in der Schia-Welt ein junges und strittiges Phänomen. Islamische Quellen sahen nach dem Ableben des Propheten das Zentrum der Autorität beim Volk. Das Volk bestimmt seine politische und gesellschaftliche Ordnung und wird im Jenseits seine Handlung vor Gott verantworten. Gott empfiehlt moralische Regeln des gerechten Handelns. „Allah befiehlt euch, die anvertrauten Güter ihren Eigentümern zurückzugeben; und wenn ihr zwischen Menschen richtet, nach Gerechtigkeit zu richten. Wahrlich, billig ist, wozu Allah euch ermahnt. Allah ist allhörend, allsehend“. 4:58 Aus dem Koran heraus kann keine Herrschaft als islamisch legitimiert werden. Der Islam schreibt keine bestimmte Staatsform vor. Er betont jedoch an unterschiedlichen Stellen die Bedeutung der Vernunft für das menschliche Handeln. „Niemandem steht es zu zu glauben, es sei denn mit Allahs Erlaubnis. Und Er lässt (Seinen) Zorn auf jene herab, die ihre Vernunft (dazu) nicht gebrauchen wollen.“ (10:100) In der Gegenwart sind es nicht die Hauptquellen des Islam, die die Lebens- und Denkweise der Muslime prägen, sondern vielmehr die Orthopraxie, die überwiegend der Legitimation der spätislamischen Herrschaften diente. Nach dieser Orthopraxie kann eben eine ungerechte, brutale Haltung eines Herrschers legitimiert werden, wenn diese Herrschaft dem Koran widerspricht. Danach kann das Königtum legitimiert werden, auch wenn der Koran das Königtum offensichtlich ablehnt. Hindernisse und Aufgaben Theologische Probleme Die Frage nach der Stellung des Säkularismus im Islam ist also nicht umfassend zu beantworten, da der Islam keine bestimmte politische Ordnung oder ein Regierungssystem vorschreibt. Die Problematik im Verhältnis von Säkularismus und Islam ist nicht mit Koran und Sunnah zu begründen, sondern ist vielmehr auf andere Ursachen zurückzuführen. Ali Bulac und andere Gegenwartsautoren sind der Meinung, dass der Säkularismus nicht zu den soziologischen Realitäten der islamischen Welt passe. Daher bleiben diese Autoren in ihren Untersuchungen auch sehr oberflächlich. Solche Auffassungen beruhen nicht zuletzt auf geringen Kenntnissen des Christentums unter den muslimischen Wissenschaftler. Zudem propagieren diese Wissenschaftler ein fertiges Gesellschaftskonzept des Islam. Es stellt eine Tatsache dar, dass das Christentum in seiner Geschichte eigene Erfahrungen mit dem Verhältnis von Religion und Gesellschaft gemacht hat. Die Behauptung, dass der Islam im Gegensatz zum Christentum in seiner Geschichte keinen Säkularismus kenne, wird der historischen Wirklichkeit der Muslime aber nicht gerecht. Die islamische Geschichte „als wahre Geschichte des Islam“ nur auf die ca. 10 jährige Führungszeit des Propheten Mohammed in Medina zu reduzieren, zeigt ebenfalls ein Geschichtsverständnis, das dem Islam nicht gerecht wird. Mir sind nur wenige muslimische Theologen bekannt, die auf der ewigen Geltung des islamischen Rechts bestehen. An dem Umgang mit Problemkomplexen wie Zinsen, Strafsystem oder ähnlichen Scharia-Regeln können wir hingegen die Flexibilität des Islam und eine dynamische Reaktion auf den Wandel in der Gesellschaft erkennen. Die im Westen herrschende 11. Philosophicum Lech Die Gretchenfrage 12 21. September 2007 Meinung, dass Scharia „im Kern unwandelbar und jedem menschlichen Zugriff entzogen sei“, 20 repräsentiert also ein oberflächliches Verständnis vom Islam. In diesem Zusammenhang ist das Hauptproblem darin zu sehen, dass die Muslime dem Säkularismus in einem sehr schwierigen Kontext begegnet sind. Einige postkoloniale Herrscher haben auf ihren Anspruch auf die religiöse Autorität nie verzichtet. Wenn wir Marokko als Bespiel nehmen, können wir erkennen, wie dieser säkulare Staat seinen König als Amirul Muminin (Befehlshaber der Muslime) bezeichnet. Ein anderer arabischer König wiederum legitimiert seine politische Herrschaft mit der Nachfolge auf den Propheten, wie es in Jordanien der Fall ist. Eine weitere arabische Königsfamilie bezieht ihre Legitimation aus der Aufsicht über die heiligen Stätten. Ein Staat, wie Ägypten, der alle religiösen Stiftungen kontrolliert, den Islam als Staatsreligion deklariert, seine Gesetze als islamisch bezeichnet, belegt eindringlich, dass die islamische Welt die säkulare Praxis als Unterdrückung und religiöse Herrschaft autoritär gelenkter Staatswesen erfährt und eben aus dieser Erfahrung ihre ablehnende Meinung bildet. Viele Gelehrte, die den Säkularismus ablehnen, berufen sich auf die einschlägigen Erfahrungen, weisen auf die Bedeutung des Säkularismus in einer demokratischen Gesellschaft hin und machen in diesem Zusammenhang auf die Widersprüche zwischen Europa und der islamischen Welt aufmerksam. Basgils Buch gilt als Klassiker zum Thema Religion und Säkularismus im Islam und genießt große Anerkennung unter den Muslimen. Er forderte, dass der Staat die Religion nicht kontrollieren dürfe, betrachtete aber den Säkularismus als eine historische Tatsache und sah darin für die Muslime eine historische Aufgabe. 21 Übersetzungsprobleme als Basis der Ablehnung des Säkularismus im Islam Bereits zu Anfang meines Beitrages habe ich von den Übersetzungsschwierigkeiten des Begriffes des Säkularismus gesprochen. Übersetzt man Säkularismus als Almaniya, also „Verweltlichung“, was nach arabischem Verständnis der Trennung des Irdischen vom Religiösen gleichzusetzen ist, sind die islamischen Ressentiments gegen einen solchen Begriff nur allzu verständlich, da der Islam großen Wert darauf legt, dass man seinen Anteil auf dieser Erde nicht vergisst: „Sondern suche in dem, was Allah dir gegeben hat, die Wohnstatt des Jenseits; und vergiß deinen Teil an der Welt nicht; und tue Gutes, wie Allah dir Gutes getan hat; und begehe kein Unheil auf Erden; denn Allah liebt die Unheilstifter nicht." 28:77 Noch deutlicher wird diese Problematik, wenn wir uns die Übersetzung mit dem Begriff „Al Ilmaniyya“ als der Niederlage Gottes vor der Wissenschaft vergegenwärtigen. Es benötigt nur ein geringes Maß an Empathie, um zu verstehen, dass die Gleichsetzung von Säkularismus mit der Niederlage Gottes von den Muslimen nicht einfach hingenommen werden kann und einen Widerstand hervorruft, der den Säkularismus als Feind der Religion bekämpft. Ein möglicher Ausweg aus diesem Dilemma, eine unübersetzte Implementierung dieses Begriffes, kann diese Problematik ebenfalls nicht auflösen, da mit diesen Begriffen stets die Konnotation im Gesamtkontext mitimplementiert wird. Durch ein solches Vorgehen würde der Eindruck erweckt, dass der Säkularismus eine westliche Antwort auf eine genuin wissenschaftsfeindliche Religion darstelle. 20 21 Krämer, G.: Zum Verhältnis von Religion, Recht und Politik: Säkularisierung im Islam, In: Joas, H., Wiegandt, K.: Säkularisierung und die Weltreligionen, Frankfurt a.M. 2007, S. 174 Basgil, A.F.: Din ve Laiklik, Istanbul 1954 11. Philosophicum Lech Die Gretchenfrage 13 21. September 2007 Am Beispiel der Ottomanen können wir erkennen, dass die Trennung zwischen Staat und Religion auch im Islam ein übliches Verfahren war. Um dies zu belegen führt Bozkurt folgendes Beispiel an: Sultan Selim der Erste wollte 40 Staatsdiener hinrichten lassen und der Schayhul Islam Zenbilli Ali Efendi versuchte dies zu verhindern. Er bekam jedoch vom Sultan die Antwort, dass er sich nicht in die staatlichen Angelegenheiten einmischen dürfe. Der Schahulislam sagte daraufhin, dass er durch seine Einmischung nur sein Jenseits retten möchte, sich dabei aber nicht in die irdischen Angelegenheiten einmischen wolle. Bozkurt schrieb dem Islam unter den Ottomanen eine jenseitsorientierte Aufgabe zu und versucht damit die Trennung zwischen dem Staat und Religion unter den Ottomanen zu begründen. 22 Hier würde ein anderer Begriff, der das zu beschreibende Phänomen verständlicher darstellt, überflüssige und schwierige Diskussionen, oder auch eine nicht nur in Zukunft drohende, sondern bereits jetzt existierende gesellschaftliche Spaltung verhindern. Es gibt keinen institutionalisierten Islam Eine weitere nicht zu vernachlässigende Problematik besteht darin, dass, wie bereits angesprochen worden ist, der Islam keine institutionalisierte Religion ist. Bei der allgemeinen Verwendung des Begriffs Säkularismus oder Laizismus wird eine Trennung zwischen weltlicher Ordnung und kirchlicher Ordnung implizit unterstellt. Bei einer Trennung zwischen Staat und Religion sind die AnsprechpartnerInnen eindeutig. Im Falle des Islam ist diese Eindeutigkeit nicht vorhanden. Eine institutionelle Trennung ist eigentlich nicht möglich, weil der Islam diese Institution „Kirche“ nicht kennt. Wer ist also von wem zu trennen? Nicht zuletzt deshalb mischen sich in die Diskussion um den Säkularismus auch Gefühle einer persönliche Diskriminierung, oder der Diskriminierung einer bestimmten persönlichen Lebensweise bei den Muslimen. Der Säkularismus kann also als ein persönlicher Angriff verstanden werden, oder als eine religiöse Entmachtung, im Zuge derer der Staat dem Individuum einen bestimmten Glauben vorschreibt. Aufgrund dieser Problematik spaltet die diesbezügliche Diskussion in der Türkei die Gesellschaft in zwei Lager. Die Angehörigen des einen Lagers bezeichnen sich als gläubig, während die Angehörigen des anderen Lagers sich selbst als weniger gläubig oder nichtgläubig bezeichnen. Hierbei wirkt sich im Selbstverständnis der gläubigen Muslime zusätzlich verschärfend aus, dass die türkischen Imame ihre Freitagspredigt vom Amt für religiöse Angelegenheiten zugefaxt bekommen. Der Staat greift also direkt in die persönlichen Freiheiten der Menschen ein. In Ägypten gestaltet sich die Situation trotz einiger Unterschiede ähnlich. Nach dem Statut des obersten Scharia-Gerichtshofes von 1897 sollten Wahl und Einstellung des Mufti durch ein religiöses Gremium geregelt werden; dieser Paragraph wurde im Jahre 1914 so verändert, dass der Mufti vom Justizministerium delegiert, bzw. kontrolliert wird. 23 Das Religiöse verlässt das staatliche Territorium Der Islam symbolisiert die guten Eigenschaften des Menschen. Dies gilt nach islamischem Verständnis nicht nur für die Muslime. Nach dem Koran ist der Beste unter den Menschen 22 23 Bozkurt, M.E.: Hilafet ve Laiklik, Istanbul 1954 Schall, A.: Der Einfluss des islamischen Rechtsgutachtens auf die ägyptische Rechtspraxis, Wien 1994, S. 68 11. Philosophicum Lech Die Gretchenfrage 14 21. September 2007 derjenige, der der Gottesfürchtigste ist: „Wahrlich, vor Allah ist von euch der Angesehenste, welcher der Gottesfürchtigste ist. Wahrlich, Allah ist allwissend, allkundig.“ 49:13 Oftmals haben islamische Herrscher ihre Legitimation gerade daraus gezogen, dass sie aufgrund unterschiedlicher Merkmale selbst diese Gottesfürchtigsten seien. Unter den Folgen solch religiös legitimierter, politisch-autoritärer Systeme litten die Muslime nicht nur in der Vergangenheit. Auch gegenwärtig lassen sich entsprechende Beispiele rasch identifizieren. 24 Nach diesem Verständnis kann der Säkularismus als eine Vertreibung der guten Menschen aus der Politik verstanden werden, da er die autoritären Herrscher ihrer Legitimation im Islam beraubt. Auch hier ist meiner Meinung nach eine theologische Richtigstellung erforderlich: Der Begriff der „Taqwa“ bezieht sich nicht auf zwischenmenschliche Beziehungen, sondern auf die Beziehung zwischen Gott und den Menschen. Der Säkularismus verhindert den Missbrauch von Taqwa als politisches Instrument. Die Beziehung der Menschen zu Gott jedoch ist keine staatliche Aufgabe und bleibt geschützt, ja wird sogar gefördert. So widerspricht der Säkularismus gerade nicht dem Koran. Westliches Islamverständnis Max Weber ist nicht der einzige Wissenschaftler, der dem Islam weder moralische noch rationalistische Fähigkeiten zur Modernisierung der Gesellschaft zuschreibt. 25 Für ihn ist die Säkularisierung die Qualität, die den entscheidenden Unterschied zwischen Christentum und Islam ausmacht. Diese Auffassung ist bis zum heutigen Zeitpunkt in der westlichen Welt die Basis der Forschungen zum Thema Islam und Säkularismus geblieben. Als weiteres Beispiel für ein solches Verständnis kann die Arbeit von David E. Smith angeführt werden, in der zwei verschiedene traditionelle Religion-Politik-Modelle gegenübergestellt werden. Dies sind das organische und das kirchliche Modell. Nach Smith baue das kirchliche Modell auf der Trennung der politischen und religiösen Autoritäten auf. Organische Modelle hingegen kennen diese Trennung nicht. Das Christentum repräsentiere das kirchliche Modell, der Islam hingegen das organische Modell. 26 Die Vertreter solcher Auffassungen, die den Islam als Religion oder als Kultur zum Hindernis für die Entstehung einer entwickelten Gesellschaft erklären, oder wie Hans-Ulrich Wehler den Islam als eine ständige Bedrohung der säkularen Gesellschaftsordnung betrachten, 27 sind, wie Rodinson ausführt, 28 solche Wissenschaftler, die sich ständig mit der Orientalisierung des Orients beschäftigen. Mahdi spricht vom akademischen Orientalismus, der die eurozentrisch gespeisten orientalischen Kategorien bestärke. 29 Eine solche Betrachtungsweise reduziert den Islam lediglich auf den Koran und sieht andere Bestandteile des Islam nicht als genuine Leistungen der Muslime an. Luckmann kritisiert diese Sichtweise, da sie die spezifisch historische Form der Religion mit der Lehre, also der elementaren Form der Religion gleichsetze: „Auf das Christentum angewandt, würde eine solche 24 25 26 27 28 29 Nach einer islamischen Jurisprudenz dürfen die Muslime ohne die Genehmigung des Herrschers ihre Freitagsgebete nicht verrichten. Hier sieht man, wie eine politische Autorität ihre religiös begründete Herrschaft missbrauchen kann. Nach Siddik Hassan entspricht diese Auslegung weder dem Koran noch der Sunnah.(Öztürk, Y.N.: a.a.O., S. 17) Turner, B.S.: Weber und Islam, London 1974 Smith, D.E.: Religion and Political Development, Boston 1970 Wehler, H.-U.: Das Türkenproblem, Die Zeit 12. September 2002 Rodinson, M.: Islam und Kapitalismus, Frankfurt 1986, S. 37 Mahdi, M.: Orientalism and The Study of Islamic Philosophy, in: Journal of Islamic Studies I, 1990, S. 77 11. Philosophicum Lech Die Gretchenfrage 15 21. September 2007 Sichtweise heißen, die Botschaft der Heiligen Schrift erschöpfe sich in der Kirchengeschichte, und Christentum sei ausschließlich das, was der Papst in Rom und die anderen religiösen Potentaten bisher entschieden haben. Ein solches Verständnis von Islam raubt der fremden Religion die Freiheit, sich selbst neu zu verstehen und der Zeit gemäße Deutungen zu entwickeln, eine Freiheit, die man der eigenen, christlichen Tradition ohne weiteres zugesteht.“ 30 Die europäische Islam-Forschung weigert sich oder zögert, den Wandel in der islamischen Welt als eine Realität anzuerkennen. Dem Islam wird eine Wandlungsfähigkeit nicht zugestanden. Vielmehr wird folgendes Bild gepflegt: Der islamische Gott bewacht seine Religion mit einem Stock in der Hand und die Menschen fürchten diese Macht. Nach jedem Schritt schauen sie danach, ob sie wirklich nach den Ayahs aus dem Koran gehandelt haben. Das Koranverständnis der Muslime und auch der innere Demokratisierungsprozess werden weder wahrgenommen noch werden den Muslimen entsprechende Kompetenzen überhaupt zugeschrieben. Dieses wahrlich als „versteinert“ zu bezeichnende Islambild in Europa trifft leider auf ständige Berichte über Gewalt, die in den islamischen Ländern selbst oder von extremen Gruppen in Europa ausgeübt wird. Abschließende Bemerkungen Die genuine Aufgabe von Politik, Medien aber auch den Vertretern der Religionen bestünde darin, dass die Kulturen in einem Dialog die demokratischen Werte als ihre gemeinsame ethische Grundlage in ihre Religionen integrieren. Es kann in diesem Dialog nicht darum gehen, lediglich etwas voneinander zu erfahren und unsere gemeinsamen Sorgen zu theologisieren. Vielmehr wäre eine adäquate Umsetzung des Säkularismus eine konkrete Aufgabe, der sich die Religionen zu stellen haben. Säkularismus sichert die Zukunft der Religionen. Unterschreibt man diese Auffassung, so bejaht man auch die Tatsache, dass die Religionen den Säkularismus brauchen. Um den Säkularismus als eine religiöse Ethik unter den Muslimen verwirklichen zu können, sind meiner Meinung nach drei Voraussetzungen unerlässlich: I- 30 Die wichtigste Voraussetzung besteht darin, dass sich Muslime mit diesem Begriff identifizieren können. Säkularismus darf keine aufgezwungene Bürgerpflicht sein. Leider hat der Säkularisierungsprozess die Muslime ohne Demokratie und unvorbereitet in einer gesellschaftlichen Krise, in einer geistigen Niederlage überrascht. Nun benötigen die Muslime Ruhe und Zeit, um in einem eigenen Diskurs den Säkularismus in ihrer eigenen Theologie und Geschichte zu entdecken, so dass sie ihn nicht mehr als Fremdkörper empfinden. Um dieses Ziel zu erreichen, brauchen die Muslime ein Mehr an Demokratie und demokratischen Erfahrungen, um frei und ohne Misstrauen zu denken und sich artikulieren zu können. Die politischen Systeme in vielen islamischen Ländern und die Theologie, die in diesen politischen Systemen fest verankert ist, geben jedoch leider nur einen geringen Anlass zur Hoffnung, dass die Bürger dieser Länder die Werte der Demokratie erfahren und erleben dürfen. Seufert, G.: Laizismus in der Türkei - Trennung von Staat und Religion, In: http://www.hist.net/kieser/bs04/forum/seufert.html#_ftn2, Zugriff: 13.08.2007 11. Philosophicum Lech Die Gretchenfrage 16 21. September 2007 Hier kommt den Muslimen in Europa eine wichtige Brückenrolle zu, in der sie den innerislamischen Diskurs mit eigenen Beiträgen beleben und fördern können, ja müssen. II- Die Universalisierbarkeit ist die zweite Voraussetzung. Der Dialog der Religionen besitzt die Aufgabe, die demokratischen Werte als universale Werte zu verstehen und sie theologisch zu begründen. Ohne die Universalisierung dieser Werte besitzt der Säkularismus keine große Zukunft. III- Die letzte Voraussetzung stellt die Realisierbarkeit dar. Ohne die Demokratisierung der innermuslimischen Strukturen kann der Säkularismus nicht verwirklicht werden. Säkularismus als alleine theologische Aufgabe zu verstehen, wäre ein falscher Ansatz. Um die Religion in einer demokratischen Gesellschaft richtig positionieren zu können, braucht die Gesellschaft die Demokratie. Durch die Demokratie entwickelt sich implizit die Aufgabe, diese auch zu schützen. Die Muslime in Europa sollten in diesem Prozess ihre Aufgaben wahrnehmen und dementsprechend handeln können. Das abendländische Europa seinerseits sollte auch bereit sein, die Muslime nicht als eine archaische Last zu betrachten. Der Islam ist die Wirklichkeit der Muslime. Der Glaube an die Unwandelbarkeit des Islam entspricht nicht der gesellschaftlichen Lebensweise der Muslime. Mit einer Wahlbeteilung über 85% der Muslime beweist die Türkei, dass sich Islam und Säkularismus nicht widersprechen müssen, sondern sich gegenseitig befruchten können. In dieser Hoffnung danke ich Ihnen für Ihr Zuhören. Selam und Dua