Wie Sportverletzungen das Gehirn schädigen können

Werbung
CHRONISCH TRAUMATISCHE ENZEPHALOPATHIE
Wie Sportverletzungen das
Gehirn schädigen können
Mehrfache leichte SHT, Gehirnerschütterungen und subklinische Hirntraumata
können zu progressiven neurodegenerativen Veränderungen im Gehirn führen.
Sie treten nach einer Latenz von 10 bis 20 Jahren auf. Ihr klinisches Bild ist variabel.
Gehirnerschütterung wiesen Sportler mit > 3 Gehirnerschütterungen ein 3-fach höheres Depressionsrisiko auf und Sportler mit 1–2 Gehirnerschütterungen
ein 1,5-fach höheres Risiko (12). Aktuell verdichten
sich die Hinweise, dass repetitive Kopftraumata einen zwar geringen, aber vorhandenen Risikofaktor
für die Lebenszeitprävalenz einer Depression darstellen (7, 44).
Im Gegensatz dazu zeigte eine Auswertung von
männlichen High-School-Footballern, die zwischen
1946 und 1956 spielten, kein erhöhtes Risiko für die
Entwicklung von M. Parkinson, Demenz und amyotropher Lateralsklerose (ALS) (38).
In einer Kohorten-Mortalitätsstudie ehemaliger
US-Footballer, die zwischen 1959 und 1988 spielten,
zeigte sich, dass die Gesamtletalität im Vergleich zur
amerikanischen Normalbevölkerung geringer war,
während der Anteil von Todesfällen durch neurodegenerative Erkrankungen (ALS, M. Alzheimer) – bei
allerdings sehr geringen Fallzahlen – erhöht war
(20). Vor diesem Hintergrund besteht zumindest der
Verdacht, dass repetitive Gehirnverletzungen neurodegenerative Folgen nach sich ziehen könnten.
►
Der ehemalige
Boxweltmeister
Muhammad Ali alias
Cassius Clay gehört
zu den bekanntesten
Sportlern, die als
Folge von chronischen Kopftraumata
eine degenerative
Gehirnerkrankung
entwickelten – mit
ähnlichen Symptomen wie bei Alzheimer oder Parkinson.
Vor allem Footballer,
Eishockey-Spieler
und Boxer sind diesbezüglich gefährdet.
Foto: picture alliance
n den letzten Jahren wurde immer wieder über
mögliche desaströse Langzeitfolgen nach leichtem Schädel-Hirn-Trauma (SHT) inklusive Gehirnerschütterungen beim Sport berichtet, die als chronische traumatische Enzephalopathie (CTE) charakterisiert werden. Erste klinische Hinweise ergaben sich
aus Befragungen von 758 ehemaligen AmericanFootball-Spielern, die älter als 50 Jahre waren und eine durchschnittliche professionelle Sportkarriere von
6,6 Jahren aufwiesen. Footballer mit mehr als 3 erlittenen (selbst berichteten) Gehirnerschütterungen
wiesen 5-mal häufiger eine milde kognitive Einschränkung auf sowie eine 3-fach erhöhte Rate relevanter Erinnerungsstörungen im Vergleich zu Sportlern ohne vorhergehende Gehirnerschütterung (11).
Auch zeigte sich ein Trend für ein früheres Auftreten
eines M. Alzheimer gegenüber der amerikanischen
Normalbevölkerung.
In einer weiteren Analyse dieser Patienten konnte
zusätzlich eine Assoziation zwischen Lebenszeitprävalenz einer Depression und mehrfach erlittenen Gehirnerschütterungen beobachtet werden. Im Vergleich zu Sportlern ohne positive Anamnese einer
I
13
KASTEN 1
Ventrikels; Septumanomalien, moderate Depigmentierung des Locus coeruleus und leichte
Depigmentierung der Substantia nigra; Atrophie
der Corpora mamillaria und des Thalamus,
ausgedehnte p-T im Frontal-, Temporal- und
Parietalbereich und im Bereich der Insula;
NF-Pathologie in Amygdala, Hippocampus und
entorhinaler Rinde
Klassifikation der mikropathologischen
Befunde nach McKee (24)
Stadium 1
Normales Hirngewicht; einzelne, fokale Anreicherungen von perivaskulärem p-T und NFT
sowie Astrozyten-Verwicklungen in den Sulci,
vor allem im superioren und dorsolateralen
frontalen Kortex
Stadium 4
Deutliche Hirngewichtsreduktion mit Atrophie
der Hirnrinde, deutliche Atrophie des medialen
Temporallappens, Thalamus, Hypothalamus und
der Corpora mamillaria, schwere p-T-Pathologie
in den meisten Regionen der Großhirnrinde und
des medialen Temporallappens unter Aussparung
des Hippocampus-Kortex, schwere p-T-Pathologie in Zwischenhirn, Basalganglien, Hirnstamm
und Rückenmark, ausgeprägter axonaler Verlust subkortikaler weißer Substanzwege
Stadium 2
Normales Hirngewicht; mehrere Epizentren in
den Sulci mit lokalisierter Ausbreitung von den
Epizentren zu den oberflächlichen Schichten
des benachbarten Kortex, keine NFT- oder
p-T-Beteiligung am medialen Temporallappen
Stadium 3
Leichte Reduktion der Hirngewichts, leichte
zerebrale Atrophie mit Dilatation des 1. bis 3.
M. Alzheimer
Für den M. Alzheimer ist das SHT als Risikofaktor
akzeptiert (37). In einer frühen US-Literaturanalyse
wurde ein Zusammenhang zwischen einem erlittenen
SHT und dem Risiko der Alzheimer-Entwicklung
zwar nicht sicher identifiziert (28), allerdings liegen
Hinweise vor, dass durch ein erlittenes SHT die Zeit
bis zum Auftreten eines M. Alzheimer verkürzt sein
könnte. Je schwerer das erlittene SHT, umso möglicher scheint dieser Zusammenhang (hazard ratio 2,32
bei mittlerem und 4,51 bei schwerem SHT), wobei
kein sicherer Zusammenhang mit dem leichten SHT
gefunden wurde. Vergleichbare Zusammenhänge bestanden zum Auftreten einer Demenz (33).
ALS
Es existieren Hinweise, dass sich gerade im Fußball
nach repetitiven Kopftraumata eine ALS entwickeln
kann. Die Häufigkeit war bei Fußballprofis in Italien
ungewöhnlich hoch (3, 4). Bei Erst- und ZweitligaProfifußballspielern fand sich eine 6,5-fach höhere
ALS-Rate im Vergleich zur Normalbevölkerung – vor
allem bei unter 49-Jährigen, während ältere Sportler
kein erhöhtes Risiko aufwiesen. Zusätzlich fand sich
ein dosisartiges Risiko (> 5 Jahre Fußballsport als Risikofaktor) (3). Aktuelle Daten dieser Sportler zeigten
eine 4- bis 5-fach höhere ALS-Rate als erwartet.
Im Gegensatz dazu wurden keine ALS-Fälle bei
Basketballern und Radfahrern beobachtet, so dass geschlussfolgert wurde, dass Fußball allein einen Risikofaktor für die Entwicklung einer ALS darstellt und
nicht die sportliche Aktivität an sich (4). Diese Ergebnisse konnten in einer amerikanischen Untersuchung
zu Kopfverletzungen bestätigt werden (2). Personen
mit mehr als einem erlittenen SHT wiesen ein 3,1-fach
höheres Risiko für die Entwicklung einer ALS auf,
14
während das anamnestische Vorliegen eines einzelnen
SHT keinen Einfluss auf die ALS-Häufigkeit hatte.
Die Kombination aus mehrfachem SHT innerhalb
der letzten 10 Jahre führte zu einem 11-fach höheren Risiko einer ALS. Auch eine Literatur-Metaanalyse zeigte ein 1,7-fach höheres Risiko für eine ALS
bei positiver Anamnese eines SHT (2).
Suizidalität
Frühe Untersuchungen legten einen Zusammenhang
einer Suizidalität und der Schwere eines SHT nahe.
Es wurden Suizidalitätsraten von 0,59 % berichtet,
das entspricht einem 3-fach erhöhten Risiko gegenüber der Allgemeinbevölkerung (43). Bei Frauen lagen die Raten höher als bei Männern. Im Alter zwischen 21 und 60 Jahren war das Risiko erhöht. Auch
waren Begleitprobleme wie Tablettenmissbrauch mit
höheren Suizidalitätsraten assoziiert.
Aktuelle Literaturanalysen konnten im Verlauf
keinen eindeutigen Zusammenhang zwischen neuropathologischen Zeichen einer CTE und einer erhöhten Suizidalität nachweisen (16, 24). Die Subanalyse
einer Untersuchung, die sich primär mit Todesraten
und kardiovaskulären Erkrankungen bei ehemaligen
Footballern der NFL auseinandersetzt, zeigte sogar
ein geringeres Risiko dieser Sportler hinsichtlich einer Suizidalität (1).
In einer Analyse an 235 110 Patienten nach Gehirnerschütterung mit einem Durchschnittsalter von
41 Jahren wurden 667 nachfolgende Suizide nach 9,3
Jahren beobachtet (= 31 Todesfälle/100 000 Patienten/Jahr). Dies entspricht einem 3-fach erhöhten Risiko im Vergleich zur Normalbevölkerung. Als Risikofaktor wurde eine aufgetretene Gehirnerschütterung am Wochenende angegeben (relatives Risiko
1,36) (8).
►
Perspektiven der Neurologie 2/2016 | Deutsches Ärzteblatt
Vor diesem Hintergrund besteht zumindest der
Verdacht, dass repetitive Gehirnverletzungen neurodegenerative Folgen nach sich ziehen könnten. Im
Sport wurde diesbezüglich der Begriff der CTE geprägt. Heute wird zwischen der klassischen und der
modernen Form einer CTE unterschieden (9, 19).
Klassische CTE
Die klassische Form der CTE basiert auf der primären Beschreibung eines ehemaligen Boxers mit
Kopfverletzungsanamnese und persistierender klinisch-neurologischer Symptomatik mit Vorliegen unter anderem von Konfusion, Bradykinesie, Tremor,
Gang-Ataxie, Pyramidenbahndysfunktion bei normaler Intelligenz. Diese Symptome wurden 1928 als
„paralysis agitans“ (M. Parkinson) beschrieben (22).
1937 wurde eine vor allem bei Boxern auftretende
Symptomatik mit motorischer Einschränkung und
kognitiven Störungen als „dementia pugilistica“ bezeichnet (19). Die im letzten Jahrhundert durchgeführten Analysen bezogen sich entsprechend vorwiegend auf den Boxsport. Einschränkungen bestanden
durch eine nichtstandardisierte klinische Befunderhebung und das Fehlen einer nach heutigen Kriterien
adäquaten radiologischen Diagnostik, insbesondere
von Schnittbilduntersuchungen.
Die Analyse der publizierten Fälle zeigte, dass eine kognitive Verschlechterung typischerweise 10–20
Jahre nach Beendigung des Sports auftrat, wobei
70 % dieser Sportler Dysarthrien, pyramidale FehlKASTEN 2
Klassifikation der mikropathologischen Befunde nach
Omalu (29)
Stadium 1
Spärliche bis häufige NFT und neuritische Faserungen in Hirnrinde und Hirnstamm ohne Beteiligung der Basalganglien und
des Kleinhirns; keine diffusen Amyloidplaques in der Hirnrinde
Stadium 2
Spärliche bis häufige NFT und neuritische Faserungen in Hirnrinde und Hirnstamm mit oder ohne Beteiligung der Basalganglien und des Kleinhirns; diffuse Amyloidplaques in der Hirnrinde
Stadium 3
Mittlere bis starke NFT und neuritische Faserungen in den
Hirnstammganglien und im Hirnstamm; fehlende oder spärliche NFT und neuritische Faserungen in Großhirnrinde, Basalganglien und Kleinhirn; keine Amyloidplaques in der Großhirnrinde
Stadium 4
Fehlende oder nur spärliche NFT und neuritische Faserungen
in Großhirnrinde, Hirnstamm und Basalganglien; keine Kleinhirnbeteiligung; keine diffusen Amyloidplaques in der Großhirnrinde
16
funktionen und kognitive Defizite aufwiesen, die
sich nicht verschlechterten, während in 30 % der Fälle progressive Dysarthrie und pyramidale Fehlfunktionen vorlagen, ohne begleitende kognitive Fehlfunktionen (23, 35, 36).
Aufgrund additiv vorliegender neuropsychiatrischer Probleme, wie unter anderem Alkoholabhängigkeit und Medikamenten-/Drogenabsusus, war keine
exakte Zuordnung der Symptomatik im Einzelfall
möglich. Gehirnuntersuchungen post mortem zeigten
bei diesen Sportlern verschiedene Pathologien wie kavitäre Septum-pellucidum-Läsionen, Kleinhirnnarben,
Degenerationen der Substantia nigra und des Locus
coeruleus sowie diffuse neurofibrilläre Veränderungen
vor allem im Bereich des Temporallappens (mediale
Schläfenregion, Uncus, Amygdala, Gyrus parahypocampalis, Hypocampus, Gyrus fusiformis) (5). Weitere Analysen ließen eine Alzheimer-artige Assoziation
im Sinne eines Frühstadiums vermuten (36).
Moderne CTE
Seit 2005 zeigten verschiedene klinische und neuropathologische Analysen Änderungen dieser klassischen Form der CTE. Basierend auf Autopsieergebnissen von professionellen Sportlern mit vermuteten
Kopfanprällen (24–26, 29–32) wurden Unterschiede
hinsichtlich Expositionsraten, klinischer Symptomatik, kognitiver und neurologischer Verhaltensmerkmale, diagnostischer Kriterien, Alter bei Symptombeginn, Krankheitsverlauf und neuropathologischer
Befunde beschrieben (9). Als Ursache werden repetitive Gehirntraumata angenommen, die zu einer klinisch neurologischen und neuropsychiatrischen Verschlechterung führen, am häufigsten ausgelöst im
Rahmen von Kontaktsportarten (19). Aber auch
Nichtsportler waren betroffen.
Diese Gehirntraumata umfassten als Mechanismus eine Bandbreite von asymptomatischen subklinischen Gehirnerschütterungen, symptomatische
klassische Gehirnerschütterungen bis hin zu mittelgradigen bis schweren SHT (19). Die Inzidenz dieser
modernen Form der CTE bleibt jedoch erst mal unbekannt. Bei American-Football-Spielern wurde eine
Häufigkeit von < 0,01 % geschätzt (19). Aktuellere
Analysen tendieren dazu, dass dieses vermeintliche
Krankheitsbild jedoch überschätzt wird (9, 14, 15,
34). Eine Analyse von 513 ehemaligen NationalFootball-League-Spielern zeigte bei 35,1 % Zeichen
einer kognitiven Beeinträchtigung, vergleichbar mit
Menschen mit altersbedingten neurodegenerativen
Erkrankungen (MCI, M. Alzheimer). Möglicherweise liegt bei diesen Sportlern eine erhöhte Prävalenz
für kognitive Beeinträchtigungen im späteren Leben
vor, was auf eine verminderte Hirnreservefunktion
hinweisen könnte (34).
Autopsieergebnisse waren uneinheitlich (15). So
zeigte eine Übersichtsanalyse von 85 Autopsiefällen
mit vermuteter CTE bei ehemaligen Sportlern nur in
20 % eine reine CTE-Pathologie. 52 % wiesen neben
CTE-Veränderungen weitere neuropathologische
Perspektiven der Neurologie 2/2016 | Deutsches Ärzteblatt
Hirnveränderungen auf, 5 % wiesen neuropathologische Veränderungen ohne CTE-Veränderungen und
24 % keinerlei Veränderungen auf (9). In einer klinisch-neurologischen neuropsychologischen Untersuchung bei ehemaligen NFL-Sportlern mit anamnestisch erlittener Gehirnerschütterung erfolgte
auch eine MRT- und Diffusion-Tensor-Imaging-Untersuchung, die mit 26 gesunden Probanden verglichen wurde. 41,2 % der ehemaligen Sportler zeigten
kognitive Einschränkungen, 11,8 % wiesen ein fixiertes kognitives Defizit auf, 23,5 % eine MCI, 5,9 % eine Demenz und 23,5 % eine Depression. Die Art der
kognitiven Einschränkungen umfasste vor allem Erinnerungsprobleme und Wortfindungsstörungen.
Im Vergleich zur Normalbevölkerung waren diese
Probleme häufiger vorhanden. Kognitive Einschränkungen korrelierten mit einem eingeschränkten zerebralen Blutfluss zum linken Temporalpol, inferioren
Parietallappen und oberen Gyrus temporalis sowie
mit Veränderungen der weißen Hirnsubstanz. Veränderungen der weißen Hirnsubstanz waren bei Sportlern ohne kognitive Einschränkungen oder Depression wie bei Gesunden ausgeprägt (14).
KASTEN 3
Relation klinischer Kriterien und der Wahrscheinlichkeit
des Vorliegens einer CTE
Definitiv
Jede zu einer CTE passende neurologische Symptomatik mit
neuropathologischem Nachweis einer CTE (Tauopathie ±
diffuser Amyloidnachweis ± TDP43-Nachweis)
Wahrscheinlich
Jede neurologische Symptomatik mit mindestens zwei der
folgenden Bedingungen: kognitive und/oder Verhaltensstörungen, Kleinhirnfunktionsstörung; Pyramidenbahnpathologie oder
extrapyramidale Auffälligkeiten, die klinisch von anderen
bekannten neurologischen Erkrankungen zu unterscheiden
sind und zum erwarteten Bild einer CTE passen
Möglich
Jede neurologische Symptomatik, die zu einer CTE passt,
jedoch auch durch andere neurologische Erkrankungen ausgelöst sein kann (z. B. M. Alzheimer, primäre Demenz, M. Parkinson, primäre Kleinhirndegeneration, Wernicke-KorsakoffSyndrom, ALS)
Pathologische Befunde
Wesentliches Diagnosekriterium einer CTE ist derzeit die neuropathologische (post mortem) Untersuchung. Makroskopische Befunde umfassen eine generalisierte Abnahme der Gehirnmasse, ein kavitäres
Septum pellucidum mit septalen Fenestrationen, eine
Vergrößerung der lateralen und des dritten Ventrikels, eine generalisierte Hirnatrophie (v. a. Vorderlappen, vorderer und medialer Temporallappen, Thalamus, Corpora mamillaria) sowie eine Blässe des
Locus coeruleus und der Substantia nigra (41).
Mikropathologische Befunde umfassen Neurofibrillierungen, die häufig den Bulbus olfactorius, den
dorsolateralen frontalen Kortex, den orbitalen frontalen Kortex, den subkallösen frontalen Kortex, die Inselrinde, den oberen und/oder mittleren Gyrus temporalis, den inferioren temporalen Gyrus, die entorhinale Rinde sowie Hippocampus, Amygdala, Corpus mamillare, Substantia nigra und Locus coeruleus
betreffen. Weniger ausgeprägt finden sich Neurofibrillierungen an Hypothalamus, Substantia innominata, Medulla und Thalamus, selten im Bereich des
Gyrus cinguli, des inferioren parietalen Kortex und
des Hinterhauptslappens. Daneben finden sich in
45 % ß-Amyloid-Ablagerungen als diffuse Plaques
und vereinzelte neuritische Plaques sowie Veränderungen der weißen Substanz im Sinne eines Verlustes
der markhaltigen Fasern und das Vorliegen perivaskulärer Makrophagen (41). Zur Klassifikation der
mikropathologischen Befunde liegen zwei Einteilungen vor (24, 29), (Kasten 1 und 2).
Klinische Symptomatik
Hauptproblem der CTE-Diagnostik ist, dass die klinische Symptomatik meist retrospektiv erhoben wurde
und somit eine erhebliche Varianzbreite erwartet
Unwahrscheinlich
Jede neurologische Symptomatik, die nicht die typische CTESymptomatik umfasst und durch traumaunabhängige Gehirnerkrankungen erklärt werden kann (z. B. zerebrovaskuläre
Erkrankungen, multiple Sklerose, Hirntumoren, vererbbare
neurologische Erkrankungen)
werden muss. Typische früh vorliegende Zeichen können Gangstörungen, verlangsamte Sprache, extrapyramidale Zeichen, neuropsychiatrische und Verhaltenssymptome sein, die im Krankheitsverlauf dominanter
werden (6, 17, 35). Neuropsychiatrische Symptome
umfassen Stimmungsschwankungen (Depressionen),
Paranoia, Unruhe, sozialen Rückzug, schlechtes Urteilsvermögen und Aggression. Zeichen der kognitiven
Beeinträchtigung treten tendenziell später auf und beinhalten Orientierungsprobleme, Erinnerungsschwierigkeiten, Sprachprobleme, Aufmerksamkeitsdefizite
und Probleme der Informationsverarbeitung sowie
Einschränkungen der exekutiven Funktionen (6, 13,
17, 40). Diese kognitiven Störungen können sich im
zeitlichen Verlauf verschlechtern (24, 25). Verhaltenssymptome umfassen vermehrte Reizbarkeit, erhöhte
Impulsivität, Ärger, Agressivität, Apathie und am häufigsten eine depressive Smyptomatik (25, 40).
Kürzlich wurde postuliert, dass möglicherweise
zwei unterschiedliche Varianten der modernen
CTE bestehen könnten (40). Eine Gruppe von Patienten zeigte primär Verhaltensauffälligkeiten und
Stimmungsschwankungen mit teilweise später auftretenden kognitiven Störungen, während bei der
zweiten Gruppe kognitive Symptome primär im Vordergrund standen und Verhaltensauffälligkeiten erst
im weiteren Verlauf hinzutraten. In einer aktuellen
Perspektiven der Neurologie 2/2016 | Deutsches Ärzteblatt
17
Empfehlung wurden die vermuteten klinischen Zeichen der CTE in folgende Kategorien unterteilt (18):
● Verhaltensmerkmale/psychiatrische Merkmale: Aggression und/oder Agitation, Apathie, Impulsivität, Depression, Wahnvorstellungen (wie
Paranoia), Suizidalität
● ognitive Veränderungen: Beeinträchtigung von Aufmerksamkeit
und Konzentration, Erinnerungsprobleme, Entscheidungsschwierigkeiten, Demenz, Schwierigkeiten des
räumlichen Sehens, Sprachstörungen
● Motorische Funktionseinschränkungen: Dysarthrie, Spastik, Ataxie
(inklusive Koordinationsstörungen)
Parkinson-Symptome (inklusive Zittern), Gangstörungen, evtl. ALS.
Diese Kriterien sind jedoch bisher noch
nicht validiert, sie wurden mit der
Wahrscheinlichkeit des Vorliegens einer CTE in Beziehung gesetzt (Kasten
3), da die definitive Diagnose ausschließlich post mortem getroffen werden kann (18).
Diese Einteilung zeigt jedoch als Hauptproblem relativ deutlich, dass mit einer ausgedehnten Überlappung klinischer Zeichen der CTE und anderen neurodegenerativen Erkrankungen zu rechnen ist.
So werden neuropsychiatrische Symptome in
60–80 % beim M. Alzheimer beobachtet mit einem
Lebenszeitrisiko von über 90 % (21), und zwei Drittel der Patienten mit M. Alzheimer weisen neuropathologische Befunde auf (27). In einer aktuellen Analyse von 15 Sportlern mit Verdacht auf CTE ohne
Hinweise auf andere begleitende neurodegenerative
Erkrankungen fand sich jedoch kein eindeutiger Zusammenhang zwischen neuropathologischen Befunden und klinischer Symptomatik (24).
Allerdings wird derzeit auch diskutiert, ob die
CTE eine Variante der frontotemporalen Lobärdegeneration (FTLD, ehemals Pickʼsche Erkrankung)
darstellt (10, 25). Wesentlicher Unterschied zwischen CTE und FTLD scheint zu sein, dass sich die
CTE tendenziell früher (im Alter 30–50 Jahre) manifestiert, einen langsameren und verzögerten Verlauf
aufweist, kein familiäres Risiko aufweist, aber eine
positive Anamnese repetitiver Hirntraumata beinhaltet (24, 25). Hinweise bestehen, dass bildmorphologisch (PET-Scan) in allen Tau-produzierenden Hirnregionen subkortikal (Nucleus caudatus, Putamen,
Thalamus, Subthalamus, Mittelhirn, weiße Substanz
des Kleinhirns) und kortikal (Amygdala) erhöhte
Signalwerte vorliegen sowie vermehrt Depressionen
und mentale Einschränkungen (39).
Bei ehemaligen NFL-Spielern mit positiver Gehirnerschütterungs-Anamnese bestand eine signifikante
Korrelation zwischen der Anzahl erlittener Gehirnerschütterungen und der Schwere depressiver Veränderungen. Die affektiven, kognitiven und somatischen
Komponenten eines Scores waren ausgeprägter, wo-
18
bei nur der kognitive Anteil signifikant mit erlittenen
Gehirnerschütterungen assoziiert war (7).
Eine bildgebende Diffusion-Tensor-Imaging(DTI-)Analyse zeigte eine negative Korrelation zwischen Depressionszeichen und Veränderungen bestimmter Fasersysteme. Die Analyse der fraktionalen
Anisotropie des Forceps-minor-Fasersystems konnte dabei depressive Sportler von nichtdepressiven Sportlern mit
einer Sensitivität von 100 % und einer
Spezifität von 95 % unterscheiden
(42). Aktuelle PET-Analysen zeigen
bei ehemaligen American-FootballSpielern mit Verdacht auf CTE-Veränderungen, die eher im Einklang mit den
vermuteten Mechanismen der Gehirnerschütterung stehen und sich vom progressiven neuropathologischen Muster
des M. Alzheimer unterscheiden (45).
Letztlich verbleibt aber die Überlappungsproblematik der Symptomatik
und der pathologischen Folgen von
Gehirnerschütterung, Post-ConcussionSyndrom (PCS), chronisch-traumatischer Enzephalopathie und neurodegenerativen Erkrankungen, so
dass nicht ein einzelner Faktor beweisend ist (46).
Fazit:
● Die chronisch-traumatische Enzephalopathie (CTE)
●
●
●
●
●
ist eine progressive neurodegenerative Erkrankung, die nach mehrfachen leichten SHT, Gehirnerschütterungen und subklinischen Hirntraumata
auftreten kann (46).
Das klinische Bild ist variabel und umfasst alle
Domänen neurotraumatologischer Symptome.
In der Bildgebung findet sich eine abnorme TauPathologie in den typischen Verletzungsregionen
des Gehirns, die am ehesten beim typischen Akzelerations-/Dezelerations-Mechanismus vor allem
bei Kontaktsportarten verletzt werden können.
Die mittlere Expositionsdauer seit den Verletzungen liegt zwischen 10 und 20 Jahren (47).
Klinische Symptome der CTE-Krankheit entwickeln sich ebenfalls in diesem Zeitfenster.
Die meisten Sportler hatten im Mittel 20 SHT erlitten, aber auch nach nicht erlittenem Hirntrauma
▄
kann sich eine CTE entwickeln (47).
DOI: 10.3238/PersNeuro.2016.09.16.03
Dr. med. Axel Gänsslen
Klinik für Unfallchirurgie, Orthopädie und Handchirurgie, Wolfsburg
Priv.-Doz. Dr. med. Werner Krutsch
Klinik und Poliklinik für Unfallchirurgie, Uniklinikum Regensburg
Dr. med. Ingo Schmehl
Klinik für Neurologie, Unfallkrankenhaus Berlin
Prof. Dr. med. Eckhard Rickels
Klinik für Unfallchirurgie, Orthopädie und Neurotraumatologie, Celle
Interessenkonflikt: Die Autoren erklären, dass keine Interessenkonflikte
vorliegen.
@
Literatur im Internet:
www.aerzteblatt.de/lit3716
Perspektiven der Neurologie 2/2016 | Deutsches Ärzteblatt
CHRONISCH TRAUMATISCHE ENZEPHALOPATHIE
Wie Sportverletzungen das
Gehirn schädigen können
Mehrfache leichte SHT, Gehirnerschütterungen und subklinische Hirntraumata können
zu progressiven neurodegenerativen Veränderungen im Gehirn führen. Sie treten nach
einer Latenz von 10 bis 20 Jahren auf. Ihr klinisches Bild ist variabel.
LITERATUR
1. Baron S, Hein M, Lehman E, Gersic C: Body mass index, playing
position, race, and the cardiovascular mortality of retired professional football players. Am J Cardiol 2012; 109: 889–96.
2. Chen H, Richard M, Sandler D, Umbach D, Kamel F: Head injury
and amyotrophic lateral sclerosis. Am J Epidemiol 2007; 166:
810–6.
3. Chio A, Benzi G, Dossena M, Mutani R, Mora G: Severely increased risk of amyotrophic lateral sclerosis among Italian professional foot-ball players. Brain 2005; 128: 472–6.
4. Chio A, Calvo A, Dossena M, Ghiglione P, Mutani R, Mora G: ALS
in Italian professional soccer players: the risk is still present and
could be soccerspecific. Amyotroph Lateral Scler 2009; 10:
205–9.
5. Corsellis J, Bruton C, Freeman-Browne D: The aftermath of boxing. Psychol Med 1973; 3: 270–303.
6. Costanza A, Weber K, Gandy S, et al.: Review: Contact sport-related chronic traumatic encephalopathy in the elderly: clinical
expression and structural substrates. Neuropathol Appl Neurobiol
2011; 37: 570–84.
7. Didehbani N, Munro Cullum C, Mansinghani S, Conover H, Hart
JJ: Depressive symptoms and concussions in aging retired NFL
players. Arch Clin Neuropsychol 2013; 28: 418–24.
8. Fralick M, Thiruchelvam D, Tien H, Redelmeier D: Risk of suicide
after a concussion. CMAJ 2016; 188(7): 497–504. doi:
10.1503/cmaj.
9. Gardner A, Iverson GL, McCrory P: Chronic traumatic encephalopathy in sport: a systematic review. Br J Sports Med 2014; 48:
84–90.
10. Gavett BE, Stern RA, McKee AC: Chronic traumatic encephalopathy: a potential late effect of sport-related concussive and subconcussive head trauma. Clin Sports Med 2011; 30: 179–88, xi.
11. Guskiewicz K, Marshall S, Bailes J, et al.: Association between
recurrent concussion and late-life cognitive impairment in retired
professional football players. Neurosurgery 2005; 57: 719–29.
12. Guskiewicz K, Marshall S, Bailes J, et al.: Recurrent concussion
and risk of depression in retired professional football players.
Med Sci Sports Exerc 2007; 39: 903–9.
13. Guterman A, Smith R: Neurological sequelae of boxing. Sports
Med 1987; 4: 194–210.
14. Hart JJ, Kraut M, Womack K, et al.: Neuroimaging of cognitive
dysfunction and depression in aging retired National Football
League players: a crosssectional study. JAMA Neurol 2013; 70:
326–35.
15. Hazrati LN, Tartaglia MC, Diamandis P, et al.: Absence of chronic
traumatic encephalopathy in retired football players with multiple
concussions and neurological symptomatology. Front Hum Neurosci 2013; 7: 222.
16. Iverson G: Chronic traumatic encephalopathy and risk of suicide
in former athletes. Br J Sports Med 2014; 48: 162–5.
17. Jordan B: Chronic traumatic brain injury associated with boxing.
Semin Neurol 2000; 20: 179–85.
18. Jordan B: The clinical spectrum of sport-related traumatic brain
injury. Nat Rev Neurol 2013; 9: 222–30.
19. Karantzoulis S, Randolph C: Modern chronic traumatic encephalopathy in retired athletes: what is the evidence? Neuropsychol
Rev 2013; 23: 350–60.
20. Lehman E, Hein M, Baron S, Gersic C: Neurodegenerative causes of death among retired National Football League players.
Neurology 2012; 79: 1970–4.
21. Lyketsos C, Steinberg M, Tschanz J, Norton M, Steffens D, Breitner J: Mental and behavioral disturbances in dementia: findings
from the Cache County Study on Memory in Aging. Am J Psych
2000; 157: 708–14.
22. Martland H: Punch Drunk: JAMA 1928; 91: 1103–7.
23. McCrory P: Sports concussion and the risk of chronic neurological impairment. Clin J Sports Med 2011; 21: 6–12.
24. McKee A, Stern R, Nowinski C, et al.: The spectrum of disease in
chronic traumatic encephalopathy. Brain 2013; 136: 43–64.
25. McKee AC, Cantu RC, Nowinski CJ, et al.: Chronic traumatic encephalopathy in athletes: progressive tauopathy after repetitive
head injury. J Neuropathol Exp Neurol 2009; 68: 709–35.
26. McKee AC, Gavett BE, Stern RA, et al.: TDP-43 proteinopathy
and motor neuron disease in chronic traumatic encephalopathy.
J Neuropathol Exp Neurol 2010; 69: 918–29.
27. Nelson P, Alafuzoff I, Bigio E, et al.: Correlation of Alzheimer
disease neuropathologic changes with cognitive status: a review
of the literature. J Neuropathol Exp Neurol 2012; 71: 362–81.
28. Nemetz P, Leibson C, Naessens J, et al.: Traumatic brain injury
and time to onset of Alzheimer’s disease: a population-based
study. Am J Epidemiol 1999; 149: 32–40.
29. Omalu B, Bailes J, Hamilton RL, et al.: Emerging histomorphologic phenotypes of chronic traumatic encephalopathy in American
athletes. Neurosurgery 2011; 69: 173–83; discussion 183.
30. Omalu BI, DeKosky ST, Hamilton RL, et al.: Chronic traumatic encephalopathy in a national football league player: part II. Neurosurgery 2006; 59: 1086–92; discussion 1092–3.
31. Omalu BI, DeKosky ST, Minster RL, Kamboh MI, Hamilton RL,
Wecht CH: Chronic traumatic encephalopathy in a National Football League player. Neurosurgery 2005; 57: 128–34; discussion
128–34.
32. Omalu BI, Fitzsimmons RP, Hammers J, Bailes J: Chronic traumatic encephalopathy in a professional American wrestler. J Forensic Nurs 2010; 6: 130–6.
33. Plassman B, Havlik R, Steffens D, et al.: Documented head injury
in early adulthood and risk of Alzheimer’s disease and other dementias. Neurology 2000; 55: 1158–66.
34. Randolph C, Karantzoulis S, Guskiewicz, K: Prevalence and characterization of mild cognitive impairment in retired national football league players. J Int Neuropsychol Soc 2013; 19: 873–80.
Perspektiven der Neurologie 2/2016 | Deutsches Ärzteblatt
6
35. Roberts A: Brain damage in boxers: a study of the prevalence of
traumatic encephalopathy among ex-professional boxers. London: Pitman 1969.
36. Roberts G, Allsop D, Bruton C: The occult aftermath of boxing.
J Neurol Neurosurg Psychiatry 1990; 53: 373–8.
37. Rubenstein R: Traumatic Brain Injury: Risk Factors and Biomarkers of Alzheimer’s Disease and Chronic Traumatic Encephalopathy. Curr Tran Geriatr Gerontol Rep 2012; 1: 143–8.
38. Savica R, Parisi JE, Wold LE, Josephs KA, Ahlskog JE: High
school football and risk of neurodegeneration: a communitybased study. Mayo Clin Proc 2012; 87: 335–40.
39. Small G, Kepe V, Siddarth P, et al.: PET scanning of brain tau in
retired national football league players: preliminary findings. Am
J Geriatr Psychiatry 2013; 21: 138–44.
40. Stern RA, Daneshvar DH, Baugh CM, et al.: Clinical presentation
of chronic traumatic encephalopathy. Neurology 2013; 81:
1122–9.
41. Stern RA, Riley DO, Daneshvar DH, Nowinski CJ, Cantu RC,
McKee AC: Long-term consequences of repetitive brain trauma:
chronic traumatic encephalopathy. PM R 2011; 3: S460–7.
42. Strain J, Didehbani N, Cullum C, et al.: Depressive symptoms
and white matter dysfunction in retired NFL players with concussion history. Neurology 2013; 81: 25–32.
43. Teasdale T, Engberg A: Suicide after traumatic brain injury:
a population study. J Neurol Neurosurg Psychiatry 2001; 71:
7
436–40.
44. Montenigro PH, Alosco ML, Martin B, et al.: Cumulative head impact exposure predicts later-life depression, apathy, executive
dysfunction, and cognitive impairment in former high school and
college football players. J Neurotrauma 2016; Mar 30. [Epub
ahead of print].
45. Barrio JR, Small GW, Wong KP, et al.: In vivo characterization of
chronic traumatic encephalopathy using [F-18]FDDNP PET brain
imaging. Proc Natl Acad Sci U S A 2015; 112: E2039–47.
46. Tartaglia MC, Hazrati LN, Davis KD, et al.: Chronic traumatic encephalopathy and other neurodegenerative proteinopathies.
Front Hum Neurosci 2014; 8: 30. doi:
10.3389/fnhum.2014.00030.
47. Stein TD, Alvarez VE, McKee AC: Concussion in chronic traumatic
encephalopathy. Curr Pain Headache Rep 2015; 19: 47.
Perspektiven der Neurologie 2/2016 | Deutsches Ärzteblatt
Herunterladen