Der Islamische Religionsunterricht im interreligiösen Kontext. Das Ich im Anderen Abdel-Hakim Ourghi, Pädagogische Hochschule Freiburg Gemäß der im März 2005 veröffentlichten Studie der Menschenrechtsorganisation International Helsinki Federation for Human Rights (IHF) wird geschätzt, dass die Zahl der in der Europäischen Union lebenden Muslime bis zum Jahre 2015 auf 40 Millionen ansteigen wird.1 Heute schon gehören der Islam und die Muslime auch zum Dasein der multikulturellen Bevölkerungslandschaft in der Bundesrepublik Deutschland. Obwohl die Muslime nicht als eine monolithische Gruppe zu verstehen sind, sprach man im Jahre 2009 von einer Zahl zwischen 3,8 und 4,3 Millionen Muslimen mit Migrationshintergrund, die hierzulande leben. Solch eine Hochrechnung entspricht einem Bevölkerungsanteil von rund fünf Prozent.2 Allerdings wird die Zahl der deutschen Einheimischen, die aus verschiedenen Gründen zum Islam konvertiert sind, in den amtlichen Statistiken nicht berücksichtigt.3 Aufgrund solcher Statistiken scheint es nicht mehr berechtigt bzw. objektiv zu sein, Fragen zu stellen wie z. B.: Gehört der Islam zu Deutschland? Oder sind die Muslime nur vorübergehend ein Teil der Bevölkerung Deutschlands? Allerdings sind solche Fragen selbstverständlich, wenn man an Parallelgemeinden, die mit dem Rechtsstaat konkurrieren, denkt oder an die Furcht vor einer „Islamisierung“ Europas durch salafistische Bestrebungen. Hierbei wird durch die gegenwärtig allzu hoch im Kurs stehende Diskussion einiger Apologeten nicht wahrgenommen, dass die Salafisten nur eine sehr geringe Zahl und nicht die Mehrheit der Muslime darstellen. Der Islam lässt sich mit Werten wie Demokratie, Menschenrechten und Pluralismus durchaus vereinbaren, also ein humanistischer Islam, dessen Wurzeln in den muslimischen Quellen zu finden und die mit dem historischen Diskurs des Islams verwoben sind. Gewiss gehört der Islam nicht nur zu Deutschland, sondern zum gesamten Abendland, wenn man die seit 1300 Jahren bestehenden engen Kontakte zwischen dem Abend- und Morgenland in Betracht zieht. Diese Begegnungen waren trotz zahlreicher Kriege auch stets von einem Kulturaustausch geprägt. Auch die Einführung des Islamunterrichts (IRU) an den deutschen Schulen lässt Abschied nehmen von der Auffassung, dass der Islam bzw. die Muslime eine Bedrohung oder eine 1 Vgl. ZEIT Geschichte. Der Islam in Europa, Nr. 2/2012., S. 92f.; Andreas RENZ /Stephan LEIMGRUBER: Christen und Muslime. Was sie verbindet – was sie unterscheidet, München 32009, S. 17ff. 2 Vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Hrsg.): Muslimisches Leben in Deutschland, Nürnberg 2009. 3 Monika WOHLRAB-SAHR: Konversion zum Islam in Deutschland und den USA, Frankfurt a. M. 1999, S. 383ff. vorübergehende Erscheinung sind. Die in den letzten Jahren in einigen Bundesländern initiierte Implementierung eines bekenntnisorientierten islamischen Religionsunterrichts als ordentliches Schulfach hat bestätigt, dass der Islam und die Muslime ein unwiderruflicher Bestandteil der religiösen Landschaft Deutschlands sind. Auch in Baden Württemberg hat es seit der Einrichtung des Modellversuchs „Islamischer Religionsunterricht“ im Schuljahr 2006/2007 beträchtliche Fortschritte gegeben.4 Zurzeit beteiligen sich daran 20 Grund- und sechs Hauptschulen des Landes. Zuständig für die wissenschaftliche und religionspädagogische Ausbildung der muslimischen Lehrkräfte und deren Qualifizierung sind vier Pädagogische Hochschulen. Die Pädagogische Hochschule Freiburg war die letzte, welche im Wintersemester 2010/2011 das Fach für „Lehramt an der Grundschule“ als „Erweiterungsstudiengang“ ins Leben gerufen hat.5 Ab dem Wintersemester 2012/2013 wird das Fach auch für das „Lehramt an Werkrealschulen“ als „Erweiterungsstudiengang“ angeboten. Neben Karlsruhe bildete die Pädagogische Hochschule Freiburg unbestritten den Nukleus für das neue Fach „Islamische Theologie/Religionspädagogik“. Das Fach ist im Institut der Theologien der PH Freiburg angesiedelt. Die Lehrveranstaltungen werden von muslimischen Lehrenden gehalten, die eine akademische islamisch-theologische Ausbildung mitbringen. Darüber hinaus besteht eine enge Zusammenarbeit mit der Katholischen sowie Evangelischen Religionspädagogik und eine Kooperation mit der Islamwissenschaft an der Albert-LudwigsUniversität Freiburg. Die Einrichtung des Studiengangs in Freiburg öffnet gewiss den Weg zur Etablierung der Islamischen Theologie und Religionspädagogik im Rahmen des akademischen Diskurses im europäischen Kontext. Das Ziel des Studiums ist, muslimischen Lehrerinnen und Lehrern eine wissenschaftlich fundierte und zugleich praxisorientierte Ausbildung zu garantieren. Inzwischen bestätigt sich die große Resonanz seitens der Eltern, die ihre Kinder gerne für den IRU anmelden wollen. Tatsächlich kamen die in den letzten Jahren durchgeführten wissenschaftlichen Untersuchungen zu dem Ergebnis, dass die Religion bei den Muslimen ein wichtiger Bestandteil ihres persönlichen Selbstverständnisses ist und eine zentrale Rolle in ihrem Alltag spielt.6 Viele der muslimischen Eltern haben Furcht vor dem Verlust der religiösen Identität ihrer Kinder und schicken sie deshalb in die so genannten 4 Vgl. Hansjörg SCHMIDT/Klaus BARWIG: „Islamischer Religionsunterricht im landespolitischen Horizont“, in: Lothard Kuld/Bruno Schmid (Hrsg.): Islamischer Religionsunterricht in Baden-Württemberg. Zur Differenzierung des Lernfelds Religion, Berlin 2009, S. 13-22, hier S.18. 5 Prof. Dr. Dr. Bernd FEININGER ist der geistige Vater des Freiburger Modells für die Islamische Religionspädagogik und Theologe an der Pädagogische Hochschule Freiburg. 6 Unter anderen siehe Axel STÖBE: Islam – Sozialisation – interkulturelle Erziehung. Die Bedeutung des Islam im Sozialisationsprozess von Kindern türkischer Herkunft, Hamburg 1998, S. 15ff. „Hinterhofmoscheen“. Abgeschirmt von fremden Einflüssen ist man in erster Linie unter sich. Die Kinder lernen zwar die arabische Schrift, einige kurze Koransuren und die fünf Säule des Islams sowie ihre Verrichtung im Alltag, aber die Informationen des „islamischen Katechismus“ gelten als unhinterfragbar und werden den Schülern in den didaktischen Formen des Memorierens ohne jegliche Textanalyse vermittelt. Der/die Lehrer/in gilt in diesem Lehrkontext als Verkünder/in der absoluten Wahrheit des Katechismus und der/die Schüler/in als der/diejenige, der/die zu diesen Wahrheiten begleitet werden muss. Aus diesen Gründen genießen die Koranschulen ein negatives Ansehen in der Öffentlichkeit. Den muslimischen Lehrer/innen fehlt in der Regel pädagogisches und didaktisches Fachwissen. Die Kinder werden mit Strenge unterrichtet. Man kann hierbei von der Verleugnung der Kinder sowohl in der klassischen Erziehung als auch im modernen Katechismus sprechen, denn nur der religiöse Stoff und nicht die im Prozess stehende Persönlichkeit und die Interessen der Kinder werden wahrgenommen.7 Genau wie der christliche Religionsunterricht benötigt der IRU ein reflektierendes Verstehen, und zwar vor allem aus zwei Gründen: zum einem zur Sicherung und Weitergabe der eigenen Lehrtradition auf die nächste Generation, zum anderen zur Neubestimmung dieser Wissenstradition in einem nicht islamischen Milieu angesichts veränderter historischer Rahmenbedingungen. Geschichtliches Denken prägt bis heute die islamische Theologie. Dabei besteht die Gefahr, dass sich eine historische Verstehensweise verfestigt, welche den Gegenstand der Theologie kategorial auf die Vergangenheit festlegt, und somit der Koran und die Tradition des Propheten keine neue Auslegung unter veränderten Situationen erfahren. In einem europäischen Kulturhorizont bedeutet der Beitrag der Islamischen Religionspädagogik eine reflexive Selbstauslegung der islamischen Tradition bzw. des Islams in seiner pluralistischen Gestalt. Ein an Europa orientierter IRU verhindert die Isolierung des pluralistischen Islams von der europäischen Horizontsituation und bezieht ihn in alltägliche Lebenszusammenhänge ein. Darüber hinaus leistet er einen aktiven Beitrag für eine europäische islamische Identitätsbildung. Hierbei kann die Islamische Religionspädagogik als die jüngste theologische Disziplin eine wichtige Rolle bei der Vermittlung der islamischen Theologie spielen. Demgegenüber kann der korrelative IRU das „Heute“ der Primärquellen angesichts der vielfältigen Lebensbedingungen der Schüler/innen einschärfen. Im IRU geht es nicht einfach um starre Traditionsweitergabe oder Anwendung der Glaubenslehre, sondern die muslimischen Schüler/innen sollen als Individuen mit unterschiedlichen Persönlichkeiten in den Blick genommen werden. Die Vermittlung 7 Vgl. Werner LOCH: Die Verleugnung des Kindes in der evangelischen Pädagogik, Essen 1964, S. 18ff. religiöser Sachverhalte soll möglichst ideologie- und vorurteilsfrei erfolgen. Da der IRU eben in erster Linie nicht nur reproduzierenden, sondern reflektierenden Charakter hat, eignet er sich zum Aufbau zeit- und ortsgemäßer muslimischer und europäischer Identität. Der Werthorizont des IRU kann mit Unterstützung der Islamischen Religionspädagogik in der islamischen Theologie reflektiert werden. Hierbei muss die religiöse Pluralität des Islams nicht nur als eine historisch äußere Erscheinung bekräftigt werden, sondern als eine innere Tatsächlichkeit. Zunächst muss eine Basis für eine post-moderne Erkenntnistheorie radikaler Relativierung jeglicher Rede von Wahrheitsbesitz geschaffen werden. Der Anspruch auf die Aufhebung anderer Religionen im Sinne einer Abrogation muss im Islam revidiert werden. Der IRU darf nicht jenseits des christlichen Religionsunterrichts stehen. Nicht nur die christliche Theologie, sondern auch die christliche Religionspädagogik haben bereits im 19. und 20. Jahrhundert mehrfach methodische Verstehensansätze und Fragestellungen vorformuliert, welche zum Teil von anderen Geisteswissenschaften adaptiert und in die eigenen disziplinären Forschungen integriert wurden. Davon kann der IRU nur profitieren und theoretische und praktische Denkstöße beziehen. Der IRU muss hermeneutisch und religionspädagogisch als Austausch im Sinne einer gegenseitigen Bereicherung charakterisiert werden. Das Verstehen des Anderen in seinem europäischen Kontext als hermeneutisches Problem und die Notwendigkeit einer neuen pluralitätsfähigen Hermeneutik8 sind im IRU unvermeidbar, denn der Islam ist hierzulande keine singuläre Religion. In einer pluralistischen und demokratischen Gesellschaft darf der Islamunterricht nicht auf Mittel zur „Resozialisierung“ bzw. zur „Integration“ reduziert werden, denn diese beiden Termini beinhalten eine dehnbare und durchaus nicht genau definierbare Konzeption. Der Islamunterricht kann als konstruktiver pädagogischer Weg zur Selbstentdeckung bzw. Selbstdefinition der religiösen Identität der Schüler/innen dienen. Die Auseinandersetzung mit der eigenen religiösen und historischen Identität bildet eine Voraussetzung für einen toleranten Umgang und ein Zusammenleben mit der nicht-muslimischen Mehrheit in einem interkulturellen Klima; es geht also um ein lebendiges, alltagsorientiertes und dialogisches Lernen in der Begegnung des Ich mit dem Anderen. Die muslimischen Religionslehrer/innen haben nicht die Aufgabe, einen synoptischen Katalog von Erlaubtem und Verbotenem laut der verschiedenen muslimischen Rechtsschulen und Glaubensgemeinschaften zu vermitteln. Vielmehr sollten junge Menschen zur kritischen Reflexion von Traditionen befähigt werden. Der gegenwartsbezogene IRU soll eine freie 8 K. E. NIPKOW: Pädagogik und Religionspädagogik zum neuen Jahrhundert. Christliche Pädagogik und Interreligiöses Lernen. Fremderziehung, Religionsunterricht und Ethikunterricht, Bd. 2, Gütersloh 2005, S. 258f. individuelle Selbstbestimmung als europäischer Muslim auf der Grundlage eines situativen Selbstverständnisses entfalten und befördern. Der Islam in seiner pluralistischen Form ist keine Ansammlung von fertigen Antworten, sondern eine ständige Suche nach dem Ich in der Berührung mit dem Anderen. Neben der community ergibt sich in der Schule die Möglichkeit, den „Islam“ in deutscher Sprache zu vermitteln und über ihn auf Deutsch zu diskutieren. Und somit kann eine religiöse Renaissance eines europäischen Islams in einem westlichen Kontext beginnen, der seine Singularauffassung ablehnt und seine plurale Vielfalt bestätigt.