Verhalten und Verhaltensauffälligkeit

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Riccardo Bonfranchi
Verhalten und Verhaltensauffälligkeit
Eine Literatur-Synopse zur Darstellung und Entwicklung interpersonalen Verhaltens aus heil- und sonderpädagogischer Sicht.
1
1. Inhaltsverzeichnis
1.
Inhaltsverzeichnis ............................................................................................................................ 2
2. Vorwort................................................................................................................................................ 4
3.
Einleitung......................................................................................................................................... 5
4.
Der Symbolische Interaktionismus (SI)............................................................................................ 6
4.1 Theoretische Grundlagen .............................................................................................................. 6
4.2 Störungen im sozialen Lernen ..................................................................................................... 13
5.Das kognitiv-entwicklungspsychologische Konzept ........................................................................... 16
6. Das Konzept der ‚Rollenübernahme‘................................................................................................. 18
6.1 Theoretische Grundlagen ............................................................................................................ 18
6.2 Rollenübernahme in der Unter- bzw. in der bildungsfernen Schicht.......................................... 21
6.3 Das Konzept der Rollenübernahme aus ontogenetischer Sicht.................................................. 22
7. Das Konzept der ‚sozialen Kognition‘ ................................................................................................ 29
8.
Das Konzept der ‚kognitiven Strukturen‘ ...................................................................................... 39
8.1 Das Konzept der 'kognitiven Strukturen' im handlungsleitenden
Zusammenhang................ 45
8.2 Gestörte Regulationsebenen im handlungstheoretischen Ansatz.............................................. 47
9.
Das Konzept der kognitiven Prozesse auf lerntheoretischer Grundlage....................................... 48
9.1
10.
Informationsverarbeitungsstörungen beim kognitiven Lernen ............................................ 52
Therapieformen, die sozial-kognitive Prozesse berücksichtigen .............................................. 55
10.1 ‚RET‘: Die rational-emotive Psychotherapie von ELLIS (1973) .................................................. 55
10. 2 Reineckers Konzept der Selbstkontrolle durch Versprechen und soziale Verträge................. 56
10.3 Meichenbaums Selbstinstruktionstraining................................................................................ 57
10.4 Das Selbstinstruktionstraining bei Kindern von Luria ............................................................... 58
10.5 Das Training der Bewältigungsfertigkeiten ............................................................................... 58
10.6 Die Attributionstheorie ............................................................................................................. 61
10.7 MEWES Konzeptbildungen bei Verhaltensauffälligkeiten......................................................... 62
10.8 Die Handlungsentwürfe von SCHELL zur Konfliktlösung ........................................................... 62
2
10.9 Zusammenfassung..................................................................................................................... 63
11.
3
Literatur..................................................................................................................................... 65
2. Vorwort
Dieses Buch beschäftigt sich mit der Entstehung und Darstellung interpersonalen Verhaltens. Dabei
geht es darum, neuere Theorien, die Aussagen zu diesem existentiellen Thema machen, darzustellen.
‚Neuere Aussagen‘ wird in unserem Zusammenhang als relativer Begriff gebraucht. Das heisst, dass
einige Literatur, vornehmlich aus dem anglo-amerikanischen Raum, bereits 10 – 25 Jahre alt sein
kann. Es ist ihr aber, insbesondere in der Schweiz, erst viel später eine gewisse Aufmerksamkeit zuteil
geworden. Dies kann nicht nur allein mit verspätet erschienener Übersetzungen zusammen hängen.
Offensichtlich war im deutschsprachigen Europa die Zeit für die Kenntnisnahme dieser sozialkognitivistisch-psychologischen Theorien noch nicht reif. Es geht uns nun nicht darum, diese Theorien
zu werten oder sogar gegeneinander auszuspielen. Unser Interesse ist vorerst mal ein rein rezipierendes, um in einem weiteren Schritt die Bedeutung dieser Theorien für die Verhaltensauffälligenpädagogik aufzuzeigen.
Deshalb soll auch die praktische Umsetzung dieser Theorien dargestellt werden. Hierzu ist es notwendig die aus diesen Theorien abgeleiteten Therapieformen zur Kenntnis zu nehmen. Auch diese
Therapieformen sind in der Schweiz, insbesondere in der Heil- und Sonderpädagogik noch nicht heimisch (geworden) und deshalb vermutlich noch kaum ins Bewusstsein auch einer professionellen
Öffentlichkeit gedrungen. Es könnte deshalb ein weiteres Anliegen dieser Arbeit sein, die Verbreitung
kognitiver Therapien weiter zu unterstützen.
Grundlegendes, erkenntnisleitendes Interesse für die Aufarbeitung der hier dargestellten Theorien
zur Entstehung und Entwicklung menschlichen Verhaltens ist unsere Neugier in Bezug auf verhaltensauffälliges Verhalten, mit dem wir uns nun seit vielen Jahren auseinandersetzen. Hier zeigt sich
denn auch der Unterschied zur etablierten Literatur, die sich mit dem Phänomen der Verhaltensauffälligkeit beschäftigt. Dieser Unterschied besteht darin, dass wir verhaltensauffälliges Verhalten in
Bezug setzen zu den für uns wichtigen Theoriekonstrukten von Piaget und Mead. Es werden also von
uns keine Symptomauflistungen (‚Bettnässen, Ladendiebstähle, Schule schwänzen etc.) geliefert. Dies
sind für uns lediglich Erscheinungsformen gestörten interpersonalen Verhaltens und um das geht es
ausschliesslich in diesem Buch. Wir denken, dass uns dieser Weg tiefer an die Ursachen zeitbezogener Phänomene wie Vandalismus, Aggressivität, Brutalokonsum, um nur einige zu nennen, führen
kann.
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3. Einleitung
Wenn wir nun aber ‚Verhaltensauffälligkeit‘ zum Gegenstand unserer Betrachtungen machen wollen,
so erscheint es uns unerlässlich, dass wir uns zuerst der Entwicklung und damit einem genaueren
Verständnis von Verhalten nähern, um dann bestimmen zu können, worum es sich bei auffälligem
Verhalten handelt. Wir bedienen uns dabei einerseits der Theorie des ‚Symbolischen Interaktionismus‘ (SI) und ihrer Verbindungen zu neueren Entwicklungen, sowie andererseits gehen wir auf kognitionspsychologische Aussagen ein. Nun ist es aber wichtig, darauf hinzuweisen, dass es sich hierbei
keineswegs um geschlossene Theorien oder Systeme handelt, die man sich einfach aneignen und zu
einem bestimmten Zweck in Anwendung bringen kann. Wir verwenden Aussagen sowohl des SI als
auch aus dem Bereich der Kognition als hypothetische Konstrukte, die als intervenierende Variablen
herangezogen werden. Sowohl die Aussagen zum SI wie aber auch zur Kognitionspsychologie präsentieren sich als höchst komplexe Gebilde von Einzelkonstrukten sowie postulierten Beziehungen zwischen diesen Konstrukten. Einschränkungen müssen in Bezug auf den unterschiedlichen Abstraktionsgrad dieser Konstrukte gemacht werden, die Vergleiche kaum oder nur unter grossem Vorbehalt
zulassen. Während einzelne Konstrukte sich beinahe als Zusammenfassungen von Beobachtungssätzen (z. B. Problemlösen) ausnehmen, dürfte es bei anderen Konstrukten (z. B. Flexibilität, Rollenambiguität) schwer fallen, Operationalisierungsniveau zu erreichen, wäre es denn intendiert. Sicher
wäre es wünschenswert, wenn die verwendeten Begriffe und Konstrukte exakter definiert, das Beziehungsnetz zwischen den Konstrukten schärfer gefasst, die Bereichsgültigkeit der einzelnen Konstrukte genauer abgesteckt wären. Eine grobmaschige Theorie dieser Art kann deshalb auch nicht
durch einzelne empirische Versuche erhärtet werden, sie bedarf einer schrittweisen Erläuterung und
Prüfung einer grossen Anzahl von Hypothesen, die aus den einzelnen Konstrukten abgeleitet werden.
Gleichwohl können wir, insbesondere wenn es um die Therapie verhaltensauffälligen Verhaltens
geht, auf eine Reihe von empirischen Daten und Ergebnissen hinweisen. Unseres Erachtens ergibt
nur die Verbindung von SI und Kognitionspsychologie sinnvolle Erklärungen menschlichen Verhaltens. Sie gehören zusammen. Während der SI Verhalten in seinem engen Bezug zur Gesellschaft aufzeigt, ist es das Ziel kognitionspsychologischer Aussagen, Verhalten eher unter individuellem Aspekt
zu untersuchen. Obwohl diese Trennung in der hier dargestellten Schärfe idealtypisch zu verstehen
ist, sind wir der Meinung, dass zur umfassenden Abklärung von ‚Verhalten‘ beide Bereiche berücksichtigt werden müssen. Wir werden uns zuerst dem SI nach G. H. Mead zuwenden und übersichtsartig seine wichtigsten Aussagen referieren, um dann kognitionspsychologische Arbeiten von J. Piaget
zu erörtern. Dabei ergibt sich zwangsweise auch die Berücksichtigung der Konzepte ‚soziale Kognition‘, ‚Rollenübernahme‘, ‚kognitive Strukturiertheit‘ und ‚kognitive Therapie‘.
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4. Der Symbolische Interaktionismus (SI)
4.1 Theoretische Grundlagen
Bevor wir uns näher mit dem interaktionistischen Rollenmodell beschäftigen, dem wir gegenüber
dem konventionellen Rollenmodell in Bezug auf Sonder-Pädagogik grössere Bedeutung zumessen,
wollen wir erst noch auf den zentralen Begriff der ‚Rolle‘ eingehen. Nach DAHRENDORF (1977/15)
bezeichnet der Begriff der Rolle eine zentrale Kategorie der Soziologie. Er wurde von LINTON (1936)
in die Soziologie eingeführt. Der Begriff der Rolle wird als begriffliche Einheit des sozialen Zusammenhangs gesehen. Also wird mit Rolle der Inbegriff der normierten Handlung innerhalb eines sozialen Zusammenhangs bezeichnet. Beschreibbar sind diese Handlungen von den normierenden Ansprüchen der anderen her. ‚Rolle‘ bezeichnet also erst einmal kein tatsächliches Verhalten, sondern
ein Komplex von Verhaltenserwartungen. Jede Rolle setzt sich demnach aus den Verhaltenserwartungen mehrerer Bezugspersonen oder Bezugsgruppen zusammen. Sie werden ‚Rollensender‘ (POPITZ 1967) genannt. Rollenhandeln vollzieht sich immer zwischen mindestens 2 Partnern. Voraussetzung hierfür ist eine Ebene der Intersubjektivität. Diese Intersubjektivität basiert auf einem Set gemeinsam zu dekodierender Symbole. Diese Symbole wiederum, die im Sozialisationsprozess erworben werden, sind für gut funktionierende Interaktionsprozesse von entscheidender Bedeutung. Möglich wird das, wenn die Interaktionspartner in der Lage sind, sich in die Rolle des anderen hinein zu
versetzen. KRAPPMANN (1975/4) spricht in diesem Zusammenhang von Empathie, MEAD (1978/3)
von „to take the role oft the other“. 1
Um den Begriff ‚Symbol‘ (Symbolischer) zu klären, beziehen wir uns auf ROSE (1962). Nach ROSE lebt
der Mensch nicht nur in einer natürlichen, sondern auch in einer symbolischen Umwelt. ROSE versteht demnach unter einem Symbol einen Reiz, der für den Menschen eine erlernte Bedeutung und
einen erlernten Wert besitzt. Symbole erhalten ihr Gültigkeit kraft Übereinstimmung. Dies ergibt erst
die bereits erwähnte gemeinsame Ebene der Intersubjektivität. Symbole beziehen sich sowohl auf
den verbalen wie auf den nonverbalen Bereich. Durch die Kommunikation von Symbolen kann das
Individuum eine Vielzahl von Bedeutungen und Werten und damit auch Verhaltensweisen anderer
verstehen und lernen.
Betrachten wir nun den Unterschied zwischen dem konventionellen und dem interaktionistischen
Rollenmodell. Die Rollentheorie, ursprünglich von SIMMEL und MEAD in den USA (1923) ausgearbeitet, kam nach dem Zweiten Weltkrieg in die BRD (DAHRENDORF: homo sociologicus, 1958). DAHRENDORF (1958) kritisiserte aber schon damals, dass der Mensch in der herkömmlichen Rollentheorie zum Objekt gemacht wird. Das Individuum erscheint von der Umwelt durch die an es gerichteten
Verhaltenserwartungen determiniert. Dies erschien DAHRENDORF gefährlich, aber auch inhuman. Da
schein ein anderer Versuch weiter zu kommen: der des Symbolischen Interaktionismus, vertreten
durch HABERMAS (1974), KRAPPMANN (1975/4), DREITZEL (1972), GOFFMAN (1973), ROSE (1962)
1
Weitere ausführliche Publikationen zu G. H. MEAD sind: MANIS & MELTZER 1967, GRAUMANN 1972, ROSE
1962. Speziell für die Pädagogik: BRUMLIK 1973, NATHANSON 1973, MANIS & MELTZER 1975, JOAS 1973.
6
usw. Insbesondere für den deutschen Sprachraum wurden die Erkenntnisse von HABERMAS und
KRAPPMANN bedeutsam. Ihnen geht es bei der Rollenübernahme nicht nur um stabilisierende und
konformistische Prozesse, sondern ebenso um die Autonomiechancen und –bestrebungen des Individuums. Das interaktionistische Rollenmodell ist durch die folgenden Punkte gekennzeichnet:
1. Die Rollendefinitionen erlauben subjektive Interpretationen.
2. Orientierung an früheren oder in der betreffenden Situation ebenfalls noch inne gehaltenen
Rollen ist möglich.
3. Versuche und Kompromisse mit dem Rollenpartner genügen, um zu kommunizieren. Totale
Übereinstimmung ist nicht notwendig.
4. Die Stabilität von Institutionen wird durch individuelle Befriedigung innerhalb eines normgesetzten Spielraums ermöglicht.
Es erscheint einsichtig, dass das konventionelle Rollenmodell (PARSONS 1949) zu Recht als zu repressiv verworfen wurde. Es stellt Idealfälle von Rollenbeziehungen dar. Abweichungen von dem Idealfall,
die in der Praxis aber die Regel sind, kommen in den Geruch des Abweichenden, Devianten. Auf der
anderen Seite, so meinen wir, dass auch das Rollenmodell von HABERMAS (1975/4) idealtypischer
Natur ist, wenn er von herrschaftsfreier Interaktion spricht. Es dürfte wohl kaum eine Interaktionssituation geben, die vollkommen herrschaftsfrei abläuft. Aus diesen Einwänden schliessen wir, dass die
Unterschiede zwischen dem konventionellen und interaktionellen Rollenmodell in praxi wohl nicht so
gross sein dürften, wie HABERMAS und KRAPPMANN annehmen. Es ist also von Fall zu Fall zu untersuchen, ob Rollenverhalten repressiv vorgeschrieben wird und ob dies zu verurteilen ist oder nicht.
So ist es im Strassenverkehr sicher nützlicher und lebenserhaltender, wenn Rollenverhalten, z. B. das
des Verkehrspolizisten, repressiv vorgeschrieben ist. Würde ein Verkehrspolizist sein Rollenverhalten
jedes Mal neu interpretieren, wären wohl Leib und Leben der Verkehrsteilnehmer nicht mehr sicher.
Andererseits muss derselbe Verkehrspolizist an der selben Kreuzung sich sofort flexibel verhalten,
wenn sich ein unvorhergesehenes Ereignis, wie z. B. ein Unfall, ereignet. Gleiches gilt z. B. auch für
einen Schiedsrichter bei einem Fussballspiel. Aber auch ein sogenannter Sozialisationsagent, wie z. B.
ein Lehrer oder ein Sozialpädagoge tun gut daran, wenn ihre Verhaltensweisen bzw. ihre Regeln
durchschau- und berechenbar sind und bleiben. Hier kann man also sehr wohl von einem rigiden
Rollenverhalten sprechen.
Nachdem wir nun die Unterscheidung und ihre Relativierung zwischen konventionellem und interaktionistischem Rollenmodell dargestellt haben, wollen wir näher auf den zentralen Begriff der interaktionistischen Rollentheorie, auf den der ‚Ich-Identität‘ eingehen. Nach MEADS Analyse (1978/3) hat
eine gelungene Interaktion zur Voraussetzung, dass die Partner ihre gegenseitigen Erwartungen zu
Beginn ihrer Kontaktaufnahme zu erkennen versuchen, diese Erkenntnis dann in die Planung ihres
Verhaltens aufnehmen, um so eine gemeinsame Ebene zu schaffen. Dazu kommt es, dass die Partner
sich jeweils an die Stelle ihres Gegenüber versetzen, um die Situation aus dessen Blickwinkel betrachten zu können. Diese Fähigkeit wird im Sozialisationsprozess spielerisch erworben über das ‚taking
the role of the other‘ und zwar in play und game. MEAD versteht unter play ein regelloses Spiel. Das
Kind identifiziert sich, z. B. im Mutter-Vater-, oder Lehrer-Spielen, in einem kognitiven und emotionalen Akt mit den ‚besonderen Anderen‘ seines Milieus und übernimmt deren Rollen. Hierbei ist es
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aber wichtig zu beachten, dass das Kind nicht die realen Verhaltensweisen eines anderen Subjektes
lernt, sondern die normativen Erwartungen, die dieses an es stellt. Unter ‚game‘ versteht MEAD das
Regelspiel. Hierbei muss das Kind in der Lage sein, jede durch die Regelvorschrift determinierte Rolle
im Organisations-Ganzen einnehmen zu können. Dieses Regelspiel ist, nach MEAD, entscheidend für
soziales Leben überhaupt. Der Übergang vom regellosen zum geregelten Spiel beschreibt im Bewusstsein des Kindes eine progressive Loslösung von den normativen Erwartungen ‚besonderer Anderer‘ und damit eine Hinwendung zu den normativen Erwartungen ‚verallgemeinerter Anderer‘, d.h.
aber zum gesellschaftlichen Normen- und Regelsystem. Nun bedeutet aber ‚spielerisches-sich-mitdem-Anderen-identifizieren, immer auch ‚sich-selbst-identifizieren‘. Dieser Prozess wird von MEAD
als Entwicklung des ‚self‘ bezeichnet. Mit fortschreitender Verallgemeinerung der Identifikation im
Sozialisationsverlauf gewinnt dieses Selbstbewusstsein zunehmende Unabhängigkeit von einer bestimmten Interaktionssituation. Dieses ‚self‘ zerfällt bei MEAD in ein ‚I‘ und ein ‚me‘. Der ‚me‘-Anteil
spiegelt die Verhaltensweisen und Einstellungen der anderen (MEAD: signifikante Andere) wider. Der
‚I‘-Anteil stellt die spontanen und kreativen Ich-Anteile dar.
HABERMAS und KRAPPMANN entwickeln nun ihren Begriff der Ich-Identität als Balance zwischen der
Aufrechterhaltung der persönlichen und sozialen Identität. „Wir müssen gleichzeitig unsere soziale
Identität wahren und ausdrücken, ohne der Gefahr der ‚Verdinglichung‘ zu erliegen; aber ebenso
müssen wir unsere persönliche Identität zugleich wahren und ausdrücken, ohne ‚stigmatisiert‘ zu
werden…“ (HABERMAS 1968). Die Stärke der Ich-Identität bemisst sich nun an der Aufrechterhaltung
der Balance zwischen persönlicher und sozialer Identität. Entscheidend bemerkbar macht sich diese
Fähigkeit in Belastungssituationen. Es sei hier vorweg genommen, dass z. B. Jugendliche, deren
Chancen auf dem Arbeits- bzw. Lehrstellenmarkt auf Grund ihrer bildungsfernen Schulkarriere, stark
eingeschränkt ist, i.d.R. ein grosses Problem damit haben, auf eine ausbalancierte Ich-Identität zurückgreifen zu können. Das diese Situation einer grossen persönlichen Belastung gleich kommt, erscheint einsichtig. Welchen Weg dieser Jugendliche dann wählt, um trotzdem zu einer für ihn selber
befriedigenden Ausbalancierung seiner Ich-Identität zu kommen, erscheint ebenfalls einsichtig. Zur
gelungenen Identitätsdarstellung (gelungen bemisst sich hier vor allem auch durch das Urteil der
näheren (Familie, Freunde, Arbeitgeber) und weiteren (Medien, Justizsystem) Umgebung) Identitätsdarstellung sind eine Reihe von Fähigkeiten notwendig, über die die Interaktionspartner verfügen
müssen: Rollendistanz, Empathie und Ambiguitätstoleranz.
Unter Rollendistanz versteht CLAESSENS (1970) die Fähigkeit, einmal übernommene Normen wieder
in Frage zu stellen, wenn die Situation es erfordert, d.h. wenn soziale und individuelle Bedürfnisse
neu strukturiert werden müssen. Mittels der Fähigkeit der Rollendistanz ist ein Individuum in der
Lage, Rollennormen auszuwählen, sie zu negieren und neu zu interpretieren. Ausserdem ist zur gelungenen Identitätsdarstellung Empathie (Einfühlungsvermögen) notwendig. Empathie bezeichnet,
nach TURNER (1962) die affektive und kognitive Befähigung zum ‚role taking‘, d.h. mit Empathie wird
die Befähigung, sich in die Perspektiven des Anderen hinein versetzen zu können, bezeichnet. Eine
gut ausgebildete Empathie ist die Voraussetzung für angemessene Situations- und Bedürfnisinterpretation. Als dritter Faktor soll hier noch die Fähigkeit Rollenambiguitäten ertragen zu können, genannt
werden. Damit ist die Befähigung gemeint, widersprüchliche Rollenerwartungen, sowohl Intra- wie
auch Interrollenkonflikte und einander widerstrebende Motivationsstrukturen interpretierend nebeneinander zu dulden. Erst Ambiguitätstoleranz ermöglicht eine Einigung mit dem Partner auf eine
gemeinsame Situationsinterpretation.
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Die geschilderten Fähigkeiten zur Aufrichtung und Wahrung der Ich-Identität erwirbt das Individuum
im Verlaufe der Sozialisation. DREITZEL (1972) hat in Anlehnung an MEAD (1978/3) und ERIKSON
(1966) folgenden Sozialisationsverlauf skizziert:
1. Die vorödipale Phase, die bestimmt ist von den Mechanismen der Projektion und der Introjektion. Diese Vorgänge spielen sich i.d.R. noch innerhalb der Familie ab.
2. Die Kindheitsidentifikation (Internalisierung) spielt sich während und nach der ödipalen Phase ab.
3. Die eigentliche Identitätsbildung vollzieht sich während der Adoleszenz.
Um die o.e. Aussagen zu vertiefen, erscheint es uns wichtig und sinnvoll zugleich zu sein, auf die Erörterungen von BERGER/LUCKMANN (1970) einzugehen. Diese gehen zunächst einmal auf den Bereich
der primären Sozialisation ein. Damit der Mensch Mitglied in der Gesellschaft werden kann, muss er
erst Wirklichkeit internalisieren. Unter den Prozess der Internalisierung fassen BERGER/LUCKMANN
das unmittelbare Aufnehmen und Auslegen eines objektiven Vorganges und Ereignisses, das Sinn
zum Ausdruck bringt. In dem Erfassen der Welt als einer sinnhaften und gesellschaftlichen Wirklichkeit, liegt zugleich die Funktion der Internalisierung. Die Welt, in der andere schon leben, wird übernommen. Internalisierung vollzieht sich nicht nur in bestimmten Augenblicken, sie vermittelt durch
subjektiv übergreifende umfassende Perspektiven die bereits erwähnte Ebene der Intersubjektivität.
Nur wer einen bestimmten Grad der Internalisierung von Welt erreicht hat, ist Mitglied dieser Gesellschaft. Der ontogenetische Prozess, der das zustande bringt, ist nach BERGER/LUCKMANN die primäre und sekundäre Sozialisation, die damit als die grundlegende und allseitige Einführung des Individuums in die objektive Welt einer Gesellschaft bezeichnet werden kann. Die primäre Sozialisation ist
die erste Phase, durch die der Mensch in seiner Kindheit zum Mitglied der Gesellschaft wird. Sekundäre Sozialisation ist jener Vorgang, der eine bereits sozialisierte Person in neue Ausschnitte der objektiven Welt einer Gesellschaft einweist. In der objektiven Gesellschaftsstruktur trifft der Mensch
auf jene ‚signifikanten Anderen‘, denen die Sozialisation anvertraut ist. Diese signifikanten Anderen
(auch: Sozialisationsagenten) filtern die Welt des Neugeborenen. Primäre Sozialisation umfasst nicht
nur blosses kognitives Lernen. Auch Gefühle werden gelernt. Das Kind identifiziert sich mit den signifikanten Anderen: ohne Identifikation keine Internalisierung von Werten und Normen der (gesetzgebenden!) Gesellschaft. Rollen und Einstellungen werden durch Identifikationen internalisiert. Durch
seine Identifikation mit signifikanten Anderen wird das Kind fähig, sich als sich selbst und mit sich
selbst zu identifizieren. Das Selbst ist ein reflektiert-reflektierendes Gebilde, das die Einstellungen,
die andere ihm gegenüber haben und gehabt haben, spiegelt. Der Mensch wird, was seine signifikanten Anderen in ihn hineingelegt haben. Das ist jedoch kein einseitiger mechanischer Prozess. Er enthält vielmehr eine Dialektik zwischen Identifizierung durch Andere und selbstbestimmenden Anteilen, nämlich der Selbst-Identifikation, d.h. zwischen objektiv zugewiesener und subjektiv angeeigneter Identität. Die primäre Sozialisation bewirkt im Bewusstsein des Kindes eine progressive Loslösung
der Rollen und Einstellungen von speziellen Anderen und damit die Hinwendung zu Rollen und Einstellungen überhaupt. Das Abstraktum der Rollen und Einstellungen konkreter signifikanter Anderer
ist für die Sozialpsychologie der generalisierte Andere. Das Zustandekommen solcher Abstraktionen
im Bewusstsein bedeutet, dass das Kind sich jetzt nicht nur mit konkreten Anderen identifiziert, sondern mit einer Allgemeinheit der Anderen, d.h. mit Gesellschaft überhaupt. Es kommt damit über9
haupt zu Identität. Das erwachende Bewusstsein für den generalisierten Anderen markiert eine entscheidende Phase der Sozialisation. Objektive Wirklichkeit ist internalisiert, dauerhafte subjektive
Identität ist gebildet worden. Sobald das Bewusstsein den generalisierten Anderen für sich heraus
kristallisiert hat, entsteht eine Symmetrie zwischen objektiver und subjektiver Wirklichkeit, die als ein
nie statischer Balanceakt verstanden werden muss. Für die primäre Sozialisation ist typisch, dass das
Kind Welt protorealistisch erlebt. Es gibt für das Kind nur die eine Welt, in der es lebt. Die primäre
Sozialisation endet damit, dass sich die Vorstellungen des generalisierten Anderen im Bewusstsein
der Person angesiedelt haben. Jetzt besitzt der Mensch eine Vorstellung von Selbst und von der Welt
bzw. seiner eigenen Stellung in derselben.
Sekundäre Sozialisation ist die Internalisierung institutioneller oder in Institutionalisierung gründender Subwelten. Sekundäre Sozialisation ist der Erwerb von rollenspezifischem Wissen. Der Übergang
von der primären zur sekundären Sozialisation verläuft nicht immer problemlos und wird häufig mit
einem Ritual verbunden. Sekundäre Sozialisation wird der primären Sozialisation quasi übergestülpt.
Sekundäre Sozialisation vollzieht sich ohne emotionale Identifikation. Sozialisation im späteren Leben
ist aber meistens dann gefühlsbetont, wenn sie versucht, die subjektive Wirklichkeit des Individuums
radikal umzumodeln. Die Agenten der sekundären Sozialisation sind aber leichter austauschbar. Damit ist auch subjektive Wirklichkeit austauschbar. Das kann sowohl Vor- wie auch Nachteil sein. Vorteil ist vor allem Dingen dann, wenn es sich, nach einer nicht ganz gelungenen primären Sozialisation
z. B. bei verhaltensauffälligen Jugendlichen darum geht, dass staatliche Sozialisationsagenten (Sozialpädagogen) damit beauftragt sind, Nach-Erziehungsprozesse in Gang zu setzen. Ihr Ziel ist es dann,
mittels Re-Sozialisierung neue Welten, d.h. neue Wirklichkeiten zu schaffen. Der Begriff der Resozialisierung ist deshalb ungenau oder geradezu falsch, weil es sich ja nicht um ein retrospektives, sondern
um ein prospektives Geschehen handelt. Der (verhaltensauffällige) Jugendliche hat die Stufe der sekundären Sozialisation ev. noch gar nicht in Angriff genommen bzw. sicherlich noch nicht abgeschlossen. Wenn wir uns das Beispiel vor Augen führen, dass Jugendliche wahllos andere Menschen zusammen schlagen bzw. auch dann nicht aufhören, auf diese einzuprügeln, wenn diese wehrlos am
Boden liegen, so kann unschwer davon ausgegangen werden, dass hier entscheidende Prozesse der
Rollendistanz, insbesondere der Empathie und auch der Rollenambiguität noch nicht internalisiert
worden sind. Darauf werden wir im späteren Verlauf der Arbeit noch zu sprechen kommen.
Nachdem wir nun quasi das Gerippe des SI sowie den Sozialisationsverlauf dargestellt haben, wollen
wir auf die gesellschaftlichen Verbindungen und Bezüge des SI eingehen. In seiner ausführlichen Analyse des SI weist BLUMER (1978/4) auf 3 Prämissen hin, die es beim Verständnis des SI zu berücksichtigen gilt:
1. Menschen handeln gegenüber ‚Dingen auf der Grundlage der Bedeutungen, die diese Dinge
für sie haben‘. Als Dinge werden in diesem Zusammenhang nicht nur materielle Dinge verstanden, sondern auch Institutionen, Leitideale, Handlungen anderer Menschen sowie Alltagssituationen. Diesen Bedeutungen wird im SI eine zentrale Bedeutung zugemessen.
2. Die Bedeutung dieser Dinge ergibt sich aus der sozialen Interaktion der Menschen untereinander. Der SI betrachtet den ursächlichen Zusammenhang der Bedeutungen Dingen gegenüber weder als Ausfluss der inneren Beschaffenheit eines Dinges noch als Ergebnis einer Vereinigung psychologischer Elemente im Individuum, wie sie etwa Empfindungen, Gefühle,
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Ideen usw. darstellen. Vielmehr ergibt sich die Art und Weise, in der andere Personen es
handhaben. Darauf haben BERGER/LUCKMANN auch hingewiesen. Bedeutungen werden
durch die in den zu definierenden Aktivitäten miteinander verbunden.
3. Diese Bedeutungen werden ja nach Interpretationen gehandhabt respektive abgeändert. Interpretationen werden in diesem Zusammenhang als formender Prozess verstanden, in dessen Verlauf Bedeutungen als Mittel für die Steuerung und den Aufbau von Handlungen gebraucht und abgeändert werden (vgl. BLUMER 1978/4).
Im Gegensatz zu den später noch ausführlich zu erörternden Kognitionstheorien macht der SI auch
Aussagen über den Zusammenhang von Handlung und menschlicher Gesellschaft. Wie bei der 2.
Prämisse dargestellt, wird auch von BLUMER Handlung als Ausgangspunkt und Ziel jeden Entwurfs
verstanden, der sich mit menschlicher Gesellschaft auseinander setzt. Ähnlich bezieht sich soziale
Struktur auch auf Beziehungen, „die aus der Art der Interaktion zwischen verschiedenen Personen
abgeleitet sind“ (BLUMER 1978/4, 86). Die Bedeutung der sozialen Interaktion liegt in der Tatsache
begründet, dass sie ein Prozess ist, der menschliches Verhalten formt. Die Aktivitäten der Umgebung
müssen mit den eigenen in Einklang gebracht werden. In Anlehnung an MEAD unterscheidet BLUMER
zwei Ebenen sozialer Interaktion, die er ‚nicht-symbolische-Interaktion‘ und ‚symbolische-Interaktion‘
nennt. Nicht-symbolische-Interaktion, z. B. ein Reflex, findet statt, wenn ein Individuum direkt auf
Aktivitäten eines anderen antwortet, ohne diese aber zu interpretieren. Symbolische-Interaktion ist
aber gerade durch diese Interpretation gekennzeichnet. Wie wir bereits ausgeführt haben, versteht
MEAD unter symbolischer Interaktion a) eine Präsentation von Gesten und b) eine Reaktion auf die
Bedeutung solcher Gesten. Individuen organisieren nun ihre Reaktionen auf der Grundlage dessen,
was die Gesten ihnen bedeuten (vgl. 1. Prämisse). Damit bringen sie Gesten als Zeichen sowohl für
das vor, was sie zu tun beabsichtigen, wie für das, was der Gesten-Empfänger tun soll. Die Geste hat
somit eine Funktion für den, der sie setzt, wie für den, der sie empfängt. Werden die Gesten von
beiden verstanden, herrscht eine gemeinsame Ebene der Intersubjektivität. Damit nun die Vermittlung von Gesten zum Funktionieren kommen kann, müssen beide in der Lage sein, die Rollen ihres
jeweiligen Gegenüber einnehmen zu können. Es sei darauf hingewiesen, dass gegenseitige Rollenübernahme eine grundsätzliche Bedingung von Kommunikation und symbolischer Interaktion ist.
Deshalb haben auch viele Forscher in der Nachfolge von G. H. MEAD sich dieses Problemkreises angenommen. Wir schliessen die Darstellung des SI mit folgenden Überlegungen.
Menschliche Interaktion erfolgt charakteristischerweise und überwiegend auf der symbolischen Ebene. „Menschliches Zusammenleben ist ein unermesslicher Prozess, in dessen Ablauf anderen in derartigen Definitionen gesagt wird, was sie tun sollen und in dem deren Definitionen wiederum interpretiert werden; durch diesen Prozess gelingt es Menschen, ihre Aktivitäten aufeinander abzustimmen und ihr eigenes individuelles Verhalten zu formen“ (BLUMER 1978/4, 89). Es gehört weiter zu
einem Fixpunkt in der Theorie des SI, dass die Umgebung, die für Menschen und Gruppen existieren,
aus Objekten zusammengesetzt sind, die wiederum das Produkt des SI sind. Objekte lassen sich nun
in drei Kategorien fassen:
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-
Physikalische (Auto, Tisch)
-
Soziale (Freund, Abgeordneter, Sozialpädagoge)
-
Abstrakte (Ideen, Normen, Urteile, Haltungen)
Die Beschaffenheit eines Objektes besteht aus der Bedeutung, die es für seine Person hat, für die es
ein Objekt darstellt. Die Bedeutung determiniert die Art und Weise, wie ein Individuum ein Objekt
sieht, wie es in Bezug auf das Objekt zu handeln gedenkt, sowie die Art und Weise, wie es über das
Objekt spricht. Die Entstehung von Bedeutungsgehalten von Objekten wird in der Sozialisation durch
Interaktion mit Personen erfahren (vgl. BERGER/LUCKMANN), bei denen sich bereits Einstellungen
diesen Objekten gegenüber gebildet haben. Dies erklärt auch, warum Angehörige der gleichen Gruppen gleichen Objekten nahezu ähnliche Bedeutungen zumessen. Will man nun das Verhalten von
Menschen verstehen oder sogar beeinflussen, ergibt sich die Folgerung, dass man notwendigerweise
erst die Welt der Objekte bestimmen muss. Hierbei ist zu beachten, darin liegt aber auch eine Chance, dass alle Objekte einen Bedeutungswandel durchmachen können. Vom Standpunkt des SI aus ist,
kurz gesagt, das menschliche Zusammenleben ein Prozess, in dem Objekte geschaffen, bestätigt,
umgeformt und verworfen werden. Das Leben und das Handeln von Menschen wandeln sich notwendigerweise in Übereinstimmung mit den Wandlungen, die in ihrer Objektwelt vor sich gehen (vgl.
BLUMER 1978/4, 91). Der Mensch kann, nach MEAD, anderen nur etwas anzeigen bzw. deren Anzeigen interpretieren, wenn er ein ‚Selbst‘ besitzt. Das wiederum bedeutet, dass ein Mensch auch Gegenstand seiner eigenen Handlung, also auch ein Objekt (seiner selbst) sein kann. Wie die anderen
Objekte, so entwickelt sich auch das Selbst-Objekt aus dem Prozess der sozialen Interaktion, „in dem
andere Personen jemandem die eigene Person definieren“ (BLUMER 1978/4, 92). MEAD hat diesen
Prozess der Rollenübernahme als einer der ersten beschrieben und festgestellt, dass eine Person sich
von ausserhalb ihrer selbst betrachten können muss, um für sich selbst zum Objekt werden zu können. Möglich ist dies nur, indem man sich in andere hinein versetzen lernt und sich von dieser Position aus selbst betrachtet. Daraus folgt, dass Menschen sich so sehen lernen, wie andere sie sehen
bzw. definieren. Ein weiterer Beweis für das ‚Selbst‘ ist der Umstand, dass Menschen sich selbst bewerten, d.h. mit sich selbst auch interagieren können. Der SI sieht deshalb den Menschen als soziales
Wesen, der nicht nur auf das Spiel von Faktoren im Sinne von S-R-Ketten antwortet, die auf ihn einwirken oder durch ihn wirken. Der Mensch zeigt sich die Dinge so an, weil er Wahrgenommenes zum
Objekt macht, ihm eine Bedeutung zumisst und von dieser Bedeutung aus sein Handeln steuert.
Deswegen ist sein Verhalten auch keine blosse Reaktion, sondern geht aus seiner Interpretation hervor, die in dem Prozess des Selbst-Anzeigens vorgenommen wurde. Menschen müssen in Situationen
zurecht kommen, in denen sie gezwungen sind, zu handeln, indem sie sich der Bedeutung der Handlung anderer versichern und ihren eigenen Handlungspläne im Hinblick auf Interpretationen entwerfen. Die Ansicht, Menschen reagierten nur auf Faktoren, die auf sie einwirken, wird damit von uns
zurückgewiesen. Das menschliche Handeln besteht darin, dass Dinge, von Individuen wahrgneommen und je nach dem in Betracht gezogen werden oder nicht, je nach dem welche Bedeutung sie
ihnen zumessen. Daraus entwickelt sich eine Handlungslinie, die, mit anderen verbunden, gemeinsames Handeln entstehen lässt.
Versuchen wir im folgenden nun, die Aussagen rund um den Ansatz von MEAD vor dem Hintergrund
des Nicht-Gelingens zu betrachten. Es geht dabei um das Phänomen der Verhaltensauffälligkeit.
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4.2 Störungen im sozialen Lernen
Im folgenden wird der Versuch unternommen, die in diesem Kapitel gemachten Aussagen bezüglich
des Problemkreises ‚Verhaltensauffälligkeit‘ zu vertiefen. Diesem Unterfangen kommt heute (2011)
besondere Bedeutung zu, weil die Gesellschaft (Medien) davon ausgeht, dass verhaltensauffälliges
Verhalten, insbesondere bei Kindern und Jugendlichen, heute häufiger vorkommt als früher, bzw. die
Verhaltensauffälligkeiten eine grössere, gravierendere Dimension angenommen haben. Es ist aber
darauf hinzuweisen, dass die im folgenden gemachten Ausführungen sozialpsychologischer Natur
sind. D.h., dass wir keinen Rund-um-Blick gewährleisten können, indem hier wichtige soziologische
Erkenntnisse (z. B. Migrations-Problematik, Intellektualisierung der Schule, Lehrstellen-Problematik
usw.) nicht thematisiert werden.
Nach DREITZEL (1972) stellt Verhaltensauffälligkeit die „relative Unfähigkeit zu einem normativ orientierten Verhalten (292) dar. KLOSTERKOETTER (1976) verweist auf zwei Vorteile, die ein so im interaktionistischen Zusammenhang gemachte Definition von Verhaltensauffälligkeit besitzt.
1. Die rollentheoretische Bestimmung von Verhalten unterschlägt gerade die für das Phänomen
des abweichenden Verhaltens so wichtige Frage nach der Normenproblematik nicht, sondern
macht sie gerade zum Gegenstand der Diskussion. Denn was ein gestörtes Verhalten ist, bemisst sich ja am Massstab ungestörten Verhaltens. Dieser Massstab wiederum bemisst sich
an altersentsprechender Funktionstüchtigkeit, die anhand statistischer Ergebnisse gewonnen
wird. Die alleinige Berücksichtigung dieses Wertes ist aber höchst problematisch, dessen sind
wir uns bewusst. Dieser Wert ist deshalb problematisch, da häufig diesem konstatierten IstZustand der Wert eines Soll-Zustandes zugebilligt wird bzw. vom einen auf das andere geschlossen wird. Verhalten muss aber immer auch von der Eigengesetzlichkeit der jeweiligen
Situation, in der es geäussert wird, betrachtet werden. Gerade darauf geht der SI in seiner
Darstellung einer durch individuelle und gesellschaftliche Bedürfnisse befriedigenden Verhaltens-Balance aus, die die analytische Trennung zwischen sozialem und persönlichem System
aufhebt.
2. Auch das Sozialisationskonzept des SI muss in diesem Zusammenhang (noch einmal) erwähnt
werden. Legt es doch nach, dass Verhalten durch die erfahrene soziale Prägung der Persönlichkeit mitbestimmt wird (vgl. KLOSTERKOETTER 1976, 20). Ohne ausbalancierte IchIdentität ist keine interaktionsadäquate Befolgung von Normen möglich. Gestörtes Rollenverhalten ist demnach die Folge. Störungen im Rollenverhalten drücken sich, weiter der
Terminologie des SI folgend, in einer gestörten Fähigkeit zur
-
Empathie
-
Rollendistanz und
-
Rollenambiguität
aus. BERGER/LUCKMANN (1970) formulieren in diesem Zusammenhang eine Reihe von möglichen
Fehlern, die bei der Identitätsbildung eine Rollen spielen können:
13
Das Individuum bildet keine ‚generalisierten Anderen‘. Es bleibt dem Stadium der ‚signifikanten Anderen‘ verhaftet.
-
Der Balanceakt von subjektiver und objektiver Wirklichkeit misslingt zu Gunsten eines Pols.
-
Das Individuum ist nicht in der Lage, subjektive Wirklichkeit zu transformieren, um damit
neue Wirklichkeit zu schaffen. Es verfällt der sozialen Isolation (vgl. BERGER/LUCKMANN
1980, 176ff).
Gehen wir nun auf den Entstehungszusammenhang gestörten Rollenverhaltens ein. Wächst ein Kind
in einer Umgebung auf, in welcher die Stabilität der Rollenbeziehungen an unumschränkte, starre
Einhaltung der Regeln gebunden ist, die auch nicht diskutiert werden dürfen/können, so ist es ihm
nicht möglich, Rollendistanz einzuüben. Das Kind kann sich dann, was es zur Balance seiner IchIdentität nötig hätte, weder von der sozialen noch von der persönlichen Rolle distanzieren. Hoher
Repressionsgrad ist die Ursache hoher Normenrigidität. Das Kind orientiert sein Verhalten an den zu
erwartenden Sanktionen. Je nach dem gelingt ihm nicht einmal die Internalisierung von Normen. Das
Kind ist nicht in der Lage, normative Verhaltenserwartungen zu hinterfragen, damit eine Abstimmung
des eigenen Verhaltens mit den Verhaltenserwartungen der Interaktionspartner zustande kommt. Da
sich die Fähigkeit der Empathie wiederum nur auf der Basis einer gelungenen Rollendistanz vollziehen kann, misslingt unter den bereits beschriebenen Sozialisationsbedingungen auch die Entwicklung
der Empathie. Da die Eltern selbst kaum empathisches Verhalten zeigen, können sie auch kaum als
Modell wirksam werden Da sich Rollenerwartungen nur in den seltensten Fällen völlig decken, ist es
unumgänglich, dass ein Individuum im Verlaufe seiner Sozialisation auch lernt, widersprüchliche Verhaltenserwartungen zu akzeptieren. Ambiguitätstoleranz kann aber nur erworben werden, wenn das
Kind in einem Lernmilieu aufwächst, das ihm hierzu auch Gelegenheit bietet. OEVERMANN (1971)
verweist in diesem Zusammenhang auf die Geschlechtsrollenidentifikation, die sich nur über gelungene Ambiguitätstoleranz entwickeln kann. Nach OEVERMANN (1971) trifft nun das beschriebene
Kind am ehesten auf das der Unterschicht bzw. ausländischen Unterschicht (bildungsferne Familien)
zu. Das Unterschichtkind lebt in einem Lernmilieu, das durch ein geringes Rollenrepertoire mit entsprechender Norm-Unkenntnis und Kommunikations-Unsicherheit gekennzeichnet ist. Zusammenfassend lässt sich somit für das Unterschichtenkind die folgende – verhängnisvolle – Kette formulieren:
14
-
Normenrigides, repressives Lernmilieu mit geringem Rollenrepertoire bedingt:
-
Normenunkenntnis, reduziertes Rollenrepertoire bedingt:
-
Mangelnden Erwerb von Rollendistanz, Empathie und Ambiguitätstoleranz bedingt:
-
Mangelnde Entwicklung einer ausbalancierten Ich-Identität bedingt:
-
Mangelnde Befähigung zum normativ orientierten Verhalten bedingt:
-
Interaktionsabhängige Einzelsymptomatik, d.h. individuelle Verhaltensauffälligkeit bedingt:
-
Interaktionsabhängige Fixierung der Symptomatik als Abweichung bedingt:
-
Eine Verfestigung des (eingeschränkten) Verhaltensrepertoires (vgl. KLOSTERKOETTER 1976,
26).
Ist verhaltensauffälliges Verhalten durch geringe Rollendistanz gekennzeichnet, spricht DREITZEL
(1972) von „Distanzierungsstörungen“ (1972, 330). Darunter versteht er:
-
Die Unfähigkeit zur Elastizität des Rollenverhaltens (Konventionalismus)
-
Die Unfähigkeit zur Zielorientierung des Rollenverhaltens (Ritualismus)
-
Die Unfähigkeit zur Wahrnehmung und Artikulation von Bedürfnissen (Konformismus).
Resultieren die Störungen im Verhalten eher aus mangelnder Internalisierung und Unkenntnis von
Normen, spricht DREITZEL von „Orientierungsstörungen“. Darunter versteht er:
-
Das Bestreben, Verhaltensverunsicherung zu vertuschen (Originalitätszwang)
-
Das Bestreben, sich aus der Situation zurückzuziehen (Apathie, Gleichgültigkeit, aber auch
ziellose Aggression).
Wir denken, dass wir insbesondere mit o.e. Beschreibungen bzw. Ableitungen von Erkenntnissen aus
des SI den Bezug zu verhaltensauffälligem Verhalten hinreichend dargestellt haben. Wie bereits einleitend erwähnt, geht es uns nicht darum, die Symptome verhaltensauffälligen Verhaltens aufzulisten. Dies wurde auch an anderer Stelle bereits hinreichend getan. Uns geht es vielmehr darum, verhaltensauffälliges Verhalten mit den zentralen Begriffen des SI (Rollendistanz, Empathie und Ambiguitätstoleranz) in einen engen Zusammenhang zu bringen. Damit soll zum einen der Aspekt auf die
entwicklungspsychologische Seite des Phänomens Verhaltensauffälligkeit gerichtet werden und zum
anderen soll auch dargestellt werden, dass über diese drei Begrifflichkeiten, die in sich selber hoch
komplex sind, eine eventuelle Nach-Reifung, Resozialisierung o. ä. möglich ist.
15
5.Das kognitiv-entwicklungspsychologische Konzept
Ähnlich wie bei der Darstellung des SI wollen wir nun die zweite Säule in Form der Darstellung der
PIAGET’schen Aussagen errichten. Auch hier beschränken wir uns wiederum auf Erörterungen, die in
engem Zusammenhang mit der Erklärung und Entwicklung von Verhalten zu tun haben, insbesondere
mit kognitiv-entwicklungspsychologischen Theorien zur Rollenübernahme. PIAGET kommt zweifellos
das Vorrecht zu, eine seit Jahren in der Psychologie dominierende Konstruktion bei der Untersuchung
der Kognitionen in der Entwicklung des Kindes vorgelegt zu haben.2
PIAGET versucht die besonderen Formen der Wirklichkeitserfassung bei Kindern in Bezug auf frühere
und spätere Kognitionen zu erfassen. Dabei geht er von der Annahme aus, dass Erkenntnis konstruiert wird. Weder ist sie ein Kopie der Realität, noch ist sie eine Interpretation derselben. Zur Erzeugung von Erkenntnis reichen perzeptive und sensorische Daten nicht aus, es muss Handlung in
Form mentaler Aktivität, welche mit prälogischen und logischen verbundene Funktionen umgreift,
dazukommen. Hieraus ergibt sich ein hierarchischer Aufbau der kognitiven Systeme. Nach PIAGET
(1972) konstituiert sich die Intelligenz in der handelnden Auseinandersetzung des Kindes mit den
Objekten seiner Erfahrungswelt. Denken ist für PIAGET das aktive Handeln, welches zu einem späteren Entwicklungszeitpunkt, wenn die Objektumwelt und die Erfahrungen durch Vorstellungen oder
Symbole kognitiv repräsentiert sind, in zunehmend verinnerlichten Operationen möglich ist. Der
Säugling erfährt seine Umwelt zunächst ausschliesslich im konkreten Vollzug. Er verfügt über angeborene Handlungsreflexe, die sich während der ersten Lebensmonate im Wechsel von assimilatorischen
und akkomodativen Prozessen, darauf wird gleich noch näher einzugehen sein, zu differenzierten
Handlungsschemata erweitern. Diese sensumotorischen Schemata bilden die Grundlage der kognitiven Repräsentationen, die aus dem handelnden Vollzug abstrahiert werden. Für das Kleinkind (ca. im
8, 9 Lebensmonat) bedeutet Objektpermanenz die Erkenntnis, dass Objekte auch dann weiter existieren, wenn sie nicht mehr sichtbar sind. Diese neue Erkenntnis bringt es mit sich, dass das Selbst als
ein eigenständiges Objekt unter anderen registriert wird. Aber erst ab dem 18. Lebensmonat setzt
der Beginn des konzeptuellen Denkens ein, indem Objekte und Erfahrungen kognitiv repräsentiert
sind. Diese Repräsentationssysteme entwickeln sich in der Phase des prä-operatorischen Denkens (2
– 5, 6 Lebensjahr) weiter. Denkprozesse werden allmählich unabhängiger vom konkreten Vollzug.
Handlungen können in Gedanken ausgeführt, ihre Konsequenzen vorweg genommen werden. Es ist
aber offensichtlich von der Struktur der Lernumwelt des Kleinkindes abhängig, ob z. B. visuelle, auditive oder motorische Schemata früher und differenzierter ausgebildet werden. Dabei ist zu beachten,
dass bevorzugt Schemata differenziert werden, die von der Umwelt besonders angeregt werden.
Dabei zeigt sich eine Differenz von PIAGET zu neueren Forschungen, die dem Säugling Intelligenz
nicht mehr nur als manifestes Handeln zusprechen, sondern ihm auch Wahrnehmungsfunktionen
zumessen, i. S. sensorischer Diskrimination. Kognitive Strukturen und damit auch die internale Repräsentation von Erfahrungen bilden sich offensichtlich, zumindest teilweise, unabhängig von den sen2
Weitere ausführliche Publikationen zu J. PIAGET sind: FLAVELL 1963, FURTH 1969, ELKIND 1969, GINSBERG &
OPPER 1975.
16
sumotorischen Koordinationen durch Wahrnehmung und Beobachtung. Dies erhöht natürlich die
Bedeutung von Schauen und hören in Bezug zu motorischen Aktivitäten. Nach PIAGET entstehen in
einem zunehmenden Prozess der Differenzierung diskrete Handlungssystem, die intern strukturiert,
integriert und in einem hierarchischen System miteinander verbunden sind. Der menschliche Organismus ist auf die Bewältigung und kognitive Durchdringung seiner Umwelt ausgerichtet. Die Motivation zu diesem Handeln ist intrinsisch wie sein endogen zielgerichtetes Handeln. Der Antrieb zu diesem Entwicklungsprozess liegt in dem instabilen Gleichgewicht (Äquilibration) zwischen Assimilation
und Akkomodation. Assimilation meint die Tendenz eines Organismus Umweltdaten aufzunehmen,
sie entsprechend den bereits realisierten kognitiven Strukturen zu organisieren und damit den eigenen Erfahrungen zugänglich zu machen. Akkomodation ist der komplementäre Prozess kognitiver
Anpassung an die Umwelt. Innerhalb eines Problemlösungsprozesses sähe das so aus: Zunächst werden bisherige Lösungsstrategien an ein Problem herangetragen (Assimiliation) und erst im Verlauf
der Lösungsversuche konstruktiv an das spezifische Problem angepasst (Akkomodation). Der Organismus ist ständig damit beschäftigt, ein neues Gleichgewicht (Äquilibration) von Assimilation und
Akkomodation herzustellen. Dieser Prozess hat kein Ende, eine Veränderung zieht jeweils eine andere nach sich, denn durch die stetige Veränderung der Umwelterkenntnis entsteht sofort wieder ein
neues Ungleichgewicht von Assimilation und Akkomodation. Nach PIAGET entfaltet sich der Äquilibrationsprozess im aktiven Handeln, welches sich zunächst auf die konkreten Objekte der Umwelt
richtet. Im kVerlauf des Entwicklungsprozesses wird durch Internalisierung dieses Handeln eigentliches Denken, als Ungleichgewicht zwischen assimilatiorischen und akkomodatorischen Prozessen
bezeichnet.
Der Egozentrismus nun kennzeichnet nach PIAGET eine Haltung des Kindes, die auf der unmittelbaren Besitzergreifung der Welt beruht. Das Kind kann noch nicht zwischen Subjekten und Objekten
trennen. Deshalb zählt die eigene Perspektive als die einzig mögliche. Auch der Egozentrismus ist
eine sich prozesshaft vollziehende Entwicklung. Denn die Überwindung des Egozentrismus im Handeln führt zu einer neuen Form des Egozentrismus. Im Verlaufe der Entwicklung kommt es demnach
von einer Zentrierung der kognitiven Akte beim jüngeren Kind zu einer Dezentrierung, was bedeutet,
dass das ältere Kind jeweils mehrere Aspekte einer Wahrnehmung gleichzeitig wahrnehmen kann.
Daraus resultiert eine grössere Feldabhängigkeit des jüngeren Kindes, welches sich eher durch dominante Merkmale einer Wahrnehmungssituation beeinflussen lässt als andere Kinder. Erst im Verlaufe
der Kindheit kommt es mehr und mehr zur Dezentrierung und damit zur Konzeptualisierung. Der der
zunehmenden Tendenz zur Differenzierung, die mit gleichzeitig zunehmender Integration der kognitiven Prozesse einhergeht, kann als Gesetz betrachtet werden.
Diese Ausführen stehen zugegebenermassen nicht in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der
hier vorgelegten Thematik. Sie stellen aber gewissermassen das Fundament der weiteren Erörterungen dar. Wenden wir uns nun den Folgen der Erkenntnisse von MEAD und PIAGET zu, nämlich dem
Konzept der ‚Rollenübernahme‘.
17
6. Das Konzept der ‚Rollenübernahme‘
6.1 Theoretische Grundlagen
WALLER (1978) versteht nach STRYKER (1970) und TURNER (1955/56) unter Rollenübernahme den
Prozess der vorstellungsmässigen und/oder gedanklichen Vorwegnahme (von WALLER als Antizipation bezeichnet) zukünftigen Verhaltens anderer. WALLER, der sich darum bemüht operationale Definitionen zu finden, sagt aus: „Rollenübernahme lässt sich definieren als Prozess der Bildung subjektiver Hypothesen und/oder Erwartungen, die sich auf das zukünftige Verhalten einer anderen Person
beziehen“ (WALLER 1978, 54). Nach KELLER vermag das Konzept der ‚Rollenübernahme‘ soziale und
kognitive Lernvorgänge miteinander zu verknüpfen. Auch KOHLBERG (1974) geht über PIAGET hinaus, wenn er die sozio-kulturelle Entwicklung als eine Umstrukturierung der Beziehung des Selbst
zum Anderen und damit der Fähigkeiten zur Rollenübernahme fasst. In diesem Zusammenhang erscheint es angebracht, noch einmal auf MEAD (1978/3) zurückzugreifen, um nun die Ähnlichkeit seines Rollenübernahmemodells mit dem von PIAGET aufzeigen zu können.
Nach MEAD imitiert das Kind Verhalten in einem ersten vorbereitenden Stadium mit dem Ziel, sich
auf das Verhalten der Bezugspersonen einzustimmen. Aber das Kind imitiert nicht nur, sondern es ist
auch nach 5, 6 Lebensmonaten in der Lage, Verhaltensreaktionen auf Seiten der Bezugsperson zu
antizipieren und als Reaktion hervorzurufen. Im folgenden Stadium der spielerischen Handlung übernimmt das Kind soziale Rollen. Es bedient sich dabei des Rollenspiels, indem es die verschiedenartigsten Rollen übernimmt, lernt es, auf sich selbst zu reagieren. Erst im dritten Stadium des eigentlichen
Spiels lernt das Kind, die Haltungen anderer im Spiel zu übernehmen sowie sich daraus ergebende
unterschiedliche Perspektiven aufeinander abzustimmen. Mit der Zeit übernimmt es nicht nur die
rolle einzelner Mitglieder der Gruppe, sondern auch die Haltungen, die in einer bestimmten Gruppe
vorherrschen. Es übernimmt, wie wir bereits ausgeführt haben, die rollen des generalisierten Anderen. PIAGET (1972) versucht nun seinerseits, mittels der Entwicklung des Regelverständnisses ebenfalls eine Stadienabfolge zu zeichnen. Im ersten Stadium hat das Kind noch kein Regelverständnis und
handelt nach individuellen Regeln. Im zweiten Stadium spielen die Kinder allein oder nebeneinander
her (egozentrisch). Das Kind unterwirft sich aber bereits fremdbestimmten Regeln. Erst im nächsten,
dritten Stadium, wenn Kinder anfangen miteinander zu spielen, gewinnen sie die Einsicht, dass Regeln auf Gegenseitigkeit beruhen und dass Spiele nur gelingen, wenn sich alle an die Regeln halten.
Andererseits erfahren Kinder auch auf diesem Niveau, dass Regeln veränderbar sind. Im vierten Stadium kommt es dann wieder zur genauen Einhaltung von Regeln. Die früheste Form der Erfassung
des Mitmenschen stellt sich bei kleinen Kindern durch Gefühlszustände dar. Schon relativ früh vermag das Kind grobe Gefühlskategorien wie Freude, Trauer oder Schmerz zu unterscheiden. Daraus
schliesst KELLER (1969) auf die projektive Rollenübernahme, „in der das Kind Schlussfolgerungen
über das Verhalten eines anderen zieht, die seinen eigenen Bedeutungen entsprechen“ (KELLER
1976, 70). Die eigene Perspektive des Kindes wird zur generalisierten Grundlage der vermeintlichen
Erfahrung des anderen. Diese Phase wird durch die positionale Rollenübernahme durchbrochen, in
der durch persönliche Stereotypisierung die ehemals groben Kategorien verfeinert werden, weil sie
stärker unter situationsspezifischem Hintergrund gesehen werden können. Setzt sich dieser Prozess
fest, kommt es zur individuierten Rollenübername, in der subjektive Erwartungen differenziert gesehen und berücksichtigt werden können. SELMAN (1973) legte ebenfalls ein Stufenschema vor, dass
die Aussagen von PIAGET mit dem Konzept der Rollenübernahme in Verbindung bringt. Die Alters18
spanne von 4 bis 6 Jahren ist demnach durch die egozentrische Rollenübernahme gekennzeichnet.
Das Kind unterscheidet kaum Differenzen in den Standpunkten vom Selbst und von anderen. Um die
Gefühle seiner Mitmenschen zu verstehen, überträgt es assoziativ seine eigenen Erfahrungen. Die
Handlungen, die es in seiner Umwelt erlebt, werden nicht interpretiert. Daan schliesst sich im Alter
von 6 – 8 Jahren die Phase der sozial-informationalen Rollenübernahme an, in der das Kind begreifen
lernt, dass seine Umwelt Situationen unterschiedliche wahrnimmt und interpretiert. Jetzt wird ihm
der Unterschied von Selbst und Anderen deutlich. Das dritte Stadium der selbstreflexiblen Rollenübernahme im Alter von 8 – 10 Jahren befähigt das Kind Perspektivenwechsel vorzunehmen. Das
Kind vermag Motive und Verhalten zu antizipieren und weiss, dass seine Motive und Verhaltensweisen von anderen antizipiert werden. Erst jetzt wird Interaktion im eigentlichen, d.h. reziproken Sinn
möglich. Im vierten Stadium der mutuellen Rollenübernahme ist das Kind bzw. der Jugendliche in der
Lage, die Situationen, in de sich die jeweiligen Interaktionspartner befinden, vom Standpunkt eines
Dritten her zu betrachten. Es kann somit unterschiedliche soziale Situationen aus der Sicht eines Beobachters her gegeneinander abwägen.
Fassen wir zusammen, so ist es das Ziel der Rollenübernahme, welche das Individuum befähigt, sich
die Übernahme der Perspektiven seiner Umwelt zu ermöglichen. Das wiederum ermöglicht erst soziales Verstehen. Der Rollenübernahmeprozess stellt somit eine kognitive Leistung dar, weil das Individuum Motive, Attribuierungen und Erwartungen in Beziehung zueinander setzen muss. Da die Entwicklung der Rollenübernahme im sozialen Interaktionsprozess verankert ist, stellt sich die Frage
nach den sozialen Lernsituationen, in denen sich die sozio-kognitive Entwicklung vollzieht. Nach
MEAD stellen dies Imitation und Spiel dar. Darauf wollen bzw. müssen wir im folgenden eingehen.
Danach werden wir untersuchen, wie sich die Entwicklung der Rollenübernahme in der Sozialisation
vollzieht.
Die Tatsache, dass bereits ein Säugling zu weinen beginnt, wenn er einen anderen Säugling weinen
hört, stellt für PIAGET bereits einen Akt der Akkomodation dar, indem sich der Organismus, weil er
Dinge nachvollziehen will, an die Struktur der Umwelt anpasst. Wie wir bereits ausgeführt haben, ist
aber der akkomodatorische Prozess nicht ohne den assimilatorischen denkbar. Natürlich vermag ein
Organismus in dieser Altersstufe Umwelt lediglich egozentrisch zu assimilieren. Das verhindert vorerst einmal ein Gleichgewicht, so dass die kognitiven Strukturen bemüht sein müssen, weiter explorativ neue Erfahrungen zu machen. Imitation, PIAGET setzt sie mit Akkomodation gleich, ist nach
INHELDER und PIAGET (1973) die Grundbedingung für die Entwicklung symbolischer Funktionen,
denn die Nachahmung auf sensumotorischer Ebene ist Bedingung für die Entwicklung und Vorstellung von Symbolen. Erst mit der Symbolbildung kann das Individuum auf konkrete Nachahmung verzichten. Damit sich nun das symbolische System stabilisieren kann, ist wiederum Assimilation notwendig, die erst symbolische Repräsentationen der Umwelt dem Individuum verfügbar macht. Der
assimilatorische Prozess geschieht nach PIAGET im Spiel, und dient u.a. dazu, den Egozentrismus zu
überwinden. Nach KELLER (1976) stellt Imitation bereits eine frühe Form der Rollenübernahme dar.
„Durch Imitation erweitert das Kind sein kognitives und sein Verhaltenssystem, denn indem es einen
Verhaltensaspekt imitiert, akkomodiert es die eigenen Strukturen an das Vorbild und gewinnt damit
neue Formen des Verhalten“ (KELLER 1976, 78). Nach MEAD (1978/3) imitieren Kinder aber nicht nur
offene Verhaltensweisen, sondern auch Einstellungen und Haltungen. Im Spiel nun erweitert das
Kind das durch Imitation erworbene Verhaltensrepertoire. Indem das Kind im Spiel eine Rolle einnimmt, spielt es gleichzeitig auch die komplementäre Rolle. Es lernt somit, die Perspektiven des An19
deren zu sehen. Das Kind spielt eine Rolle und assimiliert diese zugleich, indem es sie gemäss den
bisher ausgebildeten Strukturen kognitiv verarbeitet. In diesem Sinn stellt kommunikatives Handeln
im Spiel die Entwicklung der kognitiven Strukturen dar. Wie wir ausgeführt haben, kommt insbesondere bei jüngeren Kindern der Fähigkeit zur Imitation im Prozess der Rollenübernahme in Bezug auf
Erweiterung von Rollenverhalten und Rollenbeziehungen grösste Bedeutung zu. Imitation entspricht
dem MEAD’schen ‚taking the role of the others“. Die Notwendigkeit zu diesem Perspektivenwechsel
ergibt sich aus dem kognitiven Konflikt des Individuums mit seinen Interaktionspartnern. Die Auslebung dieses Konfliktes, insbesondere in der Gruppe Gleichalteriger (peers), ist nach PIAGET entscheidend für die Lösung aus dem egozentrischen Bezugssystem.
Was nun die Bedeutung kommunikativer Prozesse für die Entwicklung der Rollenübernahme bei PIAGET und MEAD anbelangt, so ist bei beiden gemeinsam, dass sie die Entwicklung des Denkens als
Folge von abgelaufenen Interaktionsprozessen begreifen. Eine erste Interaktionsbeziehung ist
zwangsläufig die zu den Eltern. Die Rolle der Eltern im Sozialisationsprozess muss doppelt gesehen
werden. Zum einen müssen die Eltern in der Lage sein, sich auf ihre Kinder einzustellen, um deren
Bedürfnisse zu befriedigen. Zum anderen müssen sie innerhalb der Interaktion auch Beschränkungen
im normativen und regulierenden Sinn vornehmen. Aus dieser Sicht muss die Bedeutung der Gleichalterigen auf die Entwicklung der Rollenübernahme zugunsten der Eltern relativiert werden. Die
gefühlsmässigen Besetzungen im Interaktionsprozess mit den Eltern ( = signifikanten Anderen) sind
entscheidend für den Perspektivenwechsel. „In den Beziehungen zu anderen erfährt das Kind, dass
ihm die Befriedigung seiner Bedürfnisse durch die Liebe anderer zuteil wird“ (KELLER 1976, 92). Das
Kind erfährt im Laufe seiner Entwicklung, dass es zu geben in der Lage ist, und dass es damit auch
ganz bestimmte Reaktionen hervorrufen kann. Ziel der Interaktionspartner ist es, eine optimale Balance zwischen den unterschiedlichen Bedürfnissen der Eltern und ihrer Kinder herzustellen. Sozialisation wird in diesem Zusammenhang als wechselseitiger Anpassungsprozess verstanden. Zu Beginn
ist diese Reziprozität der Beziehungen von Selbst und Anderen hauptsächlich durch physische Belohnung und Bestrafung geregelt. Erst später kommt es durch die Internalisierung elterlicher Gebote
und Verbote und der darauf folgenden Orientierung an universalistischen Normen zu symbolischen
Anforderungen. Nach KELLER (1976) lässt sich nun schliessen, dass, wenn in der Eltern-KindInteraktion kein Gleichgewicht hergestellt werden kann, negative Bedingungen für die Genese der
Fähigkeit zur Rollenübernahme vorliegen. KELLER (1976) in Übereinstimmung mit HAMLYN (1974),
misst der affektiven Beziehung zwischen Eltern und Kind zentrale Bedeutung zu im Hinblick auf die
Genese der Rollenübernahmefähigkeit.3 Ohne im Moment weiter auf die mittlerweile zwar nicht
widerspruchsfreie aber doch als Allgemeingut zu bezeichnende Literatur näher eingehen zu wollen,
muss aber doch in Bezug auf unsere Themenstellung auf die Auswirkungen sozialer Ungleichheit zur
Genese von Rollenübernahmefähigkeit eingegangen werden. 4
3
Vgl. zum Problemkreis familiale Interaktionsmuster auch SPITZ 1973, ERIKSON 1966, BERNSTEIN 1972, OEVERMANN 1971.
4
Vgl. hierzu: BRONFENBRENNER 1958, BECKER 1964, EWERT 1966, NEIDHART 1968, MOLLENHAUER 1969,
PEARL 1970, DANZIGER 1970, SROUFE 1970, ALLEN 1970, ZIGLER & CHILD 1969, MILLHOFER 1973, KELLER,
WEINERT & ZEBERGS 1975.
20
6.2 Rollenübernahme in der Unter- bzw. in der bildungsfernen Schicht
Zusammenfassen lässt sich sagen, dass in der Unterschicht die innerfamiliären Interaktionsmuster
sich stark an vorgegebene Regeln orientieren (Normenrigidität) und häufiger autoritär gehandhabt
werden. Der Sozialisationskontext für Unterschichtkinder wird allgemein als wenig kind-orientiert
beschrieben. Hervorgehoben wird allgemein die Sozialisationsschwäche des Vaters, die sich einerseits in der mangelnden Übernahme von Erziehungsaufgaben und andererseits durch die restriktiven
Bedingungen der Arbeitssituation, den Mangel an Selbstbestimmung und die Erfahrung relativer
Machtlosigkeit darstellt. Was aber gerade die affektive Bindung im Vergleich Unterschicht-Väter zu
Mittelschicht-Vätern zu ihren Kindern anbelangt, sind die Ergebnisse längst nicht eindeutig. Unterschiede bestehen aber im Disziplinierungsverhalten. Auch was die Fähigkeit anbelangt, Kindern Lebenssituationen durch kognitive Anregungen zu strukturieren, ergeben sich stabile Unterschiede. So
geben Mittelschicht-Mütter ihren Kindern mehr verbale Erklärungen in der Anleitung zu Aufgaben
und wissen die Informationsbedürfnisse der Kinder besser zu beantworten. 5 Nach TULKIN & KAGAN
(1972) verbringen Unterschicht-Mütter weniger Zeit damit, in spielerischen Interaktionen mit ihren
Kinder auf deren Reaktionen (Lächeln, Verbalisierungen) differenziert einzugehen. Nach KELLER
(1976) ist demnach anzunehmen, dass Unterschicht-Rollenbeziehungen die Fähigkeit zur Rollenübernahme „einerseits im Kontext von Gehorsamssituationen gelernt werden, andererseits als auf den
partikularistischen Kontext der Primärgruppe beschränkte Empathie“ (KELLER 1976, 119). Mehrere
Untersuchungen zur allgemeinen (DE VRIES 1970, ROTHENBURG 1970) sowie verbalen (FEFFER 1970,
RUBIN 1973, TURNURE 1975) Intelligenz, aber auch sprachfreie Tests (RAVEN 1956) ergaben, dass die
Fähigkeit zur Rollenübernahme in teilweise engem Zusammenhang mit Intelligenz stehen. Eine mögliche Erklärung hierfür mag der von PIAGET dargestellte Umstand sein, dass die allgemeine kognitive
Entwicklung, in den Untersuchungen psychometrisch ausgewiesen, eng mit dem Konstrukt der bereits erwähnten Dezentrierung verbunden ist. Auch die Kommunikationsfähigkeit korreliert mit der
Fähigkeit zur Rollenübernahme hoch (r = .72), wie Untersuchungen von MILLER ET AL. (1970) belegen. In der Untersuchung von FLAVELL ET AL (1968) wurde Kommunikationsfähigkeit sogar als entscheidender Indikator für Rollenübernahme herangezogen. Ob die Fähigkeit zur Rollenübernahme
eine wesentliche Bedingung für soziales Handeln in Gruppen darstellt, ist bis jetzt noch kaum untersucht worden. Von PIAGET ausgehend lässt sich hierzu sagen, dass zwischen prosozialem Verhalten
und der Fähigkeit zur Rollenübernahme eine Beziehung besteht, dergestalt, dass die Fähigkeit zur
Verarbeitung komplexer Interaktionssituationen, wie sie durch Rollenübernahme gegeben ist, dem
Kind Interaktionen in der Gruppe erleichtert. Daraus lässt sich schliessen, dass Kinder mit hohen Rollenübernahme-Fähigkeiten mehr Kooperativität zeigen, als Kindern mit niedrigeren Rollenübernahme-Fähigkeiten. RUBIN (1973) fand bei siebenjährigen Jungen positive Korrelationen zwischen der
Fähigkeit zum Altruismus und zur Rollenübernahme. Diese Ergebnisse müssen aber insofern eingeschränkt werden, als von der Fähigkeit der Rollenübernahme, die ja ein kognitives Verstehen des
anderen darstellt, nicht zwangsweise auch auf eine positive affektive Bindung zu den Anderen geschlossen werden darf. Rollenübernahme stellt zwar die Voraussetzung dar, es sind aber auch aggressive Verhaltensweisen möglich. Besteht Rollenübernahme in der Perspektive eines anderen in
einer feindselig definierten Situation, so sind keine prosozialen Verhaltensweisen zu erwarten. Diese
5
Vgl. hierzu besonders: ROBINSON & RACKSTRAW 1967, HOFFMANN 1970, KAMII & RADIN 1967, KLAUS &
GRAY 1968.
21
Aussage ist entscheidend, relativiert sie doch das Konzept der Rollenübernahme im Hinblick auf
übertriebene Erwartungshaltungen. Unterstützt werden diese Aussagen zusätzlich noch durch Untersuchungsergebnisse von ROTHENBURG (1970), die belegen, dass auch der Faktor ‚soziale Beliebtheit‘
nicht unbedingt, mit der Fähigkeit zur Rollenübernahme positiv korreliert. In Anlehnung an PIAGETS
Theorie kann man Rollenübernahme als Überwindung des räumlichen Egozentrismus auffassen. Nach
PIAGET stellt die Fixierung an die eigene Perspektive bis zum Alter von 6 – 8 Jahren die egozentrische
Wahrnehmung dar. Im Verlaufe der fortschreitenden assimilatorisch-akkomodatorischen Äquilibration der Wahrnehmungsschemata kommt es zur Überwindung des räumlichen Egozentrismus. Untersuchungen von BORKE (1971, 1975) zeigen nun aber auf, dass die angesprochene Dezentrierung auch
schon früher auftreten kann. Bedingung hierfür ist aber die affektive Bindung an die Person, deren
Perspektive eingenommen werden soll. Hierzu geben auch Experimente über strategisch-rekursives
Denken (thining about thinking about thinking) von FLAVELL ET AL. (1968) und MILLER, KELLER &
FLAVELL (1970) Klarheit. Rekursives Denken, das zwei Schleifen einbezieht, kann von ca. zwölfjährigen Kindern noch nicht nachvollzogen werden. Diese Denkeprozesse sind erst in der Adoleszenz, also
im Stadium des formal-logischen Denkens, möglich. Rekursives Denken ist ausserdem noch stark
intelligenzabhängig (vgl. DE VRIES 1970).
6.3 Das Konzept der Rollenübernahme aus ontogenetischer Sicht
„Erfahrungsgrundlage für die Ausbildung von Verhaltenserwartungen sind überdauernde und damit
erkennbare Verhaltensregelmässigkeiten, die in alltäglichen sozialen Interaktionen beobachtbar
sind“ (WALLER 1978, 84). Das Erkennen und Erfahren von Verhaltensregelmässigkeiten ermöglicht
die subjektive Rekonstruktion und Konstruktion von Regeln interpersonalen Verhaltens. Dieser Prozess umfasst einerseits die Organisation partikularer antizipatorischer Schemata zu übergeordneten,
auf Klassen von Interaktionssituationen bezogenen Regeln interpersonalen Verhalten (= Regelbildung) und andererseits die Bildung naiver Hypothesen über die kausale Determination von Regelbeziehungen (= Regelverständnis). Beeinflusst wird dieser zweigleisige Prozess durch die Parameter: 1.
Den Grad der Konkretheit vs Abstraktheit erworbener antizipatorischer Schemata, 2. Durch den
Komplexitätsgrad konstruktiv gebildeter übergeordneter Regeln und 3. Durch das Ausmass, indem
die kausale Determination von Regelbedingungen externalen vs internalen Kausaldeterminationen
zugeschrieben werden. Wie bereits bei PIAGET, erwähnt auch WALLER, dass der Abstraktionsgrad
erworbener antizipatorischer Schemata mit fortschreitendem Alter als Funktion der im Verlaufe der
Ontogenese zunehmenden Strukturhöhe informationsaufnehmender und –verarbeitender Prozesse
steigt. Nach BRUNER (1971) sind die ontogenetisch am frühesten (bis ca. 1,5 Jahre) erworbenen antizipatorischen Schemata in sensumotorische Handlungsschemata eingebettet, die im Verlaufe der
Koordinierung eigenen Verhaltens mit dem Verhalten der signifikanten Anderen ausgebildet werden.
Sensu-motorische Handlungsschemata weisen einen hohen Grad an Konkretheit auf und sind deshalb nicht durch höhere kognitive Operationen transformierbar. Mit der Fähigkeit zur ikonischen
Enkodierung und Repräsentation von Erfahrungsinhalten (ca. 1,5 – 2 Jahre) können Regelbeziehungen losgelöst vom aktuellen Handlungsvollzug erfasst werden. Sie weisen aber immer noch ein hohes
Mass an Konkretheit auf und sind dementsprechend auch nur in beschränktem Masse durch höhere
kognitive Operationen transformierbar. „Im weiteren Verlauf der Ontogenese werden antizipatorische Schemata durch symbolische Enkodierung und Repräsentation interaktionistischer Kontingen22
zen ausgebildet“ (WALLER 1978, 86). Die auf dieser Stufe erworbenen Schemata sind bereits vom
anschaulich/konkreten Kontext partikularer Interaktionssituationen losgelöst und können deshalb
durch höhere kognitive Operationen wie Generalisierung, Klassifikation und Konzeptualisierung
transformiert und umstrukturiert werden. Im weiteren Verlauf der Ontogenese werden zunehmend
komplexere Regeln interpersonalen Verhaltens gebildet. Während der frühen Kindheit ordnet das
kind Regelbeziehungen vorwiegend externalen Kausaldeterminanten zu. Dazu gehören:
-
Phänomenal hervorstechende Person- und Status-Attribute
-
Offene soziale Sanktionen
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Anschaulich unterscheidbare Attribute des Interaktionskontextes.
Die auf der Basis von external vermittelten Regeln erlernten interpersonalen Verhaltensweisen und
Verhaltenserwartungen werden als ‚normorientiert‘ bezeichnet. Erst im Verlaufe der Kindheit lernt
das Kind zu verstehen, dass interpersonales Verhalten auch durch internale Kausaldeterminanten,
wie:
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Motive, Intentionen, Handlungsziele
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Psychologische Wirkung von Verhaltensäusserungen
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Sozial-psychologisches Verhältnis zwischen Akteuren
bestimmt wird. Die auf der Basis von internal vermittelten Regeln erlernten interpersonalen Verhaltensweisen und Verhaltenserwartungen werden ‚personorientiert‘ bezeichnet. Interaktionsrelevante
Verhaltensschemata bildet das Kind bereits im ersten Lebensjahr aus. Entscheidend hierbei ist die
Mutter-Kind-Dyade, die bereits zu einem frühen Zeitpunkt eine klar erkennbare und zeitlich stabile
Organisation (Regelstruktur) darstellt. Gleichzeitig findet auch ein gegenseitig aufeinander abgestimmter Wechsel der Rolle des aktiven vs passiven Interaktionspartners statt. Hier findet man bereits konstituierende Elemente von Interaktion wie z. B. Kenntnis des Bedeutungsgehalts von sogenannten stop- und go-Signalen. D.h. Wissen, dass eigenes Verhalten in kontingenter und damit vorhersagbarer Weise durch darauf bezogenes Verhalten eines Gegenüber beantwortet wird. Dies bedeutet, dass bereits ein Kleinkind zu einfachen, rudimentären antizipatorischen Leistungen fähig ist.
Verlässt man nun die Inte3raktion der Mutter-Kind-Dyade und wendet sich Untersuchungen (MUELLER & LUCAS 1975) zu, die Interaktionssequenzen zwischen Kleinkindern untersuchten (6 – 15 Monate), so lassen sich in dere frühen Kind-Kind-Interaktion die folgenden 3 Stufen unterscheiden:
1. Objektzentrierte Kontakte
In dieser Phase ergibt sich der Kontakt mit anderen Kindern durch gemeinsame Spielobjekte. Bezeichnend ist, dass das Spielverhalten nicht egozentrisch ist und sich Kontakte eher zufällig ergeben.
Die Aufmerksamkeit des Kindes ist hauptsächlich auf das Spielobjekt gerichtet. Blickkontakte unter
den Kindern werden demnach nicht aufrecht erhalten. Erst ab ca. 13 Lebensmonaten beginnen die
Kinder ihre Mitspieler zu imitieren und ihr Spielverhalten zu gliedern im Sinne aufeinanderfolgender
alternierender Aktionen.
23
2. Einfache und komplexe Kontingenzen sozialer Austausch-Akte
Das Spielverhalten auf dieser Entwicklungsstufe (14 – ca. 16 Lebensmonate) ist soziozentrisch. Nicht
nur ausschliesslich das Spielobjekt steht im Mittelpunkt, sondern auch die Mitspieler und deren Aktionen. Dabei geht es nicht nur alleine um mögliche Imitationsmuster, sondern um Koordinierung des
eigenen mit dem Verhalten des Mitspielers. Die Kinder beziehen sich gegenseitig in ihr Geschehen
mit ein. Um dies zu erreichen, setzen die Kinder Blickkontakte, Lächeln, vokale Appelle und andere
non- und präverbale kommunikative Gesten ein. Die ersten Aktions-Reaktions-Muster entstehen.
Diesen ist aber ‚nur‘ quasi-sozialer Wert zuzumessen, da diese Muster lediglich unilateral gesteuert
werden.
3. Komplementäre Austausch-Akte
In dieser Phase (ab dem ca. 16. Lebensmonat) verläuft die soziale Beeinflussung nicht mehr nur ein-,
sondern auch wechselseitig. Die Aktions-Reaktions-Muster weisen eine reziproke Struktur auf und
bilden somit echte soziale Handlungseinheiten. Dies bedeutet, dass zur Aufrechterhaltung sozialer
Interaktionen, dass sich das Kind gleichzeitig mit der Ausführung einer Verhaltensweise kognitiv die
darauf bezogene komplementäre Reaktion des Mitspielers vorstellt und in seine Handlungsmuster
miteinbezieht.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass „die interaktionale Kompetenz des Kindes erst im Verlauf
der ersten Hälfte des zweiten Lebensjahres, gemessen an Befunden zur frühen Mutter-KindInteraktion also relativ spät, erwacht“ (WALLER 1978, 95). Die Ausbildung der Verhaltensschemata
geschieht (vgl. Stufe2) auch mittels Beobachtungslernen. Wir wollen im folgenden näher darauf eingehen. Nach BANDURA (1971) besteht die spezifische Funktion des Beobachtungslernens in der Konditionierung und Informationsverarbeitung intern vermittelter Repräsentation von Beobachtungsdaten. Die Beobachtung des Verhaltens von Modellpersonen führt zur Ausbildung dieses Verhaltens.
Dies braucht, wie wir auch noch anderer Stelle dieser Arbeit umfassender ausführen wollen (vgl.
MAHONEY 1977), nicht direkt und offen geschehen, sondern kann auch verdeckt ablaufen. Verdeckt
ablaufende Aktualisierungen intern repräsentierter Verhaltensschemata entspricht nun dem Prozess
der Verhaltensantizipation, sprich: Verhaltenserwartung. Voraussetzung einer verdeckten Aktualisierung antizipatorischer Verhaltensschemata „ist ihre Repräsentation im Medium eines zumindest
ikonischen Kodes“ (WALLER 1978, 99). Deshalb kann der Erwerb antizipatorischer Verhaltensschemata erst dann erwartet werden, wenn das Kind in der Lage ist, Interaktionsverläufe ikonisch zu enkodieren und zu repräsentieren. Nach PIAGET (1972) ist dies frühestens gegen Ende der sensumotorischen Phase der kognitiven Entwicklung zu erwarten. In Anlehnung an PIAGET ist deshalb davon auszugehen, dass die durch akkomodative Verhaltenskoordinierung vermittelte Ausbildung sensu-motorischer Aktions-Reaktions-Schemata eine Vorbedingung für den Erwerb von realtitätsgetreuen, antizipatorischen Verhaltens-Schemata sind. Eine Funktion des Beobachtungslernens besteht in
der Ausbildung neuer Verhaltenserwartungen, respektive Verhaltensmuster. Dies in der Praxis nachzuweisen ist aber besonders schwierig, bedeutet es doch, dass man sämtliche Komponenten bisher
ausgebildeter Verhaltensschemata unter Kontrolle bekommen müsste. Eine zweite Funktion, nämlich
die Umstrukturierung bereits ausgebildeter Verhaltenserwartungen, ist leichter aufzuzeigen. Diese
weitere Funktion des Beobachtungslernens besteht in der Stabilisierung bereits ausgebildeter Verhaltenserwartungen. In der Praxis zeigt sich eine derartige Stabilisierung in einer verstärkten Aktualisie24
rung bestehender Verhaltensschemata nach der Beobachtungsphase. Eine Hemmung des Beobachtungslernens findet dann statt, wenn das beobachtete interpersonale Verhalten nicht mit bereits
ausgebildeten Verhaltensschemata übereinstimmt. Die Bekräftigung des eigenen Verhaltens bzw. der
eigenen Verhaltenserwartungen werden nicht bestätigt. WALLER stellt fest, dass die Ausbildung von
Verhaltenserwartungen nur als progressiver Lernprozess zu verstehen ist. An dessen Beginn steht der
Erwerb von Verhaltensschemata, die rudimentär repräsentiert sind. Durch wiederholte Beobachtung
derselben Interaktionsabläufe werden diese Muster in einer ersten Stabilisierungsphase zu Verhaltensschemata transformiert und sind als solche in Form von Verhaltenserwartungen aktualisierbar.
Erst jetzt ist es dem Individuum möglich, durch Vergleich zwischen beobachtetem und erwartetem
Verhalten (feed-back-Schleife) den Prozess der Ausbildung von Verhaltenserwartungen anzugehen.
Herrscht Übereinstimmung zwischen erwartetem und beobachtetem Verhalten werden die jeweils
aktualisierten Verhaltensschemata bestätigt und damit stabilisiert. Die Wiederauftretenswahrscheinlichkeit erhöht sich. Eine Kongruenz von erwartetem und beobachtetem Verhalten stellt aber die
Ausnahme dar. Feste Grenzen aufzuzeigen ist nicht möglich, trotzdem muss an dieser Stelle noch
einmal darauf hingewiesen werden, dass, wenn sich die Schere zwischen erwartetem und beobachtetem Verhalten häufig (zu) weit öffnet, man vorhersagen kann, dass sich die Aktualisierungswahrscheinlichkeit des jeweiligen Verhaltensschemata verringert und schliesslich gegen Null geht. Es
kommt zur Bildung neuer Verhaltensschemata. Bevor wir uns weiter mit dem Modellernen beschäftigen, wollen wir uns eingehend mit der Beeinflussung bei der Ausbildung von Verhaltenserwartungen durch die direkte Erfahrungsbildung im aktiven Interaktionsvollzug beschäftigen. Auf das Modellernen übertragen heisst das, dass die Beobachtung des eigenen Verhaltens und damit der eigenen
Person zum Gegenstand der Betrachtung gemacht wird. Dies zu beobachten, um davon Schlüsse
ableiten zu können, ist aber sehr schwierig, so dass man sich darauf beschränken sollte, lediglich
Funktionen zu untersuchen, die die direkte Erfahrungsbildung im aktiven Interaktionsvollzug im Hinblick auf die Ausbildung von Verhaltenserwartungen darstellen. Ein weiterer Grund, von der Selbstbeobachtung abzugehen, ist die einleuchtende Feststellung, dass bei einem Kleinkind Selbstbeobachtung als Erfahrungsbildungsprozess für Verhaltenserwartungen auf Grund mangelnder Entwicklung
auszuschliessen ist. Lernprozesse in der frühen Periode der Mutter-Kind-Dyade verlaufen nicht stellvertretend, sondern unter aktiver Beteiligung des lernenden Subjektes nach dem Prinzip von Versuch
und Irrtum. Für WALLER (1978) stellt sich sogar die Frage, ob es sinnvoll ist, weiter vermittelnde
Lernprozesse zu untersuchen, oder ob man sinnvollerweise vollständig auf instrumentelle Lernprozesse im aktiven Interaktionsvollzug eingehen sollte? So ist ein Kleinkind nur in der Lage, Erwartungshaltungen auszubilden, wenn es die reale Erfahrung gemacht hat, dass seine Mutter mit einem
Mindestmass an Regelhaftigkeit und Verlässlichkeit agiert und reagiert. Durch blosse Beobachtung
wäre es nicht in der Lage, ein basales Gefühl der eigenen sozialen Sicherheit und Kompetenz zu erwerben. „Insofern ist der direkte Interaktionsvollzug innerhalb der Mutter-Kind-Dyade bei der Ausbildung von Verhaltenserwartungen im Vergleich zu bloss beobachtbaren interaktionalen Kontingenzen sowohl in genetischer als auch in funktionaler Hinsicht als primordiale Quelle der Erfahrungsbildung zu betrachten (WALLER 1978, 111). Ein zweiter Faktor, der zu Gunsten der aktiven Teilnahme
am Interaktionsgeschehen spricht, hängt mit der Funktion der Ich-Beteiligung zusammen. Geht man
nämlich von der Annahme aus, dass die Ich-Beteiligung im aktiven Vollzug am Interaktionsgeschehen
grösser ist, als bei blosser Beobachtung, so lässt sich weiter folgern: Verhaltenserwartungen werden
umso wirksamer gelernt, je höher die Ich-Beteiligung am Interaktionsgeschehen ist. Bei einer Wertung des zuvor gesagren kommen wir zu der Auffassung, dass neben dem Erlernen auf stellvertre25
tender Basis, auf das infolge der breiteren Möglichkeit zur Erfahrungsbildung und der ökonomischen
Durchführung nicht verzichtet werden soll, auch direkte, an die eigene Person gebundene Interaktionserfahrungen zu berücksichtigen sind. Obwohl WALLER (1978) zu dem gleichen Schluss gelangt wie
wir, verfolgt er in seiner Abhandlung nur noch die Ausbildung von Verhaltenserwartungen auf der
Basis des Beobachtungslernens, da er ‚nur‘ in diese Richtung weiter gearbeitet hat.
Kehren wir zu den Erklärungen über den ontogenetischen Verlauf der Ausbildung von Verhaltenserwartungen zurück. Diese sind eng mit der Bildung eines Regelbewusstseins verbunden. Damit die
Regelkenntnisse aber nicht nur auf partikulare interpersonale Verhaltensmuster beschränkt werden
müssen, muss es im Laufe der individuellen Entwicklung zu universalistischen, auf interpersonales
Verhalten im allgemeinen anwendbaren Regelstrukturen kommen. D.-h. langfristig gesehen verläuft
der Prozess der Ausbildung von Verhaltenserwartungen somit von einer rigiden und situationsadäquaten Schematisierung in Richtung auf eine der Vielfalt interpersonaler Verhaltensmuster angemessenen situationsspezifischen Differenzierung und Flexibilität. Detailliert ausgedrückt bedeutet dies,
dass bei 4 – 5jährigen Kindern, Rollenschemata noch nicht die Tragweite von Rollenkonzepten haben,
weil es sich in dieser Altersstufe noch um vorbegrifflich-anschauliche Gruppierungen „antipatorischer
Verhaltensschemata, die nach Äquivalenzrelationen zwischen konkret-anschaulichen personalen
cues partikularer interaktionaler Kontingenzen gebildet werden“ (WALLER 1978, 176/177). Im weiteren Verlauf der in der Ontogenese zunehmenden Differenzierung und Stabilisierung kommt vermutlich der Sprachentwicklung eine wichtige Bedeutung zu. Auch in diesem Bereich verläuft die ontogenetische Entwicklung vom konkreten zum abstrakten: frühe sprachliche Bezeichnungen (Eigen- und
Begriffsnamen von Personen der engeren sozialen Umwelt) werden abstrahiert und auf übergeordnete Kategorien bezogen. Es findet eine Generalisierung der Bedeutungsinhalte von Begriffen statt,
die immer kontextunabhängiger werden. Erst in dieser Phase der mittleren Kindheit ist ein Kind in
der Lage, die soziale Verbindlichkeit von Regeln interpersonalen Verhaltens zu erkennen. Diese Phase
geht mit der von KOHLBERG (1974) und PIAGET (1972) beschriebenen Entwicklung moralischer Regeln und Normen parallel. Aufgrund der Bildung von konzeptualisierten, kontextunabhängigen Verhaltenserwartungen wird die individuelle Speicherkapazität eines Kindes entlastet: Ein lernökonomischer Effekt. Ausserdem ist es dem Kind in Verbindung mit der nun bereits erwähnten sprachlichen
Entwicklung möglich, Verhaltensschemata zu aktualisieren, was ihm in der Phase der konkreten Ausprägung elementarer Verhaltenserwartungen noch nicht möglich gewesen wäre. Diese für die Sozialisation eines Kindes bedeutsamen Aussagen messen natürlich auch dem Erzieherverhalten entscheidende Bedeutung zu. Wir kommen deshalb an dieser Stelle auf diese wichtige Thematik zurück: „Je
grösser die Bereitschaft der Eltern oder von sonstigen Sozialisationsagenten, interaktionale Kontingenzen in der kommunikativen Interaktion mit dem Kind symbolisch zu vermitteln, desto mehr wird
die Bildung sozial relevanter Erwartungskonzepte stimuliert und ihre soziale Validierung erleichtert“
(WALLER 1978, 181). Die semantische Struktur des Kindes wird somit erweitert. Die Erwartungskonzepte eines Kindes werden weiter organisiert und miteinander koordiniert. Nach HARTLEY et al.
(1948) und STRAUSS (1952) ist ein Kind erst im Alter von 8 – 11 Jahren dazu in der Lage, einer Person
mehrere Rollen gleichzeitig zuzuordnen. Vorher vermag es zwar mehrere Rollen an einer Person
wahrzunehmen, doch identifiziert das jüngere Kind die Person mit der ihr zugeschriebenen Rolle. In
diesem Zusammenhang wird deutlich, dass multiple Rollenzugehörigkeit Voraussetzung für die Entwicklung des Verständnisses interpersonaler Beziehungen ist. Während die Konzeptualisierung von
an Rollen geknüpften Verhaltenserwartungen frühestens im Stadium der konkret-operativen Intelli26
genz möglich ist, ist das Erkennen multipler Rollenzugehörigkeiten erst später in der Phase der formal-operativen Intelligenz möglich. Erst in diesem Stadium ist das Kind/der Jugendliche in der Lage,
kognitive Strukturen beliebig und flexibel miteinander zu kombinieren. Mit der reversiblen Organisation und Koordinierung von Erwartungskonzepten im Rahmen eines Systems von Regeln interpersonalen Verhaltens ist das heranwachsende Individuum aus entwicklungspsychologischer Sicht dazu
fähig, in Bezug auf alle – tatsächlichen oder hypothetischen – interpersonalen Situationen reziprok
aufeinander abgestimmte Verhaltenserwartungen zu generieren.
Bezieht man das Konzept der Rollenübernahme auf die Schule, so kommt der Fähigkeit, die Rolle des
Lehrers als ‚signifikanten Anderen‘ zu antizipieren und zu wissen was ‚er‘ von ihnen verlangt, in Bezug
auf die notwendige Anpassung zur Herstellung der intersubjektiven Ebene besondere Bedeutung zu.
Geht man weiter von der in der Sozialisationstheorie anerkannten These aus, dass man Erwartungen
besser entsprechen kann, je ähnlicher sie den bisher gemachten Erfahrungen entsprechen, so fällt es
nicht schwer, zu verstehen, dass Kinder aus der Unterschicht in der Schule Schwierigkeiten haben,
sich nach der Rollenübernahme des Lehrers und damit der Schule anzupassen, da diese, wie einige
Untersuchungen (WEINERT 1972, FEND 1974, FOLFF 1974) nahelegen, überwiegend mittelschichtorientiert ist. Dem entspricht denn auch in der Praxis die Distanz, die Unterschicht-Eltern und Kinder der
Institution Schule entgegenbringen. Interessant ist es in diesem Zusammenhang näher auf die Untersuchung von KELLER (1976) einzugehen.
KELLER untersuchte 67 Kinder im Alter von 12,5 – 15 Jahren in Bezug auf ihre Rollenübernahmefähigkeit und eventuell sich daraus ableitende Vorhersagemöglichkeiten auf ihren zukünftigen Schulerfolg.
Die ausgewählten Kinder besuchten eine Gesamtschule und gehörten zu je einem Drittel der unteren
Unterschicht, der oberen Unterschicht sowie der Mittelschicht an. Die Aufgabe des den Kindern vorgelegten Tests bestand zunächst darin, anhand von Bildern des „Shneid-Man-Map-Test“ (eine Art
thematischer Apperzeptionstest) Szenen zusammen zu stellen, in denen drei Personen interagieren.
Zu dieser Szene erzählen die Probanden eine Geschichte, in der alle drei Personen vorkommen. In
späteren Untersuchungen wurden den Probanden Bilder vorgelegt, auf denen drei Personen in einer
Interaktionssituation dargestellt waren. Anschliessend wurden die Probanden in einem zweiten
Schritt aufgefordert, die Geschichte nacheinander aus der Perspektive aller drei Personen zu erzählen. Das Testmaterial für die Ausgangsgeschichte ist prinzipiell beliebig zu variieren und dient nur als
Basis für die Rollenübernahme.
KELLER (1976) formulierte eine Reihe von Untersuchungsergebnissen. Sie stellt fest, dass das Schulsystem für das Kind schwieriger zu bewältigende Rollenübernahme-Situationen darstellt als die Familiensituation. Dies hängt u.a. damit zusammen, dass im Gegensatz zur Meinung PIAGETs (1972) die
Gruppe der Gleichalterigen durch die Leistungsorientierung der Schule bei den Kindern auch Misserfolgsängste auslösen kann, die die Rollenübernahmefähigkeit hemmen. Auch dürfte die Generierung
von Rollenübernahme in der Familie eher gelingen, weil Rollenübernahme und Empathie eher in der
Familie als in der Schule gefordert und gefördert werden. Die Untersuchungsergebnisse von KELLER
(1976) sprechen für die Annahme, dass „sozio-affektive Dimensionen elterlichen Erziehungsverhaltens relevante sozialisatorische Bedingungen der Genese von Rollenübernahme-Fähigkeit sind“ (KELLER 1976, 271). Hier ist aber auch darauf hinzuweisen (vgl. CHANDLER 1972), dass nicht nur Kinder in
emotional warmen Klima eine Rollenübernahme-Fähigkeit entwickeln, sondern auch Kinder, die in
ihrer Familiensituation extrem punitiven Sozialisationsbedingungen ausgesetzt sind. Die Untersu27
chung von KELLER spezifiziert dieses Phänomen allein auf Kinder aus der oberen Unterschicht. Dieses
Untersuchungsergebnis wirft die Frage auf, ob eventuell unterschiedliche Stile der Rollenübernahme
angenommen werden müssen, so wie WEINSTEIN (1969) und WALLER (1973) in Anlehnung an BERNSTEIN von positions- und person-orientierten Formen der Rollenübernahme sprechen. Diese Unterscheidung in Bezug auf flexiblere Fähigkeiten zur Rollenübernahme ist aber vorsichtig aufzufassen, da
sie eher theoretisch zu formulieren denn empirisch zu belegen ist. Trotzdem soll festgehalten werden, dass in unterschiedlichen Kontexten erworbene Fähigkeiten zur Rollenübernahme auch eher
den dem Kontext näher liegenden Situationen aktualisiert werden. D.h., dass Kinder, die die Fähigkeit
zur Rollenübernahme in positionalen Familiensystemen, die eher auf Konformitätsdruck ausgerichtet
sind, erworben haben, eher in solchen Situationen über effektive Rollenübernahme-Fähigkeiten verfügen, in denen Kinder sich normativen Erwartungen ausgesetzt sehen. Hingegen können Kinder, die
die Fähigkeit zur Rollenübernahme eher in person-orientierten Interaktionskontexten erworben haben, eher in der Lage sind, die Perspektive eines anderen flexibel zu verstehen, respektive zu antizipieren. Für KELLER steht fest, dass in der Fragestellung ‚Rollenübernahme und Schulerfolg‘ die Fähigkeit der Rollenübernahme sich noch deutlicher als die Intelligenz und die soziale Schicht als ein äusserst bedeutsamer Prädikator für Schulerfolg erweist.
Was nun die Entwicklung und Funktion kognitiver und affektiver Bereiche, auf deren Bedeutsamkeit
wir bereits mehrmals hingewiesen haben, angeht, so postuliert KOHLBERG (1974) ihre Parallelität.
Die beiden Bereiche können nicht voneinander geschieden werden. Sie stellen lediglich verschiedene
Perspektiven und Kontexte für die Definitionen struktureller Veränderungen dar. Da nach SCHACHTER (1964) physiologische Muster der Erregung relativ gleichförmig verlaufen (bei durchaus unterschiedlichem Intensionsgrad), kann die Variabilität der Emotionen nur mit der Variabilität kognitiver
Faktoren (Freude, Ärger, Liebe etc.) zu erklären sein. SCHACHTER’s Theorie besagt, dass ein Individuum allgemeine Muster physiologischer Erregung nach den Charakteristiken der jeweiligen Situation und den früher gemachten Erfahrungen interpretiert. Physiologische Erregung genügt demnach
allein nicht, um Emotionen zu erfahren, es müssen kognitive Verarbeitungsprozesse hinzukommen.
Gelingt es nicht, emotionale Erregung kognitiv zu interpretieren, bleibt sie diffus und unbestimmt.
OERTER (1975) leitet hiervon ab, dass Menschen, die eher emotional diffus reagieren, weniger in der
Lage sind, ihre Erregungen zu steuern. Andererseits fördern positive Emotionen kognitive Prozesse,
die diese Emotionen wiederum unterstützen. Die Verbindung von Kognitionen und Emotionen ist bei
internalisierten Normen, die OERTER „Werte“ oder „Wertkonzepte“ nennt, besonders eng. Wertstrukturen bestimmen die Sichtweise eines Menschen gegenüber seiner Umwelt, welche Ziele er in
ihr verfolgt und nach welchen Strategien er vorzugehen in der Lage ist. Änderungen im kognitiven
Anteil von Wertstrukturen verändern gleichzeitig auch immer die emotionalen Anteile. Der Theorie
von SCHACHTER kommt in Bezug auf die persönliche Einstellung von Lehrern besondere Bedeutung
zu. Ein Beispiel aus dem Umgang mit einem „schlechten“ Schüler vermag dies zu verdeutlichen. Stört
ein Schüler oft und vermag inhaltlich wenig zum Unterricht beitragen, mag der Lehrer dieses Verhalten respektive seinen Ärger als reine Destruktion etikettieren. Ist der Lehrer aber in der Lage, das
gleiche störende Verhalten nicht als auf den Unterricht allein bezogenes Verhalten zu interpretieren,
sondern als Ausdruck z. B. gestörter Familienverhältnisse, i. S. einer mangelhaft ausgebildeten IchIdentität umzuinterpretieren, wird er eher in der Lage sein, dem Schüler in einer für ihn adäquateren
Form zu begegnen und damit dem Schüler zu helfen.
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Wir wollen nun den theoretischen Komplex, der sich mit dem Konzept der Rollenübernahme, fussend
auf PIAGET und MEAD, beschäftigt, verlassen, um uns dem Konzept der ‚Sozialen Kognition‘ zuzuwenden. Dabei werden wir aber doch immer wieder auf Aussagen von PIAGET zurückgreifen müssen.
Theorien, die dich mit Kognitionen befassen, kommen auch beim heutigen Erkenntnisstand nicht
darum herum, PIAGET zu berücksichtigen.
7. Das Konzept der ‚sozialen Kognition‘
In diesem Abschnitt sollen die wesentlichen Positionen dargestellt werden, die unter dem Oberbegriff ‚soziale Kognitionen‘ vermittelt werden. Dabei ist zu bemerken, dass es auch hier bisher wenige
Schritte in Richtung auf eine einheitliche Theorie gegeben hat. Die unterschiedlichsten Forschungsansätze stehen nebeneinander. So muss z. B. die Arbeit von FLAVELL ET AL. (1975) als Erweiterung
des Egozentrismuskonzeptes von PIAGET angesehen werden. FLAVELL ET AL. versuchten, experimentel eindeutige Unterscheidungen zwischen egozentrischer und nicht egozentrischer Kommunikation
bei Kindern herauszuarbeiten. Um den Rahmen des Konzepts ‚soziale Kognition‘ abzustecken, greifen
wir auf von CROISSIER ET AL. (1979) herausgearbeitete Unterscheidungsmerkmale zurück:
-
Die räumlich perzeptive Übernahme des Standpunktes des Anderen
-
Das instrumentell-kognitive Verstehen dessen, was eine andere Person denkt, häufig als ‚role-taking‘ oder als strategische Rollenübernahme bezeichnet
-
Die sozial-kognitive Rollenübernahme als Einnehmen spezieller sozialer Perspektiven von bekannten oder typischen Anderen (z. B. Eltern) und
-
Die affektive Komponente im Verstehen des Anderen, auch Empathie genannt (vgl. CROISSIER ET AL. 1979, 22).
In diesem Zusammenhang müssen zwei weitere Modelle genannt werden. Das eine ist das Modell
von SELMAN (1976; auch: SELMAN/BYRNE 1977). Es beschäftigt sich speziell mit dem Wechsel in den
Fertigkeiten des Kindes und Jugendlichen, Rollen zu übernehmen, und ist als Stufenmodell konzipiert.
Generell kann zusammengefasst werden: SELMAN nimmt an, dass das Kind vor 6 Jahren egozentrisch
ist, in dem Sinn, dass es keine Unterscheidung macht zwischen seiner Sicht einer Situation und möglichen anderen Sichten. Es mag wissen, dass der Andere eine andere Perspektive hat, ist aber nicht
fähig, diese zu spezifizieren, oder nimmt zumindest Ähnlichkeit zwischen seinen Gedanken und den
Gedanken des Anderen an. In der mittleren Kindheit (6 – 10 Jahre) erlangt das Kind zwei wichtige
Repräsentationen. Erstens ist es fähig, die Absichten, Gefühle und Gedanken des Anderen angemessen zu erschliessen. Zweitens wird es fähig, zu verstehen, dass es selbst und seine eigenen Gedanken
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Objekt der Gedanken des Anderen sein können. Mit 10 – 11 Jahren erreicht das Kind eine neue Stufe
der Fähigkeit, Rollen zu übernehmen, indem es versteht, dass man gleichzeitig seine eigene Perspektive sehen und die eines anderen Individuums übernehmen kann („mutual role taking“). Mit 12 Jahren etwa dehnt sich die Fähigkeit des Jugendlichen dazu über die Zwei-Personen-Situation auf soziale
Systeme aus („generalized other“). Dieses Stufenmodell basiert weitgehend auf den Antworten von
Kindern zu kurzen Geschichten, die moralische oder soziale Entscheidungssituationen beinhalten.
Ein weiteres Stufenmodell stammt von FLAVELL (1968, 1975). Er hat ein Modell der interpersonalen
Inferenz entwickelt, das auf einem Informationsprozess-Ansatz beruht. Er benennt vier Ereignisse als
Existenz, Bedürfnis, Inferenz und Anwendung (Flussmodell). Zunächst muss sich das Individuum bewusst sein, dass es oder eine andere Person überhaupt verdeckte psychologische Ereignisse haben
kann. Zum Zweiten muss das Kind erkennen, dass die gegenwärtige Situation eine Schlussfolgerung
erfordert (Bedürfnis) über die psychologischen Erfahrungen eines Anderen. Dieser Ausdruck der
‚Schlussfolgerungen‘ bezieht sich auf die Diskrimination von Anzeichen, ihre Integration, Wahrscheinlichkeitsdenken u. ä.. Schliesslich ist die Anwendung definiert als irgendein folgendes Verhalten des
Kindes als Konsequenz seiner Schlussfolgerungen, z. B. indem es seine Spielstrategien oder seine
Botschaft dem Gegner oder dem Zuhörer, über den es eine Schlussfolgerung gezogen hat, anpasst.
Bei SHANTZ (1975) bezieht sich der Begriff ‚soziale Kognition‘ auf die intuitive oder logische Repräsentation von Anderen bei Kindern, d.h. auf die Fragen, wie sie Andere charakterisieren und wie sie
Schlüsse ziehen über ihre verdeckten inneren psychologischen Erfahrungen.
Die Erforschung und weitere Erörterung der Entwicklung der sozialen Kognition ist wichtig in zweierlei Hinsicht. Zunächst bringt sie ein eher komplexes Bild der kognitiven Entwicklung des Kindes, indem sie zeigt, welche Typen von Konzepten und Prozessen in beiden, den sozialen und den nichtsozialen, Bereichen in bestimmten Altersperioden von Bedeutung sind. Zum anderen ist das Studium
wichtig, weil die Art, wie Kinder Andere konzeptualisieren, wahrscheinlich einen wichtigen Einfluss
hat auf ihr soziales Verhalten gegenüber diesen Anderen. Es ist wichtig im Gedächtnis zu behalten,
dass das Bild von der sozial-kognitiven Entwicklung der Kinder sowohl kognitive als auch linguistische
Fertigkeiten widerspiegelt. Nur wenig Forschung bezieht sich auf non-verbale Reaktionen. Dort wählt
das Kind z. B. einen Gesichtsausdruck aus, um zu zeigen, was jemand anderes in einer bestimmten
Situation empfindet. Oder es wählt eine Wahrnehmungsperspektive auf einer Fotographie aus, um
zu zeigen, wie die Sicht eines Anderen von einer bestimmten Position her ist. Dabei können die motorischen und affektiven Verhaltensmöglichkeiten des Kindes benutzt werden, z. B. in einigen Spielsituationen, um die Repräsentationen des anderen Individuums von daher zu erschliessen. In den verschiedenen empirischen Studien werden ganz unterschiedliche Informationen über den Anderen
gegeben. Das Material variiert von verbalen Geschichten über Fotographien bis zu Tonbandaufnahmen oder Filmstreifen. In diesen Umgebungen spielt das Kind die Rolle eines Beobachters. In anderen Studien dagegen wird ein aktuelles Individuum benutzt, das das Kind beurteilen soll, wobei das
Kind oft Teilnehmer ist. Z. B. spielt das Kind ein Spiel mit einer anderen Person, wobei sich zeigt, wie
weit es fähig ist, die Gedanken des Anderen und dessen Spielstrategien zu erschliessen; oder es
kommuniziert eine Botschaft an ein anderes Individuum. Bei der Unterschiedlichkeit der vorgegebenen Stimuli zur anderen Person und zur Situation muss man sich fragen, auf welche Elemente das
Kind seine Aufmerksamkeit beim Urteilsprozess richtet. Eines der allgemeingültigen Ergebnisse ist,
dass Kinder vor dem Alter von sieben Jahren ihre Aufmerksamkeit auf deutlich sichtbare, oberflächliche Anzeichen von Leuten und Situationen richten. Z. B. benutzen sie oft äussere Erscheinung und
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Besitz als Beschreibunsdimension. Das korrespondiert mit den Ergebnissen von PIAGET zur Beachtung von Oberflächenmerkmalen bei materiellen Objekten. Mit 7 oder 8 Jahren zeigen sie einen tiefgreifenden Wandel in der Art, wie sie andere Leute beschreiben. Zunehmend benutzen sie Begriffe
wie Gewohnheit, Eigenschaften, Glaubenssätze, Werte u. ä. Also eher abstrakte Beschreibungen, die
auf Regularitäten in Verhalten über Zeit und Situation hin beruhen. Auch dieser Wechsel hat ein Korrelat bei der Aufmerksamkeitsausrichtung im Problemlösen in nicht-sozialen Situationen.
SHANTZ (1975) löst nun den Komplex ‚soziale Kognition‘ in folgende Alltagskategorien auf:
1. Was sieht der Andere?
2. Was denkt der Andere?
3. Was weiss der Andere über einen gemeinsamen Kommunikationsgegenstand?
4. Was fühlt der Andere?
5. Was will der Andere?
6. Was ist der Andere für eine Person?
7. Was für eine Situation ist dies?
1. Was sieht der Andere?
Eine verdeckte psychologische Erfahrung einer anderen Person ist dessen optische Perspektive von
Objekten im Raum, eine Erfahrung, die man gewöhnlich mit einem Anderen nie gleichzeitig teilt.
Diese Schlussfolgerung ist die am wenigsten soziale aller im Folgenden vorgestellten Typen. Das einzige, was das Kind dabei berücksichtigen muss, ist die räumliche Position des Anderen, während es
bei den folgenden Schlussfolgerungen verschiedene Aspekte der Situation integrieren muss, um Gefühle, Gedanken oder subjektive Erfahrungen herauszufinden. Die klassische Studie in diesem Bereich stammt von PIAGET/INHELDER (1956). Eine Landschaft mit drei unterschiedlichen Bergen wird
den Kindern vorgestellt. Sie werden befragt, welche Perspektive ein Anderer von verschiedenen Positionen in der Landschaft hat. An dieser Aufgabe hat PIAGET sein Egozentrismuskonzept verdeutlicht.
Dabei hat er eine dreistufige Entwicklung in der Fähigkeit, sich die Position eines Anderen, postuliert.
Ist es tatsächlich so, dass Kinder vor dem 6. Lebensjahr, wie PIAGET es behauptet, egozentrisch sind
und keine Vorstellung von der positionsgebundenen Perspektive eines Anderen haben? Dieses Bild
der Entwicklung entsteht, wenn man nur die Standard-Landschaftsausgabe benutzt. FLAVELL (1974)
hat eine Reihe von Studien zusammengefasst, bei denen einfachere Vorgaben gegeben und weniger
verbale Fertigkeiten zur Beantwortung erforderlich waren. Seine Analyse dreht sich um zwei Faktoren:
A) Identifikation dessen, was ein Anderer sieht und – komplexer – wie er es sieht (Perspektive
durch das Kind und
B) Die Art seiner Antwort, d.h. sensomotorisch oder repräsentational.
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Diese Analyse gehört in den Teil, den FLAVELL „existence“ nennt. Das Null-Niveau bedeutet, dass das
Kind die Objekte beschreibt, die es in seiner Umgebung erwartet und sie so beschreibt, wie sie ihm
erscheinen. Eine Untersuchung von MASANGKAY ET AL. (1974) mit 2 bis 5jährigen Kindern ist ein
Beispiel dafür. Eine Karte mit verschiedenen Bildern auf jeder Seite wird dem Kind gezeigt und die
Fragen werden gestellt: Was siehst du? Und was sehe ich? Das Kind auf dem Null-Niveau wird die
zweite Frage nicht beantworten können, es sei denn es wird gefragt: Welches Bild ist auf meiner Seite der Karte? Das Kind kann sich Objekte vorstellen, aber nicht die Perspektive des Anderen, aus der
dieser die Objekte sieht. Die Leistungen auf dem Niveau 1 gründen sich auf der Fähigkeit, sich vorzustellen, was der Andere sieht, und nicht auf die Fähigkeit, seine Perspektive einzunehmen. Ein Kind
auf dieser Stufe könnte dann die Was-sehe-ich-Frage beantworten. Diese Grundstufe der Rollenübernahme ist in der Untersuchung bei allen Dreijährigen und der Hälfte der Zweijährigen festgestellt
worden. Das Kind auf diesem Niveau stellt sich vor, wie der Andere Dinge sieht. Dafür ist die DreiBerge-Aufgabe beispielhaft. Wenn eine einfache Aufgabe, bestehend aus einem einzigen, bedeutungsvollen Objekt mit leicht benennbaren Seiten, benutzt wird, haben Vorschul- und Kindergartenkinder einige richtige Schlussfolgerungen dazu gezeigt. Wenn eine Gruppe von Objekten benutzt
wird, schafft das Kind die Aufgabe in der Regel nicht vor dem 7. Lebensjahr. Welche Anzeichen gibt es
für die Prozesse, die bei der Lösung des Raumproblems mitspielen? Drei Ansätze haben versucht,
darin Klarheit zu schaffen:
-
Analyse der Fehlertypen
-
Analyse der Wahrnehmungsbedingungen der Aufgabe und
-
Analyse der Rolle von Bewegungen im Raum.
Den ersten Ansatz haben COIE ET AL. (1973) bei fünf bis elfjährigen Kindern benutzt. Sie fanden Ergebnisse, die mit FLAVELLS Modell übereinstimmten. Die häufigsten Fehler finden statt einmal bei
der Diskrimination, welche Objekte gesehen werden, dann, wie sie gesehen werden, zum Schluss, ob
sie rechts oder links gesehen werden.
Beim zweiten Ansatz wird der Eindruck des Standpunktes des Kindes auf seine Fähigkeit, die Perspektive des Anderen zu erschliessen, untersucht. BRODZINSKY ET AL. (1972) (In: CROISSIER 1979) untersuchten Kinder von 6, 8 und 10 Jahren. Sie fanden, dass bei Aufgaben mit mehreren Objekten es nur
für 8jährige Kinder eine Erleichterung war, wenn ihr eigener Gesichtspunkt verdeckt wurde. Es
scheint, dass Verdeckung im allgemeinen kaum direkte Wirkung hat.
Beim dritten Ansatz sind die Fragen: versteht das Kind, was der andere sieht, a) indem es in seiner
Vorstellung das Feld zu seiner Position hin dreht und das so entstehende Bild abliest oder b) indem
es sich in seiner Vorstellung zur Position des Anderen hinbewegt und dann das Bild abliest oder c)
indem es systematisch Dimensionen wie Nah-fern- und Rechts-links-Beziehungen variiert, um
schliesslich die Perspektive herauszufinden. Die Effektivität der Kinder, die sich bewegen, zeigt sich in
einer Untersuchung von SHANTZ ET AL. (1975). Wird eine solche aktuelle Bewegung aber nicht zugelassen, wie in der Standardaufgabe, dann scheint es nicht so zu sein, dass das Kind sich in der Vorstellung zur Position des Anderen hin begibt; das scheint dem Kind sehr schwer zu fallen. Stattdessen
scheint es so, als ob das Kind das Bild des Anderen zu seiner eigenen Position hindreht.
32
2. Was denkt der Andere?
Diese Fragestellung zielt auf ein zentrales Problem innerhalb des Konzepts der Rollenübernahme
bzw. sozialen Kognition, nämlich, wie ein Kind die inneren Zustände, die Gedanken, die Wünsche und
Absichten einer anderen Person erfasst. In Untersuchungen wurden den Kindern folgende Aufgaben
gestellt:
-
In einem Ratespiel, bei dem in einer Hand ein Geldstück versteckt wird, muss das Kind entweder raten oder selbst das Geldstück verstecken
-
Auf Bildern mit Sprechblasen sollen die Kinder beschreiben, was die Personen auf den Bildern
tun und was sie denken
-
Die Kinder werden aufgefordert, eine Geschichte, die sie zunächst neutral, d.h. aus ihrer Sicht
erzählt haben, anschliessend aus der Sicht eines anderen Kindes zu erzählen.
Weitere Untersuchungsbeispiele hierzu liefern: SELMAN & BYRNE 1977; KURDEK 1975; LECKIE 1975;
FEFFER 1959; KELLER 1976.
In der Spanne von 4 – 6 Jahren sind Kinder in der Lage, z. B. beim Ratespielen eine Vorhersage des
Verhaltens ihrer Partner zu geben. Mit System raten sie allerdings erst ab 7 Jahren. Erst in der mittleren Kindheit etabliert sich die Fähigkeit, zu erkennen, dass andere Personen das eigene Denken zum
Gegenstand ihres Denkens machen können. Auch hier muss wieder erwähnt werden, dass die Aussagekraft in Bezug auf Rollenübernahmefähigkeit immer mit den jeweilig zur Anwendung gebrachten
Untersuchungsverfahren zusammenhängt. Jüngere Kinder erleben nämlich nicht mehr Frustrationserlebnisse als ältere, wenn es um die Fähigkeit der Rollenübernahme geht: sie setzen sich eben einfacheren Aufgaben aus. So spielt es eine Rolle, ob das Kind in einer gewohnten Umgebung, z. B. zu
Hause, den Informationsstand seiner Mutter vorhersagen soll. In dieser Anlage sind bereits vierjährige Kinder in der Lage, richtige Antworten zu geben.
3. Was weiss der Andere über einen gemeinsamen Kommunikationsgegenstand?
Untersuchungsaufgaben zum Abklären dieser Fragestellung waren dergestalt angelegt, dass ein Kind
einem Zuhörer mit verbundenen Augen ein Würfelspiel erklären soll. Bei dieser Aufgabenstellung
wurde noch keine Trennung von Rollenübernahmefähigkeit und kommunikativen Fähigkeiten vorgenommen, wie das z. B. bei der folgenden Aufgabe der Fall ist, wo Sprecher und Hörer durch eine
Wand getrennt werden. Der Sprecher muss nun dem Hörer bestimmte Objekte beschreiben, die dieser dann auswählen und anordnen muss. Die Untersuchungsergebnisse zu dieser Fragestellung sind
leider sehr uneinheitlich und lassen kaum entwicklungspsychologische Schlüsse zu (vgl. GLUCKSBERG
u.a. 1975, MARATSOS 1973, MENIG-PETERSON 1975, HOY 1975).
33
4. Was fühlt der Andere?
Diese Fragestellung wird häufig mit dem Begriff ‚Empathie‘ umschrieben, der auf die Kontroverse um
die Beziehung zwischen affektiven und kognitiven Anteilen (oder beidem gleichzeitig) innerhalb des
Empathiekonzeptes verweist. Die Untersuchung von BORKE (1971) konnte aber den Beweis erbringen, dass bereits 3jährige Kinder in der Lage sind, emotionale Reaktionen anderer Personen zu unterscheiden und situationsangemessen zu beurteilen. Besonders letzteres verweist auf eigene emotionale Erfahrung, die in Beziehung zur dargestellten Situation gebracht werden muss. Geht man nun
von der Annahme aus, dass diese Kinder nicht nur in der Lage waren, Gefühle anderer zu erkennen
(eine eindeutig kognitive Leistung), sondern auch zu teilen (eine emotionale Leistung), so gerät man
mit PIAGET’s Egozentrismuskonzept in Konflikt. Diese Kontroverse (vgl. auch die gegenteilige Positionen von KELLER, 1976 und WALLER, 1978) haben auch CROISSIER ET AL. (1979) in Anlehnung an IANNOTTI (1975) aufgegriffen. IANNOTTI unterscheidet, ob ein Individuum a) mit dem gemeinsamen
kulturellen Wissen auskommt, um eine Situation zu beurteilen, oder ob es b) seine eigene Perspektive unterdrücken muss, um den Standpunkt des Anderen einnehmen zu können. Geht man nun von
der emotionalen Entsprechung aus, so kann diese entweder als emotionale Übereinstimmung ©
oder als ein dezentrisches Situationsverständnis aus der Sicht des Anderen (d) verstanden werden.
JANNOTTI’s Untersuchungen konnten zeigen, dass bereits sechsjährige Kinder gute Leistungen in a)
und c) aufwiesen. Sie konnten also das Gefühl einer Person nach Fotos richtig auswählen, wenn diese situationsangemessen war. Unseres Erachtens vermag auch IANNOTTI den Streit nicht exakt klären. Fest steht, dass Empathie umso früher einsetzt, je grösser die Ähnlichkeit zwischen Beurteiler
und Beurteiltem und je vertrauter die Situation ist. Ungeklärt ist aber weiter, durch welche Vermittlungsprozesse das Kind Empathiefähigkeit erlangt. In einigen Studien wird dem Kind eine kurze Geschichte mit einer Situation, begleitet von einem Bild, vorgegeben, z. B. Geburtstagsparty, Zerbrechen eines Spielzeugs. Das Kind wird gefragt: Was fühlt das Kind in der Geschichte? Eine richtige
Antwort wird von BORKE (1971) als Empathie, von FESHBACH/FESHBACH (1963) als soziales Verständnis bezeichnet. Oder das Kind wird gefragt: Was empfindest du? Die Antwort hierauf wird dann
von FESHBACH als Empathie bezeichnet.
Wir wollen zunächst auf die Befunde zur Empathie i. S. von Verstehen des Gefühls des Anderen eingehen. Die meisten Daten basieren auf BORKE’s „Interpersonal Perzeption Test“ (1971). Der Test
umfasst 23 Geschichten mit Bild und erfordert nur eine non-verbale Antwort. Verschiedene Studien
haben gefunden, dass ein Kind mit 4 Jahren auf einem bestimmten Wahrscheinlichkeitsniveau korrekt Situationen identifizieren kann, die typisch sind für Emotionen wie Freude, Trauer, Angst und
Ärger. Dabei gibt es kulturspezifische Unterschiede. Wenn ein Kind identifizieren kann, was ein anderes in einer bestimmten Situation fühlt, ist das eine Funktion von Rollenübernahme-Fähigkeiten?
Wahrscheinlich nicht: die korrekte Emotion wird das Kind eher identifizieren aufgrund seiner eigenen
Erfahrungen mit dieser Situation oder der Erinnerung an das Verhalten anderer in einer solchen Situation, die es beobachtet hat (Projektion oder Identifikation). Eine Reihe von Untersuchungen weisen
nach, dass Vorschulkinder dann Emotionen identifizieren, wenn ihnen die betreffenden Situationen
vertraut ist und/oder die andere Person dem Kind selbst ähnlich ist. Die Identifikation der Emotion
scheint eher eine Selbstbeschreibung zu sein. I.d.R. können Vorschulkinder angenehme und unangenehme Emotionen in Fotos identifizieren und aus drei Fotos eines auswählen, das Ärger, Freude oder
Ekel zeigt. Wenn sie aber eine spezifische verbale Benennung dafür geben sollten, sind ihre Antworten weniger akkurat.
34
5. Was will der Andere?
In der entwicklungspsychologischen Forschung wurde versucht, diese Fragestellung im Vergleich von
unbeabsichtigten und beabsichtigten Handlungen sowie in der Konsequenzbeurteilung von beabsichtigten Handlungen zu untersuchen. Bekannt geworden sind hierzu die Befragungsmethoden von
PIAGET (1973) zum moralischen Urteil. PIAGET’s Ergebnis zeigte, dass bei der Einschätzung von moralischen Dilemmata Kinder bis zu 8 Jahren einer Handlung nur von deren Ergebnis abhängig machen,
während ältere Kinder die Absichtlichkeit des Verhaltens beurteilen. Hierbei handelt es sich um
Schlussfolgerungen darüber, was der andere bewusst oder unbewusst zu tun versucht. Die Fähigkeit
zur Unterscheidung beabsichtigter und unbeabsichtigter Ereignisse und die Fähigkeit zur Unterscheidung von Typen solcher Aktionen unterliegen der Entwicklung. In einer Untersuchung von KING
(1971) in der die Verantwortlichkeit für Konsequenzen und die Konsequenzen selbst klarer variiert
wurden als bei PIAGET, zeigte sich ein signifikantes Ansteigen der Urteilsbegründungen durch die
Absicht vom Vorschulalter (4 Jahre) bis zum Alter (6 Jahre), wobei die Fünfjährigen eher die Absicht
in Rechnung stellen. Ob negative Konsequenzen entstanden waren oder nicht, hatte bei einer Altersgruppe keinen bedeutsamen Effekt auf die Korrektheit des Erschliessens der Absicht. ARMSBY (1971)
(in: CROISSIER ET AL. 1979) findet ebenfalls, dass die Mehrheit der Sechsjährigen die Absicht als Basis
benutzen, um über die Frechheit des Handelns des Handelnden zu entscheiden. Welche Urteile geben Kinder, wenn ihnen Geschichten gegeben werden, bei denen alle Aktionen beabsichtigt sind und
die Absichten und Konsequenzen entweder gut oder schlecht sind? COSTANZO ET AL. (1973) benutzte so eine Aufgabe für Jungen von 6, 8 und 10 Jahren. Kindergarten-Jungen änderten die Beurteilung
nicht nach guter oder schlechter Absicht, wenn die Konsequenzen schlecht waren. Wenn sie aber gut
waren, sahen sogar die Kindergartenkinder das Kind mit schlechten Absichten als schlechter an das
das, welches mit guten Absichten handelte. Die Art der Konsequenz war für ältere Kinder weniger
relevant. Das bedeutet, dass Kinder von sechs Jahren durchaus gute und schlechte Absichten unterscheiden, wenn die Konsequenzen positiv sind, anscheinend aber nicht, wenn sie negativ sind. Bei
solchen Untersuchungen scheint auch das Medium (Geschichte oder Bildwidergabe) von Bedeutung
zu sein. Andere Untersuchungen von SHANTZ (1975) belegen aber auch, dass der Kontext der Fragestellung nie unberücksichtigt bleiben darf, denn je extremer die Konsequenzen einer Handlung (z. B.
Körperverletzung) desto mehr tritt die Unterscheidung von Absicht und Ergebnis in den Hintergrund,
zugunsten der Variable ‚Ergebnis‘.
6. Was ist der Andere für eine Person?
Nach DUBIN & DUBIN (1965) entwickelt sich die soziale Wahrnehmung in der Reihenfolge: Selbst –
Rollen der Eltern – andere Autoritätsperson, wobei in der Wahrnehmung des Selbst bereits zwischen
den drei und fünf Jahren geschlechtsrollenspezifische Unterschiede wahrgenommen und bewertet
werden. Ähnlich verhält es sich mit der Diskriminationsfähigkeit der Rollen der Eltern. Erst mit sieben- achtjährigen Kindern konnten LIVESLEY & BRAMLEA (1973) die Unterscheidung von lediglich
äusserer Beschreibung und psychischen Merkmalen feststellen.
35
7. Was ist das für eine Situation?
FLAPA (1968) bot 6, 9 und 12 Jahre alten Kindern Filmszenen an, in denen kurz Alltagskonflikte von
Kindern dargestellt waren. Sie liess deren Handlung nacherzählen und stellte danach gezielte Fragen
nach den Gefühlen, die auf unterschiedlichen Abstraktionsstufen geordnet werden konnten:
-
Bericht und Beschreibung des Geschehens (6 – 9 Jahre)
-
Erklärung des Geschehens
-
Schlussfolgerung und Interpretation (9 – 12 Jahre).
Zu dieser Untersuchung muss kritisch angemerkt werden, dass insbesondere die Abhängigkeit von
sprachlichen und intellektuellen Fähigkeiten nicht exakt klar werden lässt, was die Kinder von den
Situationen wirklich erfasst haben?
Zur Diskussion steht nun die Generalisierbarkeit verschiedener Typen von sozialer Kognition. PIAGET
selbst hat zwar eine den verschiedenen Verhaltensformen zugrunde liegende kognitive Orientierung,
den Egozentrismus, postuliert, niemals ist aber einer Gruppe von Kindern eine Vielzahl von Aufgaben
gegeben worden, so dass eine Korrelation zwischen den verschiedenen Massen hätte errechnet werden können. RUBIN (1973) untersuchte diese Frage, indem er 80 Kinder vom Kindergartenalter bis
zum 6. Schuljahr mit einer Batterie von Tests zur Fertigkeit der Rollenübernahme testete. Drei dieser
Tests (räumliches, kommunikatives Rollenübernehmen und rekursives Denken) korrelieren untereinander mit .65 bis .73. Auch VAN LIESHOUT ET AL. (1973) kommen zu dem Ergebnis, dass verschiedene Aspekte der Fähigkeit zur Rollenübernahme auf ein zugrundeliegendes Konstrukt zurückgeführt
werden können, wobei die Korrelation aber nur zwischen .20 und .48 liegen. Die Studien zeigen, dass
bestenfalls ein mittlerer Zusammenhang besteht.
Ein weiterer häufig vorgenommener Ansatz ist der Versuch, die Beziehung zwischen Intelligenz und
Rollenübernahme-Fertigkeiten zu untersuchen. I.d.R. sind die Korrelationen niedrig, im Rahmen von
.20 bis .40. Selbst wenn die sozial-kognitiven Fertigkeiten in stärkerem Ausmass mit Intelligenz verbunden wären, würde diese Beziehung nicht viel weiterhelfen in der Klärung, welche Prozesse an der
sozialen Kognition beteiligt sind. Einige spezifische kognitive Fertigkeiten sind mit der Fertigkeit zur
Rollenübernahme in Verbindung gebracht worden. So findet RUBIN (1973), dass die Leistung bei
Konservations-Experimenten hoch mit der Fähigkeit zur Rollenübernahme korreliert, tatsächlich genauso hoch, wie die verschiedenen Masse untereinander zusammen hängen. Allerdings berichtete
HOLLOS (1975) über nur geringe Zusammenhänge zwischen Rollenübernahme und logischen Operationen dieser Art bei norwegischen Kindern von 6 bis 9 Jahren. Es ist nicht klar, welche logischen Fertigkeiten an den sozial-kognitiven Fertigkeiten beteiligt sind. Hier fehlt es noch an Forschung.
Was nun den Zusammenhang von Peer-Interaktionen und sozialen Kognitionen anbelangt, fasst
HARTUP (1970) zusammen: Es gibt keinen Zweifel, dass Änderungen in den Peer-Interaktionen in der
Kinderzeit eng verbunden sind mit den sensomotorischen Kapazitäten, den kognitiven Fertigkeiten
und der Entwicklung der Impulskontrolle. Rollenübernahme scheint eine Voraussetzung für viele
soziale Verhaltensweisen zu sein, wie z. B. die Kooperation und altruistische Interaktion. In einer
Reihe von Arbeiten ist behauptet worden, dass Kooperation, Freundlichkeit, Hilfsbereitschaft, Grosszügigkeit von der Fähigkeit des Kindes abhängen, die Rollen des Anderen zu übernehmen. Zum zwei36
ten ist vorgeschlagen worden, dass bestimmte antisoziale Verhaltensweisen wie Peer-Aggressionen
durch die Übernahme der Rolle des Opfers gehemmt werden könnten (FESHBACH & FESHBACH
1969). Neben diesen pro- und antisozialen Verhaltensweisen sind noch Konformität und Popularität
in Zusammenhang zur Rollenübernahme gebracht worden. Die Beziehung zwischen Rollenübernahme und Sozialverhalten kommt direkt aus der Theorie von PIAGET, wobei es sich um eine bidirektionale Beziehung handelt. Einmal nimmt der Egozentrismus ab, als Resultat der Interaktion mit
Peers, die anderen Wünsche, Bedürfnisse und Gedanken haben. So ist Peer-Konflikt eine notwendige
Bedingung dafür, dass sich die Fähigkeit zur Rollenübernahme entwickelt. Andererseits ist die Fähigkeit zur Rollenübernahme wiederum Voraussetzung für reziprokes Sozialverhalten wie Kooperation,
Diskussion und Planung. In Korrelationsstudien findet RUBIN (1973) bei 7 Jahre alten Kindern mittlere
Zusammenhänge zwischen der Fähigkeit zur Rollenübernahme und Massen für Altruismus und
Grosszügigkeit. Jene nehmen mit dem Alter zu. Von CERESNY (1971) ist die Beziehung zwischen Rollenübernahme und kooperatives Verhalten untersucht worden. Er konnte keinen Zusammenhang
finden. FESHBACH & FESHBACH (1969) finden, dass hohe Empathie zusammenhängt mit mehr Aggressionen bei 4 bis 5jährigen Jungen und für Mädchen beiden Alters unbedeutend ist. CHANDLER
(1973) findet, dass chronisch delinquente Jugendliche von 11 bis 13 Jahren bedeutsame Defizite in
der Fähigkeit zur Rollenübernahme haben im Vergleich zu nicht-delinquenten Jugendlichen.
Einige Studien haben versucht, die Fähigkeit zur Rollenübernahme zu trainieren, um die Effekte auf
das Sozialverhalten zu beobachten. STAUB (1975) untergliederte Kindergartenkinder in vier Trainingsbedingungen: Rollenspiel im Helfen und Sich-Helfen-Lassen; Induktionstraining, das sich auf das
Aufzeigen von Konsequenzen des Verhaltens richtet; kombiniertes Rollenspiel und Induktionstraining; Kontrollgruppe. Er fand, dass bei Mädchen, die nur Rollenspiel trainierten, am häufigsten eine
Steigerung der Hilfsbereitschaft auftrat, während für Jungen die Kombination Rollenspiel und Induktion am effektivsten war. Das Teilen-Können bei Mädchen wurde von keiner Bedingung beeinflusst,
war aber Jungen in der Rollenspiel- und in der Induktionsgruppe signifikant erhöht. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Rollenspiel den konsistenten Effekt bei der Erhöhung der Hilfsbereitschaft
von Mädchen und beim Teilen-Können bei Jungen hat. Die Effekte des Rollenspiels auf antisoziales
Verhalten untersuchte CHANDLER (1973). Nach einem 10 Wochen dauerndem Training mit delinquenten Jugendlichen (Placebo- und Kontrollgruppe) wurde Rollenübernahme getestet, und nach 18
Monaten die Polizeimeldungen verglichen. Zum ersten Zeitpunkt zeigten die trainierten Gruppen
signifikante Zunahmen in der Fähigkeit zur Rollenübernahme. Sie verübten anschliessend etwas halb
so viele Verbrechen wie die Kontrollgruppen.
In einigen Studien sind Fertigkeiten zur Rollenübernahme selbst Gegenstand gewesen. VAN LIESHOUT ET AL. (1973) liessen Kinder die Gefühle von anderen in Geschichten und Puppenspielen diskutieren, machten Rollenspiele, forderten und ermunterten sie zu hilfreichem Verhalten. Die derart
trainierten Kinder zeigten mehr Fähigkeit zur Rollenübernahme als eine Kontrollgruppe von 3- bis
4jährigen Kindern. Dieses Ergebnis fand sich bei 5jährigen nicht mehr. Es mag sich dabei auch um
trainingsspezifische Wirkungen gehandelt haben, da Trainings- und Testaufgaben ähnlich waren.
Drei Studien haben versucht, die Fähigkeit des Kindes, die Rolle des Zuhörers in Kommunikation zu
übernehmen, zu verbessern. Kinder kommunizierten über Zeichnungen und diskutierten die angemessenen Aussagen vom Standpunkt der Zuhörer. Zwei Studien zeigten geringe Änderungen, eine
jedoch bedeutsame und generalisierte Effekte. Diese Reihe von Studien zeigt, welche Faktoren aus37
reichend sind, um eine Entwicklung der Rollenübernahme zu beschleunigen, nicht aber, welche Mindesterfahrungen dazu nötig sind.
Elterlicher Erziehungsstil ist von mehreren Autoren mit moralischer Entwicklung in Verbindung gebracht worden. HOFFMANN (1977) vermutet, dass elterliche Induktion und die Fähigkeit zur Rollenübernahme miteinander verbunden sind. HOLLOS (1973) überprüfte Rollenübernahme und logische
Fertigkeiten in drei verschiedenen Umgebungen im ländlichen Norwegen: Bauernhof, Gemeinde,
Stadt. Die Leistungen von 7- bis 9jährigen Kindern zeigten zwei Faktoren: logische Operationen, die
eng mit dem Alter verbunden waren, und Rollenübernahme, mit der nur die Umgebung zusammenhängt. Die Kinder auf dem Bauernhof hatten weniger Fähigkeiten zur Rollenübernahme als Kinder
aus dem Dorf oder der Stadt. Das spricht für die Annahme, dass ein Mindestmass an alltäglicher verbaler Interaktion für die Rollenübernahmefähigkeit Voraussetzung ist. In eine ähnliche Richtung zeigt
die Untersuchung von RUBIN ET AL. (1973). Sie finden weniger Rollenübernahme bei nachgeborenen
Kindern, mehr bei erstgeborenen und bei Einzelkindern, was gegen einen direkten Effekt der Geschwisterposition spricht. Weiter spricht vieles dafür, dass für die Rollenübernahme die Gelegenheit,
verschiedene Rollen zu übernehmen, wichtig ist, oder die Gelegenheit, von ihren Eltern verdeckte
Vorgänge bei andern benannt zu erhalten. Der Zusammenhang zur linguistischen Umgebung müsste
aber noch weiter untersucht werden.
Die im folgenden aufgeführten Autoren, insbesondere SEILER mit seinem Konzept der ‚kognitiven
Struktur‘, berücksichtigen in ihren Ausführungen zwar auch kognitive Prozesse auf der Basis von PIAGET, aber sie entwickeln sie weiter zum Konzept der genetischen Kognitionstheorie, der genetischen
Strukturiertheit, dies unter Berücksichtigung von handlungstheoretischen Überlegungen.
38
8. Das Konzept der ‚kognitiven Strukturen‘
SEILER (1973) versteht unter kognitiven Strukturen „alternative Kategorisierungs-, Problemlösungsund Verhaltensprogramme, über die der Organismus in gewissen Grenzen und je nach Situation beliebig verfügen kann“ (SEILER 1973, 9/10). Die Verwendung des Begriffs ‚Programm‘ verweist stark
auf die Nähe zu PIAGET’s Schemata sowie auf die Pläne von MILLER, GALANTER und PRIBRAM (1973).
Diese Programme, Schemata oder Pläne verweisen auf eine gewisse Einheit des verbalen und äusseren Verhaltens über eine bestimmte Zeit, über einzelne Objekte, Handlungen, Situationen und Individuen. Aus dieser angenommenen Einheit ergibt sich die Folgerung, dass sich bei einer Reihe von Individuen in ähnlich gelagerten Situationen, bei Vorliegen ähnlicher Objekte ähnliche Verhaltenssysteme erkennen lassen. Diese Einheit ist demnach eine Grundvoraussetzung für das Funktionieren sozialer Interaktion. Die Entstehen kognitiver Strukturen kann als eine Verinnerlichung senso-motorischer
Handlungssysteme verstanden werden, die durch eine zunehmende Verselbständigung und Ökonomisierung des Lernprozesses gekennzeichnet sind. Dieser auch als Integrations- oder Differenzierungprozess beschriebene Vorgang wird durch das Gefälle zwischen den zu verarbeitenden Gegenständen, Situationen einerseits und den dem Individuum zur Zeit zur Verfügung stehenden Schemata,
Pläne, Programme andererseits in Gang gehalten. „…das Individuum entwickelt zur Lösung der in der
sozialen Interaktion sich stellenden Probleme besser geeignete Systeme (SEILER 1973, 12). Kognitive
Strukturen sind nur begrenzt aufnahmefähig und müssen deshalb die anfallenden Informationen
sowohl selektieren als auch in eine gewisse Ordnung bringen. Für SEILER ist die Prämisse grundlegend, „dass kognitive Strukturen sowohl Handeln wie Wahrnehmen als insbesondere auch Urteilen
und Denken eines Individuums bestimmen: sie steuern seine Informationsaufnahme und Informationsverarbeitung, sie bringen selegierend und klassifizierend Ordnung in das Reizangebot und sind
Fundament und Kontrollinstanz für motivationale und affektive Impulse“ (ders., 27). Kognitive Strukturen stellen demnach ein Sammelbegriff dar. Unter kognitiver Struktur kann man deshalb folgendes
verstehen:
-
Komplexe Wahrnehmungsvorgänge
-
Problemlösungen auf der Handlungsebene
-
Vorstellen, Begriffe und gedankliche Operationen
-
Hypothesen, Strategien des gedanklichen Problemlösens
-
Begriffsbildung etc.
Was ist diesen Konstrukten nun gemeinsam? „In einem ersten Umschreibungsversuch könnten kognitive Strukturen generell als alternative Kategorisierung-, Problemlösungs- und von innen gesteuerte
Verhaltensprogramme bezeichnet werden, über die der Organismus in gewissen Grenzen und je nach
Situation beliebig verfügen kann“ (SEILER 1979, 27). Die Problemlösungsmuster sind weder genetisch angelegt, noch unveränderlich. Sie sind vielmehr das Ergebnis der vergangenen Tätigkeits- und
Entwicklungsgeschichte des Individuums. Allgemein ausgedrückt lässt sich sagen, dass kognitive
Strukturen das Mittel darstellen, mit dem ein Organismus eine Umwelt bewältigt. Kognitive Strukturen weisen darauf hin, dass der Organismus nicht auf eine von seinen Handlungsmustern unabhängige und als solche objektiv gegebene Reizsituation reagiert, sondern nur durch seine von ihm herge39
stellten Konstruktionen der Auseinandersetzung und Anpassung an physische und soziale Gegebenheiten der Umwelt. Die senso-motorischen Verhaltensschemata, mit denen sich kleine Kinder mit
ihrer Umwelt auseinandersetzen, entstehen durch Veränderung und Erweiterung angelegter, reflektorischer Reaktionsmuster und ihre gegenseitige Verbindung zu integrierten Systemen. Diese sensomotorischen Schemata, mit denen das Individuum bestimmte Gegenstände und Situationen abbildet,
werden im Laufe der Zeit ökonomisiert und verinnerlicht. Aufgrund dieser Prozesse entstehen kognitive Strukturen, die Menschen durch Vorstellungen, Begriffe, Gedanken, Überlegungen und Willensakte aktivieren können. Damit wird klar, dass menschliches Handeln und Erkennen durch Programme
vollzogen wird, die das Individuum selber entwickelt und gespeichert hat. SEILER definiert nun den
Begriff ‚kognitive Struktur‘ exakter als relativ überdauernde, in sich geschlossene und interferenzresistente Tätigkeits- oder Reaktionsmuster eines Organismus, die seiner erkennenden Umweltbewältigung dienen und die selber durch Differenzierung und Integration schon vorhandener Strukturen entwickelt wurden und von ihm je nach Bedarf aktiviert werden können. Für SEILER ist die wichtigste und grundlegendste Eigenschaft kognitiver Strukturen ihre Erkenntnisfunktion. Dies trifft auch
auf einfachste Verhaltensschemata senso-motorischer Art zu, denn jede Struktur weist ihren eigenen Erkenntnisgehalt auf. In jedem Begriff und in jeder Vorstellung sind verinnerlichte Wahrnehmungs- und Handlungsschemata zu einem mehr oder weniger durchstrukturierten Komplex zusammengefasst. Deshalb sind auch in jeder Struktur all die Erfahrungen verdichtet, die das Individuum
mit ähnlichen Gegenständen und in ähnlichen Situationen bereits gemacht hat. Diese Erfahrungswerte werden in neue Situationen integriert. Das bedeutet, dass nur die Eigenschaften und Beziehungen
der Dinge erkannt werden können, für die bereits entsprechende Strukturen zur Verfügung stehen
und durch einen ad hoc vollzogenen Differenzierungs- und Integrationsprozess bereit gestellt werden
können.
In Bezug auf das Nachahmen kommt SEILER zu dem Schluss, dass ein Kind nur das nachahmen kann,
was es bereits in Grundzügen beherrscht. Nachahmung in diesem Sinn ist kein Lernprozess, sondern
Situation, in der gelernt wird. Darauf wird noch zurückzukommen sein.
Mit der Erkenntnisfunktion kognitiver Strukturen eng gekoppelt ist die Bedeutungsfunktion. Je nachdem, welche Ebene zum Gegenstand der Analyse gemacht wird, sind kognitive Strukturen unterschiedliche Bedeutungsrelationen zuzuschreiben. Der Begriff ‚kognitiv‘ impliziert, dass ein Individuum
die Wirklichkeit erkennt, indem es sie in seinen senso-motorischen Handlungsschemata und in seinen neuralen Strukturen ausschnittweise rekonstruiert und abbildet und damit den Ergebnissen Bedeutung verleiht, sie seinen Handlungszielen unterordnet und damit erfahrene Dinge zueinander in
Beziehung setzt. All das stellt bewusste Vorgänge dar, aber nicht nur allein. SEILER bezeichnet kognitive Strukturen erst als bewusst, wenn sie in ihrem Vollzug selber wieder von anderen neben- oder
übergeordneten Strukturen erfasst und abgebildet werden. Bewusstsein setzt in diesem Sinn immer
eine Verdoppelung voraus. Keine Erkenntnisstruktur kann für sich allein stehen. Jede von diesen ist
eingeordnet in den komplexen Vollzug einer Vielzahl solcher Strukturen oder Tätigkeiten des Subjekts im Umgang mit den Dingen, Situationen und Personen der Umwelt. Der Begriff der Struktur ist
dem des Systems gleichzusetzen. Wie das System besitzt auch die Struktur die Eigenschaft der Geschlossenheit, wobei der Grad der Geschlossenheit, der einem System oder einer Struktur zukommt,
formal gesehen, von den Beziehungen zwischen den Elementen und dynamisch betrachtet, von den
Gesetzen, die das Zusammenspiel der Elemente untereinander regeln, abhängt. Genetisch gesehen,
ist der Systemcharakter kognitiver Strukturen sowohl das Ergebnis der Ökonomisierung und Schema40
tisierung situationsbezogener Informationsverarbeitungsprozesse als auch ihrer gleichzeitigen Verfestigung. Die Menge der Elemente und die Menge der Relationen zwischen diesen Elementen bezeichnet SEILER als den Inhalt einer Struktur.
Kognitive Strukturen sind dynamische Vorgänge: Handlungen, Wahrnehmungen, Tätigkeiten, Vorstellungen, Klassifikationen, Denkoperationen werden darunter gefasst. Die Begriffe von Handlung und
Operation bringen den prozesshaften Charakter von Schemata bzw. Strukturen zum Ausdruck. Nach
SEILER hat man kognitive Strukturen auch als komplexe Kontrollsysteme zu verstehen, bei denen
zahlreiche einzelne sensorische und/oder motorische Akte ineinander greifen und sich gegenseitig
beeinflussen und steuern.
Kognitive Struktur bedeutet keineswegs ein bloss rationales Gebilde, sie ist gleichzeitig und immer
ein dynamisches das Handeln des menschlichen Subjektes bestimmendes und dieses Handeln affektiv oder emotional qualifizierendes Gebilde. Motivation stellt somit nur einen anderen Aspekt der
das Handeln und Erkennen strukturierenden Einheiten dar. Jeder kognitiven Struktur ist demnach
auch eine bestimmte emotionale Qualität eigen. Diese hängt von der je spezifischen Situation ab,
und färbt auf das Wahrgenommene und das Tun ab (Kontiguität).
Mit der Annahme kognitiver Strukturen ist ebenso eine vielfache Generalitätsbehauptung verbunden. Man nimmt an, dass sich eine bestimmte Wahrnehmung, Handlung, ein Verhalten in derselben
oder in einer ähnlichen Weise zu verschiedenen Zeitpunkten wiederholen kann, dass derselbe Aspekt
bei einer Vielzahl von Gegenständen durch die betreffende Struktur herausgehoben wird und dass
schliesslich, die der Struktur entsprechende Handlung oder Operation in verschiedenen Situationen
in derselben Weise vollzogen werden kann. Insbesondere wo es sich um innere Strukturen, Vorstellungen, Begriffe, Regeln und Operationssysteme handelt, ist man, um Generalisationsprozesse zu
erfassen, immer auf bruchstückhaft erfolgende Mitteilungen innerer Erfahrungen und die Interpretation damit zusammenfallender Handlungen eines Individuums angewiesen. HARVEY, SCHRODER &
HUNT, 1961, nach: SEILER 1973) unterteilen den Strukturiertheitsgrad kognitiver Systeme in 4 Stufen:
1. Stufe: niedrige Strukturiertheit
Ist gekennzeichnet durch:
41
-
Geringe Differenziertheit
-
Geringe Diskriminiertheit
-
Fast vollständiges Fehlen einer Integration der vorhandenen Begriffe, Vorstellungen, Einstellungen und Bedürfnisse
-
Begriffe, Einstellungen und Motive werden absolut und isoliert verwendet, ohne Bezug zueinander
-
Tendenz zur Übergeneralisierung
-
Neigung zu stereotypen Urteilen
-
Bevorzugung von abgekapselten, nicht zueinander in Bezug gesetzten und daher oft widersprüchlichen Aussagen mit einem Absolutheitsanspruch
-
Fehlen von begrifflichen Abgrenzungen und Unterscheidungen
-
Unfähigkeit, Situationen in verschiedene Art und Weise zu interpretieren
-
Neigung zum Dichotomisieren, Kategorisieren
-
Verhalten und Urteile werden oft in äusseren Bedingungen verankert (Aussensteuerung)
Die Interpretation von SEILER (1973), dass im Denkenden und Urteilenden selber kaum ein Konflikt
auftritt, möchten wir bezweifeln. Erlebt das Individuum doch auch die Reaktionen seiner Umwelt, die
auf seine niedrig strukturierte Persönlichkeit reagiert. Nur, welche Schlüsse es daraus zieht, das ist
der Unterschied und damit auch das Problem.
2. Stufe: zunehmende Strukturiertheit
-
auf der ersten Phase der Auflockerung der rigiden Strukturen sind die Urteilskategorien noch
sehr extrem und dualistisch, aber sie werden miteinander in Beziehung gesetzt
-
Konflikte tun sich auf
-
Konflikte führen zu vorwiegend oppositionellen und negativistischen Haltungen
-
das Individuum schwankt zwischen Polen
-
es folgt eine Abkehr von aussengeleiteten Positionen
-
weil das Individuum fähig ist, alternative Positionen zu erzeugen, bevorzugt es sie auch.
3. Stufe: weiter zunehmende Strukturiertheit
-
die Anzahl der Alternativen vermehrt sich
-
die Alternativen verlieren ihren extremen und deterministischen Charakter, sie beginnen sich
gegenseitig zu ergänzen
-
subtilere Unterscheidungen werden möglich, die miteinander verglichen und gegeneinander
abgewogen werden
-
wenn sich ein Individuum für eine Situation entscheidet, bleibt es dennoch offen für andere.
4. Stufe: hoher Grad der Strukturiertheit
-
42
das Individuum besitzt ein reich bestücktes Arsenal von fein abgestuften Urteilsdimensionen,
die zu einem durchstrukturierten Netz verknüpft sind
-
das Individuum verfügt über eine Menge von Regeln, die angeben unter welchen Bedingun
gen diese oder jene Dimension aktualisiert wird
-
das Individuum handelt von innen heraus, aber nicht von einer Gegenposition aus, sondern
weil sein Urteil auf dem aktiven Vergleich einer grossen zahl selbst erarbeiteter Kategorien
beruht
-
vor ein Problem gestellt, probiert es systematisch alle Mittel und Wege aus, die ihm zur Ver
fügung stehen, oder die es neu auszuarbeiten vermag
-
wichtigste Quelle der Belohnung ist nicht die äussere Belohnung, sondern die mit dem inne
ren Spiel seiner kognitiven Möglichkeit verbundene Befriedigung
-
das Individuum wirkt sachorientiert
-
es besitzt hohe Ambiguitätstoleranz
-
es besitzt hohe Rollendistanz.
Die Bereichsspezifität kognitiver Strukturen weist auf die unterschiedliche Entwicklung des Strukturiertheitsgrades innerhalb einer Person hin. So ist es möglich, dass ein Individuum in rein wissenschaftlichen Fragen hochdifferenziert und integriert sein kann, in sozialen Situationen aber
nur über sehr wenige und unkoordinierte Strukturen verfügt. Der Strukturiertheitsgrad, den ein
Individuum aufweist, kann weiter nicht als für immer feststehende Grösse verstanden werden.
Auch er ist einer grossen Zahl von situativen Faktoren unterworfen. So kann sich z. B. eine hochstrukturierte Person in einer komplexen Situation, die normalerweise kaum Schwierigkeiten bereitet, unter extremen, äusseren Druck, zu groben "Vereinfachungen" hinreissen lassen. HARVEY,
HUNT & SCHRODER (1961, in: SEILER 1973) unterscheiden drei Arten von situativen Faktoren, die
sich auf das aktuelle Niveau der Informationsverarbeitung auswirken:
-
Menge und Komplexität der anfallenden Information
-
der belohnende und/oder bedrohende Charakter der anfallenden Information
-
konkrete, von der Umwelt ausgehende Anforderungen.
Alle diese Faktoren können sich sowohl hemmend wie aber auch steigernd auf den Strukturiertheitsgrad auswirken. Es besteht eine kurvenförmige (= umgekehrte U-Kurve) Beziehung zwischen
Strukturiertheitsgrad und den situativen Faktoren. Nun muss aber nicht immer ein hochstrukturiertes begriffliches System am effektivsten sein. Dies hängt viel mehr von der Art der erwarteten
Effektivität und dem Charakter der gestellten Aufgabe ab. So ist in relativ einfachen Aufgaben,
die über lange Zeit konstant durchgehalten werden müssen und keine überraschenden Momente
bringen, eine im betreffenden Anforderungsbereich weniger hochstrukturierte Person im Vorteil,
da sie schneller handelt und rascher entscheidet. Handelt es sich aber um eine Aufgabe mit komplexen Charakter, ist es wahrscheinlicht, dass hochstrukturierte Personen besser abschneiden,
weil sie kreativer sind, mehr Informationen verarbeiten, mehr Gegebenheiten (gleichzeitig) berücksichtigen können, mehr Perspektiven erzeugen etc. Wie bereits angedeutet, setzen die Autoren Kreativität mit hoher Strukturiertheit des kognitiven Systems gleich. Was nun bei der Be43
reichsspezifität der kognitiven Struktur gesagt wurde, wollen die Autoren demnach auch auf Kreativität übertragen wissen.
Eine weitere Folgerung besteht in der Annahme, dass keine direkte Relation zwischen Strukturiertheitsgrad und IQ besteht. Weiter vertreten die Autoren die Ansicht, dass ein Individuum, das
mit Sozialisationstechniken konfrontiert wurde, die formale Regeln und äussere Verhaltensmässstäbe überbewerteten und dem Kind kaum Spielräume für persönliche Entscheidungen liessen, ihm dadurch die Möglichkeit verbauten, Alternativen auszuprobieren bzw. differenzierte
und integrierte kognitive Strukturen aus- bzw. aufzubauen. Die Autoren bewerten ein Erzieherverhalten höher, das zwar inhaltliche Aspekte und die Vermittlung begrifflicher Kategorien nicht
vernachlässigt aber doch stark Neugierverhalten fördert, das Kind anleitet, viele Wahrnehmungen zu machen, um zahlreiche Aspekte einer Situation zu erfassen.
Fassen wir das Konzept der 'kognitiven Strukturen' zusammen:
1. Der Bildungsprozess kognitiver Strukturen ist nie abgeschlossen. Je mehr Begriffe entwickelt
werden, umso mehr neue sind möglich, denn umso mehr Problemsituationen kann sich ein Individuum schaffen.
2. Das Subjekt schafft die Erkenntnismittel nicht aus sich selbst heraus, sondern in der tätigen
Auseinandersetzung mit der Umwelt.
3. Der Aufbau kognitiver Strukturen kann gleichzeitig als ein Konflikt- oder Problemlösungsprozess aufgefasst werden. Strukturinterne Wahrnehmungsprozesse melden quasi in einer Feedback-Schleife Annäherungen an Zielvorstellungen in Verbindung mit starken emotionalen Begleiterscheinungen.
4. Erkenntnisfortschritte und Lernen sind nur in dem Masse möglich, wie das Individuum schon
über entsprechende Verhaltensmöglichkeiten oder begriffliche Kategorien verfügt, die mit den
gesteckten Lern- oder Erkenntniszielen vereinbar sind.
5. Obwohl Nachahmung nur in dem Bereich möglich ist, in dem das Individuum bereits Grundlagen erworben hat, kommt ihr doch in der kognitiven Entwicklung besondere Bedeutung zu. Dies
hängt damit zusammen, dass sich kognitive Entwicklung nur in sozialen Austauschprozessen vollziehen und das Individuum übergeordnete Steuerungsstrategien zur systematischen Imitation
von Modellverhalten entwickeln kann.
6. Der Differenzierungs- und Integrationsprozess zeigt sich als Generalisierungsprozess sensomotorischer Verhaltensweisen und begrifflicher Strukturen sowie im Transfer und in der Anwendung gelernter Verhaltensweisen und Begriffe auf neue Situationen.
7. Entscheidend ist, dass Individuen über die Möglichkeit verfügen, im Laufe der fortschreitenden
Entwicklung übergeordnete Struktursysteme, auch: Strategien, herauszubilden, mit denen es
wiederum den Aufbau neuer Strukturen mehr oder weniger zu steuern vermag. Wie bereits erwähnt, muss ein Individuum in der Lage sein, kognitive Strukturen zu verdoppeln, d.h. sie durch
andere bei- oder übergeordnete begriffliche Struktursysteme abzubilden, und das umso mehr, je
mehr begriffliche Strukturen es entwickelt hat. Das Subjekt muss sich selbst wahrnehmen, und
44
indem es lernt, gewisse allgemeine, sich stets wiederholende Charakteristika dieses Prozesses
herauszuheben, lernt es zu lernen! Auf diese Weise wird es möglich, dass höhere Formen
menschlichen Lernens, Begriffsbildungen und Problemlösungen wenigstens teilweise einen bewussten Vorgang darstellen.
8. Das Individuum vermag auch, bestimmte sich wiederholende grundlegende gesetzmässige Beziehungen zu erfassen, die es als Soll- oder Kontrollbedingungen auf zu bildende Struktursysteme
übertragen kann. Doch ist daraus kein System einer strengen Logik des Denkens abzuleiten.
8.1 Das Konzept der 'kognitiven Strukturen' im handlungsleitenden
Zusammenhang
Da die Frage, ob kognitive Einschätzungen von Situationen und Handlungen entscheidend sowohl
für die Auswahl von Verhaltensstrategien wie für emotionale Reaktionen sind, geht es darum,
abzuklären, ob Kognitionen auch an der aktuellen Ausführung bzw. an der Erweiterung des Handlungsrepertoires beteiligt sind? Hier lässt sich auf BANDURA (1969) verweisen, in dessen Theorie
des Modelllernens kognitive Repräsentationen des Gelernten das entsprechende Verhalten in einer späteren Situation steuern. Untersuchungen zum mentalen Training im Sport (DAEUMLING
u.a. 1973) sind beim Anlernen sensomotorischer Arbeitsaufgaben (ROHNERT, RUTENFRANZ & ULICH 1971) sowie die Untersuchungen von MEICHENBAUM (1975) sind weitere deutliche Beweise für die Rolle von Kognitionen in der Steuerung des Handelns. In diesem Zusammenhang soll
auch erwähnt werden, dass unter Angst irrelevante Kognitionen produziert werden, die sich
ebenfalls auf den Handlungsverlauf auswirken (vgl. HAMILTON 1975; SARASON 1975). Die angeführten Untersuchungen werfen die Frage auf, unter welchen Umständen Kognitionen handlungsregulierend wirken? Um diese Frage zu klären, schlagen SEMMER & FRESE (1979) vor, näher
auf den Bereich des sensumotorischen Lernens einzugehen, dessen Grundlegung bereits von
MILLER, GALANTER & Pribram (1960/1973) geleistet wurde. Das zentrale Thema dieser handlungsorientierten Verhaltenswissenschaftler „ist die hierarchisch-sequentielle Regulierung von
Handlungen durch innere Abbilder auf der Basis von selbstgenerierten oder von aussen vorgegebenen Zielen“ (SEMMER & FRESE, in: HOFFMANN 1979, 125). Diese Abbilder haben umfassenden
Charakter; sie schliessen die relevanten Umweltbedingungen, den Konsequenzen ein. Damit ist
ein enger Zusammenhang zwischen der Qualität dieser Abbilder und der Qualität des Handelns
gegeben. Die inneren Abbilder enthalten, da sie Handlungen zu steuern vermögen, diese Handlungen in antizipatorischer Art und Weise. In einem Feedback-Prozess muss das innere Modell
laufend mit den Handlungsweisen verglichen werden, und umgekehrt (vgl. auch Test-OperateTest-Exit bei MILLER, GALANTER & Pribram, 1970). Dieser Feedback-Prozess ist nun in der Handlungstheorie von entscheidender Bedeutung: efferenter Impuls, reafferentes Feedback und erneuter efferenter Korrekturimpuls müssen dabei zeitlich nahtlos ineinander verschleifen, um eine flüssige Handlung zu gewährleisten. HACKER (1973) spricht in diesem Zusammenhang von
„Vergleichs-Veränderungs-Rückkopplungs-Einheit“ (VVR). Nach HACKER sind diese VVR-Einheiten
hierarchisch miteinander verschachtelt, wobei die höheren Kontroll- und Überwachungsfunktionen haben, resp. Diese auch in Gang setzen können. VOLPERT (1973) bezeichnet eine Einheit höherer Ordnung als Handlungs-Superzeichen. Unter einem Globalzeichen versteht VOLPERT (1973)
45
hingegen den Vorgang, dass eine allgemein Kognition nicht mit einer Handlung verbunden wird.
Ziel einer Therapie ist es demnach nach handlungstheoretischen Überlegungen, dass Globalzeichen durch Superzeichen ersetzt werden. Gehen wir noch einmal auf die verschiedenen Regulationsebenen ein. HACKER (1973) unterscheidet drei Ebenen:
1. Sensumotorische Regulationsebene
Als unterste Ebene der kognitiven Regulation ist sie für gleichbleibende, stereotype Bewegungsfolgen
verantwortlich, die hochautomatisiert und ohne Beteiligung des Bewusstseins ablaufen.
2. Perzeptiv-begriffliche Regulationsebene
Diese Ebene steuert allgemein Handlungsmuster, die in ihrer Struktur relativ gleichbleibend sind und
je nach Situation flexibel eingesetzt werden können.
3. Intellektuelle Regulationsebene
Diese Ebene umfasst die komplexe Analyse von Situationen. Die Analyse unerwarteter, unbekannter
Störungen wird von dieser Ebene gesteuert. Die Fähigkeit, Probleme zu lösen, muss hier angesiedelt
werden.
Diese drei Stufen nach HACKER (1973), die sich mehr auf die inneren Abbildungen beziehen, müssen
noch durch Erläuterungen, die das Handeln thematisieren, ergänzt werden. Für VOLPERT (1974) ist
sinnvolles Handeln von einer sachlichen und zeitlichen Effizienz her zu begreifen. VOLPERT erklärt
realistisches Handeln an zwei Negativ-Beispielen: Pläne sind unrealistisch, wenn sie fehlentwickelt,
isoliert sind. Solche Pläne enthalten Teile, die vom Individuum nicht zu realisieren sind, resp. In ihrer
Zeitvorstellung unrealistisch sind. Unterentwickelte Pläne dagegen kommen überhaupt nicht zur
Entfaltung, sie ermöglichen lediglich, zielloses, wirres Umhersuchen. Nach VOLPERT zeichnet sich
effizientes Handeln nicht nur durch Realitätsbezogenheit, sondern auch durch ein Festhalten am Ziel
(Stabilität) bei gleichzeitig flexiblem Austausch (Flexibilität) von Unterprogrammen aus, wenn Handlungssituationen es erfordern. Als Fehlentwicklung würde es VOLPERT ansehen, wenn Rückmeldungen nicht verarbeitet werden. Rigides Handeln ist die Folge. Das Gegenteil ist aber genauso denkbar,
indem die kleinste Störung ausreicht, um den einmal eingeschlagenen Handlungsfluss aus dem
Gleichgewicht zu bringen und damit zu unterbrechen. Effizientes Handeln muss demnach auch organisiert sein. Dadurch kommt eine Ökonomie zustande, die es erlaubt, dass höhere Regulationsebenen mittels Delegation an untere für voraus planende Aufgaben frei werden. Fehlentwicklungen von
Planungsvorgängen sähen so aus, dass Zwischenstadien einer Handlung nicht genügend antizipiert
werden, so dass in voreiliger Zielorientierung Handlungsvarianten gewählt werden, die nicht mit
eventuell effizienteren Handlungsstrategien verglichen worden sind. Auch hier wäre wiederum eine
Fehlentwicklung denkbar, in der höhere Ebenen Kleinigkeiten zu viel Aufmerksamkeit schenken statt
sie routinemässig zu behandeln, so dass das Individuum keinen Überblick mehr hat.
46
8.2 Gestörte Regulationsebenen im handlungstheoretischen Ansatz
Auf den jeweiligen Regulationsebenen können nun bestimmte Störungen auftreten:
1. Inadäquate Regulationsgrundlage
Eine inadäquate Regulationsgrundlage besteht darin, dass die äusseren und inneren Bedingungen
einer Situation falsch eingeschätzt werden, oder dass falsche, d.h. unrealistische Ziele eingesetzt
werden.
2. Fehlende Regulationsgrundlage
Hier kommt zusätzlich zu 1. Hinzu, dass wirrres und ungerichtetes Verhalten auftaucht, wenn Situationsbedingungen nicht eingeschätzt werden, bzw. keine strategischen Ziele gefunden werden.
3. Inadäquates Aktionsprogramm
„Das Aktionsprogramm ist der hierarchisch strukturierte Plan zur Ausführung von Handlungen auf ein
bestimmtes Ziel hin“ (SEMMER & FRESE, in: HOFFMANN 1979, 140). Inadäquat ist ein Aktionsprogramm dann, wenn aus dem Ziel und dem sonstigen Informationshintergrund eine falsche Regulationsgrundlage abgeleitet wird. Allgemeine Kognitionen und damit Einsichten können zwar vorhanden
sein, diese werden aber in falschen strategischen oder taktischen Plänen umgesetzt. Auch Handlungsrigidität ist ein inadäquates Aktionsprogramm (vgl. LUCHINS & LUCHINS 1959). Als Gründe für
rigides Verhalten von Handlungsstrategien und Taktiken können angeführt werden, dass eine alternative Handlungsstrategie fehlt und deshalb an der einzig bestehenden starr und unflexibel festgehalten wird:
-
Dass bestimmte Strategien unter Angst- und Stressbedingungen sich rigidisieren und fixieren
-
Dass sich bestimmte Handlungen so nach der senosmotorischen Ebene verlagert haben, dass
sie nur noch schwer gestoppt und nicht mehr auf höhere Ebenen transformiert werden können.
4. Defizitäre Beherrschung des Aktionsprogrammes
Fehlende oder mangelnde Beherrschung eines Aktionsprogrammes zeichnet sich dadurch aus, dass
sich Kognitionen nicht mit konkretem Verhalten verbinden. Hier muss durch entsprechende Übung
eine handlungsrelevante Kognition auf einer unteren Regulationsebene angesprochen bzw. aufgebaut werden.
Im folgenden werden wir Untersuchungen berücksichtigen, die sich auch mit kognitiven Prozessen
befassen, diese aber von einer ganz anderen Basis als der bisherigen, von PIAGET ausgehenden ableiten, nämlich von den Lerntheorien.
47
9. Das Konzept der kognitiven Prozesse auf lerntheoretischer Grundlage
Die kognitive Verhaltensmodifikation hat die begriffliche und empirische Analyse von privaten Ereignissen zum Inhalt. Menschliches Leben setzt sich überwiegend aus privaten Reaktionen auf die jeweilige private Umwelt zusammen: dies können Monologe, Gedanken, Gefühle, Erinnerungen, Träumereien usw. sein (vgl. MAHONEY 1977, 12). Auf Grund der kaum zu bestreitenden häufigen Vorkommnisse privater Reaktionen erscheint es nicht nur eine Pflicht, sondern auch eine moralische Aufgabe
zu sein, kontrollierte wissenschaftliche Ergebnisse zum angesprochenen Bereich vorzulegen. Diese
Forderung erscheint auf den ersten Blick kaum der Rede wert zu sein. Es scheint jedoch, dass sich die
Verhaltensforscher mit dem o. a. Bereich privater Erlebnisse immer sehr schwer getan haben respektive ihn ignoriert haben (vgl. hierzu den Terminus ‚black box‘). „Die offene Verbannung privater Ereignisse in ein „positivistisches Fegefeuer“ durch WATSON (1924) und SKINNER (1953) hatte instrumentellen Stellenwert für die Entwicklung von kontrollierten Verhaltensanalysen solcher Phänomene. Ausdrücke wie ‚mental‘ und ‚nicht-beobachtbar‘ wurden in Verbindung gebracht mit Begriffen
wie ‚unbestimmt‘, ‚unwissenschaftlich‘. In den letzten zwanzig Jahren haben sich auch innerhalb der
verhaltenstheoretisch ausgerichteten Forschung Gegenstimmen zur klassischen Verhaltenstherapie
gemeldet und ihr Interesse an verdeckten, d.h. nicht beobachtbaren bzw. nicht beobachteten Phänomenen angemeldet. Verdeckte Phänomene sind ihrer Meinung nach wissenschaftlich legitim, und
ihre Untersuchung im klinischen und für uns im (heil- bzw. sozial-)pädagogischen Bereich unerlässlich. Geht man der Untersuchung privater Ereignisse aus dem Weg, so trennt man sie von anderen
beobachtbaren Verhaltensweisen und unterstützt damit gleichzeitig eine Trennung von körperlichen
und geistigen Aktivitäten, was auch nie im Sinne der klassischen Behavioristen gewesen ist.
Die Hauteigenschaft des radikalen Behaviorismus WATSON’scher Prägung war natürlich metaphysisch: die Existenz der Seele wurde geleugnet. Auf das direkte Ablehnen der Seele und seelischer
Prozesse stösst man bei heutigen Behavioristen selten. Trotzdem bleibt eine starke Abneigung gegen
mentalistische Begriffe zurück. Abneigung betrifft alle Prozesse, die zwischen Reiz und Reaktion zu
vermitteln versuchen. Folgende Vorwürfe werden vorgebracht:
-
mentalistische, also vermittelnde Begriffe und Konstrukte sind unwissenschaftlich,
-
sie sind nicht beobachtbar,
-
operationale Definitionen sind oft nicht gewährleistet.
D.h. der methodologisch operierende Behaviorist muss spezifizieren können, welche Daten Bedeutung für den Wahrheitswert seiner Hypothesen haben usw. Für MAHONEY (1977) entsprechen mehrere der oben genannten Kriterien methodologischen Konventionen. Seine Aussagen erinnern stark
an die von uns bereits im ersten Kapitel getroffenen Ausführungen.
Kehren wir zu MAHONEYs Unterscheidung von vermittelnden und nicht-vermittelnden Modellen
zurück. Unter einer vermittelnden Variable versteht MAHONEY einen erschlossenen (unbeobachte48
ten) Faktor, welcher den Stimulus-Input mit dem Reaktions-Output in Beziehung b ringt. MAHONEY
unterscheidet zwischen nicht beobachteten und nicht beobachtbaren Vermittlungen. Erstere bezeichnet er als hypothetische Konstrukte und verweist auf neuro-chemische Prozesse im Inneren
eines Organismus. Anders als das hypothetische Konstrukt, das einer strukturellen Funktion dient, ist
eine intervenierende Variable nicht beobachtbar. Ihre Rolle im Vermittlungsprozess ist eine begriffliche bzw. beschreibende. Deshalb fällt es vielen Behavioristen schwer, Vermittlungsmodelle zu akzeptieren, weil sie ansonsten mit dem „Gebot“ des Behaviorismus: „Du sollst keine Schlussfolgerungen
ziehen“ kollidieren. Die Begriffe ‚Schlussfolgerungen‘ und ‚nicht beobachtet‘ wurden in ihrer Nebenbedeutung zu technischen Obszönitäten (vgl. MAHONEY 1977, 35). Nach MAHONEY sind nun aber
Schlussfolgerungen nicht nur gerechtfertigt, sondern für die Verhaltenswissenschaft grundlegend.
Für MAHONEY stellt sich die Problemstellung nicht, ob Schlussfolgerungen gerechtfertigt sind, sondern vielmehr, wann und welche Schlussfolgerungen zum Verständnis von Verhalten beitragen können. Die grundlegende Funktion erschlossener, d.h. vermittelnder Variablen ist ihr verbindender
Charakter. MAHONEY weist auf, dass die meisten Schlussfolgerungen durch nur vier grundlegende
empirische Ereignisse zustande kommen:
1. zwei identische Reize erzeugen verschiedene Reaktionen
Reiz A
Reaktion A
Reiz A
Reaktion B
2. zwei verschiedene Reize erzeugen identische Reaktionen
Reiz A
Reaktion A
Reiz B
Reaktion A
3. kein beobachteter Reiz
Reaktion A
4. Reiz A
keine beobachtete Reaktion.
Interessant ist nun, dass die vier Beispiele bei einer einzigen Person vorkommen können (intraindividuelle Schlussfolgerungen). Die Beispiele 1 – 4 machen deutlich, wann es unerlässlich ist, Schlussfolgerungen zu ziehen. Offen bleibt jetzt noch die Frage, welche Schlussfolgerungen gerechtfertigt sind?
Nach MAHONEY ist das einzige Kriterium für eine gerechtfertigte empirische Schlussfolgerung pragmatischer Natur. „Eine Schlussfolgerung ist dann, und nur dann gerechtfertigt, wenn sie die Vorhersagegenauigkeit oder die konzeptuelle Weite vergrössert“ (MAHONEY 1977, 45). Vorhersagbarkeit ist
demnach zweifellos das strengste Kriterium, expost-facto-Erklärungen können ebenfalls ein bestimmtes Mass an Angemessenheit zugebilligt werden. „Wenn ein theoretisches Modell ein bestimmtes Phänomen weder vorhersagen noch erklären kann, ist es inadäquat“ (MAHONEY 1977, 46).
Wie bereits erwähnt, sind Abweichungen von 1 – 4 von einfachen Input-Output-Regelmässigkeiten
an der Tagesordnung und fordern deshalb zu empirisch überprüften Schlussfolgerungen heraus.
Nach dem Vermittlungsmodell ist ein Teil dieser Verhaltensvariabilität den Reaktionsprozessen innerhalb des Organismus zuzuschreiben. Darauf wollen wir im folgenden näher eingehen.
49
Mit der Negativ-Hypothese: Nicht-vermittelnde Modelle sind inadäquat, wollen wir 1. auf die vermittelte Reiztransformation eingehen. Ein in der Wahrnehmungstheorie lange bekanntes Phänomen ist,
dass der Organismus nicht auf einen bestimmten ‚echten‘ äusseren Reiz reagiert, sondern auf einen
‚wahrgenommenen‘ Reiz: Wir denken nicht, wir denken, dass wir denken! Deshalb kann es auch Beispiele geben, bei denen ein Organismus unterschiedlich auf zwei identische Reize reagiert. Es käme
nun für den Verhaltenswissenschaftler darauf an, zu erfahren, wie ein Reiz wahrgenommen wird.
Dadurch wäre es ihm möglich, die Genauigkeit seiner Verhaltensvorhersagen zu erhöhen. Äussere
Reize werden oft durch kognitive, symbolische Prozesse modifiziert, anders gesagt: Menschen reagieren auf ihre Wahrnehmung oder Interpretation eines Hinweisreizes und nicht auf den Hinweis
selbst.
Ein zweites Gebiet stellt die semantische Konditionierung und Generalisation dar. Vor allem von russischen Forschern (PAVLOV 1955; PLATONOV 1959; RAZRAN 1965) wurde schon sehr früh verkannt,
dass, wenn bei respondentem Konditionieren Wörter als zu konditionierende Reize verwendet werden, einige Vermittlungsprozesse mit ins Spiel kommen. Wenn in Trainingsdurchgängen auf das Wort
‚Hase‘ immer ein schmerzhafter Elektroschock folgt, wird es zu einem konditionierten Reiz für autonome Erregung werden. Wenn danach während der Testdurchgänge kein Schock dargeboten wird,
werden menschliche Versuchspersonen auf den Reiz ‚Kaninchen‘ grössere autonome Erregung zeigen
als auf das Wort ‚Haare‘. D.h., dass der semantischen Bedeutung ein grösserer Wert zukommt, als
der phonetischen Ähnlichkeit. Zu erklären ist dieser Umstand nur durch ein Vermittlungsmodell.
Beim dritten Bereich muss auf die ‚Symbolische Selbstreizung‘ eingegangen werden. Dieses dritte
Beispiel, in dem nicht-vermittelnde Modelle nicht weiter kommen, ergibt sich aus den seit langem
bekannten Nachweisen, dass verbale und vorgestellte Reize beim menschlichen Verhalten eine sehr
bedeutende Rolle spielen. PLATONOV (1959) berichtet, dass Versuchspersonen beträchtliche physiologische Reaktionen auf die mit Schmerz assoziierten Wörter (z. B. Verletzung) zeigten. Verstärkt wird
dieses Phänomen noch durch die Tatsache, dass der Mensch ein sich selbst stimulierendes Wesen ist
(innere Monologe, Selbstgespräche, Denken etc.). Die Frage ist nun, ob auch selbsterzeugte, verdeckte Reize Reaktionen auslösen, die denen externer Reizung vergleichbar sind? Nun ist bekannt (SHAW
1940; BANDURA 1969; MCGUIGEN & SCHOONOVER 1973), dass wenn Versuchspersonen verschiedene Reize ‚herbeidenken‘, messbare physiologische Effekte beobachtet werden können.
Ein viertes Gebiet auf dem das nicht-vermittelnde Modell sich als unzulänglich erwiesen hat, ist das
Feld der Bewusstheit. Besonders im Zusammenhang mit Lernprozessen hat man das Phänomen Bewusstheit untersucht. Die Nachweise scheinen zusammenfassend zu zeigen, dass Lernen ohne Bewusstheit stattfinden kann, wenn auch mit langsamer Geschwindigkeit, dass aber die symbolische
Vorstellung der Reaktions-Verstärkungs-Kontingenzen die angemessene Reagibilität beträchtlich
beschleunigen kann (vgl. BANDURA 1969).
Aus diesen Beispielen ist klar geworden, dass die Angemessenheit des nicht-vermittelnden Modells in
Frage gestellt werden muss. Ein einfaches Input-Output-Schema vermag die komplexen Phänomene
wie Reiz-Transformation, semantische Konditionierung und Generalisierung, symbolische Selbstreizung, Bewusstheit, aber auch des stellvertretenden Lernens, nicht zu erfassen. Es besteht kein Zweifel, dass ein Paradigmenwechsel weg vom nicht-vermittelnden hin zum vermittelnden Modell unablässig ist. Trotzdem ist Vorsicht geboten. Der Forscher muss sich permanent mit der Frage auseinan50
dersetzen, wie er unterscheiden kann, welches Modell oder welche Modelle angemessen sind. Etwas
spezifischer ausgedrückt:
1. Welche Daten liefern den vermittelnden Variabeln Bestätigung?
2. Wie angemessen ist das Modell als theoretisches System hinsichtlich der formalen wissenschaftlichen Kriterien für Theoriebildung: a) die symbolische Struktur, b) die Terminologie, c)
Voraussetzungen oder Vorannahmen, d) interne Konsistenz, e) Beziehungsregeln, f) Ableitungen und Vorhersagecharakter.
In dem von MAHONEY beschriebenen zweiten Vermittlungsmodell geht es um die Informationsverarbeitung, d.h. um Aufnahme, Speicherung und Anwendung von Information. Hierbei geht MAHONEY von der Prämisse aus, dass der Organismus nicht auf eine reale Welt reagiert, sondern auf seine
eigene vermittelte Wiedergabe davon. Diese Vermittlung unterliegt Prozessen wie Reizselektion, verzerrung und –umformung. Von dieser Basis ausgehend formuliert MAHONEY 4 umfassende Kriterien der Informationsverarbeitung.
1. Aufmerksamkeit, die sich mit selektiver Orientierung auf spezifische Stimuli hin und deren
Assimilation beschäftigt.
Hierbei gilt zu berücksichtigen, dass der Organismus nur einen kleinen Teil der auf ihn einstürmenden Reize assimiliert und selektiert. Aufmerksamkeitsprozesse ermöglichen es dem
Organismus einen weiten Bereich an Aktivitäten auszuführen, ohne bewusst auf sie zu achten. Subjektive Berichte lassen vermuten, dass diese prä-attentiven Mechanismen der selektiven Aufmerksamkeit nur bei einfachen, routinemässig zu erledigen Aufgaben vorkommen.
Aber Veränderungen der Routine scheinen gerichtete Aufmerksamkeit wieder zu stimulieren.
Früher Gelerntes und der Reizkontext beeinflussen die Wahrnehmung ebenfalls stark.
2. Kodierung, was symbolische Verschlüsselung des Reizes nach verschiedenen Faktoren (physikalische Merkmale, Semantik usw. ) bedeutet.
Die Informationsverarbeitung wird durch mehrere Faktoren beeinflusst. Bei der Kurzzeitspeicherung scheint die Dauer, die Wiederholung und die zeitliche Position der Konfrontation mit
dem Reiz positiv mit der späteren Erinnerung zu korrelieren. Ausserdem transformieren
Menschen Stimulierung oft in einen inneren Code, um die Erinnerung daran zu erleichtern
und ökonomisch zu machen. Menschen haben aber eine beschränkte Verarbeitungskapazität
und können nur mit einer bestimmten Informationsmenge gleichzeitig umgehen. Dies zwingt
sie, Informationen zu Einheiten zusammenzufassen.
3. Speicherung, was das Behalten codierter Informationen bedeutet.
MAHONEY verweist auf 4 mögliche Erklärungen, die das Behalten von Informationen durch
Vergessen tangieren:
51
-
Zerfallshypothese: Gedächtnisspuren werden langsam schwächer
-
Interferenzhypothese: neue, andere Erfahrungen interferieren mit den alten, die mit der Zeit
auf der Strecke bleiben
-
Gerichtetes Vergessen: werden bestimmte Reize nicht mehr gebraucht, so wird die Wahrscheinlichkeit der späteren Erinnerung an sie deutlich reduziert
-
Motiviertes Vergessen: Erinnerungen, die mit sehr schmerzlichen Erfahrungen verbunden
sind, können weniger zugänglich werden.
4. Reproduktionen, was die folgende Anwendung der gespeicherten Informationen zur Verhaltenssteuerung einschliesst
Die entscheidenden Fragen bei der Reproduktion von Erinnerung scheinen sich um Such-,
Auswahl- und Reaktionserzeugungsprozesse zu zentrieren. Dabei gehen Menschen sowohl
von vorstellungsmässigen als auch von verbalen Hinweisreizen aus. Die meisten Reproduktionen scheinen assoziativ oder instrumentell zu sein. Das Modell der Informationsverarbeitung versteht den Menschen als aktiven Vermittler der Stimulierung. Die Informationsverarbeitung beim Menschen ist auf drei strukturelle Elemente angewiesen:
-
Sensorischer Speicher
-
Kurzzeitgedächtnis
-
Langzeitgedächtnis.
Die gegenwärtigen Kenntnisse über die Beständigkeit des Gedächtnisses, seine physiologischen
Grundlagen und das Wesen des Vergessens sind aber noch unzureichend.
9.1
Informationsverarbeitungsstörungen beim kognitiven Lernen
Im folgenden wollen wir auf gestörte Vermittlung von Informationen beim kognitiven Lernen eingehen. Vier Schwerpunkte der Varianz im Verhalten sollen angegangen werden.
1. Faktoren der Aufmerksamkeit
Wie wir bereits ausgeführt haben, richten Menschen ihre Aufmerksamkeit selektiv nach Kriterien, die
für ihre Anpassung angeborene oder erworbene Bedeutung haben. So berichten MISCHEL, EBBESEN
& ZEISS (1972) von Experimenten, in denen Kindern durch kognitives Training beigebracht wurde,
Aufmerksamkeitsfaktoren von erwünschten Gegenständen abzulenken, um kurzfristig gesuchte Befriedigung aufschieben zu lernen. Verhalten kann also auch durch den differentiellen Fokus der Aufmerksamkeit merklich beeinflusst werden (vgl. auch ROSENTHAL 1966). So zeigen Personen ein
grösseres Vermeidungsverhalten, wenn dieselbe Aufgabe zum Beispiel als Furchteinschätzung und
nicht als Kommunikationsforschung dargestellt wurde (vgl. auch Placebo-Effekte: FRANK 1962,
GOLDSTEIN 1962, SHAPIRO 1971). Auch hier spielen kognitiv-symbolische Prozesse eine grosse Rolle,
denn wenn Verfahren Erwartungen auslösen, werden mittels ihrer Einflüsse perzeptuelle und vermittelnde Prozesse wirksam. Von der adaptiven Seite her gesehen, scheint die selektive Informationsverarbeitung die Fähigkeit einer Person zu erleichtern, z. B. schmerzhafte Situationen zu ertragen,
Versuchungen zu widerstehen und therapeutische Veränderungen zu optimieren. Fehlangepasste
52
Aufmerksamkeitsprozesse können nun aber auch zu fehlangepassten Verhaltensmustern führen.
Dazu gehört:
a) Die selektive Unaufmerksamkeit
Sie bedeutet das Übersehen verhaltensrelevanter Hinweisreize. Dies kann sich so darstellen, dass
die Hinweisreize sehr wohl angemessen sind, aber nicht beachtet werden.
b) Fehlwahrnehmung
Eine andere Möglichkeit der Fehlwahrnehmung sieht so aus, dass zwar die Hinweisreize beachtet
werden, aber sie werden mit ungenauen Bezeichnungen belegt.
c) Fehlangepasstes Fokussieren
Fehlangepasstes Fokussieren tritt dann auf, wenn Menschen Hinweisreizen folgen, die für sie eigentlich unwichtig oder sogar schädlich sind. Fehlangepasstes Fokussieren tritt oft in Verbindung
mit selektiver Unaufmerksamkeit auf. MAHONEY meint, dass Impulsivität darauf hindeuten
könnte, dass impulsive und hyperaktive Kinder vielleicht auf ablenkende Stimuli achten (vgl.
MAHONEY 1977, 177; auch: MEWE 1978).
d) Fehlangepasste Selbsterregung
Die fehlangepasste Selbsterregung umfasst das Erzeugen privater Hinweisreize, die ebenfalls für
das Verhalten irrelevant oder schädlich sind. Im Gegensatz zum fehlangepassten Fokussieren
werden jetzt die fehlangepassten Hinweisreize ‚intern‘ statt ‚extern‘ erlebt. Angst vor Dunkelheit
veranschaulicht dieses Phänomen deutlich. Wenn eine äussere Stimulierung tatsächlich fehlt, erfahren viele Personen aufgrund selbsterzeugter Hinweisreize eine starke und schmerzhafte autonome Belastung.
2. Beziehungsprozesse
Die Möglichkeit für Funktionsstörungen in der Vermittlung hören nicht auf, nachdem ein Hinweisreiz beachtet und decodiert worden ist. Eine erste Störung überschneidet sich mit einigen
unter 1. Besprochenen Decodierungsprozessen. Im spezifischen Fall kann ein beachteter Stimulus
ungenau übersetzt werden und zwar so, dass ein Klassifikationsirrtum adaptives Verhalten verhindert. So ist beispielsweise ‚Dichotomes Denken‘ ein gestörter Prozess bei der menschlichen
Vermittlung. Hier werden Situationen, Ereignisse nach einem Alles-oder-Nichts-Prinzip kategorisiert. Das graduelle Kontinuum, das die Situation vielleicht angemessener beleuchten würde,
wird nicht erkannt bzw. nicht anerkannt. Auch überstarke Vergleichsprozesse und ständiges Bewerten eigener Leistungen sind oft schädliche Komponenten im Vermittlungsprozess (vgl. auch
Depressivität: BECK 1970; Testangst: ALLEN 1970).
Eine dritte Form von beeinträchtigter Vermittlung sind Gedächtnisstörungen, die zu fehlangepassten Verhaltensmustern beitragen können. Gedächtnisstörungen sind ein unnagemessenes
Speichern von
53
-
Stimulus- und Kontextinformationen
-
Reaktionselementen
-
Merkmalen von Konsequenzen.
Gedächtnisstützen, Übungsanweisungen und ein bedeutungsvoller begrifflicher Zusammenhang,
erleichtern vielen Menschen die Fähigkeit, sich Informationen anzueignen und zu merken.
Eine weitere Art von Vermittlungsstörungen stellen Schlussfolgerungs-Irrtümer dar. MAHONEY
verweist in diesem Zusammenhang auf das induktive Denken, dass aus isolierten Ereignissen generalisierte Schlüsse gezogen werden. Hier ist die Gefahr sehr gross, dass Schlussfolgerungen gezogen werden, die von der persönlichen Information nur unzureichend abgedeckt werden. Gestörte Schlussfolgerungen können zudem noch durch falsche Analogie-Schlüsse mit beeinflusst
werden. Erwähnt werden soll auch die mögliche Fehlerquelle beim Schlussfolgern, die durch die
fehlerhafte Antizipation von Konsequenzen entsteht. Da Menschen vermittelnde Organismen
sind, scheint sich einer ihrer primären, symbolischen Prozesse auf persönliche Vorhersagen zu
konzentrieren. Die Antizipation von Konsequenzen geschieht auf der Grundlage der Auswertung
von vorherigen Erfahrungen, von stellvertretendem Lernen, von gegenwärtigen Impulsen und einer Reihe von privater, individuellen Schlussfolgerungen.
3. Merkmale des Reaktionsrepertoires
Angemessene Aufmerksamkeits- und Beziehungsprozesse allein sind noch eine Garantie für
adaptives Verhalten. Wenn das Reaktionsrepertoire Mängel aufweist, wird auch das Verhalten
ungenügend sein. Unzulängliches Verhalten kann auch entstehen, wenn Menschen nicht die Fähigkeit besitzen, angemessene Wahlmöglichkeiten im Problemlösen bereitzustellen. Ein systematisches Training in Problemlösefähigkeiten kann eine Verbesserung im Reaktionsrepertoire bewirken (vgl. SPIVACK & SHURE 1974).
Nachdem nun auch die die informationsverarbeitenden Prozesse sowie ihre Störungsmöglichkeiten dargestellt wurden, ist damit die Basis gegeben, um nun, im folgenden Kapitel, noch intensiver auf mögliche Verhaltensauffälligkeiten sowie ihre Therapiemöglichkeiten einzugehen.
54
10.
Therapieformen, die sozial-kognitive Prozesse berücksichtigen
Im folgenden wollen wir nun auf mögliche Therapieformen eingehen, die die kognitive Therapie hervorgebracht hat. Es handelt sich hierbei weitestgehend um Therapieformen, die sich der Methode
der kognitiven Umstrukturierung sowie der Selbstinstruktion bedienen.
10.1 ‚RET‘: Die rational-emotive Psychotherapie von ELLIS (1973)
Nach ELLIS entstehen psychische Probleme aus Fehlwahrnehmungen und falschen Kognitionen über
das, was Menschen wahrnehmen. Die rational-emotive Therapie basiert demnach auf der Anname,
dass emotionale Reaktionen durch bewusste und unbewusste Bewertungen, Interpretationen und
Philosophien entstehen. BECK (1970), der versucht, das theoretische Fundament der 'RET' zu untermauern, weist auf 4 übliche Verzerrungen der Denkmuster hin:
1. Willkürliches Kausaldenken
Es werden Schlussfolgerungen gezogen, obwohl Beweise fehlen oder sogar den Schlussfolgerungen
widersprechen.
2. Übertriebene Verallgemeinerungen
Tritt dann auf, wenn ein einziges eine allgemeine Regel im Denken zur Folge hat.
3. Magnifizieren/Katastrophieren
Die Bedeutung eines Ereignisses wird stark überbewertet.
4. Kognitive Defizite
Sie bestimmen sich durch Vernachlässigung eines wichtigen Aspektes in einer Lebenssituation. Wichtige Erfahrungen können deshalb nicht erfahren und in einen Gesamtzusammenhang integriert werden.
LAZARUS (1971) hat diesen Katalog noch um zwei Punkte erweitert.
5. Dichotomisierendes Denken
Ein Mensch zieht jeweils nur zwei mögliche Bewertungen eines Ereignisses in Betracht (schwarzweiss, gut-schlecht, richtig-falsch etc.)
6. Übertriebene Sozialisation
Kennzeichnet sich durch das Versagen, die Willkürlichkeit sozialer Sitten und Normen zu erkennen
und in Frage zu stellen.
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Die Hauptaufgabe des Therapeuten besteht nun darin, dem Klienten seine unlogischen Denkstrukturen aufzuzeigen und ihm dabei zu helfen, neue Wege zu überlegen und diesselben auch einzuschlagen. Einige Variablen, die ELLIS besonders berücksichtigt haben möchte, bringen ihn in besondere
Nähe zur klientenzentrierten Gesprächspsychotherapie. Auch nach ELLIS sollte ein Therapeut vorsichtig vorgehen, den Klienten unterstützen, Wärme zeigen, dem Klienten Gelegenheit geben, seine Gefühle zu zeigen. ELLIS verwendet hierzu das Rollenspiel. Nach ELLIS muss der Therapeut selber über
Techniken bzw. Strategien verfügen, um logische Regeln im menschlichen Denken und Zusammenleben aufzeigen zu können. Er sollte gerade und unkompliziert denken und sein Leben mit wissenschaftlichen Methoden zu bewältigen versuchen. Dadurch wird der Therapeut in die Lage versetzt,
irrationales Denken auf Seiten des Klienten aufzudecken. Für REINECKER (1978), auf den wir noch
gesondert eingehen werden, bedeutet es eine grosse Schwäche der 'RET', dass nur der Therapeut
den Schlüssel für richtig oder falsch besitzt, als ob nur er einen privilegierten Zugang zur Realität besässe. Die Auffassung ELLIS widerspricht der heute in der Sozialpsychologie üblicherweise vertretene
Position, dass es zwischen pathologischen und normalen Verhaltensweisen keine scharfe Trennungslinie gibt. ELLIS System ist von einem gefährlichen Subjektivismus durchsetzt, weil man nicht davon
ausgehen kann, dass nur ein Therapeut über die Weltsicht verfügt, die richtig ist. Nach MAHONEY
(1977) sind die experimentellen Befunde zur 'RET' dürftig. Häufig kommen bei den wenigen experimentellen Befunden noch methodische Ungenauigkeiten und viele Faktoren, die nicht exakt kontrolliert werden konnten, hinzu. Trotzdem muss darauf hingewiesen werden, dass sich insbesondere die
'RET' im klinischen Bereich einer gewissen Beliebtheit erfreut, was für die 'RET' sprechen würde. Der
andere Punkt, in dem ELLIS angriffswürdig ist, sind ELLIS philosophische Grundannahmen. Ob sich
alle menschlichen Gefühlszustände auf logische Weise auflösen und damit lösen lassen, scheint fraglich. Ob es wünschenswert wäre, ist eine weitere offene Frage.
10. 2 Reineckers Konzept der Selbstkontrolle durch Versprechen und soziale Verträge
REINECKER (1978) integriert zu Beginn die in der Verhaltenstherapie getroffenen Abmachungen oder
Verträge zwischen Klienten und Therapeuten in sein Konzept der Selbstkontrolle. Ziel dieser Verträge
ist es, bestimmte Kontingenzen eines Verhaltens präzisieren zu können, die dadurch eher verhaltenssteuernd wirken. Was ist nun das genuin spezifische eines Vertrages in der Verhaltenstherapie? Voraussetzung ist, dass der Klient sein eigenes Verhalten nicht mit gewissen Verhaltensprinzipien in Einklang bringen kann. Das Individuum stellt Abweichungen zu seinem Selbst-Image fest. Die Bereitschaft, Verträge zu schliessen, ist unter folgenden Bedingungen besonders hoch:
1. In Anlehnung an PREMACK (1971) können Umgebungsreize mit z. B. aversivem Charakter die eigene Bereitschaft erhöhen, einen Vertrag zu schliessen.
2. Wenn die Bereitschaft besteht, ein Verhalten auszubilden, das aber im Gegensatz zu einem anderen geäusserten Verhalten steht, so erhöht dies ebenfalls die Bereitschaft, einen Vertrag abzuschliessen.
Ein Vertrag erfüllt nach REINECKER (1978) zwei Funktionen:
1. Er legt die gegenseitigen Verpflichtungen fest.
56
2. Der Vertrag dient als externe Kontrolle i. S. eines Feedbacks.
Auch bei Verträgen liegt die positive Wirkung mehr in der kognitiven Repräsentanz von extern erwarteter Verstärkung, als in der realen Verstärkung selbst. Ein weiterer Vorteil der Verhaltensverträge
liegt in ihrer Präzisierung von Problemverhalten resp. in der Darstellung kleinster Schritte, die es zu
erreichen gilt, was stark angstmindernd wirkt. REINECKER (1978) bemerkt, dass allein das Wissen um
die Möglichkeit eigener Kontrolle das Ertragen aversiver Situationen leichter macht. Personen, die
diese Möglichkeit nicht haben, reagieren mit 'geplanter Hilflosigkeit' (sinnloses, neurotisches, depressives Verhalten). Gelernte Hilflosigkeit (SELIGMAN 1972) geht von der Annahme aus, dass es ein
Individuum durch traumahafte Erlebnisse verlernt hat, auf eigene Reaktionen auch eigene Wirkungen zu sehen. Erlernte Hilflosigkeit stellt eine kognitive Verzerrung bezüglich der eigenen Konsequenzen dar. Das Individuum nimmt an, dass die Konsquenzen, die auf sein Verhalten folg(t)en, zufällig
sind. Gelernte Hilflosigkeit verschlechtert die Leistung beim Problemlösen.
10.3 Meichenbaums Selbstinstruktionstraining
MEICHENBAUM (1977) stellt seine Methoden der Selbstinstruktion auf den Denkstil des Patienten als
einen sehr wichtigen Zugang zur Verhaltensänderung ab. Eine wichtige Komponente dabei ist die
Wahrnehmung des Klienten bzw. sein Wahrnehmungsstil. Jemand mit Redeangst glaubt, wenn die
Leute den Saal verlassen, an mangelnde Redefähigkeiten, während ein Mensch mit Selbstbewusstsein denkt: die Leute im Saal sind unzivilisiert. Dabei ist wichtig zu sehen, dass die verschiedenen
Wahrnehmungen von verschiedenen Selbstbewertungen ausgehen. Die Selbstinstruktion ist dazu
angelegt, sowohl die kognitiven als auch die Verhaltensanteile der jeweiligen Problematik zu modifizieren. Durch die Selbstinstruktionstherapie soll der Klient sich seiner Gedanken bewusst werden und
dazu geleitet werden, inkompatible Selbstinstruktionen und inkompatibles Verhalten hervorzubringen; eine Methode, die in der Sozialpsychologie als die beste festgestellt wurde, um Einstellungen zu
ändern. MEICHENBAUM unterteilt den Therapieprozess in drei Teile.
1. Phase der begrifflichen Strukturierung des Problems
Hier wird von seiten des Therapeuten verstehend in die besondere Natur des Problems eingedrungen und erste Planungen des Behandlungsanfangs vorgenommen. Der Klient wird auf die therapeutische Intervention und deren Begründung vorbereitet, einzeln oder in Gruppen. Dabei scheint die
Gruppentherapie wegen der Gruppendynamik vorteilhafter zu sein. Als erstes erfolgt eine Situationsanalyse des vorgestellten Problems durch Interviews. Dabei ermittelt der Therapeut den Denkstil,
den er ja nach Lage dem Klienten bewusst macht oder nur auf das Problem bezieht. Die Klienten
bekommen Hausaufgaben, bei denen sie quasi mit einem 'dritten Ohr' sich selbst zuhören, um ihre
eigenen Instruktionen zu erfahren.
2. Phase
Die begriffliche Struktur des Problems wird erforscht, ausprobiert und konsolidiert. Die Klienten beginnen zu begreifen, dass ihre Ängste und Befürchtungen nicht Eigenschaften äusserer Ereignisse
sind, sondern dass es vielmehr ihre eigenen Gedanken sind, die die Angst auslösen. Die Klienten lernen die Selbstinstruktion erst laut, dann allmählich verdeckt. Es werden folgende Dinge geübt:
57
- die Realität der jeweiligen Situation abzuschätzen
- negative, selbstbehindernde, angsterzeugende Vorstellungstätigkeit wird kontrolliert
- die erlebte Angst anerkennen, benützen und möglicherweise mit einem neuen Etikett versehen
- sich zur Durchführung psychisch 'aufraffen', motivieren
- mit der intensiven Furcht fertig werden
- sich selbst verstärken, wenn es gelungen ist.
3. Phase: Selbstinstruktionstraining
Dabei hilft der Therapeut dem Patienten bei der Modifikation seiner Selbsturteile und der Hervorbringung besserer Verhaltensweisen. Hier schlägt MEICHENBAUM Verfahren vor, wie z. B. die 'RET'
von ELLIS oder die Systematische Desensibilisierung (WOLPE 1969), bei der aber MEICHENBAUM ein
Element hinzufügt: Die Klienten sollen sich auch in zu bewältigenden Situationen vorstellen. Weiterhin verweist MEICHENBAUM auf das Modelllernen, wiederum vor allem mit bewältigenden Modellen. Diese Vorgehensweise von MEICHENBAUM beruht auf einer Untersuchung von KAZDIN (1973),
der feststellte, dass das bewältigende Modell wirksamer ist als das 'Meistermodell'. Schliesslich arbeitet MEICHENBAUM in der dritten Phase noch mit der Technik des Gedankenstopps und der verdeckten Selbstbehauptung. Wobei die Selbstbehauptung einmal den Gedankenstopp verstärkt, zum
anderen auch so etwas wie eine Gedankensäuberung bewirkt, weil sie zu den Selbstbeschuldigungen
inkompatibel ist.
10.4 Das Selbstinstruktionstraining bei Kindern von Luria
Bei der Behandlung von hyperaktiven Kindern hat LURIA (1961) ein Dreistufenprogramm vorgeschlagen, mittels dessen das Auftreten und das Hemmen willkürlich gesteuerten motorischen Verhaltens
unter verbale Kontrolle gebracht werden soll.
Auf der ersten Stufe leitet und kontrolliert das Sprechen anderer, meist Erwachsener, das Verhalten
der Kinder. Die zweite Stufe ist dadurch charakterisiert, dass das Kind durch lautes Sprechen sein
Vorhaben steuert. Schliesslich übernimmt verdecktes oder inneres Sprechen des Kindes die Führungsrolle. Das Zu-sich-selbst-Sprechen des Kindes ist in gewisser Weise schwierig. Hierzu wird vorgeschlagen, dass der Therapeut mit dem Kind spielt und jede seiner Handlung verbalisiert. Dadurch
lernt das Kind langsam seine Handlungen selbst zu verbalisieren.
10.5 Das Training der Bewältigungsfertigkeiten
Wie bereits an anderer Stelle erwähnt, wird die Fähigkeit eines Menschen, sich an belastende und
nicht-belastende Situationen anzupassen, durch sein Reaktionsrepertoire mit beeinflusst. Dazu gehört u.a. die Fertigkeit des Problemlösens. D'ZURILLA & GOLDFRIED (1971) definieren Problemlösen
als einen Verhaltensprozess von offener und kognitiver Art, der a) eine Vielzahl potentiell wirksamer
Reaktionsalternativen für die Bewältigung der Problemsituationen zur Verfügung stellt und b) die
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Wahrscheinlichkeit vergrössert, die wirksamste Reaktion aus diesen verschiedenen Alternativen auszuwählen. D'ZURILLA & GOLDFRIED (1971, 108, in: MAHONEY 1977, 230) nehmen an, dass die zur
Verfügung stehenden Daten bei einem anstehenden Problemlösungsprozess auf 5 grundlegende
Elemente zurückzuführen sind:
1. Das Erzeugen einer Orientierung
Orientierung ist die erste Voraussetzung für das Erkennen einer Problemsituation. Diese Erkenntnis
bedeutet in der Praxis, dass die Konfliktsituation noch einige Zeit ertragen werden muss, weil in diesem Stadium noch keine Lösung vorhanden ist. Erst mit anfänglichen Erfolgen kann das Individuum
lernen, dass eine abwartende Haltung resp. das Ertragen von kurzfristigen aversiven Situationen
langfristig grösseren Erfolg bringt. Eine Milderung ist möglich, indem das Individuum die Problemsituation in Gedanken bereits vorher kognitiv durcharbeitet.
2. Definition des Problems
Wenn die aversive Situation mit dem Klienten durchgesprochen wird, kann diese auch analysiert und
gegebenenfalls nach Dringlichkeiten formuliert werden. Eine präzise Darstellung der Problemkreise
ist allerdings notwendig i. S. einer effizienten Lösungsstrategie. Genauso verhält es sich mit der präzisen Beschreibung des Zielverhaltens.
3. Erzeugen von alternativen Lösungen
Diese Prozessphase ist einerseits durch kreativ-imaginative und andererseits durch erinnerungs- und
Gedächtnisprozesse gekennzeichnet. Es ist ohne weiteres möglich, dass alte Lösungen erfolgreich auf
neue Situationen übertragen werden. Oft wird man aber nicht umhin kommen, neue Lösungen zu
finden. Dann sind besonders Methoden z. B. das brain-storming angesprochen.
4. Vorläufiges Auswählen einer Lösung
Hier soll aus den vorher gefundenen Lösungen die beste herausgefiltert werden. Dabei müssen die
Erwartungen des Klienten und die Konsequenzen der einzelnen Verhaltensstrategien gegeneinander
abgewogen werden. Es ist sinnvoll, zwischen kurz-, mittel- und langfristigen Konsequenzen zu unterscheiden, weil zwar kurzfristige Effekte momentan grosse Wirkungen haben, für die Therapie aber
langfristige Effekte sinnvoller, d.h. nachhaltiger sind.
5. Verifikation
Wenn eine Entscheidung in Verhalten umgesetzt worden ist, sollten die erwarteten mit den tatsächlich eingetroffenen Konsequenzen verglichen werden. Je nach dem sind dann wieder neue Alternativen zu suchen, bzw. Entscheidungen für andere Alternativen zu fällen.
Auch nach KÖNIG (1979) stellt die Problemlösefähigkeit in kognitiv orientierten Ansätzen einen zunehmend wichtigen Indikator für erfolgreiche Therapie dar. Die Bedeutung der Problemlösefähigkeit
liegt im Handlung erzeugenden, regulierenden Bereich. Dabei kommt es darauf an, dass ein Individuum durch Informationsgewinnung und -verarbeitung, durch die Fähigkeit zu selbständigem Wissenserwerb befähigt wird, sich auf neuartige Situationen einzustellen sowie bereits Gelerntes auf
neue Gegebenheiten zu transformieren. Effizientes Problemlösen zeichnet sich dadurch aus, dass ein
59
Individuum in der Lage ist, Verfahren, die es sich im Kontext spezifischer Probleme angeeignet hat,
über diese Zusammenhänge hinaus zu verallgemeinern, um somit umfassende Strategien des Lösens
von Problemen zu entwickeln. Diese Fähigkeiten werden dann zum Gegenstand von Therapiezielen,
wenn bei einem Individuum wissens- und/oder handlungsmässige Defizite, Ängste oder Konflikte ein
Individuum unfähig machen, persönliche Probleme zu erkennen, zu bearbeiten und zu lösen. Im folgenden sollen die Voraussetzungen, Bedingungen, Verfahren und Formen der Informationsverarbeitung beim Problemlösen näher erläutert werden. Dabei lässt sich eine gewisse Ähnlichkeit zu dem
bereits erläuterten Modell von D'ZURILLA & GOLDFRIED nicht vermeiden.
Problem und seine Klassifizierung
Nach DÖRNER (1974) ist ein Problem durch den unerwünschten Anfangszustand, den erwünschten
Endzustand und die Barriere, die diese Transformation verhindert, gekennzeichnet. Um ein Problem
zu lösen, muss diese Barriere überwunden werden. Dabei spielen die bereits gemachten Lernerfahrungen eine wichtige Rolle. Es lassen sich verschiedene Problemtypen unterscheiden. Kein Problem
kann aber unabhängig von einer spezifischen Situation gesehen werden. Deshalb müssen auch allgemeine Eigenschaften von Situationen bzw. Sachverhalten erwähnt werden.
a) Sachverhalten können einen unterschiedlichen Komplexitätsgrad besitzen. Der Komplexitätsgrad
hängt von der Vielfalt von Verknüpfungen und Beziehungen der Struktur eines Sachverhalts ab. Diese
Struktur muss erst analysiert werden und je nach Fall eine Komplexitätsreduktion vorgenommen
werden.
b) Dabei ist zu beachten, dass die Veränderung einzelner Merkmale eines Sachverhaltes die Veränderung einiger anderer Merkmale nach sich zieht, die auch analysiert werden müssen.
c) Es ist möglich, dass sich nicht alle Merkmale eines Sachverhaltes erkennen lassen. Hier ist es nur
möglich, von beobachteten Merkmalen auf latente zu schliessen.
Handlungen ziehen Effekte nach sich. Auch darüber muss sich ein Individuum im klaren sein. Z. B.
muss die Wirklichkeit von Handlungen mitbedacht werden. Verschiedene Handlungen können nur in
unterschiedlichem Masse wieder rückgängig gemacht werden. Handlungen können an unterschiedliche Voraussetzungen geknüpft sein und tragen ein gewisses Risiko in sich, dass sie scheitern. Handlungen können aber auch zu aufwendig im Hinblick auf ihren Nutzen sein, so dass sich die Frage
stellt, inwieweit sie noch sinnvoll sind.
Kognitive Strukturen und kognitive Operationen
Der kognitive Apparat stellt für das Problemlösen die notwendige geistige Kapazität zur Verfügung. Er
ist u.a. mit der Fähigkeit ausgestattet, Heurismen zu bilden. Unter Heurismen versteht DÖRNER
(1974) Pläne für die Konstruktion von Handlungen, mit Hilfe derer in produktiver Weise ein gegebener in einen neuen Zustand transformiert werden kann. Die Qualität der heuristischen Struktur ist
entscheidend für den Problemlösungsprozess. Wie wir bereits erwähnt haben, gliedert sich der Problemlöseprozess in 4 grundlegende Operationen:
- Zustandsexplikation (Test)
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- Veränderungsoperation (Operation)
- Prüfoperation (Test)
- Zielexplikation (Operation, Ende).
Diese Gliederung stimmt weitgehend mit der von MILLER, GALANTER & PRIBRAM (1960) formulierten TOTE-Einheit überein, die wir bereits erwähnt haben.
10.6 Die Attributionstheorie
Attributionen sind eine weitere Komponente im kanon der Problemlösefertigkeiten. Die Prämisse,
die der Attributionstheorie zugrunde liegt, besagt, dass eine wahrgenommene Kausalität das Verhalten beeinflussen kann (vgl. MAHONEY 1977, 244). Die Theorie der Kausalattribution berücksichtigt
ausserdem, dass die Art menschlicher Attributionen durch frühe Erfahrungen sowie durch Umfang
und Art der gegenwärtig verfügbaren Information mitbeeinflusst wird. Die grundlegende Annahme
dieses Konstruktes beschäftigt sich damit, ob sich eine Person eher als aktiven Urheber (interne Kontrolle) oder eher als passiven Empfänger (externe Kontrolle) von Umwelteinflüssen ansieht. Die Unterscheidung in internale und externale Typen hat nun weitreichende folgen für die Praxis, dergestalt, dass z. B. eine internal gesteuerte Person mehr Initiative und Verantwortung zu übernehmen
bereit ist. Internal gesteuerte Personen beschaffen und bewerten Informationen oft wirkungsvoller
und stehen meist in engerem Kontakt mit der sie umgebenden Umwelt. „Kinder, die ihre Schulleistungen eher persönlichen als zufälligen Ursachen zuschreiben, scheinen als Schüler aktiver und erfolgreicher zu sein“ (MAHONEY 1977, 246). Lernprozesse werden also durch den Glauben an externe
Ursachen auf entscheidende Weise beeinträchtigt. Höchst problematisch ist der Aspekt, dass Schüler
zurecht annehmen, dass sie von externalen Einflüssen abhängig sind. Diese Population in unserer
Gesellschaft hat oft sehr berechtigte Gründe, sich selber als machtlos gegenüber ihren jeweiligen
Lebenssituationen zu sehen. Diese Umstände verstärken ihre passive Mutlosigkeit.
SCHACHTER & SINGER (1962) berichten über die Rolle der Etikettierung bei emotionaler Erregung.
Die Art des Etikettierens beeinflusst das nachfolgende Verhalten. Da wir auf SCHACHTER & SINGER
bereits Bezug genommen haben, mag diese kurze Erläuterung im Zusammenhang mit der Attributionstheorie genügen.
Die Selbstwahrnehmungstheorie ihrerseits geht davon aus, dass Personen lernen, ihre eigenen Einstellungen und Gefühle zu kennen, indem sie von Beobachtungen ihres eigenen offenen Verhaltens
und/oder aus den Bedingungen, unter denen dieses Verhaltens vorkommt, Schlussfolgerungen ziehen. Ein Beispiel mag dies verdeutlichen: Ist ein Schüler intrinsisch motiviert, eine Aufgabe zu bearbeiten und sie zu lösen, erhält dabei laufend extrinsische, materielle Verstärkung, so kann diese
Überbewertung der belohnten Aktivitäten den Schüler zu der Selbstwahrnehmung verleiten, dass
sein Verhalten eher extrinsisch als intrinsisch motiviert war. Der Schüler gelangt auf gleiche Weise
wie andere zu seinen eigenen privaten Vorgängen, indem er das Verhalten und seine Hinweisreize
aus der Umwelt beobachtet.
JAEGGI (1979) bringt das Dezentrierungsphänomen mit Ergebnissen der Attributionsforschung in
Zusammenhang. Die Verbindung sieht sie dergestalt, dass sie auf eine erfolgreiche Dezentrierung
61
verweist, die eine Aufspaltung der Person in einen Handelnden und einen Beobachter vorsieht, da es
ansonsten nicht möglich wäre, dass ein Individuum sich selbst so sehen lernt, wie andere es sehen
und dass es sich selbst so sehen lernt, als sähe es in sich selbst ein anderes Individuum. Bekanntlich
befasst sich ja die Attributionsforschung damit, zu untersuchen, welche Ursachen bestimmten Verhaltensweisen von einem Menschen zugeschrieben werden. Dazu gehört natürlich auch, zu untersuchen, wie eigenes Verhalten beurteilt wird. Dies ergibt die Überschneidung mit dem Dezentrierungsphänomen. JAEGGI verweist auf Untersuchungen von JONES & NISBETT (1971), die in der Beurteilung von Verhaltensweisen dem Beobachter als Ursache von Verhaltensweisen stabile Persönlichkeitsbezüge, dem Akteur hingegen spezifische situationale Umstände nachweisen. Gelingt es einem
Individuum beide Positionen durchzuspielen, kann es zu einer differenzierteren Beurteilung fremden
und eigenen Verhaltens kommen.
10.7 MEWES Konzeptbildungen bei Verhaltensauffälligkeiten
Nach MEWE (1978) bedeuten Verhaltensstörungen Einschränkungen des Handelns. Er weist darauf
hin, dass sowohl aggressiv, wie aber gehemmt verhaltensauffällige Kinder ein geringeres Verhaltensrepertoire aufweisen, denn nicht verhaltensauffällige Kinder. „Die Verhaltensgestörten zeigen somit
keine qualitativ anderen, sondern nur weniger verschiedene und zeitlich anders verteilte Handlungsweisen als die Normalen“ (MEWE 1978, 190). Die potentiellen Verhaltenseinheiten sind sowohl bei
Verhaltensauffälligen wie bei Nicht-Verhaltensauffälligen gleich, nur in den realisierten Verhaltenseinheiten unterscheiden sie sich. MEWE geht davon aus, dass bei der kognitiven Verarbeitung einer
Problemsituation bei Verhaltensauffälligen die einzelnen potentiellen Verhaltenseinheiten nicht alle
die gleiche Chance haben, ausgewählt zu werden. Verhaltensauffälliges Verhalten besitzt häufiger die
Wahrscheinlichkeit aufzutreten. Es ist durch höhere Ungleichverteilung auch leichter vorhersagbar.
Aus diesem Modell leitet MEWE nun ab, dass Verhaltensauffällige weniger als NichtVerhaltensauffällige in der Lage sind, Verhaltensweisen zu aktualisieren, die ausserhalb eingefahrener Normen liegen. Deshalb wenden sich Verhaltensauffällige eher verstärkt ihrer Umgebung zu. Das
hat zur Folge, dass eigene Erfahrungen ungenügend ausgewertet werden. Verhaltensauffällige müssen deshalb besonders in zwei Bereichen besonders gefördert werden:
-
Im Bereich der Selbstsicherheit und
-
Im Bereich des Interesses am eigenen Gedächtnis (vgl. MEWE 1978, 192).
10.8 Die Handlungsentwürfe von SCHELL zur Konfliktlösung
SCHELL (1978) versucht ‚Verhaltensauffälligkeit‘ und ‚Konfliktlösung‘ in Zusammenhang zu bringen.
Nach SCHELL sind Konflikte dadurch gekennzeichnet, dass Aktivitäten nicht mitinander zu vereinbaren sind. Diese Unvereinbarkeit ergibt das Vorhandensein mehrerer Verhaltenstendenzen, die gleichzeitig auftreten und sich gegenseitig beeinflussen. Nach SCHELL ist es nun nicht richtig, Konflikte allein negativ zu bewerten, denn Spannungszustände vermögen Lernprozesse in Gang zu setzen sowie
Sozialerfahrungen zu initiieren. Kompromisse bzw. Konfliktbewältigung lassen sich nur in und mit
Konflikten bewältigen. Die Fragestellung, wonach Konflikte zu vermeiden sind, ist deshalb sicher zu
verwerfen. Die Fragestellung muss vielmehr lauten: „Wie können in einer Konfliktsituation konkurrie62
rende Prozesse zugunsten von kooperativen Lösungsstrategien verändert oder vermieden werden“
(SCHELL 1978, 200). Die Erklärung von Konflikten darf aber nicht nur in der Erfassung aktueller Situationen stecken bleiben, sondern muss z. B. auch die Sozialisationsbedingungen, die Schulorganisation
sowie Wertorientierungen, die in einer Gesellschaft (evtl. in einer Subgruppe) vorherrschen, berücksichtigen. MINSEL (in: SCHELL 1978) legt ein Schema vor, in dem er die unmittelbaren Konfliktkonsequenzen darstellt. Dabei lassen sich eine Reihe von Verhaltensweisen finden, die auch für die Kennzeichnung von Verhaltensauffälligkeit Gültigkeit haben:
Psychischer Bereich
Konfliktauswirkung
Kognition
rigides Denken, verminderte Interessenbreite, geringer Ideenreichtum, verminderter Sprachwortschatz
Emotionalität
starke Erregung, Verunsicherung, Stimmungsschwankungen,
verminderte Motivation
Sensorik/Physiologie
starke Wahrnehmungsselektivität, erhöhte psychgalvanische
Reaktion, Übersensibilität
(vgl. MINSEL, in: SCHELL 1978, 204).
Eine Teufelskreis ergibt sich durch den Umstand, dass z. B. Desorientierung, hoher Erregungsgrad
usw. zu Fehlinterpretationen von Situationen und damit zu neuen Konflikten führen. Die Realisierung
dieser Ziele in einem Programm zur Konfliktbewältigung impliziert:
-
Das Bereitstellen von Handlungsentwürfen zur Beilegung aktueller Konflikte für die beteiligten Parteien und mögliche, nicht direkt betroffene Schlichter (Regelung des Konfliktverlaufs)
-
Handlungsentwürfe für die Aufarbeitung von Gegensätzlichkeiten, die Konflikte ausgelöst
haben (Konfliktverarbeitung)
-
Langfristig wirksame Sozialisationspraktiken, die zu einer Desensibilisierung im subjektiven
Ertragen von Dissonanzen führen und Individuuen dazu befähigen mit Konflikten progressiv
umzugehen.
10.9 Zusammenfassung
Zusammenfassend formulieren wir:
Verhaltensauffälligkeit stellt sich uns in dem beschriebenen Zusammenhang dergestalt dar, dass ein
Individuum situative Anforderungen nicht oder nicht mehr oder nur partiell in Handlungspläne zu
transformieren in der Lage ist. Es kommt zu einer kognitiven Desorganisation, die das Individuum
zumeist als Angst erlebt, die seine Handlungsfähigkeit noch weiter einschränkt. Angstvermeidungsprozesse, Fluchtverhalten lassen das Individuum Reize verzerrt wahrnehmen, inadäquate Sichtwei63
sen aufrecht erhalten, weil damit kurzfristig Angst abgebaut werden kann. In der Folge verzichtet das
Individuum auf konfliktlösungsbezogene Aktivitäten und flüchtet sich einerseits in ein planloses und
andererseits stereotypes Verhalten.
Jedes Individuum muss die Erfahrung machen, dass es in der Lage ist, wiederholt die Lösung persönlich bedeutsamer Probleme zu meistern, soll es zu einer offenen Haltung gegenüber der Umwelt
kommen. Diese Offenheit ist es dann wieder, die dem Individuum neue Erfahrungen verschafft, es
Umweltreize ungehindert und unverfälscht aufnehmen lassen. Damit wird es fähig, Unstimmigkeiten
sensibel wahrzunehmen und situationsadäquat zu agieren bzw. reagieren.
64
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