Kapital und Klassen als Position in sozialem Raum und Feldern

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II
TEIL A: GRUNDLEGUNGEN
Welcher Narr wollte dann dienen und sich in augenscheinliche Todesgefahr begeben, wann er
nicht hoffen darf, durch sein Wohlverhalten befördert und also um seine getreue Dienste
belohnt zu werden. [...] Ich habe von unserm alten Obristen vielmal gehört, dass er keinen
Soldaten unter sein Regiment begehre, der sich nicht festiglich einbilde, durch Wohlverhalten
ein General zu werden.
(Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen 1974: 51)
3
II. 1
BOURDIEUS MATERIALISTISCHE ANTHROPOLOGIE SOZIALER HERRSCHAFT
II. 1.1
KAPITAL UND KLASSEN
Als zwei der wesentlichen Gründerväter einer empirischen und theoretischen Wissenschaft vom
Sozialen, wissen sich der ‚konservative’ Kantianer Emile Durkheim und der ‚revolutionäre’ Hegelianer
Karl Marx ein einem wesentlichen Punkt einig: „Uns dünkt die Idee fruchtbar“, so Durkheim „wonach
das soziale Leben nicht durch die Auffassung, der an ihm Teilnehmenden erklärt werden kann,
sondern durch tieferliegende Gründe, die sich dem Bewusstsein entziehen“ (zit. nach Bourdieu 1992:
136 f). So plausibel die Sicht auch sein mag1, hat eine nahezu diametral entgegen gesetzte
Perspektive diese sozialwissenschaftliche Form der ‚Kränkung’ ‚nicht Herr im eigenen Hause zu sein’
(vgl. Freud 1916) entschieden zurückgewiesen. Die „lebenden, handelnden und denkenden
menschlichen Wesen“ schreibt etwa Alfred Schütz (1971: 68) „haben die Welt, in der sie die
Wirklichkeit ihres täglichen Lebens erfahren, in Folge von Konstruktionen
des Alltagsverstandes
bereits vorher ausgesucht und interpretiert. Diese ihre eigenen gedanklichen Gegenstände bestimmen
ihr Verhalten indem sie es motivieren“.
Es gibt inzwischen einige, elaborierte Ansätze diese beiden Denkweisen, den ‚Strukturalismus’ und den
‚Konstruktivismus’ zusammenzubringen2, um Aufklärung über das Verhältnis von makrosozialen
Strukturen
und
dem
mikrosozialen
Handeln
der
Subjekte
zu
schaffen.
Neben
dem
Strukturierungstheorie von Anthony Giddens (vgl. 1984), gehört der Ansatz des Soziologen Pierre
Bourdieu zu den am meisten beachteten Entwürfen um diese Zusammenhänge in den Blick zu
nehmen: „Hätte ich meine Arbeit in zwei Worten zu charakterisieren“ schreibt Bourdieu (1992: 135)
„würde ich von strukturalistischem Konstruktivismus oder von konstruktivistischem Strukturalismus sprechen [...].
Mit dem Wort ‚Strukturalismus‘ oder ‚strukturalistisch‘ will ich sagen, dass es in der sozialen Welt selbst [...] objektive
Strukturen gibt, die vom Bewusstsein und Willen der Handelnden unabhängig und in der Lage sind, deren Praktiken
und Vorstellungen zu leiten und zu begrenzen. Mit dem Wort ‚Konstruktivismus‘ ist gemeint, dass es eine soziale
Genese gibt einerseits der Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata, die für das konstitutiv sind, was ich
Habitus nenne, andererseits der sozialen Strukturen und da nicht zuletzt jener Phänomene, die ich als Felder und als
Gruppen bezeichne, insbesondere die herkömmlicherweise so genannten sozialen Klassen.“
Allerdings wäre es stark verkürzt das Oeuvre Bourdieus lediglich als einen weiteren Entwurf im
sozialwissenschaftlichen wie -philosophischen Dauerstreit um das Verhältnis von Handlung und
Struktur zu verstehen, obschon sich dieser - man werfe nur einen Blick auf die Positionen von
Augustinus und Martin Luther zur Frage des freien und des unfreien Willens – nicht zuletzt als eine
sekularisierte Form einer der zentralsten Dispute okzidentaler Denk- und Kulturgeschichte darstellt.
Das zentrale Thema der Arbeiten Bourdieus ist die Frage nach den Mechanismen der (Re-) Produktion
gesellschaftlicher Strukturen im praktischen Handeln sozialer Akteure. Sein gesamtes Werk lässt sich
als eine „materialistische Anthropologie des spezifischen Beitrags interpretieren, den die verschiedenen
Man denke etwa an die klassischen, gerade nicht durch den bloßen bewussten Willen der Akteure – schon gar nicht den der
Proletarier, Frauen und Migranten – getragenen, gesellschaftlichen Strukturgrößen ‚class’, ‚gender’, ‚race’.
2 Zur Aktualität dieser Frage im Bereich sozialer Probleme siehe die Beiträge in Groenemeyer 2001b.
1
4
Formen der symbolischen Gewalt zur Reproduktion und Transformation der Herrschaftsstrukturen
leisten” (Bourdieu/Wacquant 1996: 34).
Ausgangspunkt
des zu einer „allgemeine[n] Theorie der Ökonomie von Handlungen […]
verallgemeinerten Materialismus“ Bourdieus (zit. bei Schmeiser 1985: 173) ist ein – von Max Weber
kaum weniger als von Marx beeindrucktes - Konzept von Klasse, in dem eine ökonomische
Fokussierung traditioneller Klassenkonzepte um die Dimensionen kultureller Ressourcen und sozialer
Beziehungen erweitert wird. Alle drei Dimensionen stellen dabei ‚relativ autonome‘, d.h. nicht restlos
aufeinander rückführbare, sondern logisch unabhängige Ressourcen dar (vgl. Kreckel 1992: 65). Auf
dieser Basis ist es möglich, den primär auf vertikale Macht- und Ungleichheitsdimension verweisenden,
und damit für die Analyse modernder, ausdifferenzierter Gesellschaften nicht mehr hinreichenden,
traditionellen Klassenbegriff um horizontale Ebenen zu erweitern, ohne die vertikale Dimension
analytisch aufzugeben.
Epistemologisch wird dabei eine substantialistische Analyse- und Denkweise abgelehnt, ohne eine
Analysen auf die Betrachtung einer ‚subjektivistischen’ Unmittelbarkeit bzw. die Unmittelbarkeit des
‚social acts’, zu reduzieren (vgl. Fröhlich 1994: 33). Die Relativierung einer Privilegierung von
Substanzen – Stuart Hall (1989: 11 ff) zu Folge eine entscheidende Fehlinterpretation des Marxschen
Materialismus - erfolgt in Bourdieus Oeuvre zu Gunsten einer strikten Betonung von Relationen.
Einem ‚praxeologischen’ Erkenntnismodus, wie ihn Bourdieu vorschlägt, liegt der Gedanke zu Grunde,
dass die Logik einer Praxis in der Erfahrung ihres Vollzugs auf Seiten der handelnden Akteure einen
‚praktischen Sinn’ induziert, der ihren Handlungsvollzügen wiederum selbst zu Grunde liegt. Dadurch
werden die Strukturen der individuellen wie interindividuellen Praxis strukturiert und tendenziell auch
reproduziert. In diesem Erkenntnismodus werden jene - für traditionelle Klassentheorien keinesfalls
atypischen - totalisierenden Vorstellungen abgelehnt, die versuchen ‚Gesellschaft’ auf ein singuläres
Funktionsprinzip zurückzuführen. An die Stelle einer solchen Vorstellungen tritt ein Konzept von
sozialer Welt als multidimensionalem sozialen Raum, in dem theoretisch gehaltvolle und empirisch
rekonstruierbare Hauptfaktoren sozialer Differenzierung (vgl. Bourdieu 1997b), ebenso rekonstruiert
werden können wie die für die Konstitution sozialer Praktiken wesentliche Dimension einer ungleichen
Verteilung materieller wie symbolischer Ressourcen. Die theoriearchitiektonische Konsequenz eines
solchen Erkenntnismodus besteht in der Konstruktion eines vergleichsweise abstrakten Raummodells,
in dem das Verhältnis von theoretisch - gemäß ihrer relationalen Stellung zueinander - konstruierten
Klassen, zu den empirischen Praxisweisen - und ‚Kämpfen’ - gesellschaftlicher Klassen und Gruppen
thematisiert wird. Auf dieser Basis wird eine ‚allgemeine’ - d.h. nicht nur fiskalische sondern auch
kulturelle, soziale und symbolische – ‚Ökonomie’ elaboriert und der Entwurf einer analytischen
Soziologie symbolischer Kämpfe um die (‚legitme’) Repräsentation der sozialen Welt vorgestellt.
Auf einer ersten Analyseebene dieses Modells wird der soziale Raum, als ein Raum ‚objektiver’ sozialer
Positionen entworfen, der ein Ensemble sozialer Kräfteverhältnisse im Sinne einer ‚Sozialtopologie’
skizziert. Einzelne oder Gruppen von Akteuren werden dabei durch ihre relative Stellung innerhalb
eines solchen Raums definiert, d.h. „durch Nähe, Nachbarschaft oder Ferne sowie durch ihre relative
Position, oben oder unten oder auch zwischen bzw. in der Mitte usw.” (Bourdieu 1992: 138, vgl.
5
Bourdieu 1985). Solche ‚Klassen auf dem Papier’ bezeichnen zunächst kaum mehr als eine Art soziales
‚Ranking’, in dem Positionsinhaber zusammengefasst werden, die sich in der Topologie des sozialen
Raums nahe stehen (vgl. Bourdieu 1985a). Die so konstruierten ‚Klassen’ stehen in einer gewissen
Analogie zu den ‚Klassen an sich’ im Sinne von Hegel und Marx. Als ‚objektive‘ Klassen sind sie nicht
identisch mit einer politisch für gemeinsame Ziele mobilisierbaren und gegen eine andere Klasse
‚kämpfenden’ ‚Klasse für sich’ (vgl. Bourdieu 1998: 24 vgl. Marx/Engels 1989, Weber 1980: 177ff,
514ff). ‚Objektive’ Klassen, wie sie Bourdieu konstruiert, sind keine durch ein gemeinsamen ‚Willen und
Bewusstsein’
geprägte
soziale
Gruppen,
sondern
eher
durch
ein
‚Klassenunbewusstsein’
gekennzeichnet. Zunächst sind sie in der Regel, wie es Marx (1973: 198) formuliert hat, „unfähig, ihr
Klasseninteresse im eigenen Namen [...] geltend zu machen“.
‚Klasse‘ ist bei Bourdieu also ein primär analytischer, kein politischer Begriff. ‚Objektive’ Differenzen
zwischen Gruppen als ‚Klassendifferenzen’, stellen nur eine Potentialität dar, die vermittelt über das,
was Bourdieu als ‚symbolisches Kapital’ bezeichnet, erst in inhaltlich ‚sinnvolle‘ und handlungsrelevant
wirksame Differenzierungen und Klassifizierungen transformiert werden (können).
„Eine theoretische Klasse oder eine ‚Klasse auf dem Papier’ kann als eine wahrscheinliche reale Klasse angesehen
werden, deren Bildungselemente auf der Basis ihrer Ähnlichkeiten (hinsichtlich des Interesses und der
Dispositionen3) zusammengebracht und mobilisiert werden können (aber aktuell nicht mobilisiert worden sind)”.
(Bourdieu 1997b: 113)
Klassen auf der Basis ihrer Stellungen im Raum ‚herauszupräparieren’, bedeutet aber dennoch mehr,
als ein beliebiges Ensemble von Akteuren analytisch abzubilden, das eine wie auch immer
vergleichbare soziale Position einnimmt. Eine zentrale These Bourdieus lautet, dass diese sozialen
Akteure - als Klassensubjekte - ähnlichen äußerlichen Bedingungen und Konditionierungen
unterworfen
sind,
sowie,
bezogen
auf
eine
subjektive,
verinnerlichte
Dimensionen
dieser
Unterworfenheit, der Tendenz nach ähnliche Dispositionen, Präferenz- und Praxisschemata sowie
vergleichbare Interessen herausbilden (vgl. Bourdieu 1985, 1997b).
Klassen bei Bourdieu sind demnach durch Wahrnehmungs- und Gewohnheitsgemeinsamkeiten
zwischen subjektiver Praxis und objektiver Lage rekonstruierbare Gruppierungen (vgl. Köhler 2001:
106), die weder (nur) als Konstrukte einer ‚objektiven’ topologischen Position noch durch spezifische,
ihnen immanente, raum-zeitlich invariante Merkmale definiert werden können, sondern erst „durch die
Struktur der Beziehungen zwischen allen relevanten Merkmalen, die jeder derselben wie den
Wirkungen, welche sie auf die Praxisformen ausübt, ihren spezifischen Wert verleiht” (Bourdieu 1982:
182). Ein solcher Klassenbegriff synthetisiert also einen Begriff der Klassenstellung, als relationale
Bestimmung
im
positionalen
Gefüge
mit
dem
Moment
der
Klassenlage
als
‚objektive’
Merkmalskombination.
Auf dieser Basis entwirft Bourdieu ein Modell sozialer Realität als eine Gesamtheit aller ‚unsichtbaren
Beziehungen’, die einen relationalen sozialen Raum bezeichnen, der sich erst durch die einander
Der Begriff ‚Disposition‘ ist dabei nicht als quasi-natürliche charakterliche Eigenschaft einer ‚Person’ im Sinne einer
Veranlagung zu verstehen, sondern im Sinne einer über den aktualen Moment der Erfahrung hinausreichende Inkorporierung
von Haltungen gegenüber äußeren Praxisbedingungen die im Vollzug der hierin eingebetteten Praxis produziert und
reproduziert werden. (Für Hinweise auf epistemologische und analytische Probleme im Gebrauch des Dispositionsbegriffs
danke ich Prof. Norbert Meder)
3
6
äußerlichen, durch ihren je relativen Abstand zueinander definierten sozialen Positionen konstituiert
(vgl. Bourdieu 1997b: 106). Dies impliziert die soziale Welt topologisch als ‚Raum von Beziehungen’
(vgl. Bourdieu 1985: 13) zu betrachten, der weniger auf das Vorhandensein von Interaktionen oder
intersubjektiv ‚wichtigen’ Beziehungen hin ausgerichtet ist, sondern auf „objektive Relationen die
‚unabhängig vom Bewusstsein und Willen der Individuen’ bestehen” (Bourdieu 1996: 127).
Der so gefasste ‚soziale Raum’ ist eine konstruierte, abstrakte Darstellung, die „einen Überblick bietet,
einen Standpunkt oberhalb der Standpunkte, von denen die Akteure in ihrem Alltagsverhalten […]
ihren Blick auf die soziale Welt richten.” (Bourdieu 1982: 277). Diese Darstellung gleicht drei
übereinandergelegten (transparenten) ‚Landkarten’, die aus einer übergeordneten, abstrakten
Perspektive einen „umfassenden Blick bieten auf die Welt sozialer Klassen, die nach den
Gesichtspunkten der (objektiven) Lebensbedingungen, der (symbolischen) Lebensstile und der
(inkorporierten) Habitusformen (re-) konstruiert wurde” (Schwingel 1993: 28).
‚Gesellschaft’ wird im Sinne eines solchen sozialen Raums nicht als eine organische Einheit oder ein
singuläres Regelsystem verstanden, sondern als eine Gesamtschau, eine synchroner Schnitt durch eine
Vielzahl relativ autonomer ‚sozialer Felder’, die die Gesellschaft differenzieren.
Der Verzicht auf einen einheitlichen Gesellschaftsbegriff, der die Organisationsprinzipen einer
gesamten gesellschaftlichen Organisation analytisch zu fassen in der Lage wäre, kann als eine zentrale
Schwäche dieses Ansatzes betrachtet werden, sofern er nicht nur zur Analyse der Dynamiken
innerhalb einer gesellschaftlichen Formation, sondern zur Analyse und Interpretation des Wandels ‚der
Gesellschaft’ herangezogen werden soll. Für die Rekonstruktion der Dynamiken innerhalb eines
gesellschaftlichen sozialen Raums weist der Begriff des Feldbes, definiert als „ein Netz oder eine
Konfiguration von objektiven Relationen zwischen Positionen“ (Bourdieu/Wacquant 1996: 127) jedoch
analytische Vorteile auf:
„[I]n advanced societies, people do not face an undifferentiated social space. The various spheres of life, art, science,
religion, the economy, politics and so on, tend to form distinct microcosms endowed with their own rules,
regularities and forms of authority – what Bourdieu calls fields. A field is, in the first instance, a structure of space
positions, a force field that imposes its specific determinations upon all those who enter it”4 (Wacquant 1998: 221)
Der Begriff des sozialen Raums dient bei Bourdieu als eine Art Synonym für eine in ihrer Formation
nicht näher bestimmte ‚Gesellschaft’ und bietet einen abstrakten Überblick über die soziale Welt. Sein
analytischer Schwerpunkt liegt aber nicht auf diesem Raum als Gesamtheit, sondern auf den
differenziellen Regelmäßigkeitssystemen innerhalb dieses Raums: den sozialen Feldern, verstanden als
„kleine, relativ autonome soziale Welt[en] innerhalb der großen sozialen Welt“ (Bourdieu 2001: 41).
Während das theoriearchitektonisch weniger zentrale, heuristische Modell des sozialen Raums bei
Bourdieu vor allem dazu dient, eine Momentaufnahme eines synchronen Zustand in seiner Gesamtheit
zum Ausdruck bringt, liegt der Schwerpunkt für Analyse eines Feldes auf einer diachronen Perspektive,
d.h. der Dynamik der relationalen Entwicklung je wirksamer Kräfteverhältnisse. Dabei finden sich viele
der Eigenschaften, Beziehungen und Prozesse im sozialen Raum zwar Prinzip auch in den einzelnen
„An autonomous field is characterised by a high level of specificity: it possesses its own history; a particular configuration of
agents operate within it and struggle for a distinctive stake; it induces its own habitus and upholds a distinctive set of beliefs.
4
7
sozialen Feldern, nur bestehen sie hier in einer je besonderen, teilweise ungleichzeitigen Form. Das
Feld als ein relativ autonomer sozialer Mirkokosmos „ist zwar wie der Makrokosmos sozialen Gesetzen
unterworfen, aber es sind nicht die selben […, o]bwohl er sich nie ganz den Zwängen des
Makrokosmos entziehen kann“ (Bourdieu 1998: 18).
Der Beschreibung eines Feld als einem spezifischen Handlungskontext kommt in den Analysen
Bourdieus eine quasi-differenzierungstheoretische Funktion zu, die - analog zu dem Begriff des ‚Frame’
bei Goffman, ‚Systemen’ bei Luhmann oder der ‚Sinnprovinzen’ bei Schütz - die je gültigen
Klassifikationskriterien im ‚Kampf’ um die Geltendmachung sozial konstruierter Wirklichkeit und Sinn
bezeichnet. Ein soziales Feld bildet einen „potentiell offenen Spiel-Raum mit dynamischen Grenzen, die
ein im Feld umkämpftes Interessenobjekt darstellen” (Bourdieu/Wacquant 1996: 135) und bezeichnet
in so fern ein relativ autonomes Kampffeld im Sinne einer gesellschaftlichen Arena permanenter
Auseinandersetzung zwischen unterschiedlich positionierten, agonalen Akteuren, die entsprechend der
spezifischen Einsätze, die in diesen Arenen erforderlich sind, um ‚Gewinne’, d.h. um soziale Vorteile,
Ressourcen, Positionen innerhalb einer allgemeinen Ökonomie von Handlungspraxen ebenso ringen,
wie um materielle oder symbolische Anerkennung und d.h. im Kontext einer relationalen Perspektive
auf die soziale Welt5 nicht anderes als um Macht.
Die Beschreibung eines sozialen Feldes als relativ autonom besitzt zwar z.B. Gemeinsamkeiten zu dem
von Luhmann verwendeten Begriff der ‚Selbstreferenz’, ist aber ein weniger ‚starker’ Begriff der
analytischen Begrenzung. Sie verweist primär eine Konfiguration objektiver Relationen zwischen
sozialen Positionen, die von spezifischen Verteilungsstrukturen und ‚Kraftlinien’ - unter anderem im
Sinne
besonderer
Formen
und
Kombinationsformen
von
(mimetischen)
Denkweisen,
institutionalisierter Regelungen und Regulation, sowie praktischer Erfolgsbedingen - durchzogen ist
und in sofern eine eigene, von anderen Feldern unterscheidbare Regelmäßigkeitsstruktur besitzt. Vor
allem aber sind Felder sensu Bourdieu nicht durch ihre bloße innere Dynamik, gemeinsame
Funktionen,
interne
Kohäsion
und
Selbstregulierung
in
abstrakt-theoretisch
formulierbaren,
funktionalen Grenzen eines Systems beschreibbar. Im Gegensatz zur tendenziell ‚subjektfreien’
Funktionalität sozialer Prozesse und Strukturen, die im Systembegriff Luhmanns angelegt sind,
konkretisiert sich ein soziales Feld im Sinne Bourdieus erst im habituell vermittelten Zusammenwirken
dieser Strukturen mit der Praxis handelnder ‚Subjekte’ - genauer ‚subjektivierter’6 sozialer Akteure. Ein
Feld beschreibt in so fern keine ‚bloßen’ Sinnverhältnisse, bzw. Sinnzusammenhänge im Sinne Webers,
sondern einen Raum materieller wie symbolischer Kräfteverhältnis, „die allen in das Feld eintretenden
gegenüber sich als Zwang auferlegen und weder auf die individuellen Intentionen der Einzelakteure
noch auf deren direkte Interaktionen zurückführbar sind“ (Bourdieu et al. 1981: 181) sowie „von
Such an autonomous field is highly differentiated and marked by sharp boundaries, beyond which the field ceases to have
any impact on practice” (Peillon 1998: 215).
5 Obwohl auch Axel Honneth (1992) von ‚Kämpfen um Anerkennung’ spricht, unterscheidet sich der, in philosophischer
Hinsicht eher durch Kant beeindruckte, ‚symbolische Materialismus’ Bourdieus (auch) in diesem Punkt von dem
hegelianischen Ansatz Honneths.
6 Der Ausdruck ‚Subjektivierung’ geht auf die Arbeiten Michel Foucaults zurück, beschreibt aber auch durchaus treffend die
Form und Genese der ‚Subjektstellung’ die Bourdieu sozialen Akteuren zuspricht (vgl. Bourdieu 2001, im Überblick Bublitz
2001)
8
Kämpfen um die Veränderung dieser Verhältnisse und folglich ein[en] Ort permanenten Wandels”
(Bourdieu/Wacquant 1996: 135).
‚Kohärenz’, im Sinne einer Ausrichtung auf eine einheitliche Funktion, kann aus dieser Perspektive
nicht als Produkt einer immanenten Eigenentwicklung der Struktur verstanden werden. Sie erscheint
nur im synchronen Schnitt einer Momentaufnahme als analytisch fixierbarer Zustand, der ein
Zwischenergebnis vorgängiger und aktueller Auseinandersetzungen bzw. Kämpfe darstellt. Von
‚Kämpfen’ ist bezogen auf die Feldkonstitutionsprozess doppelter Hinsicht zu sprechen: den
‚materiellen’ hinsichtlich der Ziele und Vereilungen der Mittel in einem Feld und den ‚symbolischen’
hinsichtlich der Legitimation und Wertigkeit der Mittel und Einsätze.
Wenn aber in jedem der sozialen (Kräfte-)Felder ständige Kämpfe um die Positionen in diesen Feld
stattfindet, ist die Verortung in diesen Feldern, und damit verbunden die ‚Produktion’ eines sozialen
Feldes selbst, als dynamischer Vorgang zu betrachten. Dabei bestimmt das, was Bourdieu als ‚Kapital’
bezeichnet, den Zugang zu den feldspezifischen Profiten wie die Stellung des Akteurs in den je
einzelnen sozialen Felder und damit mittelbar auch im sozialen Raum.
„Kapital […] stellt Verfügungsmacht im Rahmen eines Feldes dar, und zwar Verfügungsmacht über das in der
Vergangenheit erarbeitete Produkt, wie zugleich über die Mechanismen zur Produktion einer bestimmten Kategorie
von Gütern, und damit über eine bestimmte Menge an Einkommen und Gewinnen. Gleich Trümpfe in einem
Kartenspiel, determiniert eine bestimmte Kapitalsorte die Gewinnchancen in einem entsprechenden Feld (faktisch
korrespondiert jedem Feld oder Teilfeld die Kapitalsorte, die in ihm als Machtmittel und Einsatz im Spiel ist)”
(Bourdieu 1985: 10).
Die Wertigkeit dieser Kapitalen bzw. Machtmittel ist feldspezifisch, d.h. ihre Wirksamkeit und
Wertigkeit ist an die an die materiellen und symbolischen Verteilungsstrukturen in einem sozialen Feld
gebunden: Es ist „eine soziale Energie, die Bestand und Wirkung nur in dem Feld hat, in dem sie sich
produziert und reproduziert“ (Bourdieu 1982: 194). Daher stellt einem sozialen Feld auch nur jene, per
se beliebige Eigenschaft oder Ressource ein Kapital dar, die in der ‚Ökonomie’, d.h. der Rationalität der
Praxis eines spezifischen Feldes auch tatsächlich wirksam. Es ist nicht also das das materielle oder
immaterielle Substrat eines möglichen ‚Kapitals‘, sondern „die spezifische Logik des Feldes […die]
diejenigen Merkmale [bestimmt], vermittels deren sich die Beziehungen zwischen Klasse und Praxis
herstellen” (Bourdieu 1982: 193 f).
Bourdieu verwendet damit einen weit gefassten Kapitalbegriff, der wegen einer Überbetonung der
Ebene
der
Zirkulation,
einer
mangelnden
Rückführung
auf
gesellschaftliche
Arbeit,
der
verallgemeinernden Zusammenführung von Basis und Überbau der Ignoranz des Zusammenhangs von
Akkumulation und Mehrwertproduktion und damit der Aufgabe einer Fassung von Kapital als
gesellschaftliches Verhältnis, das in letzter Instanz auf Ausbeutung von Arbeitskraft beruht kritisiert
worden (vgl. Krais 1983, Herkommer 1996, Diettrich 1999, Fine 2001, Bischoff et al. 2002).
So sinnträchtig diese Kritik an der Kapitalkonzeption Bourdieus aus einer im weitesten Sinne
‚marxistischen’ Perspektive auf sein mag, ist es genau diese Konzeption von Kapital, als einem Prinzip
der inneren Regelmäßigkeiten der sozialen Welt – und nicht nur ihrer Reduktion auf die
Warenökonomie -, die es epistemologisch ermöglicht, eine Dichotomie von reflexiven und präreflexiven
‚Subjektivismen’
und
‚Objektivismen’
zugunsten
einer
machtproduktions-
und
machtreproduktionsanalytischen ‚Ökonomie der Praxis’ zu überwinden und dabei auch die Frage von
9
Produktions- und Distributionsverhältnisse, - die im Alltag keinesfalls nur als ‚monetäre’ bzw. materielle
erscheinen - in ihren besonderen Formen in den Strukturen von Lebensstil und Lebenswelt
analysierbar zu machen. Auch wenn Bourdieu selbst die Begriffe ‚Ressource’ und ‚Kapital’ mit unter als
Synonyme verwendet geht sein Kapitalbegriff über ein einfaches ‚Ressourcenmodell’ hinaus. ‚Kapital’
wird explizit als akkumulierte Arbeit thematisiert, die sich um eine ausgebeutete, bzw. privat und
exklusiv angeeignete, verdinglichte oder lebendige Arbeit von anderen handeln kann7, aber vor allem
durch ihre Eigenschaft definiert ist, „ebenso Profite produzieren wie sich selbst reproduzieren oder
auch wachsen” (Bourdieu 1997: 49f) zu können. Kapitale ‚nutzen’ sich also durch ihren Einsatz nicht
einfach nur ‚ab’, sondern können ‚investiert’ und durch ihren Gebrauch akkumuliert werden. Neben der
Einführung von weiteren Kapitalarten über das ‚ökonomische Kapital’ hinaus, besteht die von Bourdieu
unternommene Erweiterung des Kapitalbegriffs vor allem darin, dass Kapital als akkumulierte Arbeit
nicht nur in einer materiell-äußerlichen Form eines ‚Gutes’, sondern auch in ‚inkorporierter’, d.h. in
einer von Akteuren verinnerlichten, sowie gegebenenfalls auch in einer institutionalisierten Form
existieren kann Bourdieu 1986). Dabei ist die private Aneignung von Kapital als sozialer Energie „in
Form von verdinglichter oder lebendiger Arbeit möglich. Als vis insista ist Kapital eine Kraft, die den
objektiven und subjektiven Strukturen innewohnt; gleichzeitig ist das Kapital – als lex insista – auch
grundlegendes Prinzip der inneren Regelmäßigkeiten der sozialen Welt” (Bourdieu 1997: 49f).
Ein solcher Kapitalbegriff beruht also nicht, wie es etwa ein der Begriff von Kapitalgütern nahe legen
würde, auf einer Fassung von Kapital als einem spezifischen (ökonomischen) Faktor, sondern
bezeichnet eine Wirkung gesellschaftlicher Beziehungsstrukturen, deren allgemeine Formulierung das
darin angelegte Machtkonzept als Prozess der Akkumulation und Verfügung über gesellschaftliches
Arbeitsvermögen darstellt (vgl. Raphael 1987). Das ‚Kapital’ in der ‚Ökonomie der Praxis’ wird demnach
nicht analog zu den Konzepten neoklassischer Wirtschaftswissenschaften verstanden8, sondern
bezeichnet als Machtmittel in erster Linie die praxisökonomische Fähigkeit, Kontrolle über die eigene
und die Zukunft anderer ausüben zu können9 (vgl. Postone et al. 1993: 4).
Der Verweiß auf symbolische, sozio-moralische und sozio-kulturelle Momente des Kapitalbegriffs, bietet
die Möglichkeit über die ökonomische Sphäre hinaus, Momente askriptiver Dimensionen sozialer
Ungleichheit - wie beispielsweise ethnische Stratifizierungen - zu reflektieren, und in ihren
Interdependenzen in einen sozialstrukturell fundierten Kontext im Sinne einer materialistischklassentheoretischen Perspektive einzubinden. Damit wird eine systematische Beachtung der Tatsache
möglich, dass ökonomische Klassenunterschiede „nicht mehr die einzigen sozialen Unterschiede sind,
die das Funktionieren der Gesellschaft“ bestimmen, sondern „die lebensweltliche Handlungswirklichkeit
„Capital”, so Bourdieu (1986: 241), „is accumulated labour (in its materialised form or its ,incorporated’, embodied form)
which, when appropriated on a private, i.e., exclusive, basis by agents or groups of agents, enables them to appropriate
social energy in the form of reified or living labour”.
8 Der „wirtschaftswissenschaftliche Kapitalbegriff“, so die Kritik Bourdieus, „reduziert die Gesamtheit der gesellschaftlichen
Austauschverhältnisse auf den bloßen Warenaustausch, der objektiv und subjektiv auf Profitmaximierung ausgerichtet und
vom (ökonomischen) Eigennutz geleitet ist. Damit erklärt die Wirtschaftstheorie implizit alle anderen Formen sozialen
Austausches zu nicht-ökonomischen, uneigennützigen Beziehungen“ (Bourdieu 1997: 50 f). In diesem Sinne büßt auch die
Kritik, dass, gemäß des Konzepts Bourdieus, alles ‚ökonomisch’ und jeder und jede ein ‚Kapitalist’ sei (vgl. Bischoff et al.
2002) an Überzeugungskraft ein.
9 Dies kann je nach Feld und Praxisform potentiell auf jenen Akteur zutreffen (dazu auch Hagan 1989)
7
10
geprägt ist von einem‚ komplexen Mischungsverhältnis klassenspezifischer, milieuspezifischer und […
personalisierter] Erscheinungsformen der Ungleichheit“ (Berger/Vester 1998: 14).
Da sich die Arten und Mengen an Kapital bzw. Machtmitteln nicht als unabhängige, invariante
Substanzen, sondern erst in den Logiken und ‚Ökonomien’ innerhalb der Regelmäßigkeiten der Praxis
relativ autonomer Felder konstituieren, sind sie im Gegensatz zu den Kapitalkonzepten positivistischmaterialistischen Klassentheorien, weder vorab bestimmbar noch begrenzbar. Diese ‚ontologische
Unbestimmbarkeit’ ihres Wertes auf einer verallgemeinernd abstrakten Ebene hängt damit zusammen,
dass
insbesondere
bei
‚immateriellen’
Kapitalformen,
Produktion
und
Wertschöpfung
bzw.
Wertzumessung unmittelbar in der spezifischen Praxis der Felder zusammenfallen und sich auch nur in
dieser Praxis realisieren lassen. Dennoch beschreibt Bourdieu drei ‚Grundsorten’ praxiswirksamer
Machtmittel: das ökonomische, das kulturelle und das soziale Kapital. Allen Kapitalsorten ist gemein,
dass sie dazu beitragen die Positionierung ihrer Träger im sozialen Raum insgesamt, ebenso wie in
spezifischen sozialen Feldern – in Relation zu anderen sozialen Akteuren - zu sichern oder zu
verbessern10.
Das ökonomische Kapital:
Aufgrund einer „tendenziellen Dominanz des ökonomischen Feldes” (Bourdieu 1985:11) kann das
ökonomische Kapital als primäres Kapital verstanden werden und damit als grundlegender Faktor der
Klassenmatrix. Als den anderen Kapitalen - theoriearchitektonisch und empirisch - notwendig zugrunde
liegend, wird das ökonomische Kapital in so fern verstanden, wie die materielle Reproduktion eine
notwendige Vorraussetzung der kulturellen und sozialen Produktion und Reproduktion ist. Auch wenn
das ökonomische Kapital in dieser Hinsicht eine Art ‚letzte Instanz’ (vgl. Engels 1967: 462) darstellt,
bedeutet dies nicht, dass es die kulturellen, sozialen und symbolischen Praxisformen restlos
determiniert. Um in wesentlichen Feldern Machtpositionen abzusichern, reicht das ökonomische Kapital
alleine in aller Regel nicht aus; es muss mit den anderen Kapitalformen einhergehen. Auch in Bezug
auf das ökonomische Kapital unterscheidet sich die Begriffsverwendung Bourdieus vom Marx’schen
Kapitalbegriff. Es bezieht sich nicht nur auf den Besitz von Produktionsmitteln, sondern auf alle Formen
des materiellen Reichtums (Vermögen, Einkommensquellen und -titel etc.) bzw. all jene Mittel, die
„unmittelbar und direkt in Geld konvertierbar [sind] und eignet besonders zur Institutionalisierung in
Form des Eigentumsrechts” (Bourdieu 1997: 52). Dederichs et al. (2000: 12) verweisen darüber hinaus
auf Existenz feldspezifischer Figurationen, die es erlauben, von einer einverleibten Form ökonomischen
Kapitals zu sprechen: „Eine Inkorporierung ökonomischen Kapitals ist als Rationalitätsdisposition bei
Disponenten [in wirtschaftlichen Unternehmen] auffindbar, deren habituelle Ziele mit den effizienzund gewinnsteigernden Unternehmenszielen korrespondieren“.
10 Mit Blick auf ökonomisches Kapital liegt dies auf der Hand. Die Relevanz von kulturellem und sozialem Kapital
paraphrasieren Vijayendra Rao and Michael Walton (2002: 10) wie folgt: „In socially differentiated societies, social and
cultural capital can work together in reproducing inequality, by preserving differential access to networks, by perpetuating
symbolic violence that maintains the status quo, and by creating a pattern of habitus that generates constraining preferences,
limiting the hopes and aspirations of the poor and perpetuating adverse ,terms of recognition’ from dominant groups”.
11
Wesentlich ist ferner, dass sowohl das soziale als auch das kulturelle Kapital unter bestimmten
Voraussetzungen
in
ökonomisches
transformiert
werden
können
und
sich
ihre
jeweiligen
Zugangschancen und Akkumulationen bis zu einem gewissen Grad wechselseitig bedingen. Hierauf
rekurrieren auch Dederichs et al. (2000: 12), wenn sie das ökonomischen Kapital in seiner
inkorporierten Form, auf eine Haltung beziehen, „die bereits das Produkt der inkorporierten
Konvertierung und gegenseitigen Beeinflussung von kulturellem, ökonomischem und symbolischem
Kapital [ist], die sich als Disposition für bestimmte Aufgaben und Wissen über bestimmte Lösungen
zeitlich stabil verinnerlicht hat.
Das kulturelle Kapital:
Kulturelles Kapital, das um seine ‚volle Universalität’ auszudrücken eigentlich Informationskapital
heißen müsste (vgl. Bourdieu/Wacquant 1996: 151), kann
a)
in „inkorporiertem Zustand, in Form von dauerhaften Dispositionen des Organismus” (Bourdieu
1997: 53) vorkommen. Dieser Aggregationszustand von kulturellem Kapital lässt in gewisser
Weise als Synonym des Begriffs ‚Bildung’11 verstehen. Dabei ist es grundsätzlich
körpergebunden. Es ist Teil des Habitus und damit Bestandteil der Akteurs selbst. Deshalb
kann es – im Gegensatz zum ökonomischen Kapital - nicht unmittelbar weitergegeben werden,
sondern setzt einen „Verinnerlichungsprozess voraus der in dem Maße wie e[s] Unterrichtsund Lernzeit erfordert Zeit kostet” (Bourdieu 1997: 55), die vom ‚Investor’ persönlich
aufgebracht werden muss. Klassisch werttheoretisch betrachtet lässt sich damit die Dauer des
Bildungserwerbs als Maßstab für ‚inkorporiertes’ Kulturkapital angelegen, wobei jedoch andere
inkorporierte Praxisformen insbesondere
„die Primärerziehung in der Familie [d.h das ‚sozial geerbte’ capital culturel hérité ] in Rechnung gestellt werden
[müssen], und zwar je nach Abstand zu den Erfordernissen des schulischen Marktes entweder als positiver
oder als negativer Wert, als gewonnene Zeit oder Vorsprung, oder als negativer Faktor, als doppelt
verlorene Zeit, weil zur Korrektur der negativen Folgen nochmals Zeit eingesetzt werden muss (Bourdieu
1997: 56).
b)
in einem „objektiviertem Zustand, in Form von kulturellen Gütern […] Spuren hinterlassen oder
sich verwirklicht haben” (Bourdieu 1997: 59). In diesem ‚objektivierten’ Zustand (etwa dem
Besitz von Büchern, Kunstwerken oder Internetzugang) ist das Kulturkapital vermittelt über
seine materiellen Träger materiell übertragbar und setzt ökonomisches Kapital zu seiner
Aneignung voraus. Aber auch das objektivierte Kulturkapital kann, wenn es als kulturelles
Kapital und nicht nur als Träger einer ökonomischen Wertanlage angeeignet werden soll, nur
vor dem Hintergrund seiner Beziehung zum inkorporierten – nicht übertragbaren Kulturkapital bestimmt werden.
c)
schließlich kann sich das inkorporierte Kulturkapital in einer institutionalisierten Form - als Titel
- verobjektiviert haben. Diese Institutionalisierung bezeichnet ein Verfahren, dass den ‚Mangel’
In seinen Originaltexten verwendet Bourdieu in diesem Kontext häufig den deutschen Begriff ,Bildung’. Beachtenswert ist
darüber hinaus die Korrespondenz der Fassung von ‚Bildung’ als Kapital bei Bourdieu zu den Ausführungen von Georg
Simmel (1989), der in seiner ‚Philosophie des Geldes’ dessen Einsatz in ganz ähnlicher Form als distinktives Machtmittel
beschreibt.
11
12
der personalisierten Körpergebundenheit inkorporierten Kulturkapitals ausgleichen kann:
Sobald es durch schulische, akademische etc. Titel sanktioniert worden ist, hat es sich in einen
dauerhaften, rechtlich garantierten, konventionellen Wert gewandelt, der formell unabhängig
von der Person ihres Trägers existiert und sich selbst vom Umfang seines aktual tatsächlich
‚inkorporierten’ kulturellen Kapitals entkoppelt hat (vgl. Bourdieu 1997).
Der ‚Wert’ des institutionalisierten Kulturkapitals hängt von der Anerkennung und Exklusivität
des Titels ab, der als offizielle Kompetenz von der Beweislast des Autodidakten - der ‚nur’ über
inkorporierte und objektivierte Formen kulturellen Kapitals verfügt - entlastet ist. Insofern sind
Titel vor allem auch das Ergebnis symbolischer Auseinandersetzungen um soziale Taxionomien
und Qualifikationsgrenzen, mit denen Ranordnungen festgeschrieben gesellschaftliche Räume
strukturiert und soziale Positionierungen gesichert werden (vgl. Bourdieu et al. 1981)
Das soziale Kapital:
„Das Soziale Kapital ist die Gesamtheit der aktuellen und potentiellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines
dauerhaften Netzes von mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens oder
Anerkennens verbunden sind; oder anders ausgedrückt, es handelt sich dabei um Ressourcen, die auf der
Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen.” (Bourdieu 1997: 63)
Soziales Kapital bei Bourdieu bezeichnet demnach, wie Alejandro Portes (1998: 3) paraphrasiert, ein
„aggregate of resources linked to a network of durable relationships“, die sich auf Freundschaften,
Bekanntschaften und Arbeitskollegen ebenso wie auf Verwandtschaften und Mitgliedschaft in Vereinen,
Parteien, Klubs etc. beziehen können. Die Mitgliedschaft in diesen Gruppen „provides each of its
members with the backing of the collectivity-owned capital” (Bourdieu 1986: 248 f). Soziales Kapital ist
hier also nicht auf die Beziehung selbst, sondern die Fähigkeit Ressourcen wie etwa Zeit, Information,
Geld und andere ‚natürliche’ und symbolische Ressourcen durch die Mitgliedschaft in sozialen
Netzwerken und Gruppen zu sichern und zu erweitern. Mit Neil Webster (1998) formuliert, beinhalten
also soziale Beziehungen „which cannot be used for material purposes”, auch kein soziales Kapital
Als ein durch praxisökonomische Investitionen in Netzwerke generiertes Machtmittel erfährt soziales
Kapital seine Bedeutung durch die Dimensionen von Schutz, Bindung, Unterstützung und Hilfe sowie
durch die erhöhten Möglichkeiten soziale Kontrolle auszuüben (vgl. Karstedt 1996: 57). Der Umfang
des sozialen Kapitals eines sozialen Akteurs hängt dabei sowohl davon ab, ob und in welchem Umfang
er die Beziehungen der Gruppe tatsächlich für sich mobilisieren kann12, als auch grundlegend davon,
wie hoch der Umfang des Sozialkapitals ist über das die Gruppe, zu der er gehört, insgesamt verfügt
(vgl. Bourdieu 1997). Während das kulturelle Kapital ein nahezu idealtypisches Beispiel für ein
‚inkorporierbares Kapital’ (‚embodied capital’) ist, stellt soziales Kapital ein relational eingebettetes aber
individuell verwertbares Kapital (‚embedded capital’) dar (vgl. Lin et al. 2001): „although the source of
social capital is the relationships among a group of individuals, the capital itself is an individual asset“
(Grootaert 2001: 17).
In diesem Sinne ist soziales Kapital zwar ein intersubjektiv einbedundenes, aber kein kollektives bzw.
öffentliches Gut (so etwa Putnam 1995, 2000), das jenseits von Fragen der Zugehörigkeit zu einer
13
Gruppe und der Position innerhalb dieser Gruppe materiell existent ist und von Gruppen im engeren
Sinn ‚besessen’ werden kann. „Soziales Kapital“ ist wie es Bourdieu (1986) formuliert ein
„attribute of an individual in a social context. One can acquire social capital through purposeful actions and can transform
social capital into conventional economic gains. The ability to do so, however, depends on the nature of the social
obligations, connections, and networks available to you” (zit. nach Soebl 2002: 139)
Soziales Kapital verweist demnach auf Austauschbeziehungen, in denen materielle und symbolische
Aspekte untrennbar miteinander verknüpft sind (vgl. Bourdieu 1997: 64, Bourdieu et al. 1991).
Sozialkapitalbeziehungen existieren erst auf der Grundlage von ökonomischen und symbolischen
Tauschbeziehungen, zu deren Reproduktion sie selbst wiederum deshalb beitragen, weil prinzipiell alle
Formen des (ökonomischen, kulturellen, politischen oder sozialen) Güterverkehrs und Austausches
notwendigerweise in soziale Beziehungen eingebettet sind13 (vgl. Granovetter 1985).
In sofern ist soziales Kapital auf theoretischer Ebene zwar eine eigenständige Kapitalform, kann aber
als ein Machtmittel empirisch nur im Verbund mit anderen Kapitalen existieren14. Soziales Kapital
fungiert dabei als eine Art ‚Multiplikator’ für die Realisierung ökonomischen und kulturellen Kapitals.
Diese Austauschbeziehungen, genauer das Netz von Austauschbeziehungen die soziales Kapital
generieren, sind deshalb als eigenständiges Kapital zu bezeichnen, weil sie Produkte
„individueller oder kollektiver Investitionsstrategien [sind], die bewusst oder unbewusst auf die Schaffung von
(dauerhaften) Sozialbeziehungen gerichtet sind […] die Zugang zu materiellen oder symbolischen Profiten
verschaffen. Dabei werden Zufallsbeziehungen, z.B. in der Nachbarschaft, bei der Arbeit oder sogar unter
Verwandten, in besonders ausgewählte und notwendige Beziehungen umgewandelt, die dauerhafte Verpflichtungen
nach sich ziehen. Diese Verpflichtungen können auf subjektiven Gefühlen [Anerkennung, Respekt, Freundschaft
usw.] oder institutionalisierten Garantien [Rechtsansprüchen] beruhen“15 (Bourdieu 1997: 65, vgl. Bourdieu et al.
1991, Bourdieu/Wacquant 1996).
In diesem Sinne kommt es in bestimmten gesellschaftlichen Gruppen zu Konzentrationen von
Sozialkapital, wobei es bezogen auf den sozialen Akteur die Zugehörigkeit zu dieser Gruppe ist, die
sein Verfügen über dieses Machtmittel ermöglicht.
Durch die multiplikatorische Wirkung des sozialen Kapitals in Bezug auf die Fähigkeit zur Steigerung
der Potenz und der praxisökonomischen Profite der anderen Kapitalsorten trägt es sozialstrukturell zur
Perpetuierung sozialer Ungleichheit und klassenförmiger Herrschaft bei. Dies gilt auch mit Blick auf die
‚Profite’ die sich durch Sozialkapitalinvestitionen erzielen lassen. Im Sinne einer ‚second order resource’
(Boissevain 1974) verweist soziales Kapital auf die Möglichkeit über Beziehungen zu anderen Akteuren
Zugang zu deren Ressourcen zu erhalten. „Wenn andere aber ebenso so wenig besitzen, steigert sich
nur die eigene Machtlosigkeit […]. Je einheitlicher [daher] die Netzwerke schwächerer Gruppen
In dieser Hinsicht lässt sich soziales Kapital auch als das Machtmittel ‚Solidarität’ beschrieben.
Zumindest in bestimmten Feldern lässt sich soziales Kapital in so fern auch als eine der „nicht-ökonomische[n]
Voraussetzungen ökonomischer Institutionen“ (Mahnkopf 1994: 70) verstehen.
14 Die hieraus folgende Komplementrarität von sozialem Kapital und anderen sozialen ‚Ressourcen’ ist für die Bundesrepublik
in Studien auf der Basis des sozio-oekonomischen Panel empirisch belegt worden. Alle „Investitionen in soziales Kapital
[setzten] bereits verfügbare Ressourcen […] voraus, wie auch umgekehrt die meisten Studien belegen, dass soziales Kapital
[… deren Erträge] erhöht” (Brömme/Strasser 2001: 12). In den Analysen Bourdieus, ebenso wie jenen von James S.
Coleman (vgl. 1988, 1991: 389 ff), ist insbesondere der Zusammenhang von sozialem und kulturellem Kapital (bzw.
‚Humankapital’ bei Coleman) hervorgehoben worden. (Zur Abgrenzung von und kritischen Würdigung der ‚HumankapitalSchule’ um Gary S. Becker vgl. Bourdieu 1997: 54 f)
12
13
14
ausfallen und je größer ihr Abstand zu starken Milieus desto geringer sind ihre sozialen Chancen“
(Neckel 2003a: 11).
Im Gegensatz zu klassischen Strukturtheorien geht es in Bourdieus Konzeption nicht nur um die Frage
des Zugangs und des Erwerbs von Kapitalen als Machtmittel, sondern vor allem auch um die
Möglichkeit ihren Wert vor Verfall zu schützen oder zu steigern sowie um die Möglichkeiten es in
andere Machtmittel zu transformieren (vgl. Karstedt 1996: 57). Dies gilt zwar im Kern auch für andere
Machtmittel wie etwa das kulturelle Kapital, aber die praxisökonomische Notwendigkeit individueller
und kollektiver Schutzmechanismen ist im Falle sozialen Kapitals besonders virulent. Um das flüchtige
Medium soziales Kapital zu reproduzieren, und dauerhafte Bande zu schaffen, ist eine ständige Pflege
der Bekanntschaften erforderlich, die moralisch stabile Verpflichtungen schafft, und den potentiellen
materiellen Nutzen weitgehend verschleiert. Dies macht neben ‚Takt und Fingerspitzengefühl’ eine
zeitaufwendige, bisweilen im durchaus pekuniären Sinne teure „Beziehungsarbeit in Form von
ständigen Austauschakten erforderlich, durch die sich die gegenseitige Anerkennung immer wieder neu
bestätigt [… :] Gegenseitiges Kennen und Anerkennen ist zugleich Voraussetzung und Ergebnis dieses
Austausches” (Bourdieu 1997: 67, 66).
Wenn soziales Kapital durch das (symbolische) Kriterium der wechselseitigen Anerkennung definiert
ist, impliziert dies zu jedoch einen per se risikobehafteten Charakter dieses einbetteten Machtmittels.
Zentrale
Risiken
der
Investitionen
in
soziales
Kapitals,
die
mit
der
Verschleierung
ihres
praxisökonomischen Nutzens wachsen, stellen sich in Form von Beziehungs-, Status- und
Freundschaftsfallen dar, und manifestieren sich in Form von ‚Undankbarkeit’ - und dem hiermit
verbundenen
Schwundrisiko
der
Investitionen
-,
‚asymmetrischer
Reziprozität’
-
wenn
die
Vorleistungen permanent den Ertrag übersteigen - und ‚Unzumutbarkeit’ - wenn in einer Beziehung
‚zuviel verlangt‘ wird (vgl. Müller 1992: 270 ff).
Weitere Kapitalarten:
Als weitere Arten von Kapital benennt Bourdieu Unterarten der genannten Kapitalsorten beispielsweise das ‚politische Kapital’ (vgl. Bourdieu 1998, 2001b), als eine Unterart des soziales
Kapitals - aber auch Kapitalsorten, die nicht eindeutig unter die drei genannten Grundformen zu
subsumieren sind. Hierzu zählt etwa das ‚literarische’ bzw. ‚linguistische Kapital’ oder das ‚physische’
bzw. Körperkapital16 (Stärke, Schönheit, Gesundheit aber auch die Hautfarbe, dazu Gorely et al. 2003),
das zwar biologische Momente aufweißt, aber dennoch durch Arbeit (Körperpflege, ‚Bodystyling’ etc.)
akkumulierbar, und vor allem selbst an kulturelle Standards gebunden ist. ‚Körperkapital’ lässt sich in
so fern als eine biosoziale Kategorie verstehen.
Dabei sind es „bestimmte Institutionen, die einen zum Verwandten […], zum Adligen, zum Erben, zum Ältesten usw.
stempeln, [und damit] eine symbolische Wirklichkeit schaffen, die den Zauber des Geweihten in sich tragen” (Bourdieu 1997:
65)
16 Auf die Bedeutung von Körperkapital hat vor allem auch Bryan S. Turner systematisch aufmerksam gemacht: „A system of
controlling the mind appears to shift to the outside of the body, which becomes the symbol of worth and prestige in
contemporary societies. Briefly, to look good is to be good“ (Turner 1987: 226)
15
15
Insgesamt sind, abhängig von den praktischen Rationalitäten der diversen sozialen Felder und
Subfelder unbeschränkt viele Kapitalarten und -unterarten denkbar. Nahezu jede Eigenschaft oder
Fähigkeit kann ein Kapital darstellen, nur eben nicht überall.
Symbolisches Kapital als spezifische Form der Kapitalen:
Insbesondere die deutsche Rezeption hat sich mit der Bestimmung des symbolischen Kapitals schwer
getan. Dies mag dem Umstand geschuldet sein, dass in der dialektischen und relationalen
Argumentationsweise Bourdieus die materielle und die symbolische Ebene auf das Engste miteinander
verknüpft sind und dabei prinzipiell alle Kapitalarten auch als Formen des symbolischen Kapitals
existieren. Bourdieu (1998: 108) definiert symbolisches Kapital als
„eine beliebige Eigenschaft (eine beliebige Kapitalsorte, physisches, ökonomisches kulturelles, soziales Kapital), wenn
sie von sozialen Akteuren wahrgenommen wird, deren Wahrnehmungskategorien so beschaffen sind, dass sie zu
erkennen (wahrzunehmen) und anzuerkennen, ihr Wert beizulegen, imstande sind”.
Symbolisches Kapital kennzeichnet somit die institutionalisierte und nicht institutionalisierte
Anerkennung der Machtmittel durch soziale Gruppen (vgl. Bourdieu 1990: 51). Es ist also nicht als eine
weitere, eigenständige Kapitalsorte zu verstehen, sondern als die symbolische Form, der Wertmaßstab,
dem alle Arten von Kapital unterworfen sind, sobald sie als Machtmittel in einem spezifischen Feld
wirken. Anders formuliert, können Kapitale eine handlungspraktische Wirksamkeit nur durch ihre
Anerkennung als ein ‚wertvolles’ Gut erzielen. Diese symbolische Form im Sinne der Wertbestimmung
einer bestimmten Kapitalsorte und damit verbunden auch ihre Konvertierbarkeit, ergibt sich erst aus
ihrer Einbettung in eine feldspezifische Figuration. Dabei ist symbolisches Kapital die „Form […], die
eine dieser Kapitalsorten annimmt, wenn sie über Wahrnehmungskategorien wahrgenommen wird, die
seine spezifische Logik anerkennen bzw. […] die Willkür verkennen, der sich sein Besitz verdankt”
(Bourdieu 1996: 151); oder wie es Michel Peillon (1998: 216, 219) formuliert: „symbolic capital […]
comes very close to the notion of legitimacy“, die deshalb als ein Machtmittel fungiert, weil „social
agents with a specific type of capital must ensure the recognition of its value“. Daher tendiert jede
„Art Kapital […] (in unterschiedlichem Grade) dazu, als symbolisches Kapital zu funktionieren (so dass man
vielleicht genauer von symbolischen Effekten des Kapitals sprechen sollte), wenn es explizite oder praktische
Anerkennung erlangt: die Anerkennung des Habitus, dessen Strukturen den Strukturen des Raums entsprechen, in
denen er sich hervorbrachte. Mit anderen Worten: Das symbolische Kapital […] ist nicht eine besondere Art Kapital,
sondern das was aus jeder Art Kapital wird, das als Kapital, das heißt als (aktuelle oder potentielle) Kraft, Macht oder
Fähigkeit zur Ausbeutung verkannt, also als legitim anerkannt wird. Genauer gesagt: Das Kapital existiert und agiert
als symbolisches Kapital“ (Bourdieu 2001c: 311).
Die symbolische Form der Kapitalen ist jene Form, die ‚Distinktionsgewinne’ in der sozialen
Auseinandersetzung um symbolische Herrschaft in den sozialen Federn abwirft (vgl. Bourdieu 1990)
und bezeichnet in sofern ein wesentliches Machtmittel im Kampf
„um die Durchsetzung einer jeweiligen Definition der legitimen Einsätze und Waffen im Rahmen sozialer
Auseinandersetzungen, oder, wenn man will, um die Basis von legitimer Herrschaft – nämlich Wirtschafts-, Bildungsoder Sozialkapital, alle drei sozialen Machinstanzen, deren spezifische Effizienz noch gesteigert werden kann durch
die des Symbolischen, d.h. durch die Autorität, deren Verbindlichkeit aus kollektiver Anerkennung und kollektiver
Mandatsträgerschaft hervorgeht” (Bourdieu/Wacquant 1996: 151).
Erst das symbolische Kapital definiert welche Formen und welcher Gebrauch von Kapital die legitime
Basis für die sozialen Positionen einem gegebenen sozialen Raum darstellt. Das bedeutet aber, dass
16
die anderen Kapitalsorten erst durch den Prozess einer ‚Übersetzung’ durch symbolisches Kapital
bedeutungsvoll und sozial effektiv werden. Die Frage der Distribution von Ressourcen und
Machtmitteln und die der praxisökonomischen Anerkennung, Verkennung und Verschleierung (vgl.
Fraser/Honneth 2003), steht demnach aus der von Bourdieu vorgelegten Perspektive in einem
Verweisungsverhältnis, das sich weder in die noch in die andere Richtung aufzulösen ist. Entsprechend
können die Modi der Anerkennung – inklusive der von Axel Honneth (1992) bemühten Ebenen der
‚Liebe’, des ‚Rechts’ und der ‚Solidarität’ - nicht als ent-materialisierte Formen sozialer Praxis
verstanden werden. Zugleich ist es aber auch nicht die materielle Substanz der Kapitalen selbst,
sondern ihre Transformation in symbolisches Kapital bzw. die Verwandlung „physiologische[r]
Ereignisse in symbolische“ (Bourdieu 1979: 199), d.h. die Erzeugung unterschiedlicher Praktiken und
Entitäten durch symbolische Kategorisierungen, welche den Kern gesellschaftlicher Machtrelationen
darstellt:
„Influencing the categories and distinctions through which the world is perceived becomes a major way in changing
(or conserving) the social world. It is by seeing things in the legitimate way that the implicit can be made explicit and
potential groups transformed into actual groups” (Siisiäinen 2000: 14).
Die verschiedenen – relativ autonomen - Kapitale sind unter gewissen Voraussetzungen, bis zu einem
gewissen Grad gegenseitig konvertierbar17. Dabei ist die Nutzung der Möglichkeit ihrer Konvertierung
eine mögliche Strategie der Reproduktion, die es durch Umwandlungen der organischen Struktur des
Kapitalgesamtumfangs erlauben kann, je nach der Beschaffenheit der besetzbaren sozialen Felder
höhere Wertigkeiten des vorhandenen Kapitals zu erzielen, die Akkumulation neuen Kapitals zu
erleichtern und für die Zukunft zu erhalten. Die Transformation von Machtmittel vollzieht sich jedoch
nicht ‚automatisch’, sondern verlangt eine unterschiedlich aufwendige ‚Transformationsarbeit‘, die Zeit
verlangt und bei der auch ‚Schwund‘, d.h. Verluste auftreten können. In Anlehnung an die Marxsche
Werttheorie wird dabei Arbeitszeit im weitesten Sinne, als die am wenigsten ungenaue Wertgrundlage
betrachtet auf der sich Kapitalanhäufungen und Transformationen vollziehen. Bezogen auf die
Konvertierbarkeit bedeutet dies, dass Gewinne auf einem Gebiet mit (zumindest Zeit-)Kosten auf
einem anderen Gebiet bezahlt werden.
Die Kapitalen dienen als Machtmittel sowohl im Kampf um die Stellung in der Sozialtopologie des
sozialen Raums insgesamt, als auch um die Positionen in den einzelnen sozialen Feldern. Ihre
Wertigkeit ist hierbei in so fern feldspezifisch, dass die Verwertungschancen der einzelnen Kapitalen
von Feld zu Feld variieren, weil „jedes Feld über seine eigene interne Logik und Hierarchie verfügt”
(Bourdieu 1985: 11) und damit zugleich die ‚Tauschrate’ definiert „at which one kind of capital is
converted into another (Bourdieu 1993: 34)”. Dies bedeutet aber, dass „at the very least, the extent
and ease of convertibility must be quite different in different contexts“ (Calhoun 1993: 68). Dies gilt
auch für die drei Grundkapitalarten ökonomisches, soziales und kulturelles Kapital:
„Es gibt mit anderen Worten, Karten, die in allen Feldern stechen und einen Effekt haben – das sind die KapitalGrundsorten -, doch ist ihr relativer Wert als Trumpf je nach Feld und sogar je nach den verschiedenen Zuständen
Ein treffendes Beispiel hierfür ist das private Bildungssystem, das den Akteuren mit relativ wenig kulturellem und viel
ökonomischen Kapital, für den Fall, dass ihr Nachwuchs im öffentlichen Bildungssystem (nicht zuletzt wegen mangelnder
Redundanz des erworbenen Habitus zu den Praktiken der Schule) scheitert eine zweite Chance gibt. Nichts desto trotz kann
auch hier der Bildungsabschluss nicht einfach ‚erkauft’, sondern muss erarbeitet werden.
17
17
ein und des selben Feldes ein anderer. Wobei es sich versteht, dass ganz grundsätzlich der Wert einer Kapitalsorte –
zum Beispiel die Kenntnisse in Griechisch oder Integralrechnung – davon abhängt, dass überhaupt ein Spiel, ein
Feld, existiert, in dem dieser Trumpf sticht.” (Bourdieu 1996: 128)
Mit Blick auf die sozial-räumliche Genese von Klassen lässt sich demnach zunächst von zwei
Dimensionen eines sozialen Raums sprechen. Dabei verteilen sich „die Akteure auf der ersten
Raumdimension je nach Gesamtumfang an Kapital, über das die verfügen; auf der zweiten Dimension
je nach Zusammensetzung dieses Kapitals, das heißt je nach dem spezifischen Gewicht der einzelnen
Kapitalsorten, bezogen auf das Gesamtvolumen” (Bourdieu 1985: 11).
Die Analyse der Gesamthöhe des Kapitals, verweißt auf die relative Wertigkeit der Kapitalen. In einer
Spielmetaphorik formuliert geht es um die Frage, wie viel ‚Spieljetons’ kulturelles Kapital, ein
‚Spieljeton’ ökonomisches Kapital wert sei. Diese Frage variiert nicht nur feldspezifisch, sondern auch
innerhalb eines Feldes bleibt der Tauschwert, vor dem Hintergrund einer diachronen verlaufenden
Entwicklungsdynamik der Kräfteverhältnisse in den sozialen Feldern über die Zeit nicht konstant.
Um diese Überlegung zu verdeutlichen: Ein ‚Jeton’ ökonomisches Kapital kann als Machtmittel in einem
Feld beispielsweise zwei ‚Jetons’ kulturelles Kapital wert sein. Ein ‚Jeton’ ökonomisches Kapital hat
dann also den gleichen Gesamtumfang im Sinne der absoluten Kapitalhöhe, wie zwei ‚Jetons’
kulturelles Kapital. In einem anderen Feld kann dieses Verhältnis durchaus umgekehrt sein. Darüber
hinaus kann sich dieses Tausch- bzw. Kräfteverhältnis der Wertigkeit der Kapitalen im Verlauf der
Auseinandersetzungen in den sozialen Feldern verschieben; das Tauschverhältnis wäre dann z.B. 1:1
oder 3:1 usw. und entsprechend hierzu verschieben sich auch die Positionen – und mittelbar auch die
möglichen ‚Spielzüge’ - der Akteure mit unterschiedlichen Zusammensetzungen ihrer Jetons.
In
den
‚Kämpfen’
in
den
Feldern
–
als
soziale
Auseinandersetzungen,
im
Sinne
von
‚Konkurrenzkämpfen’ - geht es in der Regel nicht nur um die Erhöhung der Kapitalen selbst, sondern
eben auch um dieses Kräfteverhältnis. D.h. die einzelnen Akteure versuchen die Logik und Strukturen
der Felder so zu ändern, dass sich die Wertigkeit ihrer Machtmittel erhöht, bzw. dass sich die
organische Zusammensetzung ihrer Kapitalen als möglichst optimal erweißt18 (so lässt sich etwa auch
die Rede Bourdieus von ‚ökonomischen Interesse’ an Kultur seitens der Kulturschaffenden
verstehen19).
In diesem Sinne ergibt sich die absolute Größe bzw. der ‚Gesamtumfang’ des Kapitals in der
synchronen Perspektive des sozialen Raums aus dem Ensemble der für den Tauschwert maßgeblichen
Kapitalhöhen in den Feldern. Die Bestimmung der Gesamthöhe des Kapitals – bezogen auf seine
sozialstrukturelle Wertigkeit – basiert daher zugleich auf der sozial-historischen Hierarchie der sozialen
Felder, wobei in marktwirtschaftlich organisierten Gesellschaften das ökonomische Feld eine relative
Dominanz besitzt. Die vor dem Hintergrund der jeweiligen Verfügungsgewalt über ‚Kapital‘
bestimmbaren Klassen im sozialen Raum sind nun sowohl anhand ihrer vertikalen (hierauf verweist das
So betrachtet könnte man „Reformen” als Neudefinition der Wertigkeiten der Einsätze im Spiel betrachten. Diese Reformen
sorgen natürlich hierbei dafür, dass das Spiel selbst weiter gespielt wird. „Revolutionen” wären in dieser Hinsicht von
„Reformen” zu unterscheiden, weil hierbei nicht die Wertigkeit der Einsätze im Mittelpunkt steht, sondern das Spiel selbst. Bei
„Revolutionen” geht es – im Gegensatz zu „Reformen” - mit anderen Worten darum, den Spieltisch umzuwerfen.
18
18
Gesamtvolumen), als auch – als ‚Fraktionen‘ einer Klasse - anhand ihrer horizontalen (hierauf verweist
die Kapitalstruktur) Positionen, zu bestimmen.
Diese Fassung der Kapitale als Machtmittel erlaubt es erst von ‚Klassen’ zu sprechen: Als bloße
substanzhafte Ressourcen gefasst, würden sie nur deskriptive Kriterien für eine vertikale Position in
einer sozial geschichteten Gesellschaft liefern. Ein Verweis auf die Bedeutung der Kapitale für die
soziale Schichtung ist nicht ‚falsch‘, aber sie verstellt den Blick auf die damit verbundenen Macht- und
(Klassen-)Herrschaftsdimensionen und suggeriert implizit, die Frage sozialer Ungleichheit wäre mit der
Kompensation jener Ressourcen gelöst, die notwendig erscheinen um ‚mitzuspielen‘. So ist es auch
eine solche verkürzte Sichtweise, die bei der Forderung nach ‚sozialer Integration‘ in aller Regel die
Analyse der symbolischen Herrschafts- und Kontrolldimensionen ausklammert, die bereits in der
(politischen) Konstitution des je dominanten Referenzsystems in das ‚integriert‘ werden soll und mithin
auch die subjektivierende Konstitution des zu Integrierenden ausklammert.
Nochmals in einer Spielmetaphorik formuliert: In Bourdieus Modell bestimmen die Gesamtmenge der
Jetons und die Struktur des Jetonstapels eines Akteurs (oder einer Gruppe von Akteuren) neben seiner
Position und seiner ‚relativen Stärke’ im Spiel’ auch die „Spielstrategien, also das was man sein ‚Spiel‘
nennt, die mehr oder weniger riskanten, mehr oder weniger vorsichtigen, mehr oder weniger
konservativen oder subversiven Züge, die er ausführt” (Bourdieu 1996: 128 ).
Eine dritte, temporale, Ebene stellt die ‚soziale Laufbahn’ dar. Durch den Verweis auf die soziale
Laufbahn ist es möglich dem Umstand gerecht zu werden, dass sich soziale Positionen im Lebenslauf
verändern (können), oder Merkmale der substanzhaft ‚selben’ Position relational anders gewichtet
werden. Die soziale Laufbahn bezeichnet die
„Entwicklung des Umfangs und der Struktur seines [des Akteurs oder einer ganzen Klasse von Akteuren] Kapitals in
der Zeit, dass heißt von seinem sozialen Lebenslauf und von den Dispositionen (Habitus), die sich in der dauerhaften
Beziehung zu einer bestimmten objektiven Chancenstruktur herausgebildet haben.” (Bourdieu 1996: 129)
Durch die Analyse der sozialen Laufbahn
„lassen sich stellungsspezifische Eigenschaften unter synchroner Betrachtung von Eigenschaften unterscheiden, die sich aus der
Genese der Stellung ergeben: Tatsächlich können zwei unter synchronem Gesichtspunkt offensichtlich identische
Positionen sich als zutiefst verschieden voneinander erweisen, bezieht man sie auf den einzig realen Kontext, d.h. die
historische Entstehung der sozialen Struktur in ihrer Gesamtheit und mit ihr zugleich der entsprechenden Stellung”
(Bourdieu 1970: 48f).
Umgekehrt kann diese laufbahnspezifische Sicht zugleich systematisch die Möglichkeit reflektieren,
unterschiedliche (Klassen von) Akteuren „auch wenn sie momentan über den gleichen Umfang und die
gleiche Struktur an Kapital verfügen, nach ihrem Startkapital und danach unterschieden werden
können, ob sie sich auf einer eher absteigenden oder eher aufsteigenden sozialen Laufbahn
befinden20.” (Schwingel 1993: 38f).
Ähnlich lässt sich auch für die Sozialpädagogik von einem ‚ökonomischen Interesse’ an (der Identifikation) von
Lebensführungsproblemen sprechen, oder der kriminalpräventiven Akteure an Delinquenz, Prä-Delinquenz, Risikofaktoren
etc.
20 Die soziale Laufbahn oder ‚Karriere‘ eines Akteurs, kann nicht nur retrospektiv, als erfolgte, sondern auch prospektiv, als
‚potentielle soziale Laufbahn’ (Bourdieu 1982: 196) eines Akteurs oder einer ganzen Gruppe analysiert werden.
19
19
Untrennbar mit den analytisch zu fassenden Positionen im sozialen Raum sind jene Ebenen verbunden,
die Bourdieu ‚Habitus’ und ‚Lebensstil’21 nennt. So erklärt Bourdieu den wesentlichen Gehalt seines
Schemas in groben Zügen in einem Interview wie folgt:
„Stellen Sie sich eine Art Achsenkreuz vor – die vertikale Achse hat ein ‚oben’ und ein ‚unten’ die horizontale einen
intellektuellen und einen ökonomischen Pol. Dieses Feld sozialer Dispositionen drückt sich nun in der Art der
Lebensstile aus. Das Ganze lässt sich so veranschaulichen, dass Sie auf ein unteres Blatt (mit den sozialen Positionen)
ein Transparentpapier legen, auf dem bestimmte, Präferenzen, Praktiken usw. eingetragen sind.22” (Bourdieu 1997:
37)
Mit Richter (1994: 173f) lassen sich dabei drei verschiedene Ebenen von (Lebens-)Stilmerkmalen
unterscheiden: die im wesentlichen okkasionellem ‚nicht symbolhafte‘ Ebene attributiver - d.h.
oberflächlicher, rasch wechselnder, wenig bestimmender – Stilmerkmale, die symbolhafte Ebene der
‚Stilisierung des Lebens‘ (Max Weber), im Sinne bewusst gewählter distinktiver Stilmerkmale und die
ebenfalls symbolische Ebene subtiler, distinktiver Stilmerkmale als habituelle – und daher scheinbar ‚natürliche‘ Unterschiede. Im Rahmen der bourdieuschen Überlegungen zum Lebensstil geht es vor
allem um jene nicht voluntaristischen, subtil distinktiven Stilmerkmale auf der symbolischen Ebene.
Der Begriff des ‚Lebensstils’ als ein durch die Dimensionen Raum und Zeit strukturiertes Muster der
Lebensführung (vgl. Müller 1992: 376), zielt auf die Praktiken und Objekte, die symbolischen Merkmale
der Lebensführung, die Max Weber mit seinem Begriff des Standes zu fassen sucht, und gegen den
Begriff der ‚Klasse’ setzt. Bourdieu (1987: 254) zu Folge sind aber auch „,Statusgruppen’, die auf
‚Lebensstil’ und ‚Stilisierung des Lebens’ beruhen […] nicht, wie Max Weber meinte, etwas anderes als
Klassen, sondern herrschende Klassen, die verneint oder, wenn man so will, sublimiert und damit
legitimiert werden”23. Dass sich der Raum der Lebensstile entsprechend als die ‚repräsentierte soziale
Welt’ verstehen lässt (vgl. Bourdieu 1982: 278) mündet in die zentrale These,
„dass zwischen dem Raum der sozialen Positionen und dem der Lebensstile, Lebensweisen und
Geschmacksrichtungen eine Korrespondenz besteht, […und sich] zwangsläufig jede Veränderung im Bereich der
sozialen Positionen auf die eine oder andere Weise innerhalb des Bereichs von Geschmack und Lebensstil
[niederschlägt]” (Bourdieu 1997: 34; vgl. Bourdieu 1982)
In diesem Sinne findet spannt sich die soziale Wirklichkeit zwischen zwei nur analytisch trennbaren
‚Räumen’, dem Raum der sozialen Positionen und dem durch (symbolische) Praktiken konstituierten
Raum der Lebensstile auf, die zugleich als das „Sein“ und das „wahrgenommene Sein“ beschrieben
werden (Vgl. Bourdieu 1982: 754).
Die Vermittlung zwischen diesen Räumen, bzw. dieser beiden Seiten des Raums geschieht über den
Habitus. Dieser bewirkt, dass
In der Perspektive Bourdieus leisten ‚Lebensstile’ einen entscheidenden Beitrag zur Reproduktion von
Klassengesellschaften. Die Implikationen dieses Lebensstilbegriffs sind in so fern grundlegend zu unterscheiden von den
‚Lebensstilen’ wie sie etwa Hradil (1987) vertritt. Hradil zu Folge lösen Milieus und Lebensstile gesellschaftliche
Klassenstrukturierungen ab (dazu Bischoff et al. 2002).
22 Aus der Homologie von sozialem Raum und Lebensstilen, ist jedoch keine mechanische Homologie von sozialem Raum
und politischen oder anderen (kognitiv) bewussten Einstellung und Haltungen abzuleiten oder zu unterstellen.
23 Vielleicht noch treffender führt Bourdieu diese Abgrenzung zu Weber in einer früheren Arbeit aus: „everything seems to
indicate that Weber opposes class and status group as two types of real unities which would come together more or less
frequently according to the type of society [… however,] to give Weberian analyses all of their force and impact, it is
necessary to see them instead as nominal unities […] which are always the result of a choice to accent the economic aspect
or the symbolic aspect - aspects which always coexist in the same reality” (Bourdieu 1966: 212 ff, nach Weiniger 2002: 122)
21
20
„die Gesamtheit der
Praxisformen eines Akteurs (oder einer Gruppe von aus ähnlichen Soziallagen
hervorgegangenen Akteuren) als Produkt der Anwendung identischer (oder wechselseitig austauschbarer) Schemata
zugleich systematischen Charakter tragen und systematisch unterschieden sind von den konstitutiven Praxisformen
eines anderen Lebensstils” (Bourdieu 1982: 278).
Der Habitus beschreibt eine inkorporierte Instanz und Repräsentation des Sozialen, durch die ein
sozialer Akteur die Makro-Strukturen – und damit sind die Institutionen, Diskurse, Felder und
‚Ideologien’ gemeint - denen er unterliegt in seine Situationsdefinition wie in die Mirkostrukturen
seines Handelns ‚übersetzt‘ und damit den Zusammenhang zwischen Klasse und gesellschaftlicher
Praxis über einen spezifischen ‚sozialen Sinn’, (‚sense practique’) vermittelt. Erst in dieser Relation wird
auch der Klassenbegriff verständlich: Klassen sind nicht nur explikativ klassifizierbare Gruppen,
sondern
„Ensembles von Akteuren mit ähnlichen Stellungen [d.h. topologische Positionen im sozialen Raum], die, da
ähnlichen Konditionen und ähnlichen Konditionierungen unterworfen, aller Voraussicht nach ähnliche
Dispositionen und Interessen aufweisen, folglich auch ähnliche Praktiken und politisch-ideologische Positionen“
(Bourdieu 1985: 12).
Deshalb lässt sich die Stellung von Klassen oder Klassenakteuren nicht durch a-historisch bestimmbare
Wesensmerkmale, sondern immer nur in ihrer relativen Stellung gegenüber anderen Klassen, Akteuren
und klassenspezifischen, distinktiven Lebensstilen betrachten. Die Distinktion, die einen Lebensstil
positiv oder negativ von denen anderer Gruppen abhebt, resultiert aus deren differentiellen Beziehung
und ist in so fern nicht abhängig von einem bewussten Streben nach Distinktion (vgl. Schwingel 1995:
113). Vielmehr wird ein wesentlicher Zusammenhang von zwischen der Interiorität und Exteriorität
sozialer Handlungsbedingungen (vgl. Bourdieu 1976), d.h. zwischen objektiven Lebensbedingungen
und personal verinnerlichten Einstellungen und Verhaltensweisen unterstellt, die den objektiven
Verhältnissen angepasst sind, ohne das dies subjektiv beabsichtigt wäre (vgl. Bourdieu 1987).
Um diesen Niederschlag äußeren Zwänge, auf die ‚von innen’ strukturierten Handlungen und
Vorstellungen der Akteure geht es im Habituskonzept, das zugleich eine verzeitlichte Dimension in den
Prozess der ‚Subjektivierung’ (Foucault) einführt.
II. 1.2
HABITUS UND STRATEGIE
Der Habituskonzept Bourdieus ist vielleicht am Besten als Gegenkonzept zu den funktionalistischen
Vorstellung eines ‚Rollenhandelns’ (kritisch: Haug 1994) zu verstehen, nach der die sozialen Akteure
‚Rollen spielen’ um den gesellschaftlichen Funktionsanforderungen gerecht werden (vgl. Krais/Gebauer
2003, Hillebrandt 2001). Der Begriff der Habitus findet bereits weit vor Bourdieu - unter anderem in
den Philosophie von Aristoteles, der Scholastik von Thomas von Aquin, der Soziologie von Max Weber
und Emile Durkheim oder der Anthropologie von Marcel Mauss - an mehr oder weniger zentraler Stelle
Anwendung, um den konstitutiven Charakter von Mentalitäten, ‚Dispositionen’ bzw. kulturellsymbolischen Praktiken sowie deren Einverleibung seitens der Akteure, als konstituierendes Elemente
der Organisation sozialer Welt zu beschreiben. Bei Bourdieu ist Konzept des ‚Habitus’, im Sinne einer
‚generativen Grammatik’ von Handlungsmustern als intermediäre Dimension einer nicht diametralen
Gegenüberstellung, sondern dialektischen Verknüpfung von Handlung und Struktur gefasst, um die
21
„wissenschaftlich absurde Gegenüberstellung [...] von Individuum und Gesellschaft“ (Bourdieu 1985b:
160) systematisch zu überwinden:
„Die für einen spezifischen Typus von Umgebung konstitutiven Strukturen, die empirisch unter der Form von mit
einer sozial strukturierten Umgebung verbundenen Regelmäßigkeiten erfasst werden können, erzeugen Habitusformen
d.h. Systeme dauerhafter Dispositionen, strukturierte Strukturen, die geeignet sind als strukturierende Strukturen zu
wirken, mit anderen Worten: als Erzeugungs- und Strukturierungsprinzipien von Praxisformen und
Repräsentationen, die objektiv ‚geregelt’ und ‚regelmäßig’ sein können, ohne im geringsten das Resultat einer
gehorsamen Erfüllung von Regeln zu sein; die objektiv ihrem Zweck angepasst sein können, ohne das bewusste
Anvisieren der Ziele und Zwecke und die explizite Beherrschung der zu ihrem Erreichen notwendigen Operationen
vorauszusetzen, und die, dies alles gesetzt, kollektiv abgestimmt sein können, ohne das Werk der planenden Tätigkeit
eines ‚Dirigenten’ zu sein.” (Bourdieu 1976: 164f)
Die Rede vom Habitus als sowohl ‚strukturierte’ als auch und zugleich ‚strukturierende Struktur’,
verweist auf die Eigenschaft und Fähigkeit sozialer Akteure in einer permanenten Interaktion mit ihrer
sozialer (Um-)Welt – die sie selbst durch ihre Praxis (mit)konstituieren - diese Welt beständig in einer
nicht lediglich passiv rezipierenden, sondern aktiv gestaltenden Weise in sich aufzunehmen: „Objekte
der Erkenntnis [werden aktiv] konstruiert und nicht passiv registriert” (Bourdieu 1987: 98).
Epistemologisch kann der Habitus als Kernstück einer sozialwissenschaftlichen Praxistheorie der
bedingten Freiheit individueller sozialer Akteure verstanden werden. Als die Gesamtheit der durch
soziale Erfahrungen erworbenen und bis in den Körper (Hexis) eingeschriebenen Dispositionen
konzipiert, ermöglicht es das Habituskonzept zu beschreiben, wie ein kapitaltheoretisch gefasstes
‚Haben’ in Verbindung mit dem gesellschaftlichen ‚Sein’ der Akteure steht.
Der Habitus erzeugt jene Dispositionen, die mit den ‚objektiven’ Bedingungen der gesellschaftlichen
Positionen vereinbar, bzw. ‚vorangepasst’ – und in so fern ‚vernünftig’ - sind und die gleichzeitig nicht
homologe Praktiken unwahrscheinlich machen, ohne damit völlig deckungsgleiche Praxisformen zu
erzwingen oder gar bestimmte Praxisinhalte zu determinieren (vgl. Bourdieu 1987). Vielmehr dient der
Habitus, indem er soziale Akteure an ihre Herkunft und ihren Lebenslauf rückverweist, als kreatives
Organisationsprinzip nicht vollständig determinierbarer Handlungspotentiale, die wie es Judith Butler
(1999: 114) treffend beschreibt, jene „embodied rituals of everydayness“ umfassen „by which a given
culture produces and sustains belief in its own ‚obviousness’“. Damit lässt sich das merkwürdige
Phänomen erklären, dass wir, wie John Searle (1997: 153) in seiner ‚Ontologie sozialer Tatsachen’ mit
explizitem Bezug zu Bourdieus Habitus Konzept ausführt „in vielen Situationen einfach [wissen] was zu
tun ist, wir wissen einfach, wie wir mit Situationen umzugehen haben“. Dies sei, obwohl sich dieses
Phänomen wie eine Regel vollziehe, weder eine bewusste noch eine unbewusste Anwendung von
Regeln: „Vielmehr entwickeln wir Fähigkeiten, die auf die besondere institutionelle Struktur reagieren“.
Der Begriff des Habitus wird daher der Tatsache gerecht, „that social agents are neither particles of
matter determined by external causes, nor little monads guided solely by internal reasons, executing a
sort of perfectly rational internal program of action” (Bourdieu/Wacquant 1992: 136):
Mit dem Habitusbegriff ist ein erkenntnistheoretisches Instrument vorgeschlagen, mit dem
unbefriedigende Dualismen wie Geist und Materie, Basis und Überbau, Individuum und Gesellschaft
überwunden und stattdessen die verinnerlichten Dimensionen der ‚Ökonomie des Praxis’ analysiert
werden können, die nicht nur eine den Akteuren äußerliche Rationalität beschreibt, sondern ein
Regelmäßigkeitssystem, das „gleichzeitig in den Institutionen, in den Mechanismen und in den
22
Dispositionen, im Kopf der Leute ist“ (Bourdieu 1997a: 80). Dabei generiert vor allem die Höhe und
organische Zusammensetzung der je akkumulierten, inkorporierten und institutionalisiert zugänglichen
Machtmittel - die zugleich die soziale Positionierung als auch den Raum der Handlungsmöglichkeiten
der Akteure bestimmen – im Sinne eines „die Wirkung der anderen Faktoren strukturierende[n]
Faktor[s] […eine] strukturierende Wirkung, die sie auf die grundlegenden Dispositionen der Habitus,
oder, wenn man das vorzieht, auf die Systeme der Vorlieben ausübt” (Bourdieu/de Saint Martin 1998:
145). Dies geschieht weil erfahrene Verhältnisse, angepasste Praxisformen erzeugen, welche als
„Strukturen des Habitus, […] wiederum zur Grundlage aller späteren Erfahrungen werden. Als Produkt der
Geschichte produziert der Habitus individuelle und kollektive Praktiken also Geschichte, nach den von der
Geschichte erzeugten Schemata; er gewährleistet die aktive Präsenz früherer Erfahrungen, die sich in jedem
Organismus in Gestalt von Wahrnehmungs-, Denk-, und Handlungsschemata niederschlagen und die
Übereinstimmung und Konstantheit der Praktiken im Zeitverlauf viel sicherer als alle formalen Regeln und Normen
zu gewährleisten suchen.” (Bourdieu 1987: 101)
Der Habitus lässt sich damit als eine inkorporierte Instanz beschreiben, mit der ein sozialer Akteur die
gesellschaftlichen Makrostrukturen, denen er unterworfen ist in seine eigenen Situationsdefinitionen
ebenso ‚übersetzt’ wie in die Mirkostrukturen seiner Handlungspraxis. Der Habitus bezeichnet also
keine inhaltlichen ontisch-substanzhaften Charakteristika einer ‚Person’, sondern ein soziogenetisches
aber individuell inkorporiertes, komplexes ‚Syndrom’ (vgl. Vester et al 2001: 162 ff) im Sinne einer
umfassenden Kombination prinzipieller, körperlicher, praktischer, mentaler und moralischer Haltungs-,
Deutungs-, Wahrnehmungs-, Klassifikations-, Einstellungs-, Wert- und Vorstellungsmuster. Dabei sind
die Akteure nicht durch soziale Strukturen ‚determiniert’, sondern sie setzen die ‚inkorporierten
Prinzipien’ ihres soziogenetisch angeeigneten ‚generativen Habitus’ ein. Dies geschieht nicht auf eine
mechanische, äußeren Gesetzen gehorchende Weise, sondern ‚ihrem Spiel’ in der Ökonomie
feldspezifischer Praxis entsprechend und in so fern ‚strategisch’ (vgl. Bourdieu 1992, 1997). Der
Habitus verweist in so fern nicht auf eine mechanische Determination, sondern auf die in der Regel
nicht reflektierte Einsicht eines praxisökonomischen ‚Erkenntniseffekts’ (vgl. Bourdieu 1990). Ebenso
wie die sozialen Strukturen und Felder denen der Habitus entspringt, nicht ‚statisch’, sondern mehr
oder weniger dynamisch sind – ohne dass diese Dynamik zu einer völligen Umkehrung ihrer
Grundstrukturen führen würde – ist der Habitus als Mittler zwischen Feld und Praxis kein fixiertes, ein
für alle mal feststehendes Attribut, sondern unterliegt (zumindest) den Dynamiken der „permanenten
Auseinandersetzungen um die Normen des ‚richtigen Lebens’, die als ‚normale’ Lebensweisen in den
sozialen Milieus zirkulieren“ (Bublitz 2001: 4). Der Habitus ist also offensichtlich ein Prinzip, das weder
„monolithisch ([…ist d.h. es gibt] gespalten[e], zerrissen[e] Habitus […] die in ihren Spannungen und Widersprüchen
die Spur widerspruchsvoller Bedingungen ihrer Herausbildung aufweisen) [noch] unabänderlich (in welchem Ausmaß
er auch immer verstärkt oder gehemmt worden sein mag) [noch] schicksalhaft (wobei der Vergangenheit die Macht
zufiele, alle künftigen Handlungen zu determinieren) und ausschließlich (der bewussten Absicht unter keinen
Umständen den geringsten Raum lassend) agiert [. … Das] Ausmaß in dem der Habitus systematisch (oder gespalten,
widersprüchlich) und konstant (oder auch fließend und schwankend) ist, [hängt ebenso wie …] die
Wahrscheinlichkeit eine ‚rationale’ Handlung ausführen zu können […] von den sozialen Bedingungen der
Produktion von Dispositionen [ab] und von den – organischen und kritischen – sozialen Bedingungen ihrer
Umsetzungen in Handlungen“ (Bourdieu 2001c: 83).
Die Frage von ‚Handlungsfähigkeit’ (‚agency’), verstanden als regulierte Handlungsfreiheit ist in sofern
also nicht zuvorderst im Habitus als solchem zu suchen, sondern in den generativen Dynamiken von
Habitus und Feld, die erst durch die Praxis – und das heißt auch durch praktisches Handeln –
23
hervorgebracht werden ( vgl. Schirato/Webb 2003)24. Dies verweist auf ein Modell sozialer
Handlungsfähigkeit gesellschaftlicher Akteure, das nicht auf eine abstrakte ‚Wesenseigenschaft’ auf
sich selbst beruhender ‚Subjekte’ zurückzuführen ist, sondern vollständig in einer historischen und
sozialen Materialität begründet liegt (vgl. McNay 2000).
Als ein in der geschichtlichen Vergesellschaftung der Subjekte erworbenes Ensemble von
inkorporierten Präferenzstrukturen (vgl. Bourdieu/Wacquant 1996) ist der Habitus, nicht anders als die
äußeren Strukturen, denen der soziale Akteur unterworfen ist, selbst nichts anderes als ein Produkt
sozialer Praxis, das nur durch die Praxis selbst aufrecht erhalten werden können25: „das Subjekt
[verinnerlicht] die Gesellschaft, die ihrerseits durch die Handlungen der Subjekte immer wieder von
neuem erzeugt wird“ (Gebauer 2000: 428).
Trotz einer kaum übersehbaren Nähe zu Marx bezüglich der damit behaupteten gesellschaftlichen
Selbstproduktion des Menschen, entspricht der durch die ‚klassenförmige’ Praxis der Akteure
(individuell) angeeignete ‚Klassenhabitus’ nicht dem was mit Marx als ‚Klassenbewusstsein’ bezeichnet
werden kann. Es verweist vor allem darauf, dass eine ähnliche Positionierung in der sozialen Welt,
ähnliche Praxisformen begünstigen – die jedoch in der Regel kein bewusstes kollektives Handeln
darstellen -, die von einer ähnlichen Haltung gegenüber der sozialen Welt begleitet werden – die
jedoch nicht als bewusste ‚Klassensolidarität’ zu verstehen sind.
Analytisch lassen sich drei Aspekte des Habitus als intermediäre Instanz zwischen Struktur und Praxis
differenzieren:
a) Der sensuale Aspekt praktischer Erkenntnis und Strukturierung sozialer Welt in Form von
‚Wahrnehmungsschemata’.
b) Die ‚alltagstheoretischen’ Deutungsmuster und Kategorien, sowie die ethischen und ästhetischen
Bewertungsmaßstäbe sozialer und kultureller Objekte und Praktiken. Kurz der ‚Ethos’ und
‚Geschmack’, in Form von ‚Denkschemata’.
c) Die ‚Handlungsschemata’ der Erzeugung und Reproduktion individueller oder kollektiver Praktiken
(vgl. Schwingel 1995, Vester et al. 2001).
Der Akteur bei Bourdieu ist also kein freischwebendes, prä-soziales ‚Subjekt’, das voluntaristisch nach
seinem selbst gewählten, beliebigen Lebensentwurf handelt, sondern ein vergesellschaftetes, nach
strukturell eingeschriebenen Regelmäßigkeiten ‚subjektiviertes’ ‚Subjekt’, das in keiner Weise – d.h.
auch nicht in irgendwelchen bestimmbaren Teilen, wie die Rede von Individuum und Gesellschaft
„For Bourdieu”, so führen Schirato und Webb (2003: 540) aus, „there is no such thing as pure agency; but […] agency can
be identified, not as subjective or individual action, but within a logic derived both from cultural fields and from the aporia, or
lag, that always characterizes the relationship between the objective structures of fields and their practices. In other words,
subjects are able to negotiate the rules, regulations, influences and imperatives that inform all cultural practice, and delimit
thought and action, precisely because fields dispose them to do so”.
25 Insofern kann der Habitusbegriff auch als eine mögliche Antwort auf die Frage, wie sozial Ordnung möglich sei, als die
Grundfrage tendenziell aller Sozialwissenschaften betrachtet werden. Ferner ist - bei aller Strittigkeit über das Maß an
‚Determinismus’ das Bourdieu unterstellt - nichts weniger plausibel als der Vorwurf, sein Modell sei ‚statisch’. Die Strukturen,
die Bourdieu beschreibt, sind an einen Feldbegriff gekoppelt, der als eine Arena permanenter Kämpfe beschrieben wird –
nichts könnte weniger statisch und undynamisch sein.
24
24
suggeriert – jenseits der sozialen (kulturellen, ökonomischen, politischen, diskursiven etc.) Ordnung
steht, sondern selbst ein produktiver Teil dieser Ordnung ist26.
Der Vorwurf an die Arbeiten Bourdieus, das Subjekt hinaus zu eskamotieren, kann insofern nicht
überzeugen. ‚Subjektivität’ wird von Bourdieu nur insofern bestritten, wie sie als eine ontologische oder
ontologisierbare Kategorie, als apriori existentes „reines Subjekt, ein transzendentales Subjekt mit
universellen Kategorien” (Bourdieu 2001: 169) gefasst wird und nicht als kontingentes ‚Produkt’ von
‚Subjektivierung’ und symbolischer Repräsentation, die an die sozialen Strukturen ihrer Genese und
aktualen Performanz gebunden sind, ohne dass die eine auf die andere zu reduzieren wäre. In den
Worten von Judit Butler (1993: 41): „Kein Subjekt ist sein eigener Ausgangspunkt“.
Die Traditionslinien von Karl Marx und Max Weber verknüpfend ist das Argument Bourdieus, dass eine
Reproduktion sozialer Strukturen durch ein ‚Subjekt’ nie in einem schlichten ‚Eins-Zu-Eins-Verhältnis’
als passive reflexhafte Antwort auf konditionierende Stimuli erfolgt, sondern in Form einer extensiven,
‚interpretativen’ und kreativen Reproduktion. Dabei ist jedoch zu beachten, dass die Rede von
‚objektiven’ Strukturen vor allem auf soziale Felder verweist, die durch die Praxis der Akteure in der
Ökonomie dieser Felder aufrecht erhalten werden und als solche einen stets umkämpften „Ort
permanenten
Wandels”
darstellen
(Bourdieu/Wacquant
1996:
135).
Die
Reproduktion von
Praxisweisen in sozialen Feldern ist demnach nur in Relation zur dynamischen Re-Produktion von
Praxisfeldern
durch
die
Praxis
der
Akteure
zu
verstehen:
‚objektive’
Strukturen
wirken
habitusformierend, während der Habitus als strukturierte Struktur über eine Generierung von Praxis
zur Entwicklung veränderter Strukturen beiträgt.
Diese komplexe und dynamische Form einer ‚gesellschaftlichen Prägung’, im Sinne einer praktischen
Inkorporation der äußeren der Existenz- und Praxisbedingungen im Habitus - „[which] is adapted to
the infinite number of possible situations [… and thus] goes hand in glove with vagueness and
indeterminacy“ (Bourdieu 1990b: 9, 77) -, ist kein Produkt eines ‚Masterplans’, sondern vollzieht sich
mittels einer ‚stillen Pädagogik’. Dabei liegt die „List der pädagogischen Vernunft […] grade darin, dass
sie das Wesentliche unter dem äußeren Schein abnötigt, nur Unwesentliches wie z.B. Beachtung der
Formen und Formen der Achtung zu erheischen” (Bourdieu 1987: 128).
Der Habitus hat als praxisgenerierendes Dispositiv die Gesamtheit der konkreten Praxis der Akteure –
und nicht einzelne Variablen (z.B. Kognition oder Moral) – als Ausgangspunkt, und inkorporiert hierbei
auch die sozialen Strukturen, die diese Praxisformen wahrscheinlich machen. Er ist damit zugleich
Produkt des Ensembles seiner jeweiligen Existenzbedingungen und hat mithin systemischen Charakter
und ist systematisch von den Praxisformen anderer Lebensstile zu unterscheiden. Einem
‚Klassenunbewusstsein‘ näher als einem Klassenbewusstsein, ist der Habitus als „einverleibte, zur
Natur gewordene und damit als solche vergessene Geschichte” Erzeugungsprinzip von Praktiken und
Klassifikationen. Hierbei erzeugt der Habitus zwar Regelmäßigkeiten, die auf die Anforderungen des
Erzeugungsfeldes abgestimmt sind, ist er „wirkende Präsenz der gesamten Vergangenheit die ihn
erzeugt hat” (Bourdieu 1987: 105), und wird auch zugleich als „praktische Metapher” (Bourdieu 1982:
Diese Sichtweise zeigt deutliche Analogien zu Marxens sechster These über Feuerbach auf, wonach der Mensch kein dem
Individuum inne liegendes Abstraktum sei, sondern das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse, die wiederum nichts
26
25
281)
in
Form
von
Analogien
auf
andere
Felder,
„relativ
unabhängig
von
den
äußeren
Determiniertheiten der unmittelbaren Gegenwart” (Bourdieu 1987: 105) übertragen, aber er übt aber
keine – und schon gar keine diskursiv zugänglichen – Regeln aus (dazu auch Weber 1991).
Der Habitus hat demnach zwar eine tendenziell zirkuläre Struktur impliziert aber keinen sozialen
Determinismus, sondern kennzeichnet die verinnerlichte, über-situative Dimension der Bedingungen
und Vorbedingungen, die die Freiheit des Akteurs rahmen. In so fern kann das Konzept des Habitus als
der Versuch betrachtet werden, das Problem der Beziehung konditionierender Strukturen und der
Handlungspraxis und Entscheidungsfreiheit des Akteurs, dialektisch zu lösen (dazu: Parker 2001). Die
Zirkularität der Dispositionen ist dem Umstand geschuldet, dass er zum einen mit und in der Praxis
erzeugt wird, und zum anderen hierzu homologe oder redundante Praxisformen präferiert, und somit
„die Regelmäßigkeiten zu reproduzieren trachtet, die in den Bedingungen enthalten sind, unter denen
[…] seine Erzeugungsgrundlage erzeugt wurde” (Bourdieu 1987: 104). Eine strukturelle Homologie
zwischen sozialen und mentalen Strukturen, besteht insofern nicht in einem kausalistischen Sinne,
sondern in einem genetischen Zusammenhang, in dem die mentalen Strukturen als eine Objektivität
zweiter Ordnung – dem Habitus - die inkorporierte Version der sozialen Strukturen aus denen sie
erwachsen sind – der Objektivität erster Ordnung – darstellen (Wacquant 1996: 32). Das bedeutet
zugleich, dass die sozialen Strukturen weder ihre strukturierende Wirkung völlig kontingent oder (nur)
kommunikativ vermittelt entfalten, noch dass sie selbst kontingent und kommunikativ produziert
werden, sondern dass beides über vermittelt über den Habitus der Akteure durch ihre individuelle und
kollektive Praxis organisiert wird. In diesem Sinne erlaubt, das Habituskonzept, wie es Loïc Wacquant
(1995) formuliert,
„to show that domination arises in and through that particular relation of im-mediate and infraconscious ,fit’ between structure
and agent that obtains whenever individuals construct the social world through principles of vision that, having
emerged from that world, are patterned after its objective divisions. Thus […Bourdieu] can affirm at one and the same
time, and without contradiction, that social agents are fully determined and fully determinative”.
In der aktiven Konstruktion von Gesellschaft nach diesen Klassifikationsschemata des Habitus, werden
die Strukturen aus denen die habituellen Schemata hervorgegangen sind, „tendenziell als natürliche
und notwendige Gegebenheiten […dargestellt], statt als historisch kontingente Produkte der
bestehenden Machtverhältnisse” (Wacquant 1996: 33).
„Kurz, als Erzeugnis einer bestimmten Klasse objektiver Regelmäßigkeiten sucht der Habitus die ‚vernünftigen’
Verhaltensweisen des ‚Alltagsverstands’ zu erzeugen, und nur diese, die in den Grenzen dieser Regelmäßigkeiten alle
Aussicht auf Belohnung haben, weil sie objektiv der Logik angepasst sind, die für ein bestimmtes Feld typisch ist,
dessen Zukunft sie objektiv vorwegnehmen. Zugleich trachtet der Habitus ‚ohne Gewalt List oder Streit’ alle
‚Dummheiten’ (‚so etwas tut man nicht’), also alle Verhaltensweisen auszuschließen, die gemaßregelt werden müssen,
weil sie mit den objektiven Bedingungen unvereinbar sind.” (Bourdieu 1987: 104)
Diese Erkenntnisschemata sind somit zugleich Erkenntnisinstrumente und ‚Ideologien’. Damit stellt der
rekursive und strukturelle Zusammenhang von sozialen und kognitiven Strukturen einen der solidesten
Garanten sozialer Herrschaft dar. ‚Absolute’ Herrschaft wäre erreicht, wenn die Dialektik von
subjektiven Erwartungen und objektiven Strukturen zum Stillstand käme:
„Die objektive Homogenisierung der Habitusformen der Gruppe oder Klasse, die sich aus der Homogenität der
Existenzbedingungen ergibt, sorgt nämlich dafür, dass die Praktiken ohne jede strategische Brechung und bewusste
als ihr wechselseitiges Verhalten seien.
26
Bezugnahme auf eine Norm objektiv aufeinander abgestimmt und ohne jede direkte Interaktion und damit erst recht ohne
ausdrückliche Abstimmung einander angepasst werden können – weil die Form der Interaktion selbst den objektiven
Strukturen geschuldet ist, welche die Dispositionen der interagierenden Handelnden erzeugt haben und ihnen dazu
noch über diese Dispositionen ihren jeweiligen Platz in der Interaktion und anderswo zuweisen” (Bourdieu 1987:
109).
Den (Ideal)Fall einer „Körper gewordenen sozialen Ordnung” (Bourdieu 1982: 740), als die
vollkommene Übereinstimmung der objektiven Ordnung mit den subjektiven Organisationsprinzipien,
bzw. die Deckungsgleichheit der gesellschaftlich gegebenen Ordnung mit den individuellen
Vorstellungen von der gesellschaftlichen Ordnung, und damit der unbewussten Zustimmung zu dieser
Ordnung nennt Bourdieu Doxa. Dieser ‚Doxa’ ist tendenziell nicht nur die Autonomie und
Handlungsfähigkeit der Subjekte unterworfen, sondern auch ihre Rationalität. Es ist, wie es Max Miller
(1989: 215) formuliert, „der praktische Sinn, der dazu führt, dass die Verzauberung der
gesellschaftlichen Verhältnisse ihrer Rationalisierung und kritischen Hinterfragung immer einen Schritt
voraus ist“.
Auch jenseits ‚doxischer’ Formen ist das ‚Individuelle’, das ‚Subjektive’ selbst „sozial, kollektiv. Der
Habitus ist sozialisierte Subjektivität, historisch Transzendentales, dessen Wahrnehmungs- und
Wertungskategorien [die Präferenzsysteme] Produkt der Kollektiv- und Individualgeschichte sind27”
(Bourdieu 1998b: 197). Damit ist der Habitus als ‚sozialisierte Subjektivität’ (vgl. Bourdieu/Wacquant
1996: 159) beschrieben aber kein strukturalistischer Determinismus unterstellt zumal dieser
Zusammenhang bei Bourdieu immer im Sinne einer „Kausalität des Wahrscheinlichen“ (Bourdieu et al.
1981: 173) nicht im deterministischen Sinne eines durch „Gewißheit und Notwendigkeit“ (Bourdieu
1993: 40) gekennzeichneten Kausalverhältnisses verstanden wird.
Das Habituskonzept ist ein System von Grenzen, das auf die ‚Notwendigkeiten’ der konkreten sozialen
Praxis, und die ‚Zwänge’ der – einverleibten – sozialen Strukturen verweist, d.h. der Habitus verweist
auf eine theoretisch unbeschränkte Anzahl möglicher Handlungsoptionen eines Akteurs, während
deren absoluter Handlungs- und Anwendungsbereich durch das Feld und die Position der Akteure in
diesem Feld beschränkt bleibt. Soziale Akteure sind zwar gerade in modernen Gesellschaften mehr
oder weniger ‚autonome’ Individuen, die jedoch in ihrer Verwiesenheit auf die soziale Umwelt Grenzen
unterworfen sind, die außerhalb ihrer ‚subjektiven’ und unmittelbaren Kontrolle und Verfügbarkeit
liegen. Für einzelne soziale Akteure wirken diese Grenzen bzw. ‚Constraints’ in doppelter Weise:
„einmal durch die materiellen Schranken, die sie seinem Handeln auferlegt, und sodann durch die
Schranken, die sie sie seinem Denken setz[en] - und damit wiederum seinem Handeln“ ( Bourdieu
1982: 378). Die ‚praktische Vernunft’ eines sozialen Akteurs ist in dieser Hinsicht ‚bounded‘.28 Was im
Habitus aufgenommen und einverleibt werden kann, ist endlich und in dieser Endlichkeit nicht zufällig,
sondern durch den aktualen Habitus vorstrukturiert. In den Habitus kann so die These Bourdieus nur
dauerhaft inkorporiert werden wofür es eine Art habituelle ‚Ankoppelungsstelle’ gibt. Die relative
Die Idee, dass die Individuierung des Einzelnen mit seiner Vergesellschaftung untrennbar verbunden ist, findet sich - in
Anlehnung an George Herbert Mead – auch bei Jürgen Habermas (1988).
28 Ein treffendes Beispiel ist das in jüngeren Untersuchungen erneut nachgewiesene Phänomen, dass
klassendifferenzierende Bildungschancen, neben einer Reihe sozialstruktureller und institutionslogischer Gründe, auch „mit
klassenspezifischen Unterschieden in der Kosten-Nutzen-Abwägung für höhere Bildung und darauf basierenden
Bildungsentscheidungen“ der Eltern zusammenhängen (Becker 2000: 450).
27
27
Stabilität des Habitus ist die Folge davon, dass die bestehende Strukturierung des Habitus ausschließt,
„dass er alles verarbeitet was in der Welt ist“ (Krais/Gebauer 2002: 64). Diese Bedingtheit und
Begrenzung der Denk-, Wahrnehmungs-, Beurteilungs- und Handlungsschemata sozialer Akteure
unterliegt – neben der schlichten Tatsache, dass soziale Akteure gerade in modernen Gesellschaften
gar nicht über alle Informationen und alles Wissen verfügen können das über die Gegenstandsbereiche
ihrer Praxis vorliegt - auch in einer sozial strukturierten Begrenzung. Außerhalb dieser Grenzen sind für
den Akteur „bestimmte Dinge einfach undenkbar, unmöglich […]. Aber innerhalb dieser Grenzen ist er
durchaus erfinderisch, sind seine Reaktionen keineswegs immer schon im Voraus bekannt” (Bourdieu
1997: 33).
Dies bedeutet nun offensichtlich nicht, dass die sozialen Akteure zu bloßen Trägern der Struktur
degradiert werden (vgl. Bourdieu 1992: 34) und die aktiven und schöpferischen Dimensionen der
Praxis der Akteure geleugnet werden (vgl. Bourdieu 1992: 28). Sofern man in Anlehnung an Kant
davon ausgehen kann, dass Erfahrungsgegenstände nur mittels Interpretationsleistungen hergestellt
werden können, die auf ein ‚Beurteilungsvermögen’, einen ‚sensus communis’, verweisen (vgl. Kant
1974 a § 40), wird dieser durch das Konzept des Habitus empirisch-sozialwissenschaftlich fundiert und
als ein praktischer ‚sozialer Sinn’ reformuliert29. Im (Produktions-)Verhältnis von sozialem Raum und
‚vergesellschaftetem Subjekt’ stellt der Habitus vor allem die ‚synthetische Intuition’ (vgl. Bourdieu
1973) her, „die das Subjekt in den Stand setzt, sich [– ohne das dies auf bewusste Entscheidungen
zurückzuführen wäre -] in der Gesellschaft zu orientieren“ (Gebauer 2000: 439). Zugleich ermöglicht
der Habitus das, was in Anschluss an Micha Brumlik, einen Bestandteil eines nur durch Lernen,
Interaktion und Sozialisation verstehbaren Begriffs der ‚Personalität’ bezeichnet. Es ist der Habitus, der
Individuen in die Lage versetzt, „sich selbst als in Raum und Zeit kontinuierliche und abgrenzbare
Wesen wahrzunehmen“ (Brumlik 1992: 235, vgl. Rorty 1976): er setzt dem „Opportunismus einer Art
mens momentanea“ die Fähigkeit entgegen „in der Begegnung mit der Welt ein Gefühl innerer
Geschlossenheit zu bewahren“ (Bourdieu 2001c: 207).
Die äußeren, sozialen Strukturen und Begrenzungen werden nur dann und in so weit im engeren Sinne
‚reproduziert’, wie der Habitus unter gesellschaftlichen Bedingungen zur Anwendung kommt, die mit
denen seiner Entstehung vollständig oder zumindest weitgehend identisch sind; sie werden dann
‚transformiert’, wenn – und dies ist in modernen, ausdifferenzierten Gesellschaften keine
Ausnahmeerscheinung – diese beiden Bedingungen verschieden sind (vgl. Bourdieu 1987,
Krais/Gebauer 2002, Schwingel 1995).
Vergegenwärtigt man sich darüber hinaus die generativen Fähigkeiten jener Dispositionen, die den
Habitus formieren, so ist dieser nicht in Form einer einfachen Widerspiegelung der biographischen
Erfahrungen, sondern als eine „Analogie zur generativen Grammatik von Chomsky […zu verstehen] -
In einem gewissen Sinne kann man davon sprechen, dass Bourdieu Kant vom philosophischen Kopf auf
sozialwissenschaftliche Füße stellt und dabei vor allem die Vorstellung des handelnden Subjekts aus seiner Konzeption einer
Philosophie des Geistes entreißt.
29
28
mit dem gewichtigen Unterschied freilich, dass es sich um durch Erfahrung erworbene, folglich […]
variable Dispositionen handelt30” (Bourdieu 1992: 28).
Die zentrale Pointe dieser Analogie besteht darin, dass Chomskys kompetenter Sprecher mit einem
begrenzten und expressis verbis nicht bewussten Repertoire an grammatikalischen Regeln tendenziell
unendendlich viele grammatikalisch korrekte Sätze bilden kann. Ebenso wie es erst die Grammatik
erlaubt sinnvoll zu sprechen und gleichzeitig einschränkt, was gesagt werden kann und wie es gesagt
werden kann, ohne zu determinieren, was in einer konkreten Situation geäußert wird, kann auch der
Habitus als eine Art ‚Handlungsgrammatik’ verstanden werden, die es erlaubt „aus dem Vorhandenen”
zu schöpfen (Bourdieu 1997: 33) und „wie mit jeder Erfinderkunst unendlich viele und (wie die
jeweiligen
Situationen)
relativ
unvorhersehbare
Praktiken
von
dennoch
begrenzter
Verschiedenartigkeit” zu erzeugen (Bourdieu 1987: 104). Sofern man sich jedoch vor Augen hält, dass
Chomskys ‚Universalgrammatik’ als ein System Regeln erzeugender Regeln gedacht wird, führt diese
Analogie allerdings in die Irre: Durch den Habitus inkorporiert das handelnde ‚Subjekt’ „nicht die in der
Gesellschaft vorgefundenen Regeln“ (Gebauer 2000: 445). Als Inkorporation der Positionierung des
Akteurs in der sozialen Welt besitzt der Habitus „eine eigene Struktur, die keine Eigenschaften mit den
sozialen Regeln gemeinsam haben muss“ (Gebauer 2000: 445).
In diesem Sinne steht dem Habitusbegriff in keiner Weise entgegen, dass es - vor allem in modernen
Gesellschaften
-
flexible
und
in
ihrer
je
einzelnen
Besonderheit
unaufhebbar
partikulare
Lebensentwürfe gibt, die sich als ‚Patchworkidentitäten’ oder ‚Bastelbiographien’ beschreiben lassen
(vgl. Ferchhoff 1999, Hitzler/Honer 1994) - nur finden sich auch diese eben nicht in einer völlig
voluntaristischen bzw. struktur- und ressourcenunabhängigen Form31 (vgl. Geißler 2002, Vester et al.
2001). Mit dem Begriff des Habitus wird darauf bestanden, dass, wie Emile Durkheim (1994) in ‚Die
elementaren Formen des religiösen Lebens’ ausführt, „unser sozialer Anteil“ das „wesentliche Element
unserer Persönlichkeit“ ist. Dieser ‚soziale Anteil’ ist jedoch nicht einfach eine gegebene, den Akteuren
äußerliche Substanz, sondern das Produkt ihrer gesellschaftlicher Praxis.
Der Zusammenhang von strukturierender und strukturierter, praxisgenerierender Praxis des Spiels32
und dem Habitus als vermittelnder Ebene, kann gewissermaßen als Übertragung und Fortführung einer
Diese Erworbenheit eines subjektiven, aber nicht individuellen Systems verinnerlichter Strukturen sorgt dafür, das der
spezifische Habitus eines einzelnen Akteurs niemals vollständig deckungsgleich mit dem eines anderen Akteurs ist. Zugleich
kann jedoch von einem Klassenhabitus gesprochen werden, der den typischen Habitus der Mitglieder eines Klassenmilieus
von denen eines anderen unterscheidet. Dies ist deshalb möglich, weil kollektive und individuelle Erfahrungen eben weder
deckungsgleich noch unabhängig voneinander sind. So kann auf der Ebene einzelner Akteure zwar „ausgeschlossen werden,
dass alle Mitglieder ein und derselben Klasse (oder selbst nur zwei von ihnen) dieselben Erfahrungen – und zumal in gleicher
zeitlicher Ordnung – gemacht haben; ebenso sicher ist aber auch, dass jedes Mitglied derselben Klasse sich mit einer
größeren Wahrscheinlichkeit als jedes Mitglied einer anderen Klasse in seiner Eigenschaft als Akteur oder Zeuge mit den für
die Mitglieder dieser Klasse häufigen Situationen konfrontiert sieht“ (Bourdieu 1979: 187).
31 In einem gewissen Sinne lässt sich davon sprechen, dass die Tendenz von der Zeitdiagnose entgrenzter und flexibilisierter
Strukturen auf entsprechend veränderte Denk- und Wahrnehmungsmuster aller sozialen Akteure zu schließen im Kern auf
eine lediglich formveränderte vulgärmaterialistische Ableitung verweist. Demgegenüber scheint Eigensinnigkeit, ja selbst
Widerständigkeit und ‚Subkulturalität’ von Lebensentwürfen, insbesondere der von Jugendlichen angemessener in der Form
erfassbar zu sein, wie etwa die Forscher der Birmingham School um John Clarke und Stuart Hall Wandlungsprozesse in der
Alltagskultur rekonstruierten: dadurch, dass ‚widerständige’ Jugendkulturen die Klassenkulturen ihrer Herkunft (bzw. ihrer
Eltern) nicht einfach auflösen, sondern vor allem ‚abwandeln’ (vgl. Clarke et al. 1979).
32 Diese Vorstellung lässt sich am Beispiel eines guten Tennisspielers erklären, der das Spiel gerade deshalb beherrscht weil
der dort steht wo der Ball gerade hinkommt: „nichts ist zugleich freier und zwanghafter als das Handeln des guten Spielers.
30
29
zentralen Idee der Sprachphilosophie Wittgensteins auf die feldspezifische Regelmäßigkeit der Praxis
betrachtet werden. Der Erklärungswert von Wittgensteins ‚Sprachspiels’ besteht nämlich darin, dass
„es erlaubt, einerseits nach den Regeln in sprachlichen Kontexten [bei Bourdieu: Regelmäßigkeiten der Felder] zu
suchen, und daß er es erlaubt, andererseits das sprachliche Handeln [die Praxis im Feld] als einen Wettstreit im Sinne
des Spielens aufzufassen, der das Spiel dynamisch weitertreibt, neue Spielzüge generieren läßt – bis hin zur
Veränderung der Regeln und des Spiels selbst” (Meder 1987: 11).
Die beiden Ebenen sind unüberwindbar miteinander verwoben, aber analytisch bestimmbar, und
faktisch jeweils wirksam. In der bildhaften Beschreibung Wittgensteins: Ich „unterscheide zwischen der
Bewegung des Wassers im Flußbett und der Verschiebung dieses; obwohl es eine scharfe Trennung
der beiden nicht gibt” (Wittgenstein 1970: §97 zit. nach Meder 1987: 11). Als konditionierte und
bedingte Freiheit – die Bewegung des Wasser im Flussbett in Wittgensteins Bild - besitzt der Habitus
somit relative Autonomie (Bourdieu 1997: 103). Jedoch legen hierbei die ungleich verteilten Chancen,
über die verschiedenen Kapitalsorten zu verfügen den jeweiligen Raum für Variationen und selbst
Innovationen fest (vgl. Schwingel 1995: 64). Daher fungiert der Habitus „als unendliche, aber dennoch
strikt begrenzte Fähigkeit zur Erzeugung“, individueller und gesellschaftlicher Praxis und a la longe
auch von Individualität und Gesellschaftlichkeit. Solange man jedoch
„den üblichen Alternativen von Determination und Freiheit, Konditioniertheit und Kreativität, Bewusstem und
Unbewusstem oder Individuum und Gesellschaft verhaftet bleibt […ist der Habitus] nur schwer zu denken. Da der
Habitus eine unbegrenzte Fähigkeit ist, in völliger (kontrollierter) Freiheit Hervorbringungen – Gedanken,
Wahrnehmungen, Äußerungen, Handlungen - zu erzeugen, die stets in den historischen und sozialen Grenzen seiner
eigenen Erzeugung liegen, steht die konditionierte und bedingte Freiheit, die er bietet, der unvorhergesehenen
Neuschöpfung ebenso fern wie der simplen mechanischen Reproduktion ursprünglicher Konditionierungen.”
(Bourdieu 1987: 103)
Die jeweilige Klassenlage determiniert somit nicht eine einzig mögliche Habitusform, sondern lässt,
„einen reflexiv interpretierbaren Spielraum […] Es ist aber auch nicht jede Habitusform denkbar, d.h.
die Klassengebundenheit kann auch durch individuelle Interpretation und Ausgestaltung nicht
überwunden werden” (Dangschat 1998: 61). In diesem Sinne unterscheiden sich die Habitus der je
einzelnen Akteure auch innerhalb ein und der selben Kultur und Klasse - in einem ähnlichen Maße wie
sich auch die Individualgeschichten sozialer Akteure unterscheiden – und bleiben doch vergleichsweise
‚geregelte’ Abweichungen und Variationen eines kollektiven Habitus (vgl. Steinrücke 1988). Obwohl der
Habitus in diesem weit verstandenen Sinne prägend ist, wird kaum eine Interpretation dem Ansatz
Bourdieus weniger gerecht als die, die einen mechanisch-kausalistischen Zusammenhang von Habitus
und konkreten, unsuspendierbar individuellen Handlungen unterstellt: „Nehmen Sie alle Eindrücke, die
ein Mensch empfangen hat“ so erläutert Bourdieu (1985a: 336), „Sie werden daraus keine einzige
künftige Handlung deduzieren können, selbst wenn es Ihnen gelingt, zu antizipieren, in welche
Richtung sich seine kreative Fähigkeit bewegen wird” .
Eine prä-determinierende Wirkung des Habitus, im Sinne einer Begrenzung der Kontingenz
menschlichen Handelns, bezieht sich also nicht primär auf die Praxisinhalte als solche, sondern auf den
begrenzten Spielraum der Praxisformen in denen es eine individuelle Wahl von Handlungen und
Handlungsstrategien gibt. Diese Wahl ist jedoch nicht absolut, sondern relativ kontingent, in so fern
Gleichsam natürlich steht er genau dort, wo der Ball hinkommt, so als führt ihn der Ball - dabei führt er den Ball“ (nach
Fröhlich 1992: 42)
30
sie stets eine Wahl innerhalb eines bestimmten, nicht nur durch feldspezifisch situative Variablen,
sondern auch durch das Verfügen über Kapital begrenzten Möglichkeitsspielraums darstellt, der
gleichsam über die konkrete Praxissituation hinaus präreflexiv in individuellen und kollektiven
Dispositionen – dem Habitus – inkorperiert und mithin historisch oder auf Seiten des einzelnen Akteurs
‚biographisch’ wird33.
Differenziert man zwischen Inhalt und Struktur, so bestimmt der Habitus als ‚Modus Operandi‘ also
eher Struktur, die Art und Weise des gesellschaftlichen Praxisvollzugs und weniger die konkreten
Inhalte dieser Praxis selbst (vgl. Bourdieu 1982: 281).
In dem mit dem Habituskonzept auf die durch die Praxis erfolgende Einverleibung der immanenten
Notwendigkeiten und Rationalitäten „eines Ensembles von mehr oder weniger konkordanten Feldern”
verwiesen wird, wird vor allem die ebenso a-historische wie sozialwissenschaftlich unterkomplexe Figur
eines ‚situational man’ (vgl. Lofland 1967) zurückgewiesen und stattdessen darauf aufmerksam
gemacht, dass die soziale Wirklichkeit in doppelter Weise existiert: „in den Sachen und in den Köpfen,
in den Feldern und im Habitus, innerhalb und außerhalb der Akteure” (Bourdieu/Wacquant 1996: 161).
Als Produkt der Geschichte stellt der Habitus eines Akteurs ein offenes – und zumindest phasen- oder
teilweise auch von den Akteuren kontrollierbares (vgl. Bourdieu 1987: 407) - Dispositionssystem dar.
Er beschreibt ein System von Virtualitäten und Potentialitäten, das erst im Verhältnis zu einer
bestimmten Situation manifest wird, und somit als ‚reiner’ oder ‚freischwebender’ Habitus nicht
existiert, sondern ständig mit neuen Erfahrungen konfrontiert und damit unentwegt von ihnen
beeinflusst wird. Es sind mithin Praxisformen mit einem Habitus verbunden,
„die sich weder aus den punktuell als Summe der Stimuli, die jene Praxisformen hervorgerufen zu haben scheinen,
definierten objektiven Bedingungen, noch aus den Bedingungen unmittelbar deduzieren lassen, die das dauerhafte
Prinzip ihrer Produktion geschaffen haben; aus dem folgt, daß jene Praxisformen nur derart erklärt werden können,
daß die objektive Struktur, die die sozialen Bedingungen der Produktion des Habitus der sie erzeugt hat, definiert, in
Beziehung gesetzt wird zu den Anwendungsbedingungen dieses Habitus” (Bourdieu 1976: 170f).
Wenn ausdifferenzierte, bzw. ‚pluralisierte‘ Klassengesellschaften immer mehr individuelle Mobilität
erfordern, kommt es entsprechend häufiger zu Kontakt mit Feldern deren Logik und Erfordernisse
andere sind, als die früheren (Re-)Produktionsbedingungen der Erzeugungsgrundlagen aus denen der
aktuale Habitus je hervorgegangen ist. Der Habitus neigt jedoch dazu, sich vor solchen Krisen und der
damit verbundenen kritischen Hinterfragung der ‚Doxa’ zu schützen „indem er sich ein Milieu schafft,
an das er so weit wie möglich vorangepasst ist, also eine relativ konstante Welt von Situationen, die
geeignet sind, seine Dispositionen dadurch zu verstärken, dass sie seinen Erzeugnissen den
aufnahmebereitesten Markt bietet” (Bourdieu 1987: 114). Hiermit verbunden ist eine Tendenz zu einer
quasi-natürlichen Auffassung der Selbstverständlichkeit der sozialen Welt in der alltäglichen Praxis
sozialer Akteure, basierend auf dem „Schein der Unmittelbarkeit, mit der sich der Sinn dieser Welt
erschließt” (Bourdieu 1987: 52). Wenn Bourdieu in Anlehnung an Leibnitz schreibt, dass sich Akteure
in drei Viertel ihrer Handlungen ‚wie Automaten’ bewegen (vgl. Bourdieu 1987), so beschreibt er damit
33
Zur ‚biographischen Illusion’ siehe Bourdieu 1990a
31
die sozialen Akteure nicht per se als ‚Dreiviertelautomaten’34, sondern verweist - in einer etwas
unglücklichen Metapher - auf die etwaigen Proportionsverhältnisse von bewussten und ‚prä-reflexiven’
Elementen in sozialen Praxen. ‚Wie’ - und nicht etwa ‚als’ – ‚Automaten’ bewegen sich Akteure vor
allem in empirisch voraussetzungsvollen Ausnahmesituation, „wenn die auf die Welt applizierten
Schemata Produkte eben der Welt sind, auf die sie appliziert werden, das heißt in [Handlungssituation]
der Alltagserfahrung [koinzidieren]: der vertrauten Welt“ (Bourdieu 2001c: 188 f). Allerdings kommt es
grade in ausdifferenzierten Gesellschaften immer wieder zu ‚Krisen’ in denen Habitus und Feld
auseinander treten und die habituellen Erwartungen systematisch enttäuscht werden. Somit ist die
Vorstellung von
„quasi-zirkulären Verhältnisse[n] quasi-vollkommener Reproduktion [… nur ein] ‚Sonderfall des Möglichen’ [, …
der] nur dann uneingeschränkt gilt, wenn der Habitus unter Bedingungen zur Anwendung gelangt, die identisch oder
homothetisch mit denen seiner Erzeugung sind“ (Bourdieu 1987: 117).
Ist dies nicht der Fall, kommt es unvermeidlich zu Modulierungen des Habitus, oder sofern die
Strukturen nicht „auf die unbewusste Zuarbeit“ der Dispositionen der Akteure treffen, zu einer
Konstellation, die „der befreienden Kraft der Bewusstwerdung Raum lässt“ (Bourdieu 1998b: 44) und
eine
Ersetzung
habitualisierter
Praxisformen
durch
reflektierende Abwägung zulässt. Diese
reflektierende Abwägung induziert nicht nur zu ‚Anpassungen’, sondern auch zu zunächst absichtsvoll
herbeigeführten Veränderungen, d.h. nicht nur eine inhaltliche Varianz sondern auch Veränderung und
Weiterentwicklung von Handlungs-, Präferenz- und Wahrnehmungsstrukturen bzw. eine Distanzierung
von den eigenen Dispositionen ist durch eine bewusste und absichtsvolle Auseinandersetzung mit dem
Habitus – im Sinne organisierter (Selbst-)Bildung – möglich35.
Damit sind die sind die Wahrnehmungs- und Bewertungskategorien, die die Basis der sozialen (Selbst-)
Bedingtheit der Akteure darstellen, zwar in ihrem Ursprung primär auf die kulturellen, sozialen und
ökonomischen Bedingungen ihrer Entstehung verwiesen, aber diese Bedingungen determinieren die
Praxisformen d.h. die Entsprechungen von Habitus und Strukturen, der einzelnen Akteure weder direkt
noch ‚irreversibel’. Obwohl die Ausführungen Bourdieus zu Beharrungskraft und Wirkungsweise des
Habitus nicht immer einheitlich und durch sein Werk hindurch auch nicht immer kompatibel sind, gibt
es Hinweise darauf, dass Bourdieu die Frage der sozialen Determinierung der Akteure defensiver fasst
und der Möglichkeit einer (Selbst-)Subjektivierung der Akteure eine Potenz zuspricht, die mit
Perspektive der jüngeren kritischen Bildungstheorie (vgl. etwa Krüger/Sünker 1999) durchaus
vereinbar ist. Bourdieu lässt keinen Zweifel daran, dass der Habitus eines sozialen Akteurs als
‚konvertierbar’ bzw. dass er „kongruent und lernfähig (docile), dass heißt offen für die Möglichkeit der
Restrukturierung ist“ (Bourdieu 1997c: 120, zit. nach Krais/Gebauer 2002: 61f).
Explizit lehnt Bourdieu (2001c) den ‚Fatalismus’ ab, der „als Soziologismus daherkommen [kann], der die soziologischen
Gesetzmäßigkeiten zu quasi naturgegebenen, ehernen Gesetzen erhebt, wie als essentialistischer, auf den Glauben an eine
unveränderliche Menschennatur gegründeter Pessimismus“.
35 Bourdieu ist in dieser Hinsicht in seinen Ausführungen widersprüchlich. Während die dominante Interpretation darin
besteht, das ja durchaus wesentliche Moment der Reproduktion und Perpetuierung sozialer Strukturen durch die habituell
prä-strukturierte Praxis sehr stark – und mitunter zu stark - zu betonen, lässt sich die von Bourdieu immer wieder nahe
gelegte Möglichkeit und Notwendigkeit zu Reflektion auch als Möglichkeit zunehmender Offenlegung und Bewusstmachung
sozialer Mechanismen, d.h. als ein Prozess der Aufklärung verstehen. In einem solchen Aufklärungsprozess bestimmt
34
32
Da der Habitus darüber hinaus nicht ‚monolithisch’ ist (vgl. Bourdieu 2001c: 83) und entsprechend
Konstellationen konkurrierender Wahrnehmung- Handlungs- und Sinnschemata innerhalb eines
Wahrnehmungs- und Sinnhorizontes möglich sind, lässt sich davon sprechen, dass kreative
Praxisformen nicht weniger möglich sind als vergleichsweise lineare Handlungsroutinen. Ein starrer,
‚verschlossener’ nicht-anpassungsfähiger Habitus ist – zumal in modernen Gesellschaften – sowohl
empirisch (vgl. Vester et al. 2001) als auch mit Blick auf das analytische Konzept selbst nicht die Regel
sondern eine Ausnahme:
„In Abhängigkeit von neuen Erfahrungen ändern die Habitus sich unaufhörlich. Die Dispositionen sind einer Art
ständigen Revision unterworfen, die aber niemals radikal ist, das sie sich auf der Grundlage von Voraussetzungen
vollzieht, die im früheren Zustand verankert sind. Sie zeichnen sich durch eine Verbindung von Beharren und
Wechsel aus, die je nach Individuum und der ihm eigenen Flexibilität oder Rigidität schwankt“ (Bourdieu 2001c:
207).
Mehr noch verweißt das Konzept des Habitus als eine qua Praxis strukturierte und generativ
strukturierende, personal inkorporierte Struktur darauf, dass die sozialen Akteure ihrer Umwelt nie
passiv unterworfen sind. Zwar ist „die ‚Situation’ […] gewissermaßen die permissive Bedingung für die
Erfüllung des Habitus“ (Bourdieu 1993: 129), zugleich bedingen aber die Akteure selbst
„aktiv die Situation, die sie bedingt. Man kann sogar sagen, dass die sozialen Akteure nur in dem Maße determiniert
sind, in dem sie sich selber determinieren [… Dabei ist] die erste Neigung des Habitus […] schwer zu kontrollieren,
aber die reflexive Analyse, die uns lehrt, dass wir selber der Situation einen Teil der Macht geben, die sie über uns hat,
ermöglicht es uns, an der Veränderung unserer Wahrnehmung der Situation und damit unsere Reaktionen zu
bearbeiten. Sie versetzt uns in die Lage, bestimmte Bedingtheiten, die durch das Verhältnis der unmittelbaren
Übereinstimmung von Position und Disposition zum Tragen kommen, bis zu einem gewissen Punkt zu überwinden“
(Bourdieu/Wacquant 1996: 170)
Auch
auf
der
eher
präreflexiven
Ebene
diskursiver
Praktiken
und
sozio-symbolischer
Auseinandersetzungen und Klassifikationskämpfe bezeichnet der Habitus, als eine Diffundierungen,
Uneinheitlichkeiten und Streuungen zu relativ homogenen komplexen Regelmäßigkeiten der
aktualisierbarer Praktiken vereinigende Instanz, eine Art Amalgamierung „durchaus polyvalente[r],
heterogene[r] Strategien […], die, je nach strukturellem Kontext, homöostatisch-bewahrenden oder
dynamisch-flexiblen Charakter annehmen [können]“ (Bublitz 2002: 6).
Der soziale Akteur ist – wenngleich der Habitus einen inkorporierten Bestandteil seiner selbst ist –
jedoch nicht auf den Habitus zu reduzieren. Bourdieu (1976: 207) verwehrt sich explizit dagegen „aus
dem Habitus das exklusive Prinzip einer jeden Praxis zu machen, wenngleich es keine Praxis gibt, der
kein Habitus zugrunde liegt“. Vielmehr wirkt der Habitus um so selbstverständlicher und damit
effizienter, je weniger sich der einzelne soziale Akteur mit ihm auseinandersetzt und je homologer oder
redundanter er sich zu den praktischen Anforderungen verhält. Der Habitus fungiert also vor allem als
ein
„sehr ökonomisches Aktionsprinzip, das eine enorme Ersparnis an Rechenaufwand […] und an der beim Handeln
besonders knappen Ressource Zeit sichert. Er entspricht demnach besonders den gewöhnlichen Umständen der
Existenz, die bald dringlichkeitshalber, bald mangels notwendiger Kenntnisse kaum Raum geben für eine bewusste
und kalkulierte Evaluierung der Profitchancen” (Bourdieu et al. 1998: 200).
Bourdieu auch die kritische, gesellschaftliche Rolle des sozialwissenschaftlichen Forschers: „If the sociologist has a role to
play, it’s more to give weapons than to give lessons” (zit. nach Schubert 1999: 97).
33
Diese Effektivität bezieht sich nicht nur auf ‚Profite‘ in monetärer Hinsicht. Der Begriff der Profite ist
vielmehr an die spezifische ‚Ökonomie‘ des jeweiligen Feldes gebunden. In diesem Zusammenhang
spricht Bourdieu von einer allgemeinen Theorie der Ökonomie, die er letztlich nicht als Substanz,
sondern allgemein als Beziehung zwischen sozialen Akteuren versteht. Bourdieu (1987: 80) zu Folge
vollzieht sich die Praxis sozialer Akteure innerhalb eines „System[s] von Institutionen und
Dispositionen in welchen es eine Logik gibt“. Diese Logik kennzeichnet das, was Bourdieu als
‚Ökonomie des Feldes’ bezeichnet, „die gleichzeitig in den Institutionen, in den Mechanismen und in
den Dispositionen, im Kopf der Leute ist […, und die] bewirkt, dass es Sanktionen gibt, die nicht
zufallsbedingt sind” (Bourdieu 1987: 80).
‚Ökonomie’ ist somit nichts anderes, als das für eine rationale Praxis konstitutive Verhältnis, dass
zwischen einem Habitus und einem Feld ausgelöst wird. Vermittelt über den Habitus wird dabei
Seitens des Akteurs eine präreflexive Bevorzugung jener Praxisformen impliziert, die am besten
geeignet erscheinen, „die in der Logik eines Feldes enthaltenen Ziele mit dem geringsten Aufwand zu
erreichen [. Daher] kann diese Ökonomie in Bezug auf alle möglichen Funktionen definiert werden.”
(Bourdieu 1987: 167). In diesem Sinne ist eine durch die je spezifischen Rationalitäten und
Regelmäßigkeitssystemen eines sozialen Feldes bestimmte allgemeine Ökonomie der Praxis
„durch die einem Feld eigenen Einsätze – das jeweilige Kapital – und die Ziele – ‚die Maximierung spezifischer
Profite’ – [definiert.] welche mittels Strategien verfolgt werden, die durch den praktischen Sinn vermittelt und
dadurch an die Struktur des Feldes (mehr oder weniger) angepasst sind.” (Schwingel 1993: 90f)
Was Marx den ‚stummen Zwang der ökonomischen Verhältnisse’ nennt, gilt also auch außerhalb der
pekuniären Ökonomie: „Man kann nicht irgend etwas machen, wenn man bei der Akkumulation oder
dem Wachstum seines Kapitals erfolgreich sein will” (Schwingel 1993: 81). Wenn es demnach also
teilweise explizite vor allem aber unausgesprochene ‚Spielregeln’ gibt, die sozialen Felder konstituieren
und definieren, so stellen sie einerseits einen Zwangscharakter dar – auf den man sich einlassen muss,
wenn man ‚mitspielen’ will -, andererseits sind es grade sie, die die Möglichkeitsbedingungen der
jeweiligen Felder erzeugen.
In diesem Zusammenhang ist der Strategiebegriff Bourdieus, als ‚objektiver Sinn ohne subjektive
Absicht’ zu verstehen. Epistemologisch ist ein solcher praxisökonomischer Strategiebegriff an eine
Unterscheidung zwischen der ‚Logik der Theorie’ und der ‚Logik der Praxis’ gekoppelt, die in erster Line
darin begründet ist, dass letztere durch Zeitlichkeit, Irreversibilität und Dringlichkeit gekennzeichnet ist
(vgl. Bourdieu 1987: 148 ff). Um in der Logik einer feldspezifischen Praxis bestehen zu können, bedarf
es eines ‚praktischen Sinns’ bzw.
„das was man auch ein ‚spielerisches Gespür’ nennen könnte: der gekonnte praktische Umgang mit der immanenten
Logik des Spiels, die praktische Beherrschung der ihm innewohnenden Notwendigkeit. […D]ieser ‚Sinn‘ wird durch
Spielerfahrung erworben und funktioniert jenseits des Bewusstseins und des diskursiven Denkens” (Bourdieu 1992:
81).
Der Strategiebegriff wird in dieser Hinsicht in einer bewussten – und teilweise auch polemisch
überspitzen - Abgrenzung zum autonomen, rational kalkulierenden Subjekt der ‚Rational-Choice’
Ansätze (vgl. Hill 2002) konzipiert, die dazu tendieren, soziale Regelmäßigkeiten auf bloßes Aggregat
individueller Handlungen zu reduzieren. Er richtet sich stattdessen vor allem auf eine dem Handeln
‚prä-reflexiv’ und auf sprachlicher Ebene nicht artikuliert - oder gar nicht artikulierbar – zu Grunde
34
liegende ‚praktische Vernünftigkeit’ (vgl. Bourdieu 1998); „auf das Prinzip der Verstehbarkeit […] auf
die Rationalität, die soziale Praktiken aufgrund ihrer ‚objektiven‘ Zielgerichtetheit, d.h. ihrer
Ausrichtung auf zentrale gesellschaftliche ‚Einsätze‘ eigentümlich ist” (Raphael 1987: 155).
Strategien sind also dem Kräftespiel der Kampffelder ‚objektiv‘ angepasste Handlungen, die als solche
nicht subjektiv intendiert sein müssen. Das was Bourdieu als Hysteresis-Effekt des dispositionalen
Gefüges des Habitus bezeichnet – d.h. Trägheit, von einer Gewohnheit abzugehen -, lässt sich in
diesem Kontext vor allem auch als die Beibehaltung eines Habitus im ‚falschen‘ Feld verstehen. In
dieser Hinsicht manifestiert sich der Hysteresis-Effekt als eine praktische ‚Fehlstrategie‘, die in der
Regel mit negativen, im skizzierten Sinne ökonomischen, Auswirkungen verbunden ist.
II 1. 3.
KÄMPFE UND SYMBOLISCHE MACHT
In Bourdieus analytischem Modell stellen Felder im sozialen Raum Kraft- und vor allem Kampffelder
dar, in „denen um die Wahrung oder Veränderung der Kräfteverhältnisse gerungen wird” (Bourdieu
1985: 74). Dabei geht es nicht nur um die Distribution materieller Ressourcen, sondern vor allem um
Fragen symbolischer Herrschaft.
Der praxisökonomischen Analyse symbolischer Gewalt liegt die Einsicht zu Grunde, dass Herrschaft um
so effektiver funktioniert, je eher sie es schafft ihre kulturelle Willkürlichkeit als Notwendigkeit oder
Natürlichkeit darzustellen und damit es zu vermeiden, dass ihre Existenz als Herrschaft überhaupt ans
Tageslicht kommt. Im ‚günstigsten Falle’ geschieht dies nicht nur gegenüber den ‚Beherrschten’
sondern auch gegenüber den ‚Herrschenden’ selbst.
Sofern man davon ausgehen kann, dass zumindest in demokratisch verfassten Gesellschaften ein
bloßer Zynismus langfristig keine Basis für stabile Herrschaft darzustellen in der Lage ist (vgl. Foucault
1976, Hauck 1993) und viel weniger noch in der Lage sein, kann die Beherrschten dazu zu bewegen,
Herrschaft zu erdulden, ja zu rechtfertigen (vgl. Steinrücke 1988: 92) bzw. „ihre eifrige Unterwerfung
und aktive Beteiligung an einem System von Ausbeutung und Unterdrückung zu erlangen deren erste
Opfer sie sind“ (Bourdieu 1997c: 213), so ist gerade die Lautlosigkeit von Herrschaft bzw. ihre
Anerkennung und Verkennung, ihr stabilster Garant36 (vgl. Bourdieu 1990 dazu auch: Foucault 1976,
Mathisen 1985). „Von allen Formen der ‚unterschwelligen Beeinflussung’“ so Wacquant und Bourdieu
(1996: 205) in offensichtlicher Anlehnung an Foucault, „ist die unerbittlichste die, die einfach von der
Ordnung der Dinge ausgeübt wird“. Ordnungen funktionieren demnach umso besser, je weniger die
Willkürlichkeit ihrer Grundlagen sichtbar ist: „Anders gesagt: die Herrschenden haben ein Interesse am
Konsensus, an der grundsätzlichen Übereinstimmung über den Sinn der sozialen Welt auf der
Grundlage einer Übereinstimmung über die Prinzipien der sozialen Gliederung“ (Bourdieu 1990: 108).
Auf die Freiwilligkeit der Aufrechterhaltung gegebener Verhältnisse verweist Bourdieu mit dem Begriff
der ‚Doxa‘, bzw. der ‚paradoxen Unterwerfung‘, als die „Unterwerfung unter eine sanfte, nicht
spürbare, selbst für die Opfer nicht sichtbare Gewalt” (Bourdieu 1998d: 1). Die Verwendung des
35
Begriffs ‚Doxa‘ verweist dabei weniger auf Marxens ‚falsches Bewusstsein‘, als auf Gouldners (1976:
224) Rede von ‚Paleo-Symbolismus‘, als restringierte Kommunikationsfähigkeit auf der Basis von
unhinterfragten weil unhinterfragbaren Glaubenssätzen. ‚Doxische‘ Gewalt ist also einer Form der
Herrschaft, die „sich hauptsächlich auf rein symbolischem Weg vollzieht, mittels Kommunikation und
Kenntnis, oder besser: mittels Verkennung, Anerkennung und letztlich mittels Gefühl” (Bourdieu
1998d: 1). Doxa, als die Inkorporierung sozialer – d.h. machtförmig erzeugter – Ordnungen, verweist
auf das merkwürdige Phänomen, dass
„die real existierende Ordnung der Welt mit ihren Einbahnstraßen und Durchfahrtsverboten (im buchstäblichen wie
übertragenen Sinne) und mit ihren Pflichten und Strafen im großen und ganzen respektiert wird: dass es nicht viel
häufiger zu Übertretungen und Auflehnungen kommt, nicht viel häufiger Verbrechen und ‚Verrücktheiten’ begangen
werden […]. Noch verblüffender ist jedoch, dass die etablierte Ordnung mit ihren Herrschaftsverhältnissen (den
Rechten und Sonderrechten, Vorrechten und Ungerechtigkeiten) sich abgesehen von ein paar historischen
Zwischenfällen so reibungslos hat perpetuieren können; und nicht minder verblüfft, dass selbst die unerträglichsten
Lebensumstände so oft als annehmbar oder gar naturgegeben erscheinen” (Bourdieu 1998d:1).
Wenn die soziale Ordnung bzw. symbolische Herrschaft mittels ihrer praktischen Inkorporierung aber
selbst zu einem ein Teil des Habitus der sozialen Akteure wird, stellen sie nicht nur Beschränkungen
und Unterdrückungen, sondern – wie der Habitus - ein generatives und generierendes Prinzip sozialer
Praxis dar. In diesem Sinne können die Begriffe Doxa und symbolische Herrschaft als eine
sozialstrukturell fundierte Entsprechungen eines ‚produktiven’ Machtbegriffs verstanden werden, wie
ihn etwa Michel Foucault vorschlägt: „Wenn sie [die Macht] nur repressiv wäre wenn sie niemals etwas
anderes tun würde als nein sagen“, fragt Foucault,
„ja glauben sie dann wirklich, dass man ihr gehorchen würde? Der Grund dafür, dass Macht herrscht, dass man sie
akzeptiert, liegt ganz einfach darin, dass sie nicht nur als neinsagende Gewalt auf uns lastet, sondern in Wirklichkeit
unseren Körper durchdringt, Dinge produziert, Lust verursacht, Wissen hervorbringt, Diskurse produziert; man
muss sie als produktives Netz auffassen, das den ganzen sozialen Körper überzieht” (Foucault 1978: 35).
Bei aller Divergenz der theoretischen Architektur und Erkenntnispraxen von Bourdieu und Foucault ist
ihnen eine Fassung von Macht als ein konstitutives Element in allen gesellschaftlichen (Praxis)Verhältnissen
gemeinsam37
(vgl.
Bublitz
1997,
Papilloud
2003).
Wie
bei
Foucaults
mikrophysikalischem Machtkonzept, sind auch bei Bourdieu alle sozialen, ökonomischen, kulturellen
etc. Praxisformen von ‚Macht’ durchzogen, wobei jedoch das analytische Interesse an Machtformen
und -prozessen bei Bourdieu vor allem auch auf die Ebene sozio-kultureller, materieller und
symbolischer Konkurrenz - und Klassenkämpfe ausgedehnt wird. In diesen sozialen Kämpfen sozialer
Akteure geht es um ‚objektive‘, d.h. nicht unbedingt subjektiv intendierte, Ziele bzw. Gewinne an
sozialen
Vorteilen.
Damit
verbunden
verweisen
diese
Kämpfe
innerhalb
einer
Ordnung
(‚Konkurrenzkämpfe’) a la longe in ihrer Gesamtheit immer auch auf Kämpfe um die Anordnungen
sozialer Kräfteverhältnisse, d.h. um eine Konservierung oder eine Subversion bestehender materieller
wie symbolischer Ordnungen. Analytisch bietet es sich jedoch an, zunächst zwischen den de facto eng
„Nur unter der Bedingung, dass sie einen wichtigen Teil ihrer selbst verschleiert“, so schreibt auch Foucault (1976: 107),
„ist Macht erträglich. Ihr Durchsetzungserfolg entspricht ihrem Vermögen, ihre Mechanismen zu verbergen. Würde die Macht
akzeptiert, wenn sie gänzlich zynisch wäre?“
37 Im Vergleich zur mikrophysikalischen Fassung von Macht bei Foucault, lassen sich die Machtkämpfe bei Bourdieu jedoch
eher (sozial-)strukturell einordnen.
36
36
verknüpften materiellen und symbolischen Ebenen zu unterscheiden, da auf beiden Ebenen andere
Ziele verfolgt werden:
Auf der materiellen Ebene geht es um die durch Knappheit bedingte Konkurrenz bei der unmittelbaren
Akkumulation von Kapital. Materielle Konkurrenz wird dabei weniger mit einem individuellen
Profitstreben einzelne Akteure in Verbindung gebracht, sondern in den Strukturen sozialer Ungleichheit
und den Logiken der Felder selbst angesiedelt.
Auf der symbolischen Ebene geht es um die Legitimierung dieser Akkumulationsergebnisse, d.h. zum
einen um die Aneignung symbolisch positiv wahrgenommener und bewerteter Merkmale, zum anderen
um den Kampf um die Macht zur Legitimation38 und Delegitimation bestimmter Praxisformen und
Praxisverhältnisse. Dieser Kampf lässt sich als „genuin symbolischen Konkurrenzkampf” verstehen
(Schwingel 1993: 88).
Materielle und symbolische Konkurrenzkämpfe kennzeichnen alltägliche Auseinandersetzungen in der
feldspezifischen Ökonomie der Praxis. Konkurrenzkämpfe sind auf feldspezifische Interessen
zurückzuführen, die in so fern objektiver Natur sind, dass sie relativ unabhängig vom Wissen und der
Intention der handelnden Akteure bestehen, die diese wahrnehmen und zugleich reproduzieren, sobald
sie sich in der Logik der Felder bewegen:
„Das für ein ‚Spiel’ kennzeichnende spezifische Interesse wird identisch mit der ‚Besetzung’ (affektives Engagement
und materielle Investition) des ‚Spiels’ , mit der illusio als stillschweigender Anerkennung der ‚Spieleinsätze’. Jedes
Feld erheischt und schafft eine besondere Form von Interesse (diese fundamentale ‚Besetzung’, die jedes Feld dem
als Gebühr abverlangt, der eintreten will, das heißt die Anerkennung der Geltung des ‚Spiels’ und der ‚Spieleinsätze’,
ist allen Beteiligten gemeinsam, was bedeutet, dass sie auch im Falle von Dissens durch Konsens – nicht Vertrag –
verbunden sind). Dieses mit der Teilnahme am Spiel implizierte besondere Interesse spezifiziert sich jetzt noch je
nach Stellung innerhalb des ‚Spiels’” (Bourdieu 1989: 399).
Insofern besteht eine enge Verbindung von symbolischen und materiellen Interessen, und damit von
symbolischen und materieller Konkurrenz. Der Verweisungszusammenhang von materiellen und
symbolischen Dimensionen darf jedoch nicht im Sinne eines Basis und Überbau Verhältnisses in dem
Sinne verstanden werden, dass die symbolischen Auseinandersetzungen um die Klassifikations- und
Ordnungssysteme – ihrerseits „eine vergessene Dimension der Klassenkämpfe” (Bourdieu 1982: 755) –
auf die Logiken der Kämpfe um knappe materielle Ressourcen reduzierbar wären39.
Die relativ autonome, symbolische Ebene wird nicht nur von den objektiven Gegebenheiten
beeinflusst, sondern hat selbst starken ‚realen’ Einfluss auf die materiellen Kräfteverhältnisse. Der
symbolischen Ebene der Gesellschaft entspricht auf der Ebene der sozialen Akteure die durch den
Habitus
-
als
dem
„Erzeugungsprinzip
objektiv
klassifizierbarer
Formen
von
Praxis
und
Klassifikationssystem (prinzipium divisionis) dieser Formen” (Bourdieu 1982: 277) – konstituierte, sich
repräsentierende soziale Welt40. Anders formuliert ermöglicht die relative Autonomie des Symbolismus
38In
diesem Sinne stellt bereits Max Weber (1980: 151) fest, dass „bei Herrschenden und Beherrschten [...] die Herrschaft
durch [...] Gründe ihrer ‚Legitimität‘ innerlich gestützt zu werden [pflegt]“.
39 In der impliziten Anthropologie Bourdieus findet sich vielmehr eine Korrespondenz zu Cassirers ‚homo symbolicus‘, insofern
Bourdieu auf der Ebene der Erkenntnissoziologie eine Eigenlogik des Symbolismus unterstellt, die sich auch in seiner
Unterscheidung der objektiven Strukturebene und der Ebene der Lebensstile in seinem Raum-Modell widerspiegelt.
40 Gegenstand einer umfassenden sozialwissenschaftlichen Analyse müssen daher sowohl objektiv-materielle als auch
subjektiv-symbolische Realitätsebenen sein: „Weil Individuen oder Gruppen objektiv nicht nur durch ihr Sein definiert sind,
sondern auch durch das, was sie angeblich sind, also durch ihr wahrgenommenes Sein, das zwar eng von ihrem Sein
37
das, was Bourdieu ‚symbolische Macht‘ oder ‚symbolische Gewalt‘ nennt: die Fähigkeit „Bedeutungen
durchzusetzen und sie als legitim durchzusetzen, indem sie die Kräfteverhältnisse verschleiert, die ihrer
Kraft zugrunde liegen” (Bourdieu 1973: 229). Im Kotau der Kämpfe sozialer Akteure um die
Bedeutungen und Bewertungen oder kurz symbolischen Kräfteverhältnisse der sozialen Welt kämpfen
die Akteure auch um ihre symbolische Selbstrepräsentation: „the discursive constitution of the subject
[is] inextricable from the social constitution of the subject“ (Butler 1999: 120).
In dem untrennbar mit den Auseinandersetzungen um die Positionen im sozialen Raum verknüpften
Kampf um die Durchsetzung der legitimen Vorstellung der sozialen Welt, bemisst sich
„die Macht der Akteure ganz direkt nach ihrem symbolischen Kapital, also nach der Anerkennung, die sie von einer
sozialen Gruppe bekommen: Die Autorität […] ist ein percipi, ein Gekannt- und Anerkanntwerden, das ein percipere
durchsetzen kann, oder richtiger gesagt, sich selbst etwas, das offiziell, das heißt vor den Augen und im Namen aller,
den Konsens über den Sinn der sozialen Welt erzwingen kann, auf dem der common sense41 beruht” (Bourdieu 1990:
72).
abhängig ist, doch nie völlig darauf zurückgeführt werden kann, muss die Sozialwissenschaft die beiden Arten von
Eigenschaften berücksichtigen, die objektiv mit jenen Seinsarten verknüpft sind: einerseits die materiellen, die sich, wie schon
der Leib, wie Beliebiges aus der physischen Welt zählen und messen lassen, und andererseits die symbolischen
Eigenschaften, die nichts anderes als in ihren Wechselbeziehungen, d.h. als Unterscheidungsmerkmale aufgefasste
materielle Eigenschaften sind” (Bourdieu 1987: 246). Es existiert demnach eine relative Autonomie von ‚objektiven‘
Bedingungen - inklusive des Verfügens über Kapital - und deren symbolischen Eigenschaften. Diese ist in der Nicht-Identität
von materieller Logik als einer Logik von Differenzen und differentiellen Abständen und symbolischer Logiken begründet,
durch die diese relationalen Differenzen zu signifikanten Unterscheidungen werden (vgl. Bourdieu 1985: 21). Diese Differenz
ermöglicht für die Akteure auf der symbolischen Ebene, in klassenspezifisch differenzierter Weise, Freiheitsmomente
gegenüber der objektiven Soziallage: „Das bedeutet, dass Moral und Ästhetik einer bestimmten Klasse, da jeweils einer
besonderen Klasse von Existenzbedingungen angepasst, die sich durch eine bestimmte Nähe oder Ferne zur Zwangsphäre
der ökonomischen Notwendigkeiten auszeichnen, entsprechend ihrem Banalitäts- oder Distinktionsgrad auf die der anderen
Klassen bezogen, ihre Optionen daher automatisch mit einer klar bestimmten Position assoziiert und mit einem
kennzeichnenden Wert versehen sind, und zwar unabhängig von jedweder Distinktionsabsicht, von jedwedem Streben nach
Differenz” (Bourdieu 1982: 382). Die Freiheitsmomente der symbolischen Ebene sind klassenspezifisch, je nach der Abstand
zu objektiven, materiellen Zwängen unterschiedlich stark ausgeprägt. Deshalb spielt sich das „Spiel der symbolischen
Unterscheidungen […] innerhalb des engen Raumes ab, dessen Grenzen die ökonomischen Zwänge diktieren, und bleibt,
von daher gesehen, ein Spiel der Privilegierten privilegierter Gesellschaften, die es sich leisten können, sich die wahren
Gegensätze, nämlich die von Herrschaft, unter Gegensätzen der Manier zu verschleiern” (Bourdieu 1974: 73). Auch wenn
damit die ‚herrschenden Klassen’ selbst den eigentlichen Schauplatz symbolischer Kämpfe – als Konkurrenzkämpfe zwischen
den Akteuren und ‚Faktionen’ dieser Klassen - darstellen (vgl. Bourdieu 1982: 395) bedeutet dies nicht, dass sich die
praktische Relevanz symbolischer Kräfteverhältnisse auf diese Gruppen beschränkt. Vielmehr kann davon gesprochen
werden, dass nicht nur die Chancen zur Durchsetzung symbolischer Gewalt, sondern bereits die Möglichkeiten an den
Kämpfen um die symbolische Hegemonie überhaupt teilzunehmen, klassenspezifisch ungleich verteilt sind. Dies ist deshalb
der Fall, weil die für genuin symbolische Strategien so wesentliche Autonomie gegenüber den materiellen Bedingungen in
den unteren Klassen am geringsten ausgeprägt ist: der Lebensstil und der Geschmack der unteren Klassen, wird unter den
Eindruck des Zwangs der materiellen Verhältnisse der Tendenz nach vor allem vom Diktat der ‚Notwendigkeit‘ oktroyiert. Sie
gestattet in so fern vergleichsweise wenig Raum für abstrakte Ästhetisierungen und ‚Stilisierungen des Lebens’ (Weber). Der
Lebensstil, bzw. die Stilisierung des Lebens der herrschenden Klasse hat als legitimer Geschmack tendenziell
Vorbildcharakter für die übrigen Klassen. Während insbesondere das aufstiegsorientierte Kleinbürgertum versucht der
herrschenden Klasse nachzueifern, zeichnet sich der Geschmack der herrschenden Klassen durch einen ‚Sinn für Distinktion‘
aus (vgl. Bourdieu 1982: 405 ff). Entgegengesetzt wirkt der Habitus der unteren Klassen, als Negativschablone, von der sich
die übrigen Klassen absetzen (dazu auch Vester et al. 2001). Die nach außen zunächst unsichtbaren Positionen im Raum
objektiver Unterschiede des primären (materiellen) Kapitals finden demnach ihren entsprechenden Ausdruck durch sichtbare
Unterschiede und Distinktionssymbole in einem symbolischen Raum. Während daher „die objektiv stärksten
Differenzierungsprinzipien, wie ökonomisches und kulturelles Kapital, deutliche Unterschiede zwischen den an
Extrempunkten angesiedelten Agenten bewirken, ist ihr Effekt in den mittleren Zonen des sozialen Raums offensichtlich
geringer. Die Unbestimmtheit und Verschwommenheit der Beziehungen zwischen Praktiken und Positionen und der
Spielraum für Strategien, die diese Beziehungen verdecken wollen, sind hier am größten.” (Bourdieu 1997b: 121)
41 Common Sense im Sinns Bourdieus impliziert alle drei etymologischen Bedeutungen der griechischen Begriffe auf denen
er basiert: dem koinos nous als der gemeinsamen Denkform, der koine aisthesis als dem gemeinsamen Wahrnehmungssinn,
und und der koine ennoia als gemeinsam geteilte Überzeugungen und Vorstellungen. Darüber lehnt sich Bourdieu
offensichtlich an Immanuel Kants Rede vom ‚senus communis’ an.
38
Dieser Common Sense ist keine anthropologische und keine überhistorische Konstante, sondern das
Zwischenergebnis kulturspezifischer Dynamiken. Im Sinne der Macht zur Durchsetzung legitimer
Bedeutung ist die Möglichkeit zur Produktion von Common Sense insbesondere in ausdifferenzierten
Gesellschaften - auch innerhalb ‚einer Kultur’ - an spezifische, ungleich verteilte ökonomische und
soziale Bedingungen geknüpft ist. Dabei gestattet es die Durchsetzung commonsensualer
Bedeutungen und Bewertungen ihren Träger sowohl „einen Gewinn an Distinktion” gegenüber jenen
zu sichern, deren Praxisformen und -präferenzen weiter von diesem Common Sense entfernt sind, als
auch „einen Gewinn an Legitimität, den Gewinn überhaupt, der darin besteht, sich so, wie man ist, im
Recht, im Rahmen der Norm zu fühlen” (Bourdieu 1982: 359).
Gewinne, die sich aus einer Nähe des eigenen Habitus und Lebensstils diesem Common Sense ergeben
zeigen sich also nicht alleine auf der Ebene der objektiv-materiellen Stärke, sondern auch auf der
Ebene des Sinns und der Erkenntnis, nämlich darin, bloße Unterschiede in qualitative Differenzen zu
‚verwandeln’. Anders formuliert liegt, der Wert des Machtmittels zur Erzeugung von Common Sense, dem symbolischen Kapital - nicht in einem unveräußerlichen Merkmal einer Eigenschaft selbst42,
sondern in der Schaffung eines distinktiven, relationalen Grenzwerts, d.h. dem Gewinn, der durch
positive
oder
negative
Hervorhebung
gewährleistet
werden
kann.
Als
symbolischen
Unterscheidungsstrategien fungieren dabei die
„beiden grundlegenden Operationen der sozialen Logik, nämlich Vereinigung und Trennung […] die symbolische
Geltung der Gruppe gesteigert oder vermindert werden kann […] Das Eigentümliche der Logik des Symbolismus
liegt darin, dass sie winzig kleine [… und] willkürlichen Unterschiede, wie sie in der statistischen Verteilung von
Eigenschaften verzeichnet sind, zu Zeichen (selbstverständlicher) Unterscheidung [… und] zu absoluten
Unterschieden zwischen alles oder nichts aufbauscht“ (Bourdieu 1987: 249 ff).
Wenn symbolisches Kapital die anerkannte und legitime Form der anderen Kapitalen darstellt, so ist es
jenes Machtmittel, das es ermöglicht die sozio-historische Bedingtheit und damit Veränderbarkeit der
‚objektiven’ Kräfteverhältnisse, die sich aus dem Volumen und der Struktur der primären Kapitalen
konstituieren, zu verschleiern, um somit die kulturelle Willkür als inkontigente, quasi-natürliche
Eigenschaft zu verklären und die selbstverständliche Anerkennung einer letztlich beliebigen Macht
durchzusetzen. Die symbolische Gewalt ist somit „die sanfte und verschleierte Form, welche die Gewalt
dort annimmt, wo nackte Gewalt unmöglich ist” und zeigt sich am zuverlässigsten, wenn es zur
Entfaltung ihrer Wirkungen „keiner Worte, sondern nur der Duldung und des stillschweigenden
Einvernehmens bedarf” (Bourdieu 1987: 244).
Die Legitimierung der bestehenden sozialen Ordnung, die als „praktische Anerkennung der Legitimität
[…] in bestimmten Handlungen oder Enthaltungen vorliegt”, stellt dabei in der Regel „keinen auf
explizitem Nachdenken beruhenden Akt der freiwilligen Zustimmung dar” (Bourdieu 1989: 402),
sondern vollzieht sich durch die Praxis selbst „über einen Akt des Er- und Verkennens […], der noch
vor den Kontrollen von Bewusstsein und Willen stattfindet, im Dunklen der Schemata des Habitus”
(Bourdieu 1996: 209).
In dieser Hinsicht gilt für das Konzept relationaler symbolischer Macht bei Bourdieu das selbe, was Deleuze (1995: 43) zum
mikrophysikalischen Konzept der Macht bei Foucault, ausführt: Macht hat „kein Wesen, sie ist operativ. Sie ist kein Attribut
sondern ein Verhältnis” (vgl. auch Elias 1970).
42
39
In sofern ist sich Bourdieu mit Michel Foucault (1987) und Norbert Elias (1970) darin einig, dass
Macht, obgleich ein Verhältnis, das in Strukturen geronnen, durch Praxisverhältnisse strukturiert und
zugleich durch die Akteure habituell inkorporiert ist, nur in actu existieren kann.
Als Konstitutionsprinzip eines Netzes von Möglichkeiten in dem soziale Akteure, innerhalb von
gegebener Grenzen – die sich über die Zeit hinweg verengen oder erweitern können - Entscheidungen
treffen und Ziele verfolgen (vgl. Lukes 1977: 29), beruht symbolische Macht weniger auf
Unterdrückung und ‚aktiver’ Unterwerfung, sondern vielmehr auf der impliziten Anerkennung der
Legitimität einer Ordnung durch ‚praktische Zustimmung’43. Sie ist keine bloße Einschränkung einer –
gegebenen oder gar essentiellen – Autonomie von Akteuren, sondern eher „ein[e] komplexe
strategische Situation in einer Gesellschaft“ (Foucault 1977: 114) um spezifische Formen von Praktiken
und ‚Identitäten’ hervorzubringen oder unwahrscheinlich zu machen, zu stützen, zu legitimieren oder
abzuwerten.
Es ist die Verknüpfung von Macht als symbolischer Gewalt - mit Castells (2000: 39) „das Vermögen
eines gegebenen symbolischen Kodes, einen anderen Kode aus dem individuellen Denken dessen zu
lösen, über den Macht ausgeübt wird” - mit den strukturierenden Dispositionen des Habitus, die dafür
Sorge trägt, dass die Eigenlogik der symbolischen Herrschaft „den Gegensatz von Zwangsausübung
und Zustimmung, äußerem Zwang und innerem Trieb aufhebt”44 (Bourdieu 1996: 209).
43 Symbolische Macht basiert, wie es Schwingel (1993: 108) formuliert im Kern auf „der habituellen Übernahme der äußeren
Bedingungen des Daseins und in der Anerkennung dieser Bedingungen als selbstverständliche […]. Die faktische Wirkung
symbolischer Macht setzt also eine Form von objektiver ‚Komplizenschaft‘ mit der bestehenden Ordnung voraus, die genau
dann gegeben ist, wenn die jeweilige Ordnung (des Feldes oder der Klassen) mittels homologer Strukturen (freilich in Form
inkorporierter kognitiver Strukturen) wahrgenommen wird”.
44 So erzeugt z.B. das Bildungssystem die faktische Anerkennung seiner Selektions- und Legitimationsfunktionen weniger
durch mechanische Selektionen oder durch gezielt erzeugte Ideologien, sondern durch ein klassenspezifisch differenziertes
Homologie- bzw. Redundanzverhältnis zwischen den Praktiken der Schule und den in Familien erworbenen Kenntnissen und
Dispositionen, die aufgrund formaler Neutralität und Gleichheit der Leistungskriterien, auch von denen die – scheinbar
selbstverschuldet – scheitern als gerecht und legitim empfunden werden (vgl. Bourdieu 1970: 104). Die Wirkung dessen, was
Bourdieu symbolische Macht nennt vollzieht sich hier in Form staatlicher Definitionsmacht als offizielle bzw. juristische
Benennung, Nomination oder Ausgrenzung. Durch Bürokratisierung, staatlichen Schutz, Kodifizierung und Delegierung, wird
aus dem diffusen, ‚lediglich‘ auf Anerkennung basierenden symbolischen Kapital, juristisches bzw. legales Kapital, eine
objektivierte, institutionalisierte Form dieses Kapitals (vgl. Bourdieu 1998) – oder wie es Habermas (1981) nennt das
‚Medium’ ‚Macht’ im staatlich-systemischen Bereich. Um dieses legale Kapital durchzusetzen, und eine entsprechend
geordnete soziale Welt zu erzeugen, braucht der Staat jedoch „nicht unbedingt Anordnungen zu geben und physischen
Zwang auszuüben, […] nämlich so lange nicht, wie er in der Lage ist, inkorporierte kognitive Strukturen zu erzeugen, die auf
die objektiven Strukturen abgestimmt sind, und auf diese Weise für […] die doxische Unterwerfung unter die bestehende
Ordnung [zu sorgen …] (Bourdieu 1998: 120). Denn die „sozial bedingten Klassifikationsschemata, nach denen wir die
Gesellschaft aktiv konstruieren, stellen die Strukturen, aus denen sie hervorgegangen sind, tendenziell als natürliche und
notwendige Gegebenheiten dar statt als historisch kontingente Produkte der bestehenden Machtverhältnisse zwischen den
sozialen Gruppen” (Bourdieu/Wacquant 1996: 33). Dabei können offizielle Benennungen und Regeln - da sie „von einem
Mandatsträger des Staates, Inhaber des Monopols über die legitime symbolische Gewalt, vollzogen [werden] - auf die ganze
Stärke des Kollektivs, des Konsens, des common sense aufbauen” (Bourdieu 1985: 23f). Common Sense bei Bourdieu ist in
dieser Hinsicht verwandt mit Gramscis Konzept der ‚hegemonialen Herrschaft‘ als „implizierte Form der Organisation von
Zustimmung und Legitimation als Verinnerlichung von Macht ohne Rückgriff auf Gewalt und Zwang” (Groenemeyer 1999: 59).
Die Herrschaftsfunktion besteht in Gramscis Hegemoniekonzept kaum anders als in Bourdieus ‚Common Sense’ darin, dass
ihn möglichst alle Akteure – auch und besonders die subalternen - in ihren alltagspraktischen Handlungen legitim akzeptieren
und in Form eines ‚aktiven Konsenses’ selbst aktiv tragen (vgl. Demirovic 1992), „womit die führende Klasse ihre Herrschaft
nicht nur Rechtfertigt und aufrecht erhält, sondern es ihr auch gelingt, den aktiven Konsens der Regierten zu erlangen
(Gramsci 1991 ff: 1725 f). Common Sense bei Bourdieu basiert auf einer Harmonisierung in Konkurrenz stehender
Deutungsmuster zur Klassifikation der sozialen Welt, durch die sie „sozialen Funktionen unterworfen und mehr oder weniger
offen auf die Erfüllung spezifischer Gruppeninteressen hin ausgerichtet” (Bourdieu 1982: 744) werden und damit faktisch
keine ‚neutralen‘ Medien der Erkenntnis sondern Mittel der Macht darstellen, die Herrschaftsverhältnisse durch die Erzeugung
40
Mit Blick auf die sozialen Akteure und sozialen Klassen haben diese symbolischen Kämpfe haben eher
den Charakter von ‚Konkurrenzkämpfen’ zwischen Einzelnen und (Status-)Gruppen als von
‚Klassenkämpfen’ im weitesten marxistischen Sinne, d.h. von sozialen Auseinandersetzungen, die
Resultat der politischen Mobilisierung einer Klasse und die gezielt auf die Veränderung der sozialen
(Herrschafts-)Ordnung gerichtet sind. Nichtsdestoweniger spricht Bourdieu auch hinsichtlich der
Konkurrenzkämpfe, die eine „Art Wettlauf zwischen den Klassen [beschreiben], der die Anerkennung
ein und derselben Ziele beinhaltet” von einer latenten bzw. „sanftere[n], fortwährende[n] Form des
Klassenkampfes” (Bourdieu 1975: 182).
Während ‚Klassenkämpfe’ als gesellschaftliche Kämpfe zwischen politisch mobilisierten sozialstrukturell
ähnlich positionierten Gruppen um die Perpetuierung oder den Umsturz einer sozialen Ordnung
beschrieben werden können, zeichnen sich Konkurrenzkämpfe eher durch die prinzipielle Anerkennung
der in den sozialen Arenen wirksamen ‚Einsätze’ und ‚Spielregeln’ durch die beteiligten Akteure aus:
„Konkurrenzkämpfe wollen nämlich durchaus nicht nur die Klassenteilung abschaffen oder ihre Grundlage
reformieren, sondern nur die eigene Lage verändern, was eine stillschweigende Anerkennung der Klassenordnung
voraussetzt, sie sind auch dadurch, dass sie die Nächsten, Nachbarn, Gleiche spalten, die vollkommenste Antithese
und wirksamste Verneinung des Kampfes gegen eine andere (herrschende) Klasse, in dem die Klasse erst zu einer
solchen wird.” (Bourdieu 1987: 252)
Während ‚Klassenkämpfe’ demnach darauf gerichtet sind soziale Strukturen aufzubrechen, zielen
symbolische Konkurrenzkämpfe nicht auf Umwälzungen der sozialen Ordnung, sondern vor allem auf
Verschiebungen der Verteilungsstruktur, während die Grundmuster der Ordnungen erhalten bleiben
(vgl. Bourdieu 1987:) „Kurzum: nicht differente Soziallagen verewigt der Konkurrenzkampf, sondern
die Differenz der Soziallagen45” (Bourdieu 1982: 272)
Der Logik des Konkurrenzkampfes, als spezifischer, symbolisch verneinter Form des Klassenkampfes,
„sitzen die Angehörigen der beherrschten Klasse dann auf, wenn sie die von den Herrschenden vorgegebenen
Einsätze akzeptieren. Als integrativer und infolge des anfänglichen handicap als reproduktiver Kampf erweist sich dieser
nicht zuletzt deshalb, weil die, die bei dieser Art Verfolgungsrennen an den Start gehen – als vorweg geschlagene, wie
die unveränderten Abstände bezeugen -, implizit durch ihre Teilnahme am Rennen die Legitimität der Ziele der von
ihnen Verfolgten anerkennen.” (Bourdieu 1987: 273)
II. 2
DEVIANZTHEORETISCHE ÜBERLEGUNGEN IM ANSCHLUSS AN BOURDIEU
II. 2.1
ABWEICHUNG UND COMMON SENSE
‚richtiger‘ Formen der Perspektiven und Erkenntnisse sichern. Dies gilt insbesondere für wissenschaftliche und juristische
Macht deren „spezifische Effizienz freilich grade auf dem Schein ihrer Neutralität beruht: Gemäß der Logik und in der Sprache
relativ autonomer Felder erzeugt, verbinden sie reale Abhängigkeiten von den Klassifikationsschemata des dominanten
Habitus und vermittels dieser von den Sozialstrukturen aus denen sie hervorgehen mit dem Schein von Unabhängigkeit, kraft
dessen sie zu Legitimation eines bestimmten Kampfes zwischen Klassifikationssystemen und des Klassenkampfes beitragen”
(Bourdieu 1982: 744).
45 Zwischen der Behauptung einer Permanenz der Kämpfe und der Reproduktion der sozialen Ordnung durch strukturierte
Praxis besteht also kein Widerspruch, solange es in den Kämpfen um die relative Erhöhung des Tauschwerts der jeweils am
Spieltisch eingebrachten Jetons geht und nicht darum, die Regeln zu ändern, geschweige denn den Spieltisch umzuwerfen.
Hierbei sind es in erster Line, Vertreter der oberen Klassenmilieus, die „- indem sie die Einsätze, über die sie verfügen (Geld,
Macht, Wissen, Einfluss, Prestige), auch den anderen Klassen als erstrebenswerte Ziele aufnötigen können – ihre
herrschenden Positionen auf eine implizite, d.h. unauffällige (und zudem auch ihnen selbst oft unbewusste) Art und Weise zu
legitimieren und zu perpetuieren vermögen” (Schwingel 1993: 143).
41
Bourdieu selbst hat sich nur selten zu Fragen der ‚Devianz‘ bzw. der Mechanismen der Normsetzung
und
Normanwendung
herrschaftstheoretische
(dazu:
Bourdieu
Synthetisierung
von
1986a)
Mikro-
geäußert46.
und
Dabei
Makroebene
bietet
ein
gerade
die
Analyse-
und
Interpretationsraster zur Klärung der Regelmäßigkeiten der Konstitution von Abweichung sowie deren
Kontrolle an. Auf der Basis der Begriffs-Trinität Kapital-Habitus-Praxis kann eine sozialtheoretische
Fundierung des Grundgedankens der radikalen Kriminologie vorgenommen werden, dass eine Analyse
vertikaler und horizontaler Strukturierungen einer Gesellschaftsformation für ein Verständnis und eine
interpretative Klärung gesellschaftlich vorherrschender Kontrollformen unabdingbar sei (vgl. Albrecht
1999: 122).
Kennzeichnend für Bourdieus Ansatz ist der Versuch, die Verkürzung auf die Unmittelbarkeit der
Handlungen im Subjektivismus ebenso wie eine Verselbstständigung und Hypostasierung der
Verhältnisse durch einen sozialphysikalischen Objektivismus zu Gunsten einer Analyse der dialektischen
Beziehungen zwischen objektiven Strukturen und strukturierenden Dispositionen aufzulösen. Eine
solche theoretische Interpretationsfolie ermöglicht es, die ‚gesellschaftliche Produktion‘ und
‚Distribution‘ des negativen symbolischen Gutes ‚Abweichung‘ bzw. ‚Kriminalität‘, auf der Grundlage
ihrer ‚Produktionsverhältnisse‘ zu analysieren.
Sofern sich die Analyse von Non-Konformität dabei auf ,Kriminalität’ bezieht, fokussiert sie im Kern ein
legalistisches durch strafrechtliche Reaktionen fassbares Konzept. Spricht man von Kriminalität, so
spricht man immer zugleich von einer - in der Regel staatlich verfassten -
rechtlich regulierten
sozialen Ordnung. In diesem Sinne stellt Kriminalität – auch dann, wenn es bestimmte Handlungen
gibt, die nahezu in jeder konkret historischen Gesellschaftsformation nicht akzeptiert und bestraft
werden47 – keine handlungsimmanente, überhistorische ‚Naturtatsache’ dar. Kriminalität, so eine
treffende Definition von Larry Siegel (1995: 20) „is a violation of societal rules as interpreted and
expressed by a legal code created by people holding social and political power”.
Kriminalität ist also kein selbst-verständliches, einheitliches Konzept zur Beschreibung eines
phänomenologischen Vorgangs, sondern eine Relation zwischen einer Handlung und dem je
gegebenen Strafgesetz. Das Strafgesetz selbst stellt - wie es auch das Gesetzlichkeitsprinzip ‚nullum
crimen sine lege’ nahe legt - in so fern das entscheidende Kriterium zur Unterscheidung von
kriminellen und nicht kriminellen Handlungen dar (vgl. Sack 1988). Das Strafrecht reduziert sich dabei
nicht darauf, empirische ‚Wirklichkeiten’ zu reflektieren, sondern schafft diese auch selbst, während es
seinerseits, wie Blaise Pascal (1970: 60) über das Gesetz ausführt, „ganz in sich selbst beschlossen
[ist]. Es ist das Gesetz und nichts weiter“.
Das bedeutet aber nicht, dass das Strafrecht keine gesellschaftliche Relevanz, bzw. keine Funktionen
hätte48. Je nach gesellschaftlicher Formation, in der es etabliert (worden) ist und je nach Art der
Ähnliches auch gilt für eine systematische Analyse der Wohlfahrt (vgl. Peillon 1998).
Das Töten von Mitgliedern der gleichen gesellschaftlichen Gruppe, jenseits bestimmter lizenzierter Vorgehensweisen in
bestimmten Ausnahmesituationen ist ein Beispiel dafür.
48 Die Beschreibung der ‚Funktionen’ des Strafrechts bedeuten nicht zwangsläufig, dass diese auch ‚funktionieren’ (vgl.
Scheerer/Hulsman 1983)
46
47
42
Handlungspraxis, die es fokussiert49, ist das Strafrecht in unterschiedlichem – z.T. widersprüchlichem Maße als ein normatives bzw. symbolisches Mittel der Reaktionen auf ein definiertes Unrecht, eine
Schädigung bzw. eine Schuld (,Retribution’) und/oder als ein instrumentelles, technologisches Mittel
zur gesellschaftlichen Regulation konzipiert (vgl. Lacey 2002).
Das Konzept der Kriminalität beinhaltet dabei mindestens drei zentrale Elemente: Die – ,schädliche’
bzw. gesellschaftlich als relevant betrachteten Interessen zuwiderlaufende – Handlung, ein in Recht50
,geronnener’ gesellschaftlicher ‚Common Sense’51 und eine ,offizielle’ gesellschaftliche Reaktion
gegenüber dieser Handlung, auf Basis dieses Konsens (vgl. Henry 2001). Das heißt, Kriminalität
bezeichnet eine Handlungsweise, die strafrechtlich sanktioniert wird bzw. nach geltendem Recht
sanktioniert werden kann. Das legalistische ‚Konzept der Kriminalität’ konstituiert sich also
idealerweise52 aus der ‚offiziellen’, justiziellen Anwendung einer präskriptiven Verhaltensnorm auf
bestimmbare praktische Akte und zwar dann, wenn es gelingt festzustellen, dass durch diesen Akt ein
vorab definiertes Rechtsgut (die Rechte eines konkreten oder abstrakten Opfers) absichtsvoll verletzt
wurde.
Der Tatsache, dass das Konzept der Kriminalität sich erst vor dem Hintergrund eines sich historisch
wandelnden und im Einzelnen kontinuierlich umstrittenen53 Rechts konstituiert, steht auf Seiten der
handelnden Akteure - auch dann, wenn es sich bei dem nur seiner unbegrenzten freien Entscheidung
und seinem freien Willen unterworfenen ‚Kriminellen’ und eine ‚legal Fiktion’ handelt (vgl. Hutton 1999)
- nicht entgegen, dass auch der als Täter identifizierbare Akteur typischerweise um die - in diesem
Sinne ‚zugeschriebene’ - ,Qualität’ seiner Handlung weiß. Der ‚Kriminelle’ ist in aller Regel weder in
dem Maße von der prävalenten gesellschaftlichen Ordnung und Praxis abgekoppelt, noch in dem Maße
kognitiv und affektiv retardiert, dass ihm diese nicht zugänglich wäre54. In aller Regel begehen Akteure
kriminalisierbare Handlungen demnach zwar nicht unbedingt ‚rational kalkulierend’, aber zumindest in
so fern ‚intentional’, dass davon auszugehen ist, dass sie wissen, dass ihr Handeln diese spezifische
,Qualität’ besitzt und aufgrund dieser Qualität (möglicherweise) mit negativen Sanktionen verbunden
ist (vgl. Braithwaite 1989, Brumlik 1998, Lea/Young 1984, dazu allgemein: Nunner-Winkler 1996).
Zur Erweiterung der Funktion und Reichweite dessen was in den letzten 2000 Jahren in verschiedenen Epochen und
Territorien als ‚Strafrecht’ betrachtet werden konnte sie die Ausführungen von Nicola Lacey (2002).
50 Fuchs et al. (1994: 544) definieren ‚Recht’ als „Verhaltensregeln, die explizit formuliert, von einer (meist staatlichen) Instanz
gesetzt und von (meist staatlichen) Sanktionsinstanzen mit (insbesondere physischen) Zwangsmitteln garantiert werden“.
Diese Definition lässt sich deutlich abgrenzen von der ‚Moral’ als „ ideale Fundierung eines Systems von Werten und
Normen“ (Fuchs et al. 1994: 450) und von den ‚Sitten’, die wie es Max Weber (1980: 236) unübertroffen formuliert hat,
‚eingesessene’ Verhaltenregelmäßigkeiten bezeichnen: „[U]rsprünglichen Motive der Entstehung von Verschiedenheiten der
Lebensgewohnheiten werden vergessen und die Kontraste bestehen als ‚Konventionen’ weiter“.
51 Der Verweis auf diesen Common Sense schließt, wie in den Ausführungen zur symbolischen Macht bei Bourdieu
ausführlich behandelt worden ist, keinesfalls eine herrschafts- und konflikttheoretische Betrachtung aus. Er hat nichts mit
einem herrschaftstheoretisch naiven, ‚harmonistischen’ Bild einer Gesellschaft nach den Prämissen eines Konsensmodells zu
tun. Es finden zwar permanent gesellschaftliche Kämpfe um Wirklichkeit und Wahrheit statt (Bourdieu, Foucault), diese
erzielen ‚Ergebnisse’, die zwar umstritten bleiben, nichtsdestoweniger ‚Gültigkeit’ besitzen. Anders formuliert: Kämpfe um
‚Hegemonie’ schließen ‚Hegemonie’ nicht aus.
52 Neuere Entwicklungen in Richtung eines so genannten ,Risikostrafrecht’ (vgl. Frehsee 1997, Prittwitz 1997) weichen
allerdings deutlich von diesem ‚Ideal’ deutlich ab.
53 Das Parlament ist in westlichen Demokratien die Legislative, d.h. die rechtssetzende Gewalt. Ganz offensichtlich ist dies
eine Arena des politischen Streits.
49
43
Tatsächlich ist zumindest umstritten, ob eine Handlung überhaupt als ‚kriminell’ bezeichnet werden
kann, wenn dieses Wissen fehlt, stellt es doch die Basis für die Unterstellung von Schuld und
Verantwortung dar (vgl. Lacey 2002). Über dieses bloße Wissen hinaus kann davon ausgegangen
werden, dass die Akteure in aller Regel auch die Beurteilung der Unrechtsqualität ihres Normbruchs zumindest im Prinzip - teilen (vgl. Matza 1969, Agnew 1994, Young 1999). Zwar gibt es – je nach
Delikt in unterschiedlichem Maße55 - Täter, die diese Einschätzung der ,Qualität’ ihrer Handlung
normativ nicht teilen (vgl. Katz 1989), diese nehmen aber, bei den meisten Delikten durchaus
korrespondierend zu der ,offiziellen’ Schwere der Tat ab56.
Allerdings sind die ,Schwere moralischer Schuld’ und die ‚Schwere der Kriminalität’ in dem Sinne
unterschiedliche Dinge, dass ihr tendenzieller Zusammenhang ein einseitiger ist. Er besteht nur aus
einer Perspektive, deren Basis ein Rechtsbruch darstellt. Von der ,moralischen Schuld’ aus betrachtet,
können sie völlig unabhängig voneinander sein. Anders formuliert: eine Handlung mag so ‚unmoralisch’
sein wie sie möchte, solange sie gegen kein Gesetz verstößt ist sie nicht ‚kriminell’57.
Über diesen engen Sinn von Kriminalität hinaus hat die Soziologie abweichenden Verhaltens (v.a. der
etikettierungstheoretische Ansatz) aufgezeigt, dass auch das in einem allgemeineren Sinne sozial
problematisierte Handeln sozialer Akteure nicht in einer a-historischen und de-konextuierbaren
Dinglichkeit verhandelt werden kann, sondern seine Qualität vor allem als Ergebnis einer
kontextbezogenen, historisch kontingenten, gesellschaftlichen Konstitution und Zuschreibungen auf
der Basis dieser Konstitution erfährt: ‚Soziale Probleme‘ lassen sich vornehmlich auf der Basis kollektiv
durchgesetzter Definitionen bestimmen58 (vgl. Groenemeyer 2001: 1702 f).
Damit rückt die Frage in den Mittelpunkt des Interesses, unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen
welche Handlungsweisen welcher Gruppen von Akteuren als ‚problematisch‘, abweichend bzw.
‚kriminell‘ identifiziert werden.
Bezogen auf die Frage der Kriminalität lässt sich in Anlehnung an Collin Sumners Ansatz der ‚social
censures’ (vgl. Sumner 1990, 1994) argumentieren, dass die Regeln selbst, und nicht erst deren
systematischer Bruch, ‚Kriminalität’ konstituieren, und dass sie dabei die konkret historischen,
Dieses Moment ist wesentlich dafür, dass in nahezu jedem Kriminaljustizsystem Menschen unterhalb eines gewissen Alters
von dem justiziellen Prozess der ‚Zuschreibung’ von Kriminalität ausgenommen sind.
55 In Bezug auf Delikte ist dies beispielsweise bei oder ‚Drogenkonsum’ häufiger der Fall als bei einem ‚Raubüberfall’ oder, in
der Unterscheidung des Common Law, bei jenen Delikten, die als ‚mala prohibita’ betrachtet werden häufiger, als bei den
‚mala in se’.
56 Ein sehr bekanntes Beispiel einer Ausnahme ist - der von Herbert Marcuse (1971) treffend analysierte – Fall des Lieutenant
William, L. Calley. Calley war der verantwortliche und „aktiv“ teilnehmende Offizier des Massakers von My Lai (Vietnam) in
dem am 16. März 1968 über 500 unbewaffnete Einwohner eines vietnamesischen Dorfes ermordet wurden. Über Calley wird
berichtet er hätte vor Gericht nichts abgestritten aber mit Unverständnis auf die Anklage (Mord) reagiert. In seiner drei Jahre
später veröffentlichten Biographie (Calley/Sack 1971) bezieht er sich wie folgt auf ein Kleinkind, das er eigenhängig zu einer
Grube gebracht und erschossen hat, wie folgt: „And babies. On babies, everyone’s really hung up. ‘But babies! The little
innocent babies!’ Of course, we’ve been in Vietnam for ten years now. If we’re in Vietnam another ten, if your son is killed by
those babies you’ll cry at me, ‘Why didn’t you kill those babies that day?’”
57 Man kann beispielsweise der Ansicht sein, dass die moralische Qualität ‚nicht-kriminellen’ Verhaltensweise wie etwa dem
Freund oder die Freundin ,auszunutzen’ zu ,hintergehen’ etc. erheblich größer ist, als bei dem ,kriminellen’ Verhalten sich
einen Schokoriegel jenseits des Cash-Ware Nexus anzueignen oder auf dem Fensterbrett Hanfpflanzen wachsen zu lassen.
58 Dies gilt freilich nicht nur für ‚soziale Probleme’ sondern für alle ‚sozialen Tatsachen’: „Soziale Tatsachen werden […] nicht
aus rohen Tatsachen erzeugt, sondern aus institutionalisierten Zusammenhängen der gesellschaftlichen Praxis. Oder auf
eine knappe Formel gebracht: Soziale Tatsachen entstehen aus sozialen Tatsachen“ (Gebauer 2000: 437).
54
44
gesellschaftlichen Verhältnissen reflektieren, in die soziale (Un)Werturteile in Form von ‚sozialen
Zensuren’ eingebettet sind. Konkrete, performativ sichtbare Phänomene werden erst durch solche
‚sozialen Zensuren’ zu ‚sozialen Tatsachen’. Die soziale Zensur selbst wiederum ist ein historisches
Produkt eines normativen Diskurses. Folgt man Bourdieu, ist der „Sinn von Diskursen durch die
‚Ökonomie der Praxis’ und die in den jeweiligen sozialen Räumen geltenden Klassifikations- und
Wahrnehmungslogiken bestimmt” (Bublitz 1998: 88). In dieser Hinsicht korrespondieren ‚soziale
Zensuren’ je mit dem Stand der gesellschaftlichen Produktion des Common Sense, als legitime
Kategorien der Wahrnehmung der Welt. Diese symbolische Produktion ist als Klassifikationskampf zu
verstehen:
„Es finden permanente Auseinandersetzungen um die Erlangung und Aufrechterhaltung sozialer Positionen und
damit auch um Vorstellungen, Klassifikationen und entsprechende Wahrheiten statt. Diese zeichnen sich als – als
normal deklarierte – (Lebens-) Gewohnheiten und Anstandsregeln sozialer Milieus aus” (Bublitz 1998: 85).
Die in diesen Kämpfen wirkenden ‚Klassifikationsformen‘ sind das Produkt der Inkorporierung der
Strukturen jener Gruppen, denen die sozialen Akteure je angehören (vgl. Bourdieu 1998: 116).
In modernen gesellschaftlich verfassten Gemeinschaften besitzt jedoch der Staat in wesentlichen
Bereichen ein ,legitimes’ Monopol auf die Ausübung symbolischer Macht und Gewalt. Seine
monopolisierte symbolische Macht kann er in dem Maße ausüben, wie es ihm gelingt, durch eine
‚juristische’ bzw. ‚legale’ Form des symbolischen Kapitals ,offizielle Identitäten’ zu entwerfen und
diesen dadurch Gültigkeit zu verschaffen, dass er sie „dem symbolischen Kampf aller gegen alle
[entzieht], indem er die von allen gebilligte Perspektive durchsetzt“. Dies geschieht dann, wenn durch
eine
„Legalisierung des symbolischen Kapitals eine bestimmte Perspektive absoluten universellen Wert [… gewinnt. Sie
ist] damit jener Relativität entzogen, die per definitionem jedem Standpunkt als einer bestimmten Sicht von einem
partikularen Punkt des Raums aus immanent ist” (Bourdieu 1992a: 150 f).
Insofern Bourdieu (1998: 99, vgl. 1991: 485) ‚den Staat’ als „ein (noch zu bestimmendes) X“ skizziert,
„das mit Erfolg das Monopol auf den legitimen Gebrauch der physischen und symbolischen Gewalt
über ein bestimmtes Territorium und über die Gesamtheit der auf diesem Territorium lebenden
Bevölkerung für sich beansprucht“ erweitert er den Rekurs auf die Monopolisierung der ‚physischen
Gewalt’ - die von so unterschiedlichen Sozialtheoretikern wie Max Weber (1980), Norbert Elias (1978)
und Charles Tilly (1975) - als ein wesentliches Moment der Entwicklung moderner Staatlichkeit
beschrieben worden ist, um die Dimension der Monopolisierung der ‚symbolischen Gewalt’. Dabei liegt
die Pointe der ‚Legalisierung symbolischen Kapitals darin, dass „aus einem diffusen, einzig auf der
kollektiven Anerkennung beruhenden symbolischen Kapital […] ein objektivierte symbolisches Kapital
[wird], das staatlich kodifiziert, delegiert, geschützt – bürokratisiert – ist“ (Bourdieu 1998a: 113)
Bezogen auf diese, nicht neutrale aber ent-relativierte und den situativen Strategien je einzelner
sozialer Akteure entzogene Macht des Staates, im Dienst eines ‚verallgemeinerten Interesses’ (vgl.
Bourdieu 1994: 17) den Standpunkt über den Klassen einnehmen zu können - und damit in einem
gewissen Sinne „die Konsekration zu erteilen, heilige soziale Trennungen und Hierarchien zu
produzieren” (Bourdieu 1996: 209) „kann man annehmen, dass in differenzierten Gesellschaften der Staat in der Lage ist, im Rahmen seiner territorialen
Zuständigkeit universell gleiche oder ähnliche Erkenntnis- und Bewertungsstrukturen durchzusetzen und für ihre
45
Verinnerlichung zu sorgen, und dass er aufgrund dessen die Grundlage eines ‚logischen Konformismus’ und eines
‚moralischen Konformismus’ ist […] einer stillschweigenden präreflexiven, unmittelbaren Übereinkunft über den
Sinn der Welt, der der Ursprung für die Erfahrung der Welt als einer ‚Welt des common sense’ ist” (Bourdieu 1998:
116).
Damit wird eine Perspektive auf den Staat vorgeschlagen, die deutliche Korrespondenzen zu jener, mit
dem Namen Nicos Poulantzas (vgl. 1978, 2002) verbunden Variante der französischen, marxistischen
Staatstheorie hat, die den Staat nicht als Institutionalisierung einer von der Gesellschaft getrennten,
eigenständig handelndem Macht interpretiert, sondern als materielle Verdichtung gesellschaftlicher
Kräfteverhältnisse – d.h. von Machtverhältnissen zwischen gesellschaftlichen Gruppen – interpretiert:
Wie Nilio Kauppi (2003: 7) zu den staatstheoretischen Elementen der politischen Soziologie Bourdieus
ausführt, lässt sich der Staat als eine Art
„grand social organizer [verstehen] that ,constantly exercises a formative action of durable dispositions’ of
dauerhabitus to use Webers term. It imposes fundamental principles of classification on everybody - sex, age,
competence, and so on. Its influence is everywhere. In the family, it controls the rites of institution; in the schooling
system, it creates divisions between the chosen and the rejected, durable, often definitive symbolic divisions that are
universally recognized and that often have determining effects on the future of individuals. The individuals
submission to the state order is the result of the harmony between cognitive structures and the objective structures
of the world to which they apply”.
In diesem Sinne besteht der Kern staatlicher Herrschaftspraxis in der „stabilisierten Verfügung über die
gesellschaftlichen Schemata der Wahrnehmung. Die Macht des Staates basiert auf der Herrschaft über
die Wirklichkeit“ (Kreissl 1990: 13 f). Auf Seiten der Akteure wiederum manifestiert sich diese
symbolische Herrschaftsform - wie alle Formen symbolischer Gewalt - auf Basis dessen, was Bourdieu
als ‚illusio’ bezeichnet: der Anerkennung bzw. dem (prä-reflexiven) Sich-Einlassen auf und vor allem
dem Glauben an das ‚Spiel’, durch den die Akteure von dem Spiel ‚erfasst’ werden und dieses Sinn und
Daseinsberechtigung erhält (Bourdieu 1999b, 2001c, Bourdieu/Wacquant 1996). Die Illusio im Sinne
des Vertrauens und des „Glaube[ns] an die Institution und an ihre Wirklichkeit, Bedeutung und ihren
Wert ist ein starker Motor des gesellschaftlichen Handelns59“ (Gebauer 2000: 432) und bildet – sofern
sie nicht über manifesten physischen Zwang operiert – den Mittelpunkt staatlicher Macht. Die
Durchsetzung und Aufrechterhaltung des legalen Common Sense durch den Staat verweist aus dieser
Perspektive eher auf „dramaturgische und symbolische Prozesse“ als auf jene „hartgekochten
Kalkulationen von Interessen, die von rationalistischen, akteurszentrierten Ansätzen unterstellt
werden“ (Meyer et al. 1997: 8).
Die von Bourdieu vorgeschlagene Perspektive auf den Staat ist zwar im Kern plausibel, jedoch besteht
eine Tendenz, die ‚aktive’ Rolle des Staates in Bezug auf die Genese der Monopolisierung und
„Legalisierung des symbolischen Kapitals“ (Bourdieu 1992a: 150) - bzw. des ,legalen Kapitals’ - zu
überschätzen. In diesem Sinne fällt Bourdieu in seinen orginär staatstheoretischen Überlegungen
hinter seinen eigenen Ansatz zurück. Zunächst lässt sich nichts dagegen einwenden, ,legales Kapital’
als das zentrale Machtmittel ‚legaler Herrschaft’ im Sinne Max Webers (vgl. 1980) zu verstehen.
Allerdings lässt sich – die Monopolhaftigkeit der Durchsetzung jener legalen Form des symbolischen
Ein „unbefangene[r] Glauben an die Güte und Gerechtigkeit von Autoritäten“ (Adelson 1977: 282) spricht dabei allerdings
nicht gerade für ein ‚reifes Urteil’. Entwicklungspsychologisch findet es sich vor allem bei Kindern und jungen Adoleszenten
(vgl. Adeslson 1977).
59
46
Kapitals unbestritten – argumentieren, dass seine Etablierung als geteilter Common Sense durch den
Staat als Monopolisten, nur eine unter mehreren Möglichkeiten darstellt. Das „Monopol des
Allgemeinen“ so führt Bourdieu (1998a : 123) selbst gegen ‚Usurpationslehren’ aus, wird nur „um den
Preis einer (zumindest scheinbaren) Unterwerfung [des Staates] unter das Allgemeine und einer
allgemeineren Anerkennung der universalistischen Darstellung der Herrschaft [erworben], in der diese
als legitim und nicht interessegeleitet präsentiert wird“.
Demnach besteht eine zweite - und vermutlich dominante - Möglichkeit der Etablierung eines auf
legalem Kapital basierenden, ‚objektivierten Common Sense’ darin, dass ein bereits gegebener,
gesellschaftlich geteilter Common Sense (Traditionen, Gewohnheiten etc.) – gegebenenfalls in
modifizierter Form - in Recht übertragen werden (vgl. Bourdieu 2001c). Dieser Common Sense wird
durch staatliche Macht, bzw. das symbolische Kapital der offiziellen Anerkennung zusätzlich gestärkt
(dazu auch Coleman 1991). In diesem Sinne rekonstruiert Levi Martin (2002: 894) in seiner
Untersuchung über die Strukturierung von Konsensen den allgemeinen Zusammenhang zwischen
Macht, Autorität und einer Festigung von Konsens darin, dass „the clarity or fixedness of power
relations [...will] increase consensus”. Der Erfolg dieser Fixierung zeigt sich u.a. daran, dass wie
Honneth
(2001:
Wertepluralismus
1326
[…]
f)
ausführt,
„in
demokratischen
ein
gewisser
Konsens
über
die
Gesellschaften
in
der
ist
[…]
Rechtordnung
bei
allem
enthaltenen
Gerechtigkeitsprinzipen gegeben“ ist.
Mit Bourdieu lässt sich nun - in Analogie zu Foucaults (1991) Konzept der ‚governementalité’60 - davon
sprechen, dass die Wirkung der symbolischen Macht des Staates, bzw. des legalen Kapitals, darin
begründet liegt, dass sie nicht nur außerhalb der seiner Herrschaftssphäre unterworfenen Akteure
liegt, sondern auch ‚in’ ihnen: „Wenn der Staat in der Lage ist symbolische Gewalt auszuüben, dann
deshalb, weil er sich zugleich in der Objektivität verkörpert […] und in der ‚Subjektivität’, oder wenn
man will in den Köpfen, nämlich in Form von mentalen Strukturen, von Wahrnehmungs- und
Denkschemata“ (Bourdieu 1998: 99).
Eine dritte Möglichkeit besteht schließlich darin, dass nicht ‚der Staat’ ,von sich aus’ diese legalen
Formen des Common Sense etabliert, sondern dass umgekehrt nicht-staatliche Akteure – Howard S.
Becker spricht von ‚moral entrepreneurs’ - diese legalen Formen gegenüber dem Staat erstreiten.
Allgemeiner formuliert, lässt sich die bloße Existenz des modernen Staates auch aus den
institutionellen
Erwartungen
und
Interessen,
die
auf
verschiedenen
Ebenen
und
aus
unterschiedlichsten Perspektiven an ihn gerichtet werden erklären, während der Staat selbst
permanent bemüht ist Anerkennung zu finden und seine Verpflichtung auf den für diese Anerkennung
notwendigen Wertekanon zu demonstrieren (vgl. McNeely 1995, Meyer et al. 1997).
Alle drei Varianten, nämlich dass
-
der legale Common Sense aktiv ,vom Staat’ (,top-down’) etabliert wird, dass
-
der Common Sense vorhanden ist und (‚horizontal’) vom Staat ‚legalisiert’ wird und dass
60 Dies wird insbesondere deutlich in der englischen Fassung von ‚Praktische Vernunft’ wenn Bourdieu (1998c: 52)
hinsichtlich der Wirkweise staatlicher Machtausübung etwa von „Minds of State’ spricht.
47
-
die Etablierung eines ‚legalen’ Common Sense (‚bottom up’) gegenüber dem Staat erstritten
wird (vgl. Becker 1981, Scheerer 1986),
können nebeneinander existieren.
Wenn ein legaler Common Sense jedoch erst etabliert ist, besitzt der Staat durch diese ,Legalisierung’
aber das Monopol auf Ausübung dieser Form der symbolischen Gewalt. Dies bedeutet aber, dass sich
die alleinige Monopolstellung des Staates zwar idealtypisch auf beiden, faktisch aber eher auf einer
bewahrenden, synchronen Zustandsebene, als auf einer diachronen Entwicklungsebene findet.
Während es zwar möglich ist, dass der Staat neue Normen als verbindlichen Imperativ – langfristig durchsetzt, ist es zumindest dann schwierig - und der ‚Erfolg’ einer solchen Durchsetzung zweifelhaft wenn er diesen ‚neuen’ ‚legalen Common Sense’ gegen einen ‚alten’ Common Sense etablieren
möchte. Eine ‚top-down’ Etablierung eines ‚legalen’ Common Sense verspricht vor allem dann wenig
Erfolg, wenn dies auf Seiten der gesellschaftlichen Akteure eine „Umstellung des Lebensstils und
Verzichtsleistungen erfordert“ (Karstedt 1999: 95) - insbesondere wenn diese nicht akzeptiert wird.
Eine solche Form der Etablierung eines ‚legalen’ Common Sense ist umso einfacher, je kleiner, je
‚einfluss-’ bzw. ‚machtloser’ und je weiter die Gruppe, auf die jene legale Form symbolischer Macht
Seitens des Staates zielt, in ihrem Habitus und Lebensstil von einem gegebenen gesellschaftlichen
Common Sense entfernt ist. Während beispielsweise eine allgemeine (ordnungs- oder strafrechtliche)
Alkoholprohibition oder ein Verbot anderer beliebter Gewohnheiten – dem Kaffeetrinken etwa schwierig ist (vgl. Karstedt 1999, Groenemeyer 1999b), ist eine allgemeine Prohibition des ‚Drogen’Konsums (vgl. Reuband 1999) oder ein punktuelles Verbot von Alkoholkonsum – beispielsweise im
öffentlichen Raum der Innenstädte, in dem es vor allem auf ‚Randgruppen’ zielt (vgl. Simon 2000), –
offensichtlich einfacher zu gestalten.
Dem widerspricht nicht, dass die Erzeugung von Übereinkunft im Sinne einer Durchsetzung eines
‚offiziellen’ Common Sense im Ergebnis als eine Form ‚politischer Disziplinierung’ – d.h. eine
„einstellungs- und verhaltensmäßige Subordination unter jene politischen Maxime […], die in der
betreffenden Gruppe oder Gesellschaft als maßgebend angesehen wird” (Mathiesen 1985: 32) verstanden werden kann, die darauf zielt, die (individuellen) Habitus der Akteure mit dem Common
Sense in Einklang zu bringen. Der Common Sense entfaltet seine Wirkung dadurch, dass er nicht
(primär) auf äußerem Zwang basiert, sondern von den Akteuren akzeptiert, im Habitus inkorporiert
und qua Praxis reproduziert wird, d.h. es geht um einen (normativen) Konsens der unabhängig von
der gesellschaftlichen Positionierung von (möglichst) allen Akteuren und Klassen geteilt wird (vgl. Hess
1986: 25). Die entscheidende Macht-Dimension liegt daher in der symbolische Macht der Durchsetzung
von ‚angemessenen’ Prinzipien der Konstruktion gesellschaftlicher Realität (vgl. Bourdieu 1976: 327).
Dabei wirkt der Staat im gewissen Sinne als „geometrische[r] Ort aller Perspektiven” (Bourdieu 1992a:
151). Das politische System, schreibt Zolo,
„performs a function of symbolic protection far beyond its specific role as an apparatus of the selective regulation of
social risk […]. It is most of all on the symbolic level that the institutions of authority, with all their show, ritual,
prescriptions and even codes of manners and etiquette, satisfy a latent need for social protection and spread a
gratifying sensation of order and security” (Zolo 1990: 43).
48
Dem steht nicht entgegen, dass es vor allem auch jenseits des Staates – der, wie es Poulantzas (1978:
119) formuliert, auch selbst nicht als ‚Subjekt’ oder als ‚Sache’ verstanden werden kann, sondern nur
„als ein Verhältnis, genauer als die materielle Verdichtung des Klassenverhältnisses zwischen Klassen
und Klassenfraktionen“ - auf der Ebene der zivilen Gesellschaft immer symbolische Kämpfe
gesellschaftlicher Machtgruppen darum gibt, ihre Sicht gesellschaftlicher Trennungen des Wahren und
Falschen, Guten und Bösen etc. verbindlich durchzusetzen.
Die
zentrale
Pointe
einer
solchen
‚hegemonietheoretischen’
Fassung61
gegenüber
(radikal)konstruktivistischen Annahmen (vgl. Schetsche 1996) ist es, dass die Produktion des Common
Sense nicht alleine Ergebnis einer subjektiven Sinngebung und eines reflexiv bewussten Interesses ist,
und daher auch nicht alleine durch die Analyse der Interaktionsdynamik im konkreten Fall zu
dechiffrieren ist, sondern gleichsam mit den spezifischen Strukturen und Praktiken der relativ
autonomen Felder im sozialen Raum korrespondiert, aus denen ihre Bedeutung entspringt. Es gibt eine
dialektische Verknüpfung zwischen gesellschaftlicher Regulation - inklusive einer Common Sense
Produktion62 -, intra- wie interfeldspezischer Stellung und Anordnung sowie deren Inkorporierungen
bzw. mentalen Repräsentationen.
Die Wirkung der symbolischen Legitimitätshierarchie wird dabei nicht zuletzt auf Basis der
Zuschreibung von ‚Legitimität‘ durch legitimierte Institutionen (zumindest) verstärkt - und zum Teil
auch erst hervorgebracht63 -, die ihre symbolische Gewalt weniger durch Zwang und Unterdrückung,
sondern eher dadurch entfaltet, dass sie über die Wahrnehmung der in den Blick genommenen
Praktiken und Objekte entscheidet. Diese symbolische Klassifikation der ‚äußeren’ Wirklichkeit
verlängert sich als symbolische Repräsentation dadurch zu einer ‚inneren’ Wirklichkeit, dass sich im
Zuge einer klassenspezifischen Genese des Habitus kollektiver ‚Subjekte’, in der Praxis generierte und
generative Dispositionsstrukturen entwickeln, die der Tendenz nach zur eigenen Praxisform
redundante Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsstrukturen hervorbringen.
Diese Betrachtungsweise kann nun dazu beitragen, die Frage der gesellschaftlichen Distribution des
‚negativen Guts’ ‚Kriminalität’ aufzuhellen.
Jenseits der Tatsache, dass spezifische (straf-)rechtliche Normen spezifische Zielgruppen fokussieren
(z.B. das JGG oder das Ausländerrecht), sind Gesetze im Rahmen der territorialen Zuständigkeit des
Staates zunächst für alle Mitglieder einer Gesellschaft verbindlich, unabhängig davon welchen
Klassenmilieus sie angehören und welche Habitusformen sie ausbilden. An die relational im sozialen
Raum positionierten (Klassen-)’Subjekte’ wendet sich das Recht dabei individualisierend, als eine
einzelne Person unter formal Gleichen (vgl. Hall et al. 1978: 208). Gleichzeitig sind Gesetze aber auch
als politisch kodifizierte Normen - und mithin Ausdruck geronnener Macht (vgl. Sack 1979) und
Unter ‚Hegemonie’ wird hier im wesentlichen ein Effekt ‚materieller’ und ,symbolischer’ Kräfteverhältnisse verstanden, der
eine nur eine bestimmte Varianz der Artikulation von Altnernativen zulässt, bzw. Alternativen entsprechend dieser
Kräftekonstellation modifizierend und u.U. instrumentalisierend ‚einverleibt’.
62 Michel Foucault (2000) hat insbesondere in seinem Aufsatz über die Gouvernementalität darauf hingewiesen, dass
Regierung, in dem weiten Sinn einer Lenkung, Anleitung und Führung von ‚Subjekten’ und ‚Dingen’, vor allem über die
Erzeugung einer Haltung oder ‚Mentalität’ – in Anlehnung an Bourdieu könnte man auch von Habitus sprechen – bedarf.
63 Diese Hervorbringung zeigt sich historisch beispielsweise in der Demokratisierung der Bundesrepublik durch die westlichen
Alliierten .
61
49
Instrumente zur Regelung gesellschaftlicher Handlungsstrukturen (vgl. Frehsee et al 1993: 9) sowohl
Produkt
von
Auseinandersetzungen,
als
auch
Ausdruck
einer
grundsätzlich
interessegebundenen, aber symbolisch als legitim und allgemein durchgesetzten Sicht der Welt. Dieses
‚Interesse’ kann dabei durchaus ein weit geteiltes Interesse sein. Bestimmte Formen des
Geschlechtsverkehrs
gegen
die
Zustimmung
der
anderen
Person
(‚erzwungener
Beischlaf’)
64
beispielsweise als Vergewaltigung zu definieren und unter Strafe zu stellen , hatte historisch nicht
zuletzt den Interessen ,des Patriarchats’ gedient, zumal bis Ehepartner bis vor kurzem (Juli 1997) aus
dieser Definition ausgenommen waren. Gleichzeitig dient die Tatsache, dass durch dieses Verbot
zugleich auch die Würde, Unversehrtheit, sexuelle Selbstbestimmung etc. geschützt wird, ganz
offensichtlich auch den Interessen von Frauen als der patriarchal ‚beherrschten Gruppe’. Ebenso
offensichtlich dient auch das Verbot von ‚Diebstahl’ – bei der gleichzeitigen Legalität, den
Äquivalententausch durch die Möglichkeit einer Mehrwertaneignung zu modifizieren – der
,Bourgeoisie’, ohne dass damit unterstellt werden kann, dass das ‚Proletariat’ ein Interesse daran
hätte, ‚bestohlen’ zu werden.
Recht legalisiert in diesem Sinne einen Common Sense und produziert ein kollektives symbolisches Gut
(z.B. den Schutz von Eigentum) und ist gleichzeitig ein Machtmittel, das identifizierbaren Interessen
dient. Der Prozess der Rechtssetzung verläuft interessenförmig.
Während die Kapitale sozialer Akteure nur durch ihre symbolische Form Wert realisieren können, kann
Recht - das Strafrecht im Besonderen65 - als eine von der direkten Beziehung zu ‚substanziellen’
Kapitalsorten abgekoppelte Form symbolischen Kapitals betrachtet werden. Als ein symbolisches
Kapital besteht seine zentrale Funktion und Wirkung vor allem darin, Common Sense zu erzeugen und
zu reflektieren. Recht stellt dabei eine besondere, institutionell ‚geronnene’ Form symbolischen Kapitals
dar. Als ‚juristisches’ oder ‚legales Kapital’ wird symbolisches Kapital staatlich monopolisiert und über
die sozialen Felder und über alle Akteure in diesen sozialen Feldern hinweg verallgemeinert. Auf der
Basis von legalem Kapital wird damit nicht nur die ‚legitime physische Gewaltsamkeit’ (vgl. Weber
1980: 29), sondern auch bestimmte Teile der symbolischen Gewaltsamkeit aus den sozialen bzw.
feldspezifischen ‚Kämpfen’ ausgenommen, vom Staat monopolisiert und zugleich für alle Felder und
alle Akteure gleichermaßen verbindlich gemacht.
II. 2.2
MORALISCHES KAPITAL UND DAS KONZEPT DER DEVIANZ
Legales Kapital kann als eine ‚geronnene Form’ staatlich monopolisierter symbolischer Macht
betrachtet werden, die zugleich auf der Ebene der einzelnen Akteure in Form zugeteilter Rechte
verwirklicht wird. In modernen Gesellschaften stellt es ein ‚kollektives’ und - im Rahmen
(national)staatlicher Zuständigkeit - ‚universalistisches’ Gut dar: „Exklusionen aus dem Rechtssystem
sind in der modernen Gesellschaft nicht vorgesehen“ (Scherr 2001: 85). Dem steht jedoch nicht
Zu der Schwierigkeit der justiziellen ‚Konstruktion’ von ‚Vergewaltigung’ vgl. Peters (2002).
Die Ausführungen beziehen sich im Folgenden vornehmlich auf das Strafrecht und müssen für Rechtsformen, z.B. das
Zivilrecht, nicht unbedingt im gleichen Maße Gültigkeit besitzen.
64
65
50
entgegen, dass dieses Gut partikularen Gruppen in unterschiedlicher Weise dient, und von einzelnen
Gruppen und Akteuren individuell ‚verwertet’ wird, d.h. partikulare ‚Nutzung’ ermöglicht.
Zunächst ist legales Kapital – z.B. im Gegensatz zu ökonomischem Kapital - kein Kapital, das einzelne
Akteure im engeren Sinne ‚besitzen’ können. Natürlich kann man davon sprechen, dass eine Person X
‚Rechte hat’. Von diesen kann X zwar als einzelner individueller Akteur Gebrauch machen, d.h. X kann
sie individuell ‚verwerten’, aber er ‚besitzt’ diese Rechte nicht alleine, sondern - idealtypisch66 - nur in
dem Maße, wie sie auch für alle anderen Akteure in dem territorialen Geltungsbereich gelten, in dem X
diese Rechte ‚hat’.
In diesem Sinne ist legales Kapital ein gleich verteiltes Gut, von dem niemand ausgeschlossen werden
kann. Zumal dieses Gut zumindest in demokratischen Gesellschaften üblicherweise selbst durch einen
formal demokratischen Prozess legitimiert ist, können Urteile auf der Basis von legalem Kapital ‚im
Namen des Volkes’ gesprochen werden. Durch legales Kapital wird ein praktischer Common Sense
‚offiziell’. Gleichzeitig werden binäre symbolische Klassifikationen und Bewertungen wie ‚gut’ versus
‚böse’, ‚schön’ versus ‚hässlich’, ‚heilig’ versus ‚sündig’ usw., die in einzelnen Feldern wesentliche
symbolische Unterscheidungen darstellen können, durch die Binarität ‚legal’ versus ‚illegal’ substituiert.
Die symbolische Macht der Gesetze als legales Kapital besteht darin, dass alle Handlungen, die nicht
nach a priori definierten Kriterien als illegal subsummiert werden (können)67 - unabhängig davon wie
‚sündig’ und ‚böse’ sie im einzelnen sein mögen - ‚offiziell legitimiert’ sind. So sind z.B. die ‚sieben
Todsünden’68, nämlich Trägheit, Stolz, Zorn, Völlerei, Neid, Wollust und Habgier in der Regel nicht
bzw. nicht unmittelbar durch legales Kapital entlizenziert69, schon gar nicht in ihrer Form als ‚schlechter
Charakterzug’.
In Bezug auf die ,offizielle’ Entlizenzierung bestimmter Handlungen auf der Basis legalen Kapitals hat
das ‚Konzept der Kriminalität’ einen - auch durch den Hinweis auf seinen sozial konstruierten Charakter
(dazu: Best 2003) - nicht suspendierbaren ‚Realitätsgehalt’. ‚Kriminalität’ lässt sich – ungeachtet der
sozialen Selektivität der Institutionen des Strafrechts bzw. der ‚formellen’ sozialen Kontrolle – als die
‚objektive Wirklichkeit’ einer Unterbietung der symbolischen ‚Demarkationslinien’ einer gegeben
sozialen Ordnung beschreiben, die auf der Basis von legalen Kapital allgemeinverbindlich durchgesetzt
sind. Auch als einzelner Akteur existiert der Kriminelle - ebenso wie der unterscheidbare
Es gibt selbstverständlich status- und berufsbezogene ‚Sonderrechte’ sowie bestimmte Gruppen die in Bezug auf das
Strafrecht (zunächst) ‚Immunität’ besitzen.
67 Illegalität bezeichnet einen Status der auf der Basis ‚angemessener Beweise’ und nicht nur auf der Basis eines Verdachts
formal festzulegen ist.
68‚Wollust’ in bestimmten Formen der (sexuellen) ‚Unzucht’ und bestimmten Formen der ‚Habsucht’ z.B. in Form von ‚Wucher’
stellen eine gewisse Ausnahme, dar ohne das gesagt werden könne es sei im juristischen Sinne verboten ‚ Wollüstig’ oder
‚Habsüchtig’ zu sein. Insbesondere das Verbot der ‚Habsucht’ wäre in kapitalistischen Gesellschaftsformationen reichlich
absurd. Man denke etwa an Milton Friedmans Diktum nach dem es „wenig Entwicklungstendenzen [gäbe], die so gründlich
das Fundament unserer freien Gesellschaft untergraben können, wie die Annahme einer anderen sozialen Verantwortung
durch Unternehmer, als die, für die Aktionäre ihrer Gesellschaften so viel Gewinn wie möglich zu erwirtschaften“ (Friedman
1971: 176)
69 Ähnliches gilt für die 10 Gebote. Nicht stehlen (5) und nicht morden (4) zu dürfen, ist im allgemeinen verhältnismäßig
unstrittig. Aber das Strafrecht verhält sich in modernen Gesellschaften - zumindest in formal Hinsicht – verhältnismäßig
neutral gegenüber den Haltungen der sozialen Akteure in Bezug auf Gott (1-3), es gesteht im Großen und Ganzen durchaus
zu, die Unwahrheit zu sprechen (6), die EhepartnerIn einer/eines anderen zu begehren (7/10), den eigen Eltern abschätzig
66
51
Nichtkriminelle - als empirisches, nach bestimmten Regeln und Kategorien identifiziertes Individuum
ebenso ‚real‘, wie die soziale Ordnung als ein Arrangement von Bezügen und Verhältnissen, die auf der
Basis dieser Kategorien konstituiert und aufrecht erhalten wird (vgl. Hess/Scheerer 1997). ‚Kriminalität‘
ist dann aber nicht einfach eine ‚Fiktion‘70 (vgl. Hulsman 1996), sondern eine ‚epistemologische
Objektivität‘ (vgl. Kreissl 2000). Als ein Sammelbegriff für die Praxisformen, die den symbolisch
dominanten und gleichzeitig verallgemeinerten Interessen zuwiderlaufen, ist Kriminalität als Status
einer individuellen Handlung nicht weniger ‚objektiv’, wie diese durch einen ‚offiziellen’ Common Sense
geschützten Interessen selbst.
Falls von sozialen Machtverhältnissen sinnvoll gesprochen werden kann und wenn es zutrifft, dass
diese in Form von Rechtsverhältnissen reguliert werden, muss aus auf der Basis der vorgeschlagenen
Perspektive
–
entgegen
einem
‚vulgär-konstruktivistischen’
(vgl.
Best
1995)
wie
zuschreibungstheoretischen Kontingenzmodells – davon ausgegangen werden, dass die so definierte
‚Kriminalität‘, zwar nicht als ‚natürliche Art‘ (vgl. Hacking 1999: 165 f), aber nach der ‚objektiven’
Durchsetzung von Interessen, als deren Gegenstück, „objektiv im Sinne einer institutionellen oder
Kulturtatsache” (Hess/Scheerer 1997: 40) existiert. In diesem Sinne ist es gerade dann, wenn ‚legales
Kapital’ als ‚geronnene’‚ symbolische Macht verhandelt wird möglich, in einem wissenschaftlich
angemessenen Sinne, Aussagen über Kriminalität als ‚Tatsache’ zu treffen, so lange sie nicht als
gegenüber zu stehen (8) und was man von seiner Mitwelt hält (9) bleibt in strafrechtlicher Hinsicht weitgehend ebenfalls eine
Privatangelegenheit.
70 Im wesentlichen geht dies auf eine Bestimmung von Howard S. Becker zurück: „Deviance is not a quality of the act the
person commits, but rather a consequence of the application by others of rules and sanctions to an offender“. Damit ist im
wesentlichen gesagt, dass die Handlungen die als ‚kriminell’ betrachtet werden, unterschiedlich und wandelbar sind (vgl.
Durkheim 1976) (Dies gilt übrigens nicht nur für ‚Verhalten’ sondern beispielsweise auch für Armut, wobei man –zum Glück –
bisher kaum auf die Idee gekommen ist, den ‚ontologischen’ Gehalt von Armut in einer Weise zu bestreiten, dass man sie zu
einer ‚Fiktion’ erklärt und die Unterstützungsleistungen einstellt) . Weil der Vollzug ein und der selben Verhaltensabläufe nun
zu einer bestimmten Zeit und unter bestimmten (gesellschaftlichen) Bedingungen ‚kriminell’ ist und zu einer anderen Zeit und
unter anderen (gesellschaftlichen) Bedingungen eben nicht kriminell ist, ist das entscheidende Differenzkriterium nicht der
Akt, sondern die Norm und deren Anwendung auf einen Akt. Aus einer soziologischen Perspektive ist dies nicht nur wenig
aufregend, sondern in epistemologischer Hinsicht gewissermaßen eine ‚Banalisierung’ von Durkheim, Weber und Marx (vgl.
etwa Marxens Ausführungen über den Holzdiebstahl). Problematisch ist diese Perspektive aber, wenn unter gegeben
Bedingungen, in einer gegebenen Zeit nicht einem ‚Verhalten’, sondern einem ‚sozialen Handeln’, als einem Verhalten, das
„der oder die Handelnden mit einem subjektiven Sinn verbinden [… und das] seinem von dem oder den Handelnden
gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist“ (Weber 1980: 1), der
‚reale’ oder ‚ontologische’ Gehalt abgesprochen wird. Wird ‚Kriminalität’ als Verhalten verstanden – was es insbesondere in
seiner juristischen Konzeption ja gerade nicht ist (und - sieht man etwa von Lombrosos Konzeption von Abweichung als
ontogenetischem Atavismus ab - in anderen Konzeptionen üblicherweise auch nicht) – kann man diesen qualitativen Gehalt
kaum bestreiten. Bestreitet man ihn für ‚Kriminalität’ als Handlung, hat man ‚Kriminalität’ u.U. ‚de-konstruiert’, dies aber um
den Preis, dass man die Akteure als in ‚sozialer’ Hinsicht ‚paralysierte Deppen’ rekonstruiert. Die gilt insbesondere dann,
wenn das Argument lautet, dass weil ‚Kriminalität’ es ‚in Wirklichkeit’ nicht gibt – wobei in diesem Argument die ‚wirkliche
Wirklichkeit’ als Gegenstück ‚fiktionalen Wirklichkeit’ auf wundersame Weise wieder auftaucht – es auch keinen ‚Kriminellen’
gibt. Nimmt man diesen Zweifel am ‚ontologischen Realitätsgehalt’ des Rechtsbruchs ernst, kann konsequenterweise auch
der Realitätsgehalt der Rechtsdurchsetzung, die, als dessen Kehrseite, ja wie auch immer auf den Rechtsbruch bezogen ist,
bestritten werden. Allerdings sind Debatten über die reale Existenz von Polizisten, Staatsanwälte, Richter etc. eher dürftig.
Überzeugender als die Rede von der fehlenden (‚ontologischen’) Qualität von Kriminalität, oder ihre Darstellung als Fikton
oder Mythos, sind die Ausführungen von John Muncie (2000) zum ‚Kriminalitätsproblem’ die die Konstitutionselemente
hervorheben, ohne den ‚Konstruktionscharakter’ zu qualifizieren: „Crime cannot be identified by simply focusing on known
offenders. These are but one particular element of the ‚problem of crime’ and only capable of identification following a series
of social constructions involving the power to formulate particular criminal laws, police targeting, court room discretion, media
representations and so on. […Important is to focus on the processes and conditions of] how certain harmful acts/events come
to be defined and recognised as ‚crime’ whilst others do not“.
52
unabhängige Größe jenseits der symbolischen Ordnung verhandelt wird, die sie konstituiert.
‚Kriminalität’ und die Durchsetzung einer juristisch regulierten sozialen Ordnung lassen sich insofern
zwar je in ihren prozessualen Dynamiken bestimmen – d.h. es lässt sich beschreiben, was der als
‚Täter’ dechiffrierte soziale Akteur ‚macht’ und was ‚die Kontrollinstanzen machen’ - aber analytisch
nicht sinnvoll voneinander trennen.
In Bezug auf das Konzept der Kriminalität rückt damit weniger die Frage seines ‚Realitätsgehalts’ in das
Zentrum der Analyse, sondern vielmehr die Frage, welche (inhaltlichen) Schemata und Prinzipien der
Klassifikation in den monopolisierten Kanon legalen Kapitals aufgenommen werden - und was ‚offiziell’
eine Frage persönlicher Haltung, Präferenz oder Meinung bleibt - sowie die Frage, wo die
vergleichsweise trennscharfen- symbolischen Demarkationslinen legalen Kapitals im einzelnen gezogen
werden. Diese Aspekte sind sozial, politisch und kulturell umstritten, bzw., in Anlehnung an Gramsci
(1955), eine Frage kultureller Hegemonie71.
Trotz ihres verallgemeinerten Anspruchs können Prinzipien und Demarkationslinien des auf legalem
Kapital
basierenden
‚offiziellen
Common
Sense’
zu
den
empirisch
je
klassenspezifischen
Wahrnehmungs- und Beurteilungskategorien der in den vertikalen und horizontalen Ebenen des
sozialen Raums unterschiedlich positionierten sozialen Akteure in Verbindung gesetzt werden. Diese
dispositionalen Schemata resultieren ihrerseits wesentlich aus der Inkorporierung der objektiven
Strukturen und Kräfteverhältnissen des sozialen Raums „weil die Strukturprinzipien der Weltsicht in
den objektiven Strukturen der sozialen Welt wurzeln und die Kräfteverhältnisse auch im Bewusstsein
der Akteure […] in Form von Kategorien zur Wahrnehmung dieser Verhältnisse [stecken]” (Bourdieu
1985: 17 f, vgl. Vester et al. 2001). Solche Wahrnehmungskategorien sind in den Habitus
eingeschrieben und daher zunächst ebenso differenziell wie die Positionen im sozialen Raum, deren
Produkt sie sind. Mehr noch, sind sie auch auf der Symbolebene differenzierend: Es sind
„unterschiedliche Klassifikationsschemata, unterschiedliche Klassifikationsprinzipien, Wahrnehmungsund Gliederungsprinzipien, Geschmacksrichtungen. Mit ihrer Hilfe werden Unterschiede zwischen gut
und schlecht, gut und böse, distinguiert und vulgär etc. gemacht” (Bourdieu 1998a: 21).
Auf Basis der Annahme einer unauflösbaren Dialektik von ‚Interiorität’ und ‚Exteriorität’ ‚sozialer
Verhältnisse’ und deren Beurteilungen (vgl. Bourdieu 1976), lässt sich argumentieren, dass die sozialen
Positionen und inkorporierten Dispositionen der klassifizierten wie der klassifizierenden Akteure, einen
strukturellen Hintergrund für die praktische Durchsetzung sozialer Wahrnehmungskategorien und
Gliederungsprinzipien bilden. Diese stellen insofern die ‚materielle’ Basis für die unterschiedlichen
performativen Praktiken, Meinungen, Äußerungen etc. dar. Vor allem sind sie aber auch die Basis für
Der Herrschafts-, ebenso wie der Hegemoniebegriff wird hier analytisch, nicht normativ verwendet. Das heißt es geht nicht
um ein ‚falsches Bewusstsein’ erzeugt von ideologischen Staatsapparaten und schon gar nicht darum einem Verstoß gegen
hegemoniale Standards als ,heroische Tat’, Widerstand gegen Unterdrückung und so weiter zu glorifizieren. Um bei dem
Beispiel Vergewaltigung zu bleiben: Bestimmte Handlungen als Vergewaltigung zu bestimmen und damit zugleich unter
Androhung von Sanktion zu untersagen, ist ein herrschaftsförmig als symbolisch hegemonial durchgesetzter Standard und
die Durchführung genannter Handlungen durchbricht diese hegemonialen Standards, was den Akteur – ungeachtet der Frage
der Gerechtigkeit und Legitimität der sozialen Ordnung die durch die hegemonialen Standards perpetuiert wird - aber kaum
als Träger eines ‚richtigen Bewusstseins’ erscheinen lässt.
71
53
die
symbolische
Transformation
von
relationalen
Abständen
in
attributive
substanzielle
Unterscheidungsmerkmale.
Die Wirksamkeit des universalistischen, gleichverteilten Kollektivguts ‚legales Kapital’ liegt nun bezogen
auf die gesellschaftlichen Machtverhältnisse gerade darin, „dass es unter dem Prinzip der Gleichheit,
bewahren hilft, was in der kapitalistischen Gesellschaft bereits ungleich ist” (Bähr 2001: 99). Das
Strafrecht setzt in diesem Sinne weniger etwas völlig Neues durch, sondern stellt eher etwas
Vorhandenes dar. Es entfaltet seine Wirkung über die Intervention seiner Institutionen nicht zuletzt
dadurch, dass es - als ‚positive Generalprävention’ - Zustimmung organisiert und die „Dynamik der
Interessen in bestimmte Bahnen“ lenkt (Schluchter 1979). Anders formuliert: der Staat verteidigt nicht
die Interessen einer – etwa der ‚herrschenden’ – Klasse, sondern vor allem den gegebenen oder prima
faci gesellschaftlich durchgesetzten Common Sense; er schützt und sanktioniert die bestehenden
Institutionen, gesellschaftlichen Beziehungen und Regeln (vgl. Offe 1972).
Der wesentliche (Herrschafts-)Effekt legalen Kapitals besteht darin, dass ein generalisierter
‚klassenloser’ Konsens erzeugt wird, der einen für alle Mitglieder einer Gesellschaft gleichermaßen
verbindlichen - und auch von ‚subdominanten’ Gruppen häufiger akzeptierten als abgelehnten (vgl.
Young 1994, Brumlik 1999, Bourdieu 1987, 1998 Bourdieu/Wacquant 1996) - Standard für jedes
Gesellschaftsmitglied darstellt.
Eine zentrale Frage bleibt dabei jedoch die, nach dem realen sozialen ‚Abstand’ der Positionen und
praktischen Dispositionen der Akteure von diesem Standard. Die formal ‚klassenlose Gleichheit’ des
offiziellen Common Sense auf der Basis legalen Kapitals kann nur aufrecht erhalten werden, wenn von
diesen realen Abständen abstrahiert wird (vgl. von Hirsch 1996).
Gleichzeitig entspricht es aber der Logik des Strafrechts, unter diesem Prinzip der Gleichheit die realen
Dispositionen eines isolierten Einzelnen zu reflektieren. Auf dieser Basis wird mit der formalen
Etikettierung eines Handels als kriminell ein normatives Substrat dieser Handlung gerade dadurch
geschaffen, dass es aus seinen sozialen Zusammenhängen herausgelöst ist. Auf der Basis einer
Dechiffrierung einer konkreten individualisierbaren Handlung eines Einzelnen als Tat schreibt das Recht
insofern durch
„das Konzept ‚Kriminalität’ im Namen der Gleichheit, allgemeinem Interesse und geteilten Werten dem
Klassensubjekt mit seiner ganzen Last der Perpetuierung der [...] sozialen Ordnung als individuelles Merkmal zu und
bringt darüber hinaus die Zivilgesellschaft in ‚Passung’ mit den Erfordernissen […dieser] Ordnung” (Bähr 2001: 99).
Wenn die formale Gleichheit und Allgemeinheit legaler symbolischer Regulation aber auf Ungleichheit
und Diversität des zu Regulierenden trifft, lässt sich auf der Ebene der Normsetzung annehmen, dass
jene Gruppen deren Klassen- und/oder Individualhabitus zu der symbolisch qua legalem Kapital als
legitim und allgemein durchgesetzten Sicht der Welt in dem dichtesten Homologieverhältnis stehen,
die mithin zugleich innerhalb des Rahmens der gültigen Gesetze, in der Relation von Habitus und
positionaler Kompetenz (als legitime Befugnis) breitere konforme und zugleich – bezogen auf die
feldspezifische Ökonomie der Praxis - ‚profitable’ Handlungsmöglichkeiten in dieser Konformität
besitzen, praxislogisch mit eben diesen Normen und den Strategien ihrer Durchsetzung – zumindest
als eine statistisch aggregierte Population - weniger leicht in Konflikt geraten.
54
Weil legales Kapital als ein kollektives Gut, das weder ungleich verteilt ist noch von einem Akteur
‚besessen’ wird, einen verallgemeinerten und allgemein verbindlichen Standard sichert, sichert es vor
allem die praktischen Profite der genannten Gruppen weil ‚ihren’ Praktiken und damit verbunden ihren
Kapitalen eher als den Praxisweisen und Kapitalen anderer Gruppen der ‚Mehrwert’ des symbolischen
Kapitals offizieller Legitimität ‚hinzugefügt’ wird.
Nicht weil diese Akteure per se besonders Rechtsgehorsam wären – was empirisch insgesamt recht
zweifelhaft ist -, sondern weil ihre Spielzüge in der Ökonomie der Praxis in der relativ geringsten
Opposition zum ‚offiziellen’ - d.h. durch legales Kapital gesicherten - Common Sense stehen, ist die
Wahrscheinlichkeit, dass sie in den ‚Besitz’ des negativen symbolischen Individualgutes ‚Kriminalität’
gelangen, am vergleichsweise geringsten.
Wird
die
Analyse
der
Verteilung
dieses
negativen
Individualgutes
in das vorgeschlagene
hegemonietheoretische Modell symbolischer Gewalt eingebettet, kann Kriminalisierung, d.h. der
Prozesse der Normanwendung, verstanden als Realisierungen sozialer Phänomene qua Benennung
(‚symbolische Macht’), als ein Unterfall einer strukturellen ‚Disziplinierung’ betrachtet werden (vgl.
Mathiesen 1985), die auf eine Aufrechterhaltung oder ‚Wiederherstellung’ der Gültigkeit des ‚offiziellen’
Common Sense zielt. Wenn dieser Common Sense aber eine symbolische Form ungleicher ‚materieller’
Verhältnisse und sozialer Relationen ist, verläuft auch dieser Prozess entsprechend selektiv.
Diese Selektivität wirkt sich logischerweise zuungunsten jener Akteure aus, deren (symbolische) Form
ihres eingebrachten Kapitals nicht als legitim anerkannt wird. Vor allem wirkt dieser Prozess aber
zuungunsten der Akteure, deren Habitus in dem geringsten Homologieverhältnis zu der ‚legitimen
Kultur’, bzw. zu dem Common Sense und den praxislogischen Bedingungen und Erfordernissen sowohl
‚ihres’ sozialen Feldes im einzelnen, als auch der ihnen zugedachten Position in der Sozialtopologie im
allgemeinen stehen. Unterstellt man die Wirksamkeit der trinären Bezogenheit von Feld(position),
Habitus und Praxis auch in diesem Fall, lässt sich argumentieren, dass es in der Regel diese Gruppen
und Akteure sind, die die Träger jener Dispositionen darstellen, die einer Reproduktion und
Aktualisierung der feldspezifischen Strukturen - und damit zugleich den ‚objektiven Interessen’ der
Trägern und Repräsentanten der legitimen Kultur dieser Felder - am wenigsten zuwiderlaufen.
Anders formuliert: Da das Recht qua legalem Kapital den Common Sense schützt, dient es im Namen
der Gleichheit vor allen jenen Akteuren, Gruppen und Klassen, die praxisökonomisch am meisten von
diesem Common Sense profitieren. In einem gewissen Sinne gelingt es demnach spezifische
Interessen in rechtlich geschützte, universalistische ‚Kollektivgüter’ zu transformieren und von einem
öffentlichen Organ durchsetzen zu lassen, dessen symbolische Macht gerade darin besteht, sich als
neutral und über partikularen Interessen stehend darstellen zu können: Wie es Anatole France
unübertroffen formuliert hatte, verbietet es die Erhabenheit des Gesetzes dem Millionär wie dem
Obdachlosen unter Brücken zu schlafen, auf der Strassen zu betteln und Brot zu stehlen.
Die offenkundige ‚Ungerechtigkeit’ ist jedoch keine Ungerechtigkeit bzw. Ungleichheit des
(Straf)Rechts, sondern der zugrunde liegenden Bedingungen der Möglichkeit seiner Realisierung – und
diese gilt nicht nur am ‚unteren’ Ende. So lässt sich argumentieren, dass beispielsweise mit Blick auf
‚Wirtschaftskriminalität’ auch am ‚oberen’ Ende ein Ungleichgewicht besteht: hier verbietet das Gesetz
55
dem Millionär wie dem Obdachlosen gleichermaßen Steuern zu hinterziehen. Selbstverständlich ist
dieses Argument alleine deshalb nicht strukturanalog, weil man kaum behaupten kann, dem Millionär
bliebe keine andere Wahl, als Steuern zu hinterziehen und das Strafrecht ‚bestrafe’ vor allem seine
soziale Stellung als Millionär (vgl. aber Sutherland72 1968 [1940]). Allerdings verweist diese
Perspektive darauf, dass sich aus der ‚Gleichheit’ des ‚legalen Kapitals’ heraus, verschiedene Formen
einer strukturell ungleicher Distribution des negativen Gutes ‚Kriminalität’ entwickeln können.
Nimmt man diesen Gedanken ernst, kann zunächst im Anschluss an Vincenzo Ruggiero (2001) davon
gesprochen werden, dass eine niedrige feldspezifischen Positionen, ein mangelnder Zugang zu Feldern
und eine mangelnde Verfügung über Ressourcen, bzw. Kapitale auf der Seite der Akteure per se nicht,
zumindest nicht alleine, als die Ursache von Kriminalität - als Verstoß gegen den zu legalem Kapital
geronnenen gesellschaftlich Common Sense - verstanden werden kann. Die Verteilung und das Muster
von Ressourcen (Kapitalen), Feldzugängen und -positionen, sowie die Verteilung der möglichen oder
wahrscheinlichen ‚Spielzüge’ der Akteure in einem Feld (bzw. im gesamten sozialen Raum) steht eher
im Zusammenhang mit verschiedenen Formen von ‚Kriminalität’. Die soziale Distribution des
‚negativen’ symbolischen Gutes ‚Kriminalität’ hängt demnach von der Dichte der Regulation durch das
Machtmittel legales Kapital im jeweiligen Feld ab. Sie steht mit dem Maß im Zusammenhang, in dem
die Gültigkeit dieses ‚Common Sense’ je (formal) eingeklagt und durchgesetzt wird - dazu gehört auch
die vor allem von ‚rational choice’ Theoretikern behandelte Frage, wie aufwendig und mit welchen
materiellen, sozialen und symbolischen ‚Kosten’ eine solche Einklagung und Durchsetzung verbunden
ist (vgl. Coleman 1990, Lüdemann 2000). Schließlich hängt sie vor allem von dem feld-, feldpositionsund akteursspezifischen Maß sowie von der Art und Weise ab, in dem die Einhaltung dieses Common
Sense sichtbar ist und sichtbar gemacht, d.h. kontrolliert wird73 (dazu vor allem die Arbeiten von
Donald Black 1970, 1976, 1980, 1984, Black et al. 2002). So ist es empirisch unzweifelhaft,
„dass bei wirtschaftlich benachteiligten Jugendlichen […] Verhalten sichtbarer ist weil sie mehr Zeit an öffentlichen
Orten verbringen74 […]. Dies bedeutet aber, dass selbst wenn [… abweichendes Verhalten] bei benachteiligten
Jugendlichen in keiner Weise ausgeprägter ist als bei anderen, sie durch bloße Anwesenheit in der Öffentlichkeit
mehr auffallen“ (Forster/Hagan 2002: 698).
Zu der Art und Weise der Kontrolle gehört auch die Frage, welchen Gegenstand die Form des legalen
Kapitals fokussiert, das als Mittel der symbolischen Regulation eines Feldes bemüht wird. So ist etwa
das ‚Feld der Ökonomie’ in einem wesentlich stärkerem Maße durch administrative Regulationen,
öffentliches und Zivilrecht usw. als durch das Strafrecht reguliert. Dies gilt für andere Felder nicht
unbedingt im selben Maße und dies schlägt sich zugleich auf die Akteure in den Feldern nieder.
Unabhängig davon, dass es gute Gründe dafür gibt, bestimmte Verhaltenweisen für alle Akteure unter
Sutherland (1968) zufolge stehen die ‚Spielregeln’ in der Wirtschaft „in Konflikt mit den gesetzlichen Regeln. Ein
Geschäftsmann, der dem Gesetz gehorchen will, wird von seinen Konkurrenten dazu gebracht zu ihren Methoden zu greifen“.
73 Bereits 1882 betont der Kriminalanthropologe Léonce Manouvrier (1986: 213, nach Sack 2002: 34), dass auch „die
wohlerzogenen, ehrbaren Leute […] Gewalt auszuüben wüssten und vermöchten, ohne damit bei der Polizei Anstoß zu
erregen“.
74 Offensichtlich finden sich beispielsweise auf den Straßen der Innenstädte andere Verhaltensvariationen und Praxismuster und damit auch andere Formen des Bruchs des legalkapitalbasieren Common Sense - als den Staatskanzleien, Arztpraktiken
oder Universitäten. Damit verbunden wird die Distribution des negativen Gutes ‚Kriminalität’ schon alleine dann zuungunsten
bestimmter Gruppen von Akteuren - namentlich jungen Männern aus den unteren Klassen – verändert, wenn die
Kontrolldichten nicht in letztgenannten Arealen, sondern im öffentlichen Raum verstärkt werden.
72
56
Strafe zu stellen, und ohne diese Berechtigung per se zu relativieren, ist es aus dieser Perspektive
plausibel anzunehmen, dass „the operation of the criminal justice system is not neutral [… because]
most of the resources are focused on the crimes of the disadvantaged“ (Hutton 1999: 580). In diesem
Sinne wirkt es faktisch als ‚homogenisierender Filter’ (Hudson 1996: 112) zuungunsten der unteren
Klassen:
„[It] is directed predominantly at the kinds of wrongdoing that are most common among the poor: ‚the law is
designed primarily for the non-affluent; the affluent are kept in line, for the most part, by tort law’ (Posner 1985:
1204f)“ (Hudson 1996: 12, vgl. Frehsee 1991, Fulcher/Scott 2003, Wilson et al. 1986).
Darüber hinaus hat vor allem Peter Manning (1994) in Rekurs auf Bourdieus symbolisches Kapital
nachgezeichnet, dass diese Selektionsrationalitäten nicht nur in Bezug auf den formellen Strafprozess
wirksam sind. Eine klassenspezifische Filterung geschieht vor allem auch durch die, dem Strafprozess
vorgelagerten Kontrollinstanzen – allen voran der Polizei –, die die gegebenen formal ‚gleichen’,
‚egalitären’ und ‚objektiven’ Gesetze in einer Weise durchsetzen, die das symbolische Kapital der
mittleren und oberen Klassen schützt, während die unteren und subdominanten Klassen – vor allem
relational zu den oberen – in ihrem politischen, legalen und sozialen Status degradiert werden. Die
Gleichheit des legalen Kapitals manifestiert sich demnach de facto keinesfalls gegenüber allen
Akteuren in gleicher Weise. So leben z.B., wie Funk (1995: 255) ausführt,
„der deutsche Besitzbürger und der Sozialhifeempfänger, der arbeitslose Jugendliche und die hier geborene Türkin
[…etc. faktisch] in ganz unterschiedlichen Rechtssphären und folglich auch divergierenden Kontrollrealitäten.
Ausmaß und Intensität staatlicher Überwachung bemessen sich nach dem Status der Objekte sozialer Kontrolle.“
Mit Blick auf die Feld-, aber auch auf die ‚physikalischen’ ‚Ortseffekte’ der Kontrolle, sowie mit Blick auf
die unterschiedlichen Positionen der Akteure im ‚sozialen Raum’, verbunden mit einer unterschiedlichen
Ausstattung
an
‚materiellen’
und
‚symbolischen’
Machtmitteln,
kann
demnach
auch
in
kontrolltheoretischer Hinsicht von mindestens zwei weiteren ‚strukturellen’ - d.h. sich (auch) ohne
bewussten ‚Masterplan’ der formellen Kontrollinstanzen vollziehenden - Momenten der Ungleichheit
gesprochen werden: Zum einen verweist diese Konstellation auf der Ebene der äußeren Constraints,
denen soziale Akteure in differenzieller Weise unterworfen sind darauf, dass einige Akteure eher in der
Lage sind zu kontrollieren, während andere vor allem kontrolliert werden (dazu umfassend: Scanlon
1997). Die Annahme „that ,rules’ are applied equally to persons occupying completely different
positions of power is [therefore] a neglect of the fact that people occupy these positions, and that,
strictly sociologically speaking, the true object of inquiry consists of positions, not people” (Schinkel
2002: 127 f). Zweitens führen die je nach Positionierung im sozialen Raum und Feldern
unterschiedlichen Ökonomien und Logiken der Praxis zu habituellen Inkorporierung auf der Ebene der
Akteure selbst (vgl. Bourdieu 1987). Das bedeutet, dass die unterschiedlich positionierten Akteure
andere Formen und Kapazitäten in Bezug auf praktische Hermeneutik der Dechiffrierung des Inhalts
und der Bedeutung der ‚gleichen Regeln’ besitzen bzw. praxislogisch bevorzugen (vgl. Schinkel 2002:
128, Manning 1994). Diese ‚hermeneutische Kapazität’ ist dann aber nicht einfach eine ‚natürliche’
Gabe. Sie ist in den unterschiedlichen sozialen Straten unterschiedlicher Felder ungleich verteilt. Auch
die Frage welche Form und praxishermeneutische ‚Regel’ sich als verbindlich durchsetzt - in Anschluss
57
an Foucault lässt sich von ‚Wahrheitspolitik’ sprechen -
stellt sich in so fern als eine Frage
symbolischer Herrschaft dar.
Solange ein Konzept der Kriminalität reflektiert wird, ist es der Staat, der quasi die Rolle eines
exekutiven symbolischen Machtmonopolisten inne hat: Der Staat hat das Monopol auf die
Durchsetzung der Imperative legalen Kapitals.
Dies bedeutet nun allerdings in keiner Weise, dass es ohne den ‚legitimen’ Monopolisten ‚Staat’ ein
Machtvakuum gäbe. „In der Tat“, so fiel bereits Emile Durkheim (1977: 111 f) auf,
„drängt das soziale Leben überall, wo es dauerhaft existiert, dazu, eine bestimmte Form anzunehmen und sich zu
organisieren, und das Recht ist nichts anderes als eben diese Organisation insoweit, als sie beständiger und präziser ist
[...]. Allerdings könnte man einwenden, dass sich die sozialen Beziehungen auch fixieren können, ohne deswegen eine
Rechtsform anzunehmen [...]. Trotzdem bleiben sie damit nicht unbestimmt, unterliegen aber, statt durch das Recht
geregelt zu sein, nur mehr der Sitte. Das Recht spiegelt also nur einen Teil des sozialen Lebens wieder“.
Auch die legalisierte Form symbolische Herrschaft selbst, so lässt sich präzisieren, ist weniger
orginäres Produkt staatlicher Erzwingungsformen, als vielmehr Produkt der praktischen Ökonomie in
spezifisch strukturierten, sozialen Sinnzusammenhängen. Die Monopolstellung entsteht durch die
Überführung und Verallgemeinerung einer ansonsten partikularen und feldspezifischen symbolischen
Herrschaft in legale Herrschaft bzw. mit Blick auf die eingesetzte Form symbolischen Kapitals durch die
Überführung von Moral und Sitte in Recht.
Verweist das Konzept der ‚Kriminalität’ auf diese formalisierten Aneignungen durch den Staat, so
bezeichnet es vor allem eine Wirklichkeit, die das Ergebnis dieses offiziellen Prozesses darstellt und die
nur aufgrund der Legalität als einer verallgemeinerten symbolischen Legitimität existiert, mit der sie im
Rahmen einer auf legalem Kapital basierenden Reaktion konstituiert wird75.
Wenn jedoch der Staat, je nach Ausmaß und Reichweite seines Regulationsmonopolanspruchs, zwar
regulierend (d.h. kontrollierend, lenkend, stützend, kompensierend, etc.) in die objektiven
gesellschaftlichen
Kräfteverhältnisse
eingreift,
aber
insbesondere
in
liberalen
kapitalistischen
Gesellschaftsformationen kaum als der primäre Erzeuger dieser Kräfteverhältnisse betrachtet werden
kann, greift es zu kurz, die gesellschaftlichen Machtprozesse in der Produktion von Abweichung auf
die offiziellen Reaktionen zu reduzieren. Vielmehr scheint es notwendig, die Analyse nicht auf die
Prozesse der justiziellen Bestimmung von verbrecherischem Handeln zu beschränken, sondern sie von
dem auf juristischem Kapital basierenden Konzept der Kriminalität, auf das Konzept der ‚Devianz’ zu
erweitern.
Der Unterschied zwischen beiden Konzepten besteht darin, dass es im ersten Falle - wie ausgeführt die formalen und verallgemeinerten Regeln sind die ‚Kriminalität’ konstituieren, während es beim
Konzept der Devianz die feldspezifisch partikularistischen praktischen Regelmäßigkeiten sind, die
‚Devianz’ konstituieren.
Folgt man Colin Sumner (2001: 89), so beschreibt der Begriff ‚Devianz’ ein Aggregat aus „social
behaviours, practices, acts, demeanours, attitudes, beliefs, styles or statues which are culturally
believed to deviate […from given] norms, ethics, standards and expectations“. Devianz bezieht sich
Bezogen auf die Frage, wann eine Normabweichung als Kriminalität verhandelt werden kann, ist die Forderung Fritz Sacks
(1986: 44) nach einer Veränderung der „Kriminologie zu einer Soziologie des Strafrechts“ demnach durchaus sinnträchtig.
75
58
demnach auf die Differenz einer bestimmten Lebensäußerung von korrespondierenden Anforderungen
an sozial, kulturell, ökonomisch und symbolisch artikulierte Dimensionen der Lebensführung. Zur
Bestimmung des Konzepts der Devianz auf einer überindividuell vermittelbaren und daher performativ-
sichtbaren Ebene ist darüber hinaus ein Rückgriff auf die Definition des amerikanischen Theoretikers
Charles Tittle gewinnbringend (kritisch: Savelsberg 1999). Devianz bezeichnet nach Tittle (1995: 124)
„jedes Verhalten das die Majorität einer gegeben Gruppe als nicht annehmbar betrachtet, oder das
typischerweise eine kollektive Antwort negativen Typs hervorruft”.
Eine solche Fassung von Devianz beinhaltet eine deutliche Erweiterung gegenüber dem Konzept der
Kriminalität. Sie umfasst all jene Handlungsweisen, die nicht nur bezogen auf einen verallgemeinert
verfassten Idealtyp gesellschaftlich organisierter sozialen Beziehungen - dem (Straf-)Recht - als nicht
annehmbar bzw. bedrohlich gefasst wird, sondern beinhaltet auch jene Handlungsweisen, die in einer aus einer ganzen Palette möglicher - ebenso beliebigen, wie spezifisch empirisch vorfindbaren
Konfiguration sozialer Relationen situiert sind, und dabei nur und ausschließlich in diesem Kontext als
unangemessen, bedrohlich oder unakzeptabel wahrgenommen werden – was nicht heißt, dass sie dies
auch faktisch sind (vgl. Lianos/Douglas 2000: 104). In dieser Hinsicht bezieht sich das Konzept der
Devianz nicht (nur) auf die Illegalität einer Handlung, sondern auf einen Habitus und eine Form der
Lebensführung, d.h. auf Dispositionen, die in ihrem Bezug auf bestimmte soziale und politische
Positionen und Positionszuordnungen, in einem spezifischen sozialen Feld ‚unterhalb‘ praxislogisch
dominanter, symbolischer Standards liegen.
Im Gegensatz zum Konzept der ‚Kriminalität’ wird Devianz in einer solchen Fassung nicht erst durch
bestimmte Reaktionen definiert, sondern als ein Attribut eines Verhaltens gefasst. Dies bedeutet
jedoch nicht, dass die so konstituierte ‚Eigenschaft’ dieses Verhaltens per se eine substanzhafte
Kategorie darstellen würde. Es bekommt diese Eigenschaft dann, wenn es in eine bestimmte Logik der
Praxis eingebunden ist.
Das Problem dieser Definition ist die Rede von der ‚Majorität’ einer gegebenen Gruppe, sofern sie nicht
‚qualitativ’ – etwa als ‚moral majority’ (dazu: Rodger 1992) - sondern ‚quantitativ’ gefasst wird.
Wesentlich ist nicht der Bezug auf nominale Mehrheiten selbst (vgl. Savelsberg 1999: 333), sondern
die zugrunde liegenden machtförmigen Prozesse, deren Ergebnis ein symbolisch hegemonialer und von
den sozialen Akteuren inkorporierter ‚Common Sense’ darstellt.
Sofern die Konstitution von Kriminalität und Devianz ebenso wie die Prozesse der Kriminalisierung in
einem ‚hegemonietheoretischen’ Modell symbolischer Gewalt betrachtet werden, ist es sinnvoll auch
traditionelle ‚ätiologische’ Erklärungsansätze von Kriminalität heranzuziehen. Diese Ansätze können
sowohl dazu beitragen, die Bedingungen zu erhellen, in deren Rahmen Devianzkonstitutionen und
Zuschreibungen wirksam werden, als auch dazu, die ‚typischen‘ Zielgruppen dieser Konstitutionen und
Zuschreibungen zu beschreiben.
Ironischerweise lassen sich diese Bedingungen im Rekurs auf das - insbesondere im konservativ ‚neorealistischen’ kriminologischen und kriminalpolitischen Diskurs populär gewordene - individualisierende
Devianzmodell ‚mangelnder Selbstkontrolle‘ von Michael Gottfredson und Trevis Hirschi (1990)
verdeutlichen. Dieses Modell ist nicht zuletzt darum interessant, weil Gottfredson und Hirschi durch die
59
Rekonstruktion des Kriminellen, als Akteur mit wenig Selbstkontrolle und mangelnder Fähigkeit, die
Befriedigung unmittelbarer Bedürfnisse aufzuschieben (‚deferred gratification’ vgl. auch Wilson 1975),
implizit eine Art Idealtypus des ‚Verbrechermenschen’ der - im Sinne klassischer Kriminalitätstheorien
scheinbar anti-ätiologischen – ‚rational choice Theorien’ skizzieren76. Selbstkontrolle wird dabei als die
Fähigkeit
gefasst,
im
Rahmen
einer
angemessenen
Kosten-Nutzenkalkulation
auf
eine
augenblicksorientierte, aufwandslose und unmittelbare Befriedigung eigener Bedürfnisse zu verzichten,
wenn diese auf Dauer überwiegend negative Ergebnisse produziert. Im Zentrum dieser Überlegungen
steht zumindest implizit eine Erklärung von Abweichung auf der Basis einer Dichotomie zwischen
asketischer Ethik und Hedonismus als ethische Grundmotivation einer individuellen und rational
kalkulierten Lebensführung (vgl. Lamnek 1994).
Erhellend ist die Beschreibung jener Lebensweise, die nach Gottfredson und Hirschi von hoher
Selbstkontrolle zeugt, also devianzimmunisierend wirkt: Während sie bezogen auf die Entwicklung der
Fähigkeiten
zu
einer
‚angemessenen’
Form
der
Lebensführung
in
einer
gewissen
Weise
korrespondierend zum Habituskonzept bei Bourdieu argumentieren, dass diese „appear early and
remain stable over much of the life course” (Gottfredson/Hirschi 1990: 108), steht ihre inhaltliche
Beschreibung gänzlich in der Tradition der protestantischen Ethik des Kapitalismus (vgl. Nelken 1994:
249), die, wie Max Weber (vgl. 1934) ausführt, eine ‚konsequente Methode der Lebensführung’ und
‚systematische Selbstkontrolle’ erfordere. Melossi (2000: 168) bezeichnet das, was Gottfredson und
Hirschi als ‚hohe Selbstkontrolle’ beschreiben, zurecht als eine lange Aufzählung des „usual middleclass, work ethic, American way of doing things”. Sieht man von der Konkretisierung der
‚selbstkontrollierten’
Lebensführung
in
‚amerikanischen
Verhältnissen’
ab,
entsprechen
die
Beschreibungen jener kriminalitäts- bzw. devianz-immunisierenden Lebensweise, nicht nur bezogen
auf ihr frühes Auftauchen und ihre Stabilität im Lebenslauf, sondern auch inhaltlich bis in das
Vokabular hinein, jenen Habitus, die nach Bourdieu (1982, Bourdieu et al. 1981) kennzeichnend für
das (‚aufstiegsorientierte’) Kleinbürgertum sind77 (für die Bundesrepublik: Vester et al. 2001).
Charakteristisch für hohe ‚Selbstkontrolle’ und den kleinbürgerlichen Habitus sind die Bereitschaft zum
Verzicht, asketische Sittenstrenge, Konformismus und Investitionen in sichere Werte, langfristige
aufwandsintensive Planungen, Pretentiosität und Disziplin, die Tendenz „to be cautious, cognitive, and
verbal” (Gottfredson/Hirschi 1990: 90), die Orientierung an stabilen Erfolg versprechenden
Beziehungen, (Bildungs-)Eifer, Pflichtbewusstsein, wenig Impulsivität, wenig „charm and generosity”,
etc. (Gottfredson/Hirschi 1990: 90, vgl. Bourdieu 1982, Bourdieu et al. 1981). Kurz, La Bruyères
Diktum: „Le présent est pour le riches, l´avenir pour les vertueux et les habiletés” (zitiert nach
Bourdieu et al. 1981: 186), kann als eine Art handlungspraktisches Leitmotiv für die Akteure betrachtet
Bourdieu bezieht sich in den feinen Unterschieden explizit auf diese, scheinbar rein persönliche, aber offensichtlich und
keinesfalls zufällig in den unteren Klassenmilieus sehr viel seltenere Fähigkeit. In der englischen Übersetzung heißt es hierzu
etwa: „the propensity to subordinate present desires to future desires depends on the extent to which this sacrifice is
,reasonable’ that is, on the likelihood of obtaining future satisfactions superior to those sacrificed” (Bourdieu 1984a: 413).
77 Nun ist die Orientierung am Kleinbürgertum seitens kriminalsoziologischer Rational-Choice-Theoretiker nichts Neues. So
bezeichnete bereits Marx (vgl. MEW 23) Jeremy Bentham als ‚Genie in der bürgerlichen Dummheit’, der den ‚englischen
Spießbürger’ zum Maßstab für alle Rationalität hypostasiere.
76
60
werden, denen Michael Gottfredson und Travis Hirschi ‚hohe Selbstkontrolle’ bescheinigen und die
Bourdieu wie Vester et al. als Träger eines ‚kleinbürgerlichen’ Habitus identifizieren.
(Devianz-)Theoretisch entscheidender als das bloße Aufzeigen phänomenologischer Parallelen ist
jedoch die besondere sozialstrukturelle Stellung des - ‚aufstiegsorientierten’ - Kleinbürgertums. Diesem
entsprechen in der Bundesrepublik, die oberen Straten jener ‚mittleren’ 60 Prozent der Gesellschaft,
deren Ethos bzw. Lebensmoral, wie Michael Vester und seine Mitarbeiter (vgl. Vester 1993, 2002,
Vester et al. 2001) in umfassenden Untersuchungen empirisch nachzeichnen, stark am ‚Erreichten’ und
an den Vorbildern der oberen Klassenmilieus ausgerichtet ist. Bourdieu skizziert sie als Vertreter jener
Klassenmilieus, die die größten Anstrengungen und Entbehrungen auf sich nehmen, um der legitimen
Kultur - der Kultur der herrschenden Klasse als Vorbildmodell für alle anderen Klassen - nachzueifern,
und sich zugleich von den unteren Klassen zu distinguieren, d.h. über jenen ‚Habitus des Strebens’
verfügen, den Vester et al. (2001) vor allem in den mittleren Klassenmilieus der Bundesrepublik
ausmachen. Hierbei entsprechen sie zugleich jener Gruppe, die einer bewussten ‚Stilisierung des
Lebens’ im Sinne Webers und den Annahmen der kognitivistischen wie ‚rational choice‘- Theorien am
nächsten kommen.
Gegenüber
den
kleinbürgerlichen,
aufstiegsorientierten
Gruppen
grenzen
sich
die
oberen
Klassenmilieus (‚Bourgeoisie’) im Rahmen des Symbolismus der Lebensstile der Tendenz nach ab.
Dabei formulieren sie – aus einer diachronen Perspektive betrachtet – die legitime Kultur und mithin
den hegemonialen Konsens in mittelbarer Hinsicht neu. Folgt man den Studien von Michael Vester
(Vester et al. 2001: 504 f, vgl. Vester 2002) rekrutieren sich diese oberen Klassenmilieus aus „mehr als
20 % der Bevölkerung, die ihrem Habitus nach beanspruchen, wirtschaftlich, sozial, kulturell oder
politisch tonangebend zu sein“.
In synchroner Perspektive kann bezogen auf den Status quo der legitimen Kultur jedoch das
(aufstiegsorientierte) Kleinbürgertum als die Gruppe betrachtet werden, die diese im nicht nur Sinne
eines lebenspraktischen ‚trickle-down-effects’ adaptiert (vgl. Vester et al. 2001), sondern bei der sich
deren handlungsleitende Wirkung, im Sinne einer normativ-ästhetischen Orientierungsgröße, auch am
umfassendsten zeigt. Bestimmt die kulturelle Praxis der herrschenden Klassen die Genese des
Common Sense, wird dieser – in synchroner Perspektive - faktisch in erster Linie von den
‚kleinbürgerlichen’ Klassenmilieus stabilisiert und perpetuiert.
Diese Lesart steht jedoch vor einem theoretischen Problem. Ist der Lebensstil als mittelbare
Exteriorität des gesellschaftlichen Seins zu verstehen, so muss dieser - gemäß dem Postulat eines
dialektischen Verweisungszusammenhangs von Position und Disposition – um sich dauerhaft zu
stabilisieren durch die allokativen Mittel in den sozialen Auseinandersetzungen, d.h. durch verfügbare
‚Kapitale’, ‚abgedeckt’ sein. In diesem Sinne herrscht beim ‚Kleinbürgertum’ zunächst ein objektiver
Mangel an ‚tatsächlicher’ Kapitalausstattung. Dieser Mangel lässt sich jedoch auf der Ebene des
Symbolismus kompensieren: Im Vergleich zu den über ‚wirkliche Machtmittel’ verfügenden
herrschenden Klassen
„(relativ) arm an ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapital [...können die Mitglieder der aufsteigenden
mittleren Klassenmilieus] ihre Ansprüche lediglich dann rechtfertigen (und sich Möglichkeiten zu ihrer Befriedigung
verschaffen), wenn sie mit Opfern, Entbehrungen, Verzicht, kurzum: mit Tugenden bezahlt. […Aufsteigende
61
Kleinbürger sind] vor allem dadurch definiert, dass ihre soziale Lage durch objektive Chancen bestimmt ist, die sie
nicht hätten, wenn sie sie nicht für sich beanspruchten und nicht grade dadurch ihre Ressourcen an ökonomischem und
kulturellem Kapital um moralische Ressourcen erweiterten“ (Bourdieu et al. 1981: 188, 184).
Es ist Bourdieu zu Folge also möglich, nicht nur die benannten Kapitalen einzusetzen, sondern auch
durch ‚Moral’ zu bezahlen. Mehr noch verweisen die ‚moralischen’ Machtmitteln auf das
„Lieblingsgebiet“ und eine der wichtigsten ‚Waffen’ und Sanktionsmittel des Kleinbürgertums: Die
Kleinbürger, so Bourdieu (1982: 554),
„machen aus ihrer Notwendigkeit eine Tugend und erheben ihre partikulare Moral […] zur universell gültigen. Denn
sie haben nicht nur, wie jedermann, eine ihrem Interesse entsprechende Moral, sie haben Interesse an der Moral: Als
Kläger gegen alle Privilegien geben sie alleine dem moralisch Gesonnenen ein Recht auf diese Privilegien“ (vgl. auch
Verba et al. 1995).
Diese (inkorporierte) Form der Moral ist empirisch rekonstruierbar. Vester et al. (2001: 94, vgl.
Schilling 2003, Vester 2002) sprechen von einem „Ethos von Hierarchie und Pflicht“ bei den eher
traditionellen Fraktionen bzw. einem „Ethos von Eigenverantwortung und […] Leistung“ bei den
modernen Fraktionen eines Klassenmilieus der ‚respektablen Mitte’, deren Mitglieder über ‚strebende’
oder ‚arrivierte’ Habitus verfügen (vgl. Vester et al. 2001: 48ff). Diese Klassenmilieus grenzen sich nun
„von den Unterprivilegierten seit je dadurch ab, dass sie ihr Leben auf beständige Arbeit und
Lebensführung gründen“ (Vester et al. 2001: 94), die sie durch eine Leistungs- und Pflichtethik
verinnerlicht haben (vgl. Vester et al. 2001: 503f). Die nach unten gerichtete Grenze der
‚Respektabilität’ konstituiert eine Form der ‚Statussicherheit’ durch eine symbolische Kommunikation,
dass die Ansprüche und eingenommen Stellungen „durch Leistung und Loyalität ‚verdient’“ sind,
während diese zu versäumen „den unteren Milieus als Charaktermangel vorgehalten“ wird (Vester et
al. 2001: 27 f). Vor allem im Kontext einer zeitgenössischen und keineswegs zufälligen Konjunktur
traditioneller Werte (vgl. Hradil 2002, 2002a), wird diese Abgrenzung dadurch vorangetrieben, dass
„über dem Sockel von etwa 10 % Einkommensarmut […] eine Zone der Prekarität entstanden ist, die
weitere 25- 30 % der Bevölkerung betrifft“ (Vester 2002: 102). Die Existenz dieser ‚Zone der
Prekarität’ (vgl. auch Bourdieu 1998a, Castel 2000, Ehrenreich 1992, Hübinger 1996) induziert eine
Forcierung der Statusunsicherheit der Mitglieder dieser Milieus, die eine entscheidende Quelle rigider
sozialer und vor allem symbolischer Abgrenzungsprozesse darstellt (vgl. auch Brand 1990, Gusfield
1963, Karstedt 1999, Sennett 1998).
In einer Verbindung von Ergebnissen von Autoritarismusstudien und Untersuchungen zu den Habitus
der Klassenmilieus rekonstruiert Dravenau (2002) als ein zentrales Dilemmata des durch
vergleichsweise rigide und ‚asketische’ Moralvorstellungen (vgl. Bourdieu 1982, Bourdieu et al. 1981)
sowie durch eine Gleichzeitigkeit von Statusängsten und Statusambitionen (vgl. Vester et al. 2001)
gekennzeichneten ‚Prätentionshabitus’ (vgl. Bourdieu 1982) kleinbürgerlicher Klassenmilieus, die
„Ergebenheit gegenüber der legitimen Kultur, bzw. dem, was er dafür hält“, während es ihm selbst
nicht gelingt dieser zu genügen:
„Seine ehrgeizige Anspannung, die ihn zur Erlangung, die ihm zur Erlangung gesellschaftlicher Anerkennung allerlei
Entbehrungen auferlegt, wird zur Quelle eines Rigorismus, einer restriktiven und repressiven Moral, welche sich
durchaus aggressiv richten kann einerseits gegen das laxe Sich-gehen-lassen der [… unter Klassenmilieus], wie
andererseits gegen die Libertinage der Künstler und intellektuellen, treten doch beide Gruppen die nur unter großen
Mühen sich selbst auferlegte Disziplin mit Füßen. Da Disziplin und Moral das Einzige ist, was er zum Zwecke
62
gesellschaftlichen Aufstiegs in die Wagschale zu werfen hat – gehen ihm doch die Startvorteile größeren kulturellen
und oder ökonomischen Kapitals ab -, ist seine Weltsicht durch Moralismus geprägt“ (Dravenau 2002: 464).
In diesem Sinne erfolgt nicht nur das Streben nach der legitimen Kultur der Lebensführung, sondern
auch ihr Gegenstück, die Markierung einer ‚Grenze der Respektabilität’, als untere symbolische
Scheidelinie (vgl. Vester et al. 2001: 503f), durch den Gebrauch einer besonderen Variante des
symbolischen Kapitals: dem moralischen Kapital78.
Diese ‚Kapitalsorte’ moralisches Kapital ist mit Blick auf gesellschaftliche bzw. feldspezifische
Dynamiken und Kämpfe schon alleine deshalb relevant, weil sich „die sozialen Gruppen und Individuen
hauptsächlich auf der Grundlage ‚moralischer’ Empfindungen […] verbinden und teilen“ (Vester et al.
2001: 167), oder, wie es Durkheim (1977) formuliert, sich die Gruppen durch einen ‚gemeinsamen
Korpus moralischer Regeln’ auszeichnen, aus denen sich auch auf individueller Ebene ein ‚moralischer
Habitus’ generiert (vgl. auch: Geiger 1932).
Während symbolisches Kapital in der Regel die ‚verwertbare’ Form ,materieller Kapitalen’ darstellt, wird
hier unter ‚moralischem Kapital’ – analog zum legalen Kapital - eine ‚geronnene’, von anderen
Kapitalen zunächst abgekoppelte Form des symbolischen Kapitals verstanden, nämlich die
feldspezifisch dominante Form der Wahrnehmung und Beurteilung sozialer Phänomene, bzw. Prozesse.
Im Gegensatz zu ‚legalem’ Kapital ist das ‚moralische’ Kapital jedoch nicht ‚offiziell’ geworden. Es wird
in der Regel weder schriftlich fixiert noch expliziert. Es wird von keiner identifizierbaren Exekutivinstanz
monopolisiert, sondern bleibt Gegenstand feldspezifischer ‚symbolischer Kämpfe’ und vor allem wird es
nicht ‚universalisiert’, sondern bleibt auch in der Reichweite seiner Gültigkeit feldspezifisch und damit
partikularistisch79. So wird sich das ‚moralische Kapital’ im ‚Gay-Village’ von Manchester oder
Amsterdam von dem ,moralischen Kapital’ in den Gemeinschaften baptistischer ‚Born-Again-Christians’80
deutlich unterscheiden (dazu: Hirst 2000). Auf feldspezifische Unterschiede in der Verteilung ‚moralischen Kapitals’
macht – unabhängig von der Validität der Aussage in dieser Form – im gewissen Sinne auch der AWO
Bundesverband (2000: X) aufmerksam, wenn er davon spricht dass Kinder und Jugendliche in ‚sozialen
Brennpunkten’ „weit entfernt sind von den Zentren der (Mittelschicht-)Normalität, an deren Normen sie
gemessen werden“
Die ‚Erfindung’ ‚moralischen Kapitals’ im Sinne eines sozialwissenschaftlichen Begriffs, kann wohl
Elisabeth Lissenberg (1990) für sich reklamieren. Im Gegensatz zu Lissenbergs Begriff ‚moralischen
Kapitals’, bezieht sich der hier vorgeschlagene Terminus aber weniger auf die ‚moralischen Ressourcen’
einer Gesellschaft und ihre Einsozialisierung durch den Einzelnen. Moralisches Kapital im Sinne
Lissenbergs repräsentiert vor allem ‚moralische Ressourcen’ als Elemente des gesellschaftlichen
Zusammenhalts, des Vertrauens, der Handlungssicherheit sowie von Versuche einer (‚gerechten’)
Lösung von Konflikten.
Für zahlreiche Anregung und kontroverse Diskussionen zur Fassung und zum Erklärungswert ‚moralischen Kapitals’ danke
ich Prof. Susanne Karstedt.
79 Dies bedeutet jedoch nicht, dass das ‚moralische Kapital’ in einem Feld, in einem anderen nicht ebenso gültig sein kann,
allerdings kann es sich genauso gut auch unterscheiden.
80 Nach einer Umfrage der Associated Baptist Press vom Juli 2001 halten zwei Prozent der Born-Again-Christians
Homosexualität für einen ‚akzeptablen Lebensstil’, während 95% diesen ‚Lebensstil’ strikt ablehnen.
78
63
Während Moral bzw. ‚moralischen Ressourcen’ einer Gesellschaft den Charakter eines ‚Kollektivguts’
annehmen und – etwa hinsichtlich der Inklusivität und der ‚universalistischen’ Ausrichtung ihrer
Prinzipien, dem Maß und der Reichweite wechselseitigen Vertrauens usw. - ein Element der ‚Qualität’
des sozialen Zusammenlebens in einer Gesellschaft darstellen kann (vgl. Habermas 1983, Inglehart et
al. 1998, Inglehart 1999, kritisch: Bourdieu 2001c), wird mit dem hier vorgeschlagene Begriff
‚moralisches Kapital’ eine andere Perspektive entwickelt. Unter ‚moralischem Kapital’ wird eine
spezifische (Unter)Form symbolischen Kapitals verstanden, die als ein Machtmittel in der Erzeugung
eines primär normativ verbindlichen feldspezifischem Common Sense dient.
Dabei geht es weniger im die Frage ob moralisches Kapital gleichbedeutend mit den Implikationen
eines elaborierten ‚Moralbegriffs’ im Sinne einer philosophisch begründeten Ethik ist. Moralisches
Kapital wird vielmehr als eine praxisökonomisch Ressource verstanden, die sich – in dem Sinne das
Moral, wie es Durkheim (1984: 85) in bester kantianischer Tradition formuliert, „nicht einfach ein
System von Gewohnheiten […, sondern] ein System von Befehlen“ beschreibt – in dem Maße
verwerten lässt, wie sie wie ‚Moral’ wirkt.
Angewendet auf eine klassenmilieutheoretische Perspektive verweist ‚moralisches Kapital’ nicht auf
eine ‚universalistische Moral’ oder das ‚moralische Band’ einer Gesellschaft, sondern auf ein Kapital das
in symbolischen Distinktions- und Reproduktionskämpfen eingesetzt wird81 (vgl. Sayer 2001). Es
fördert, wie Hartmut Esser (1996: 68) den Begriff moralisches Kapital verwendet, „moralische
Verpflichtung, Hochwertung und Vertrauen [seiner Träger] nach innen [bei gleichzeitiger]
abwertende[r] Distanz, sogar bewusste ‚Amoralität‘ und Misstrauen nach außen“ und materialisiert sich
entsprechend als „Ressourc[e], die für die Akteure im Alltag essentiell wichtig“ ist, um symbolische
Grenzziehung zu „objektivieren“.
Dabei ist moralisches Kapital - vergleichbar mit sozialem Kapital - eine Form des Kapitals, die von
einem einzelnen Akteur als einzelnem zunächst nicht ‚besessen’ werden kann. Dennoch wird es hier
nicht in einer Fassung als Kollektivgut vorgeschlagen, sondern als etablierte, symbolische Form, die in
inter-individuelle Beziehungen ‚eingebettet’ ist, aber von einzelnen Akteuren realisiert wird, im Falle
von bestimmten Akteuren in einer stärkeren Strukturhomologie zu ihrer präferierten Praxis steht und
sich damit zugleich praxisökonomisch ‚gewinnbringender’ realisieren lässt. Ein Kapital ist moralisches
Kapital in so fern, wie es eine eigenständige Ressource darstellt, wenn Handlungsweisen und entscheidungen, Lebensstile usw., die den Interessen eines Akteurs zuwiderlaufen, zugleich auf einer
symbolischen
Ebene
normativ
delegitimiert
sind.
Vor
dem
Hintergrund
des
engen
Verweisungszusammenhangs von Feld, Kapital, Habitus und Lebensstil bzw. Lebensführungsstrategie
(vgl. Bourdieu 1982, 1985, 1987, 1997), sorgt moralisches Kapital mittelbar auch dafür, dass, wie es
Peillon (1998: 218) formuliert, „the possession of any kind of capital is justified not only in the eyes of
So verweist etwa Andrew Sayer (2001) auf „Beverley Skeggs’ work on young working class women and their struggle for
respectability [that] shows their often painful awareness of being judged more severely than middle class women […]. The
search for respectability is a game which is rigged so that they will usually lose. As is also evident from the personal
narratives in the transcripts in Bourdieu et al’s The Weight of the World, resentment about this stigmatisation is often stronger
than resentment about lack of material wealth. Thus, moral stigma is frequently attached to those who are worst off in class
terms, and correspondingly, a moral privilege is attached to high class”.
81
64
those who benefit most from its distribution, but also in the eyes of those who are most deprived of
it”.
Wenn es in dem Feld, in dem sich ein Akteur bewegt - von allen anderen Sanktionen abgesehen beispielsweise als ‚moralisch’ unakzeptabel gilt – z.B. als Faulheit, Egoismus, Verantwortungslosigkeit
etc. – , schlecht bezahlte Arbeiten zu schlechten Konditionen abzulehnen, profitiert ein ‚Anbieter’
solcher Arbeiten davon offensichtlich mehr als dann, wenn die schlechte Bezahlung und die schlechten
Arbeitsbedingungen selbst als Ausdruck seiner ‚Habgier’ oder als ‚Ausbeutung’ thematisiert werden.
Das selbe gilt – mit umgekehrten Effekten – auch für den Akteur, der solche Arbeiten akzeptiert oder
ablehnt. Es liegt auf der Hand, dass solche ‚symbolischen’ Fragen des moralischen Kapitals über kurz
oder lang ‚materielle’ und handlungspraktisch wirksame Effekte zeigen.
Mit dem Terminus ‚moralisches Kapital’ wird also die Qualität dieses ‚Kapitals’ bzw. dieser Ressource
als ‚Moral’ in den Blick genommen, sondern seine Qualität als ein in individuellen Praxisökonomien
realisierbares ‚tatsächliches’ Kapital, d.h. als ein mögliches Machtmittel sozialer Akteure in den
Kämpfen der Ökonomie der Praxis. Während sich ‚Moral’ in einem engeren theoretischen Sinne,
dadurch auszeichnet, dass sie nicht kalkulierend gebraucht wird, bzw. sich ihre Geltung nicht am
eigenen Interesse ausrichtet (vgl. Brumlik 2001), liegt die analytische Pointe des Begriffs moralisches
Kapital - als praxisökonomisches ‚verwertbares’ Kapital darin - dass es gerade deshalb - und nur dann ein effektives Machtmittel darstellt, wenn der Eindruck von ‚Moral’ in diesem engen Sinn aufrecht
erhalten werden kann (vgl. Bourdieu et al. 1981, Bourdieu 1987, 1998, 2001c). Hierin liegt eine der
Grundfunktionen dessen, was Bourdieu als symbolische Macht oder symbolisches Kapital beschreibt.
Macht, so auch Alvin Gouldner (1970) in seinen Ausführungen zur ‚Coming Crises of Western
Sociology’ „is among other things [the] ability to enforce one’s moral claims. The powerful can thus
conventionalise their moral defaults” (Herv. H.Z.).
Die
Relevanz
von
nicht-staatlich
monopolisierten,
symbolischen
Wahrnehmungs-
und
Klassifikationsformen für die Regulation und Kontrolle von Verhaltensweisen und Praxisformen ist eine
alte Einsicht. So ist es der ‚Erfinder’ des Terminus ‚soziale Kontrolle’, Edward A. Ross (1901), der mit
eben diesem Konzept den Standpunkt vertritt, dass es vor allem die ‚belief systems’ und nicht die
spezifischen staatlichen Gesetze seien, die die Handlungen von Individuen (internal) leiten, und die
auch dazu dienen, ihr Verhalten – external - zu kontrollieren. In diesem Kontext lässt sich moralisches
Kapital - als die Ressource, um nicht nur in ‚richtiger’ Weise in den common-sensualen ‚belief systems’
teilzunehmen, sondern vor allem auch um auf sie Einfluss zu nehmen - deshalb als ein Machtmittel
fassen, weil es den Blick auf die Vorteile richtet, wenn ein feldspezifischer normativer Common Sense
in einem engen Homologieverhältnis zu verfügbaren und präferierten Praxisformen steht.
Der systematische Unterschied zwischen den praxislogischen, ‚moralkapitalistischen’ Regelmäßigkeitsund den legalkapitalbasierten Regelsystemen liegt, mit Immanuel Kant gesprochen, darin, dass
erstgenannte „nicht für alle vernünftige Wesen in gleicher Art gültig sein“ (Kant 1974: A 40) müssen,
zumal
insbesondere
in
modernen
demokratischen
Gesellschaften
von
einer
allgemeinen
„Übereinstimmung über die Ideen eines ‚guten’ oder intakten Zusammenlebens“ (Honneth 2001: 1327)
nicht ausgegangen werden kann:
65
„Worin nämlich jeder seine Glückseligkeit zu setzen habe, kommt auf jedes sein besonderes Gefühl der Lust und
Unlust an, und selbst in einem und demselben Subjekt auf die Verschiedenheit der Bedürfnisse, nach den
Abänderungen dieses Gefühls, und ein subjektiv notwendiges Gesetz [... ist daher] objektiv ein gar sehr zufälliges
praktisches Gesetz, das in verschiedenen Subjekten [und Gruppen von ‚Subjekten’] sehr verschieden sein kann und
muss“ (Kant 1974: A 46f.)
Unterstützung und eine Ergänzung erfährt das Argument Immanuel Kants durch die empirische
Moralforschung. Folgt man dem Philosophen Ernst Tugendhat (1993), zeigt sich ein Verstoß gegen
eine gültige moralische bzw. auch gegen eine auf moralischem Kapital basierte Norm - im Gegensatz
beispielsweise zum Bruch von Klugheitsregeln - vor allem dadurch, dass dieser bestimmte Emotionen
hervorbringt: Empörung oder Zorn auf der einen, Scham und Schuld auf der anderen Seite. Sofern
davon auszugehen ist, dass dieses Argument im Kern richtig ist82 (dazu: Günther 1999), besteht aus
empirischer Sicht das Problem darin, dass „die Emotionen, die ‚wir’ angesichts von Verfehlungen
empfinden, zwischen Personen und in Abhängigkeit von Kontextbedingungen [variieren]. Einige von
uns antworten mit heftiger Empörung auf Unrecht - andere reagieren mit Gleichgültigkeit“ (NunnerWinkler/Edelstein 1993: 11). Dies wäre dann aber nicht zuletzt dadurch begründet, dass das, was als
Unrecht wahrgenommen wird ebenso variiert wie die Frage, wie dieses Unrecht gewichtet wird und vor
allem damit, dass „Moral […] etwas [ist], dass gemacht werden muss (wenngleich nicht willkürlich),
nicht etwas, das man vorfindet“ (Tugendhat 1993: 43, vgl. Mackie 1981). Auf einen der Faktoren, der
diese Konstitution reflektiert – und nur auf diesen einen –, rekurriert der Begriff des ‚moralischen
Kapitals’, nämlich auf die „Nützlichkeit, mit anderen stillschweigende Vereinbarungen einzugehen, ein
System von Regeln zu befolgen, wenn die anderen es gleichfalls tun“ (Tugendhat 1993: 43).
Im Gegensatz zum legalem Kapital verweist das so verstandene moralische Kapital auf die
notwendigen Machtmittel zur Strukturierung eines, eher auf ein bestimmtes Feld, als auf den ganzen
sozialen Raum bezogenen, normativen bzw. ‚moralischen’ Bereichs der Ökonomie der Praxis. Diese
Machtmittel dienen sowohl dazu den normativen Gehalt der am eigenen Interesse orientierten
Dispositionen innerhalb des eigenen Aktionsfeldes zu verallgemeinern, wie sie auch umgekehrt die
symbolische Legitimation dafür eröffnen, den verallgemeinerten - ‚legalkapitalistischen’ - Normbefehl
gemäß einer Bewertung nach feldspezifischer wie situativer ‚Angemessenheit’ zu modulieren (vgl.
Karstedt 1999a: 100 ff).
Moralisches Kapital wirkt demnach nicht als kollektive Ressource - wie etwa bei Fragen des
‚moralischen Zustands’ oder der ‚moralischen Qualität’ einer Gesellschaft - sondern als das, was Hirsch
(1977) ein ‚positional good’ nennt. Wenn die eigene praxislogische ‚Strategie’ durch moralisches
Kapital legitimiert werden kann - bzw. andere Strategien korrespondierend delegitmiert werden
können -, dann erfährt moralisches Kapital seinen Wert nicht in erster Linie dadurch, dass ein Akteur
überhaupt darüber verfügt, sondern vor allem durch das Ausmaß in dem er über ‚mehr’ moralisches
Kapital verfügt als andere Akteure. Je stärker sich das Verfügen über ‚moralisches’ Kapital - nämliches
gilt ceteris paribus auch für soziales Kapital - zwischen den Akteuren angleicht, desto geringer wird
sein Wert als Kapital (vergleichsweise unabhängig davon auf welchem Niveau sich diese Angleichung
Siehe zur Diskussion vor allem das ‚special issue’ zur Beziehung von Emotionen, Kriminalität, Kontrolle und Bestrafung der
Zeitschrift ‚Theoretical Criminology’ (3/2002)
82
66
vollzieht). Als ein solches ‚positional good’ ist moralisches Kapital ein Machtmittel, das eine Art
symbolische Regulation praktischer ‚Strategien’ erlaubt, in dem es die Erfolg versprechenden
‚Spielzüge’ des je eigenen ‚Spiels’ legitimiert, als ‚angemessen’ durchsetzt und damit die praktische
‚Verwertbarkeit’ sicherstellt. Gleichzeitig ist es ein Machtmittel um andere ‚Spielzüge’ zu delegitimieren
und ihre Ergebnisse als ‚unrechtmäßige Vorteile’ darzustellen. D.h. ‚moralisches Kapital’ ist ein
Machtmittel um das eigene Spiel durchzusetzen und die ‚Spielzüge’, die der eigenen praktischen
Strategie zuwiderlaufen sowohl einzuschränken, als auch die Profite, die sich aus diesem Spielzügen
ergeben, zu entwerten bzw. auf die symbolische Ebene der Feldstrukturen so einzuwirken, dass sie
schlicht ‚wertlos’ sind.
Aber selbst wenn moralisches Kapital in diesem Sinn als Machtmittel betrachtet werden kann, steht
dem nicht entgegen, dass eine kulturell variable Mindestausstattung an inkorporiertem ‚moralischem
Kapital’ als Voraussetzung für konformes Handeln innerhalb gegebener juristischer wie sozio-kultureller
Verkehrsformen erforderlich ist (vgl. Lissenberg 1995). Die ‚Mindestausstattung’ entspräche etwa dem
‚moralischen Wissen’ bei Nunner-Winkler (vgl. 1993) sowie einer zumindest rudimentären Fähigkeit
zum ‚taking the role of the other’ und mithin einer qua Sozialisation inkorporierten Fähigkeit zu einer,
wie auch immer kulturell, historisch und herrschaftsförmig gesetzten, Unterscheidung von ‚gut’ und
‚böse’ sowie einem bestimmten Maß an normativer Selbstkontrolle (vgl. Lissenberg 1995) um in der
Lage zu sein, diese Unterscheidung handlungspraktisch umsetzen zu können. Von möglichen, im
medizinischen Sinne pathologischen, ‚Extremfällen’ abgesehen, ist diese ‚Mindestausstattung’, die
zugleich eine Basis für eine Herausbildung von Identität und relativer Autonomie sozialer Akteure
sowie einer (subjektiven) Sinnhaftigkeit des Handelns darstellt, auch bei ‚Straftätern’ vorhanden83 (vgl.
Sutter et al. 1998, Sykes/Matza 1957, Weyers 2002): Abweichung ist kein Ausdruck eines ‚moralischen
Kretinismus’ und ‚konformes Handeln’ ist unabhängig von der sozialtopologischen Position und den
inkorporierten Dispositionen der einzelnen Akteur prinzipiell möglich. Äußere und verinnerlichte
‚materielle’ und ‚symbolische’ gesellschaftliche Strukturen und Kräfteverhältnisse üben zwar erhebliche
Zwänge (Constraints) aus, aber der einzelne Akteur ist diesen Zwängen keinesfalls einfach als
bewusstlos formbarer ‚Reaktionsdepp’ ausgeliefert (vgl. von Trotha 1977).
Der notwendigen Mindestausstattung an ‚moralischem Kapital’ – zumindest all jener Akteure, denen
nicht der Status von ‚Eremiten’ oder ‚Desperados’ im Sinne Robert K. Mertons (1951) zugeschrieben
werden kann84 - steht nicht entgegen, dass ‚moralisches Kapital keinen bloßen Bewertungsmaßstab
von Praktiken darstellt, sondern ein Kapital im Sinne eines ‚Trumpfs’ in der symbolischen Ökonomie
83 Neuere Forschungen im bundesrepublikanischen Jugendstrafvollzug kommen zu dem Ergebnis, dass der überwiegend auf
‚konventionellen’ moralischem Argumentationsniveau im Sinne Lawrence Kohlbergs argumentieren (WAS-Mittelwert 310),
was etwa dem Argumentationsniveau entspricht, dass die Klassenlage der Probanden erwarten lässt (vgl. Weyers 2002). Die
verbreitete Annahme eines ‚lack of moral sense’ (Winnicott 1965) von Delinquenten ist demnach empirisch nicht aufrecht zu
erhalten. Erstaunlicherweise lässt gerade das konventionelle Argumentationsniveau eine Konformitätsorientierung vermuten.
Es sei wie Jennings, Kilkenny und Kohlberg in den 1980er Jahren argumentieren „an important condition for resisting
delinquent behaviour when personal need or situational forces provide strong incentives for delinquent action“ (Jennings et al.
1983: 316). Dieses moralische Argumentationsniveau im Sinne der kognitiven Psychologie korrespondiert zugleich mit
Bourdieus soziologischer Beobachtung einer ‚Konformitätsorientierung’ in den unteren Klassenmilieus.
84 Dies entspreche etwa dem Extrem jenes ‚Anpassungstypen’, den Merton (1951: 142) als ‚sozialen Rückzug’ bezeichnet,
und von dem er behauptet, er sei am wenigsten verbreitet und würde eine Entität bezeichnen, die zwar zur Bevölkerung aber
nicht zur im engeren Sinne zur Gesellschaft gehören.
67
der Felder. Das Verfügen über moralisches Kapital verweist – um es nochmals zu betonen - weniger
auf die ‚Moralität’ des Einzelnen, sondern auf ein Machtmittel, das, als Variante symbolischen Kapitals,
die normative Legitimität eigener Praxisformen darzustellen und zu sichern in der Lage ist und als
Machtmittel zur Einwirkung auf den Common Sense in den sozialen Feldern, die Profitchancen der
anderen, in diesen Felder eingesetzten, Kapitalarten erhöht.
Kulturell willkürliche Ordnungsvorstellungen, Handlungsmaxime, Werthaltungen und Werthierarchien
etc. können durch ihre Ausstattung mit moralischem Kapital in ihrer praxisökonomischen Redundanz
zu spezifischen Praxisformen ‚verschleiert’ werden. ‚Verschleierung’ meint hier, dass feldspezifische
Partikularinteressen als moralisch gültige, natürliche und nichthinterfragbare Wahrheiten durchgesetzt
werden. Da die relativ autonomen – d.h. zugleich relativ interdependenten - sozialen Felder im Sinne
Bourdieus keine geschlossenen ‚autopoietische Systeme’ (Maturana/Varela 1984, Luhmann 1987)
darstellen, steht dem nicht entgegen, dass die ‚Gültigkeit’ des ‚moralischen Kapitals’ in einem sozialen
Feld in der Regel als strukturhomologe, praktische Metapher zu einem gewissen Grad auf andere
Felder übertragbar ist. Jedoch verweist ‚moralisches Kapital’ als ‚Kapital’ auf die Notwendigkeit einer
praxislogischen Passung zu dem Feld, in dem es als Machtmittel wirkt. Somit wirkt ‚moralisches Kapital’
weniger im Sinne einer ‚universellen’ Moral auf der Makroebene, als vielmehr wie eine „situations- und
kontextadäquate[…] (Kontroll-)Moral auf der Mikro- und Mesoebene” (Lindenberg/Schmidt-Semisch
1995: 8). D.h. moralisches Kapital bezieht sich weniger auf eine einheitliche Moral oder Ethikform für
das gesamte gesellschaftliche System, als auf die Ökonomie der Praxis in den einzelnen relativ
autonomen sozialen Feldern. Dort fungiert es als lebensweltlicher, auf einem Alltagsbewusstsein
basierter Sanktionsmechanismus (Rauschenbach 1999: 132 f).
Der Idealfall ‚moral-kapitalistischer’ sozialer Kontrolle ist dabei die Schaffung feldspezifischer
(Praxis)Strukturen, die gewährleisten, dass gerade jene Handlungsstrategien, die auf feldspezifisch
wirksamem, ‚moralischen Kapital’ basieren - und möglichst nur diese - in einer legitimen Weise
Aussicht auf Erfolg, bzw. Profit haben dürfen. In diesem Sinne ist moralisches Kapital für all jene, die
in das dazu passende Feld eintraten, nicht nur praxislogisch verbindlich, sondern für die, die über ein
möglichst
hohes
Maß
an
feldspezifisch
‚passendem’
moralischen
Kapital
verfügen
auch
praxisökonomisch ‚profitabel’. Wenn der Inhalt und die Art und Weise ‚meiner’ Praxis, dem Inhalt und
der Art und Weise jener Praxisformen entspricht, die einen in normativer Hinsicht imperativen
Charakter für alle anderen Akteure haben, stellt dies ohne Zweifel einen ‚praxisökonomischen’ Vorteil
gegenüber all jenen Akteuren dar, für die dies nicht im gleichen Maße gilt85. Es gibt in diesem Sinne
seitens der Träger ‚moralischen Kapitals’ ein ökonomisches Interesse an der Durchsetzung und
Verbindlichkeit einer der eigenen Handlungslogik entsprechenden ‚Moral’, deren Gültigkeitsanspruch
sich vor allem auf das Feld ihrer Genese bezieht. Dieses ‚strategische’ Interesse, indem ‚Moral’ zu
einem ‚Kapital’ wird, zeigt sich beispielsweise daran, dass das Kleinbürgertum
„obgleich es gewöhnlich viel strenger auf die Einhaltung von Sitte und Anstand achtet als die anderen Klassen
(insbesondere bei allem was die Erziehung der Kinder, ihre Leistungen, ihren Umgang […] usw. angeht) […sich] –
Etwas überspitzt könnte man sagen, dass - auch wenn es hier nicht um moralisches, sondern um legales Kapital geht beispielsweise die Rechtssetzungsprozesse in Silvio Berlusconis Italien augenscheinlich im Verdacht stehen, Herrn
Berlusconi genau solche ‚praxisökonomischen’ Vorteile zu verschaffen.
85
68
ohne dass darin ein Widerspruch gesehen wird – in bestimmten Fällen sehr viel weniger sittenstreng zeig[t], als es der
herrschenden Moral entspricht, weniger streng auch als die am stärksten auf diese Moral bedachte Fraktion der
herrschenden Klasse, nämlich immer dann, wenn die verurteilten Praxen […] dem Aufstieg dienen.” (Bourdieu et al.
1981: 185, vgl. auch Vester et al. 2001)
Dieses Interesse schlägt sich deutlich im ‚politischen Feld’ nieder. Wie Sidney Verba et al. (1995) in
ihrer Studie über ‚Voice and Equality’ zeigen, besteht für sozial, kulturell und ökonomisch Privilegierte
nicht nur eine wesentlich höhere Wahrscheinlichkeit politisch gehört zu werden und ihre Sicht der Welt
einzubringen und durchzusetzen (vgl. auch Bourdieu 2001b), sondern auch ihre politischen
Thematiken unterscheiden sich deutlich von denen der unteren Klassen. Falls sie sich überhaupt
politisch artikulieren, fokussieren beispielsweise (US amerikanische) Wohlfahrtsrezipienten vier mal
häufiger als der Durchschnitt basale materiellere Bedürfnisse wie Fragen von Wohnen, Gesundheit und
materielle Absicherungen86 (vgl. auch Matheson/Wearing 1999). Die Themen der eher Bevorteilten
kreisen fast ebenso eindeutig um zwei Aspekte. Zum einen um ökonomische Fragen, zum anderen und dies ist die moralkapitaltheoretische Pointe - um sozio-moralische Angelegenheiten, wie
beispielsweise Abtreibung, Pornographie und ‚anständige Lebensführung’ etc (Verba et al. 1995).
Zugleich
werden
auf
der
Basis
des
‚moralischen
Kapitals’
die
materiell
und
symbolisch
‚Unterprivilegierten’ „durch eine unsichtbare Grenzlinie von der respektablen Mitte getrennt, die
gemeinhin als Linie der Respektabilität bezeichnet wird“ (Vester et al. 2001: 245). Diese Formen des
‚moralkapitalbasierten’, habituellen ‚Ethos’ sind empirisch vor allem für die ‚aufstiegsorientierten
Milieus’ des ‚modernen Mainstreams’ sowie die Klassenmilieus des ‚traditionellen Mainstreams’
charakteristisch (vgl. Köhler 2001, Vester et al. 2001), d.h. jenen ‚respektablen’ Gruppen, die an ihrem
‚unteren’ Ende den ‚Unrespektablen’ sozialtopologisch am nächsten stehen. Folgt man den
Ausführungen Bourdieus, dient der Lebensstil der unteren Klassen, vor allem für das Kleinbürgertum
als ‚Negativfolie’, auf die man sich nur bezieht, um sich symbolisch davon abzusetzen (vgl. Bourdieu
1982, Krais/Gebauer 2002, Vester et al. 2001, Weiß et al. 2001). Die symbolische Grenzziehung über
‚moralisches Kapital’ ist dabei in ihren praxislogischen Auswirkungen oft nicht weniger rigide, als eine
Grenzziehung durch ‚legales Kapital’. Mehr noch sind diese moralkapitalbasierten Grenzziehungen von
Respektabilität und Unrespektabilität häufig selbst die gesellschaftliche Basis für die Etablierung
strafjustizieller Grenzziehungen. Es ist empirisch weitgehend unstrittig, dass es
„weniger die herrschenden Klassen, bzw. ökonomisch und politisch einflussreiche Eliten sind, die ihre Positionen
bedroht sehen und sie mittels des Strafrechts erhalten oder restaurieren wollen, als dass vielmehr der politische
Druck seitens der Mittelschichten […] zur Eskalation von strafrechtlichen Kontrollen führen kann” (Karstedt 1996:
48, vgl. Hagan 1993, Waldmann 1979)
Während – zumindest in ‚entwickelten’ Gesellschaften - wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische
Führungsgruppen ihre Macht- und Ressourcenkämpfe in der Regel - schon „außerhalb des Politikfeldes
Strafrecht austragen“ (Waldmann 1979: 112), sind es insbesondere die normativen Abgrenzungen der
unteren und absteigenden Mittelklassen, die vor dem Hintergrund von Gefühlen der ökonomischen
In einer internationalen Vergleichstudie in Australien, West-Deutschland, Norwegen und den Vereinigten Staaten, zeigen
die Daten von Matheson und Wearing (1999: 145) deutlich auf, dass „the unemployed across the four countries are having
the strongest opinions of all labour force categories on state intervention on employment, basic incomes and a progressive
tax: fundamentally strongly supportive of increased public spending on welfare and greater levels of state intervention to
secure incomes and jobs”.
86
69
Unsicherheit und Identitätskrisen, als Teil des Versuchs, den Anschluss und die Zugehörigkeit an den
respektablen Teil der Gesellschaft nicht zu verlieren, auf der Ebene des Symbolismus die eigene
moralische Selbstbeschränkung vorantreiben und den Anspruch auf symbolische Legitimität der
eigenen Praxis durch die moralische Degradierung der unteren und untersten Klassen zusätzlich
verdeutlichen (vgl. Young 2001: 200f). So führt Svend Ranulf bereits 1938 aus, dass
„[d]ie unvoreingenommen erscheinenden Bemühungen, Strafe auszusprechen […] bezeichnende Charakteristika
der unteren Mittelschicht [seien], das heißt einer sozialen Schicht, die unter Bedingungen lebt, die ihre
Mitgliedern in außergewöhnlich hohem Maße zu Einschränkungen zwingt und sie so einer hohen Frustration
natürlicher Bedürfnisse aussetzt” (Ranulf 1964: 198, Young 2001: 201)
Auch die Untersuchungen von Sigfried Lamnek (2000) über ‚soziale Devianz’ können als eine implizite
Bestätigung der These einer geringeren ‚moralischen’ Delegitimierung von Praktiken betrachtet
werden, die mit ‚objektiven’ Interessen des kleinbürgerlichen Klassenmilieus in Verbindung stehen. So
werden Fragen von ‚Steuerhinterziehung’ und ‚Schwarzarbeit’ - eine Form der Devianz, die in den
eingebrachten Leistungen ihren Ausgang findet - in der Regel als weit weniger verwerflich betrachtet
als ‚Sozialhilfebetrug’ - eine Form von Devianz, die in eingeforderten Rechten von eher subdominanten
Gruppen ihren Ausgang findet.
Moralisches Kapital ist also nicht nur ein Machtmittel zur Normsetzung und Normdurchsetzung,
sondern auch ein Instrument der ‚lebensweltlichen’ Legitimierung der je eigenen Handlungsweise und
damit zugleich der Abwehr bzw. Neutralisierung von Kriminalisierungsversuchen (zumindest insofern
sie mit einer moralischen Degradierung verbunden wären). In diesem Kontext kann auch davon
ausgegangen werden, dass es soziale Ungleichheit auf einer materiellen und symbolischen Ebene ist,
die die Eliten vor Kriminalisierung schützt, nämlich vor allem dadurch, dass ihre positional exklusiven
Stellungen die
„Voraussetzungen für die Delegitimierung von Normen, neutralisierende Legitimationsstrategien oder die Dehnung
von Werten [darstellen, die…] keineswegs nur typisch für eine ‚Subkultur der Armut’ (vgl. Miller 1971) sind: Eliten
können sich eben in jeder Hinsicht mehr erlauben als der Rest der Gesellschaft“ (Karstedt 2001f: 127).
In diesem Sinne hat ‚moralisches Kapital’ zwei Funktionen: Zum einen ist es ein legitimatorisches,
symbolisches Machtmittel der eigenen feldspezifischen Strategien. Zugleich ist es durch den Gebrauch
‚moralischen Kapitals’ möglich, die in ‚pluralisierten’ Klassengesellschaften per se erweiterten Zugänge
in verschiedenen gesellschaftlichen Felder und in diversen (sub)kulturellen Verortungen, insbesondere
gegenüber subhegemonialen Gruppen, an praxislogisch implizite, gleichwohl aber durchaus rigide
‚Konformitätskontrollen’ zu koppeln, die sich nicht nur an Fragen der Legalität, sondern vor allem auch
nach den dominanten, kontextual und sektoral symbolisch durchgesetzten, partikularen Standards
innerhalb dieser Felder und Gruppen bemessen.
Unterteilt man die Organisation des Zusammenhalts gesellschaftlicher Formationen idealtypisch in eher
(rechts)staatlich-legalistische und eher zivilgesellschaftlich-kommunitaristisch basierte Formen, so
besitzt ‚moralisches Kapital’ in der zweiten Variante eine ungleich bedeutsamere Stellung. Dies führt
dazu, dass sich – wie im Verlauf dieser Arbeit noch eingehend verdeutlicht wird - gerade in
fortgeschritten liberalen Gesellschaften „die Definition abweichenden Verhaltens zusehends von klaren
strafrechtlichen Normen ab[koppeln und …] sich stärker an eher diffusen Vorstellungen von sozialer
Normalität” (Kreissl 1997: 536) orientieren. Denn ‚moralisches Kapital’ bezieht sich nur mittelbar auf
70
die, dem Begriff nach allgemeinverbindlich gefasst Frage der Legalität, aber unmittelbar auf die
kontextuale, sektorale und feldspezifisch partikulare Frage der Legitimität einer Praxisform.
Unmittelbarer als in Prozessen formaler Kriminalisierung, ist moralisches Kapital bei Prozessen
praktischer Delegitimierungen wirksam und ‚vernünftig’: nämlich für das aufstiegsorientierte
Kleinbürgertum in seiner Orientierung nach ‚oben’ und – vor allem vor dem Hintergrund einer
weitreichenden Prekarisierung (vgl. Bourdieu 1998a) sozialer Positionen -
für das im Abstieg
begriffene Kleinbürgertum in seiner Abgrenzung und seinem symbolischen Statuserhalt nach unten.
Während es auch im Kontext einer formalen Kriminalisierung, vermittelt über die „macht- und
interessengestützte Politik kollektiver Akteure, ihre politischen Ressourcen und institutionalisierten
Handlungsmöglichkeiten” (Groenemeyer 1999: 66,) ungleiche Möglichkeiten der Einflussnahme auf die
staatlichen
Zentren
der
Macht
gibt,
hat
die
in
modernen
Rechtsstaaten
einigermaßen
formaldemokratisch legitimierte Monopolisierung symbolischer Macht und der mit der staatlichen
Enteignung von Konflikten (vgl. Christie 1977) verbundene Vorrang des Rechts vor der Moral, bei aller
Interessen- und Machtabhängigkeit des (Straf)Rechts im einzelnen, für die subdominanten Gruppen
nicht nur eine ‚unterdrückende’, sondern auch eine nicht zu unterschätzende schützende Funktion.
Legales Kapital ist zwar – in Bezug auf seine Exekutierung - ein staatlich monopolisiertes Machtmittel,
aber zugleich ein kollektives Gut, das sich auf der Seite der Akteure in Form von verbürgten Rechten
realisiert.
Es sind entsprechend auch weniger die ‚alltäglichen’ Prozesse informeller Sozialkontrolle, die ohne den
,moralischen Überschuss’ bzw. die ,moralische Degradierung’ auskommen, die für das Strafrecht
(tatsächlich oder vermeintlich) kennzeichnend sind (Cremer-Schäfer/Stehr 1993, kritisch: Karstedt
1995),
sondern
umgekehrt
sorgt
das
monopolisierte
und
universalisierte
‚legale
Kapital’
rechtsstaatlicher Demokratien - unabhängig von seiner ‚absichtsvollen Zufügung von Leid’ (vgl. Christie
1986) und seiner Feststellung von ‚Schuld’, (die ohne Zweifel ein ethischer Makel ist vgl. von Hirsch
1996) - für eine relative ‚Entmoralisierung’ des (prozessualen) Umgangs mit Non-Konformität (vgl.
bereits Nietzsche 1999 [1887]). Für diesen ,Mangel’ z.B. an gemeinschaftsfördernden Ritualen und an
Erzeugung von Scham und Reue – einem Kerngehalt der Reaktion auf Verstöße gegen moralische
Imperative (Tugendhat 1993) - auf Seiten des Täters, ist das Strafrecht schließlich auch kritisiert
worden (vgl. Braithwaite 1989).
Die Rationalisierung, Systematisierung, Prozeduralisierung und Professionalisierung des Umgangs mit
Abweichung auf der Basis von legalem Kapital, sorgt zumindest im Vergleich zum spontanen, nicht
formal geregelten, ‚lebensweltlichen’ Umgang mit Non-Konformität, ‚Un-Moralität’, Schädigung und
Handlungsweisen, die den eigenen Interessen widersprechen, für eine relative Ent-Emotionalisierung.
Eine Zurückdrängung der Emotion durch Recht ist eine der zentralen Beobachtungen Max Webers (vgl.
1980). Wenn Recht überhaupt Moral reflektiert, so kann diese, aufgrund der Konstitutions- und
Geltungsbedingen des Rechts87, logisch nur als eine ‚kontraktualistische Moral’ verstanden und
wirksam werden. Im Hinblick auf eine solche ‚kontraktualistische Moral’ lässt sich argumentieren, dass
87
D.h. nicht zwangsläufig aufgrund des Charakters dieser Moral selbst.
71
der Raum der ‚Moralisierungen’ systematisch zugedacht wird verhältnismäßig gering ist. Der Philosoph
Ernst Tugendhat spricht davon, dass eine
„Verpflichtung innerhalb dieses Systems [… kontraktualistischer Moral] nur durch äußere Sanktionen
aufrechterhalten [wird. E]ntsprechend beruht es nicht auf einer Bewertung […,die mit den] Wörter[n] ‚gut’ und
‚schlecht’ [… vorgenommen wird], und es gibt keinen Raum für Empörung (oder Scham)“ (Tugendhat 1993: 44).
Dieses Argument ist freilich eher systematisch als empirisch stichhaltig. So kann davon ausgegangen
werden, dass Emotionen auch in den formalisierten Prozessen eine beachtliche Rolle zukommt (vgl.
Karstedt 2002) und vor allem zeitgenössisch international von einer deutlichen – wenngleich
widersprüchlichen - Tendenz zu einer ,re-emotionalization of law’ gesprochen werden kann (vgl.
Laster/O’Malley 1996). Gleichwohl ist die relative Ent-Moralisierung in der Beurteilung von Abweichung
durch das legale Kapital des (Straf-)Rechts nicht zuletzt dem Moment der ‚Ent-Emotionaliserung’
geschuldet. Wie Susanne Karstedt (2002:306) argumentiert, sind Emotionen, bzw. genauer ‚moral
sentiments’, „neither constitutive nor a motivation for moral action, but are attached to a moral
principle and judgement (see Nunner-Winkler, 1998). This is essentially the position of Durkheim, that
strong moral sentiments indicate strong moral norms, and reinforce these norms following their
violation.”
Tatsächlich sind es vor allem die Arbeiten Emile Durkheims, auf deren Basis sich argumentieren lässt,
dass das Maß, in dem in dem in dem Abweichung vor allem moralkapitalbasierte Gruppennormen
reflektiert, die Varianz und Bandbreite tolerierter Handlungen sowie die Reaktion auf die Unterbietung
symbolischer Standards eng zusammenhängen. So fragwürdig die von Durkheim (1977) vertretene
These von einer tendenziellen Ablösung eines repressiven und moralisch expressiven (Straf)Rechts
segmentärer Gesellschaften durch ein primär resititutives (Straf)Recht in arbeitsteilig ausdifferenzieren
Gesellschaften im einzelnen auch empirisch sein mag, in einem zentralen Punkt weist sie bestechend
scharf in die richtige Richtung: Wenn es – wie in Durkheims Rede von segmentären Gesellschaften –
darum geht Ordnungsbildung und Integration über einen ‚segmentären’ Common Sense im Sinne
gemeinsam geteilter Werte, Glaubensvorstellungen, Perspektiven, Beurteilungsschemata etc. zu
erzeugen, dann tendiert die Reaktion auf Non-Konformität, d.h. auf die Abweichung von diesem
Common Sense, dazu, die moralischen Grenzen der Gemeinschaft expressiv zu symbolisieren (vgl.
Groenemeyer 2001). Diese Voraussetzung ist in modernen Gesellschaften im Falle einer Unterbietung
feldspezifischer Normen, die auf moralischem Kapital basieren, der Tendenz nach deutlicher gegeben,
als im Falle einer Unterbietung von Normen, die auf legalem Kapital basieren und über verschiedene
Felder und Akteure hinweg auf die gesamte, ausdifferenzierte Gesellschaft hinweg universalisiert
werden. Es lässt sich demnach argumentieren, dass eine Aufwertung ‚moralischen Kapitals’ gegenüber
dem ‚legalen Kapital’ der Tendenz nach zu einer schärferen Reaktion auf Abweichung führt. Die
Stärkung einer ‚dezentralisierten’ ‚Gemeinschaftsorientierungen’ von Institutionen und ein stärkerer
Gebrauch des Strafrechts stellen demnach keinesfalls einen Widerspruch dar – im Gegenteil.
Darüber hinaus begrenzt eine institutionalisierte Verallgemeinerung durch legales Kapital zugleich das
Maß, in dem sich die Definition abweichenden Verhaltens und sozialer Probleme direkt an diffusen,
willkürlichen, partikularen, (klassen-)interessegebundenen, sektoral hegemonialen Vorstellungen des
Guten, Richtigen, Angemessenen und Normalen orientierten kann.
72
Dabei ist anzunehmen, dass keinesfalls alle, wohl aber die Mehrheit der Handlungen, die durch legales
Kapital entlizenziert sind, in der Mehrheit der Felder auch durch moralisches Kapital delegitimiert sind.
Andererseits ist anzunehmen, dass insgesamt wesentlich mehr Praxisweisen zumindest in einzelnen
Feldern durch moralisches Kapital delegitimiert sind als durch legales Kapital ent-lizenziert bzw.
verboten sind. Je stärker sich ‚Kontrolle’ an feldspezifischem ‚moralischem Kapital’ ausrichtet, so lässt
sich dann argumentieren, desto mehr – im Prinzip nicht verbotene – Handlungen geraten in den Fokus
sozialer Kontrolle, während zumindest ein Teil der im legalen Sinne untersagten Handlungen aus dem
Kontrollfokus rückt.
Gleichzeitig ist davon auszugehen, dass sich nicht nur das Strafrecht, sondern vor allem auch ein
praxislogisch wirksames und moralkapitalbasiertes Konzept der Devianz in Form habitusbezogener
Delegitimierungen in erster Line gegen relational subdominante und marginalisierte Gruppen richtet.
Wenn ‚moralisches Kapital’ ein feldspezifisches Machtmittel ist, das zur Legitimation der eigenen
‚Spielzüge’ zur Verbesserung der eigenen positionalen Stellung und zur Abgrenzung nach ‚unten’ im
Sinne einer Delegitimierung subdominanter Praxisformen verwendet wird, so erscheint es auf dieser
Basis möglich, die ‚Armutsthese’ der klassischen, ‚ätiologischen’ Ansätze in der Kriminologie – d.h. die
These eines ein mehr oder weniger direkten Zusammenhangs von Armut bzw. Marginalität und
Abweichung (kritisch: Lindenberg/Kunstreich 1997) – zu reinterpretieren.
Empirische Befunde sprechen zwar dafür, dass es einen Zusammenhang Armut und Abweichung gibt.
Nur ist dieser deliktspezifisch (vgl. Kelly 2000) und dabei keinesfalls immer nur positiv - wie etwa im
Falle bestimmter Gewaltdelikte (vgl. Baily 1984, Braithwaite 1979, Blau/Blau 1982, Messner 1989,
Pfeiffer/Ohlemacher 1995, Krivo/Peterson 1996, zusammenfassend: Crutchfield/Wadsworth 2002) -,
sondern - wie etwa im Falle bestimmter Eigentumsdelikte - auch durchaus negativ (vgl. Karstedt 1996,
Hagan 1988, Felson 1998, Ruggiero 2001).
Was sich demgegenüber jedoch eindeutig feststellen lässt ist ein deutlicher und positiver
Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher Heterogenisierung und einem „Zuwachs der per PKS
[Polizeiliche Kriminalstatistik] gemessenen Kriminalität“ (Ohlemacher 2000: 222) insgesamt. So besteht
eine zentrale Erkenntnis, die aus der Korrelation aggregierter sozialer und ökonomischer Faktoren und
Abweichung gewonnen werden kann, darin, dass Gesellschaften, die sich durch die höchsten Ausmaße
sozialer Ungleichheit - ‚relative Deprivation’ – auszeichnen88, ceteris paribus der Tendenz nach auch
durch die höchsten ‚offiziellen’ – d.h. registrierten – Gesamtraten von Kriminalität und Abweichung
gekennzeichnet sind (vgl. UN World Crime Report 1999, European Crime Prevention Sourcebook 2001,
Currie 1997, Downes/Rock 1998, Hope 2001, Lea/Young 1996).
Vor dem Hintergrund dieser sich scheinbar widersprechender Daten ist die Annahme plausibl, dass
„the significance of inequality as a determinant of crime […] may be due to unobserved factors
affecting simultaneously inequality and crime rather than to some causal relationship between these
two variables” (Bourguignon 1998: 2). Dabei lässt sich der Widerspruch eines insgesamt sehr mäßigen
und eher deliktspezifischen und qualitativen statt unspezifischem und quantitativen, kausalen
Zusammenhangs zwischen der Schichtzugehörigkeit, Armut, Arbeitslosigkeit und der ‚Kriminalität’ der
88
Es sind also weniger die Gesellschaften mit einem niedrigen Pro-Kopf Einkommen, Bildungsstand etc. (vgl. UN 1999)
73
Akteure (vgl. Hagan 1993, Albrecht/Howe 1992, Land et al. 1995, Kleck/Chiricos 2002, Schumann et
al. 2003) und dem relativ deutlichen Zusammenhang von sozialer Ungleichheit und der
Gesamtkriminalitätsrate dann aufhellen, wenn eine Analyse nicht nur auf unterschiedliche
Lebenslagen, Schichtungen und topologische Statusordnungen zielt, sondern vor allem die damit
verknüpften, je feldspezifischen Machtbeziehungen und symbolischen Kräfteverhältnisse – inklusive der
Kontrollstrukturen und der Möglichkeit der ‚Abwehr’- und modifikativer Beeinflussung der Reaktionen
auf die Unterbietung legal- wie moralkapitalbasierter Verhaltensimperative - systematisch beachtet
werden (vgl. Hagan 1988, Karstedt 1996, Ruggiero 2001, Schumann 2002).
Der Zusammenhänge von Armut bzw. Subdominanz und (der Reaktion auf )Abweichung erscheint
dann weniger widersprüchlich, wenn in Betracht gezogenen wird, dass die Problematisierung von und
Reaktion auf Abweichung nicht zuletzt das Maß fokussiert, in dem eine praxislogische Inkorporierung
eines spezifischen Habitus – und die Form seiner handlungspraktischen Realisierung – sowie die
Ausstattung
mit
‚symbolischen
Ressourcen’
mit
den
Regelmäßigkeiten,
symbolischen
Gültigkeitsansprüchen und den Modi der Durchsetzung dieser Geltungsansprüche in einer (feld-)
spezifischen
Praxis
korrespondiert.
Während
demnach
die
Unterstellung
eines
geradlinigen
Zusammenhangs von Schicht und Devianz der Tendenz nach eher irreführend als erhellend ist, kann,
wie Susanne Karstedt (1996), in ihrem Versuch um eine ‚kritische Ätiologie’ der Abweichung in
Anlehnung an die ‚control-power-theory’ Hagans (vgl. 1988) ausführt, von einem wesentlich stärkeren
Zusammenhang zwischen der Varianz von Devianzraten und dem eigenen Status teils klassenförmig,
teils idiosynkratisch bestimmter ‚sozialen Milieus’ ausgegangen werden. Die Binnenstruktur der
materiellen und symbolischen Lebenslagen und ‚sozio-moralischen’ ‚Klassenmilieus’ (vgl. Vester et al.
2001) sind dabei wesentliche Momente für die Herausbildung eines, der sozio-ökonomischen Lage
bzw. der Klasse entsprechenden feld- und klassen- bzw. klassenmilieuspezifischen ‚Kontrollhabitus’,
der maßgeblich ist für das Ausmaß, die Art und die ‚Effektivität’, in dem Abweichungen – der Akteure
unterschiedlicher Gruppen - gemäß der praktisch-symbolischen Logiken der Felder bearbeitet bzw. an
formelle Instanzen überstellt werden. Der ‚Kontrollhabitus’ bezeichnet demnach die
„Praxis der Normdurchsetzung unter je spezifischen Macht- und Herrschaftsbeziehungen. Der
Erfahrungszusammenhang innerhalb eines sozialen Milieus produziert dann eben auch […die in diesem Falle
feld]spezifischen Kontrollstile. Entsprechend variiert der Kontrollhabitus nicht alleine mit der hierarchischen
gesellschaftlichen Gliederung sondern ebenso mit horizontaler Differenzierung […]. Auf diese Weise ergeben sich
Unterschiede in den Kriminalitätsbelastungen der verschiedenen Minoritäten“ (Karstedt 1996: 63)
Diese Unterschiede sind entsprechend ein Merkmal und Produkt der den strukturellen sozialen
Positionierungen entspringenden (feld)spezifischen Machtrelationen und - diese reflektierend - der
Herstellung symbolisch stabilisierter, sozialer Regelmäßigkeiten und Regulationsversuche innerhalb
feldspezifischer Kräfteverhältnisse.
II. 3
DELEGITIMIERTE DISPOSITIONEN, ‚DAS SOZIALE’ UND DIE JUGENDHILFE
Während das ‚Konzept der Kriminalität’ für die Problembearbeitungsrationalität der Jugendhilfe
durchaus Relevanz besitzt, kann davon ausgegangen werden, dass das ‚Konzept der Devianz’ und die
damit einhergehende Frage einer Delegitimation von Habitus für die Interventionslogiken der
74
Jugendhilfe - als eine nicht primär in Relation zum Strafrecht verfasste Institution - eine ungleich
gewichtigere handlungspraktische Bedeutung besitzt. Im weitesten Sinne stellen ‚deviante’ Akteure aus
der Perspektive Sozialer Arbeit einen möglichen Fall jener ‚Schattenseiten’ gesellschaftlich
einflussreicher Ordnungsentwürfe dar (vgl. Baumann 1995, Mollenhauer 1994), mit dem sich auch die
Jugendhilfe
als
eine mögliche Antwort auf „Problem[e] der Lebensführung in modernen
Gesellschaften“ (Scherr 2002: 35) und mit Blick auf die Gefahr des ‚Misslingens’ einer Sozialisation in
einer gesellschaftlich oder persönlich befriedigenden Form befasst89 (vgl. Giesecke 1991).
Das Vorgehen der Jugendhilfe erfolgt dabei in einer Weise, die sich „nach Aufgaben der materiellen
Lebenshilfen, der sozialen Erziehung und Bildung im Allgemeinen und nach einer kompensatorischen
Erziehung, Beratung und sozialen Therapie in besonderen Mängel- und Notlagen zusammenfassen
[lässt]” (Dewe/Otto 1996: 15). Die Jugendhilfe selbst erscheint also als ein Moment der öffentlichen
Gestaltung von Lebensformen (vgl. Otto/Karsten 1996: 10), die als eine spezifische Form der „Führung
von Menschen“ (vgl. Lemke et al 2000: 10) mittels einer generativen Koordinierung von Selbst- und
Fremdführungsweisen - „conduct of conduct“ (Foucault 1980: 119) - im Entwicklungsprozess
vergesellschafteter Subjekte verstanden werden kann.
Jugendhilfe ist in so fern als eine (mögliche) Form dessen, was Michel Foucault als ‚Regierung’
thematisiert (dazu: Kessl 2003, Kessl/Otto 2003, Kessl/Ziegler 2003, Ziegler 2003).
Wenn Foucault (1993a: 203) von Regierung - als einer Technologie der Macht spricht - hat er vor
allem den „contact point” im Blick „where the individuals are driven by others is tied to the way they
conduct themselves”. Ein solcher Begriff der Regierung bezieht sich daher nicht nur auf
„political structures or to the management of states; rather, it designate[s] the way in which the conduct of individuals
or of groups might be directed - the government of children, of souls, of communities, of families, of the sick. It
cover[s] not only the legitimately constituted forms of political or economic subjection but also modes of action,
more or less considered and calculated, that […are] destined to act upon the possibilities of action of other people.
To govern in this sense, is to structure the possible field of action of others” (Foucault zit. nach Simon 2002: 7f)
Dieser
Regierungsbegriff
reduziert
sich
demnach
nicht
auf
Fragen
institutionalisierter
Herrschaftsformen moderner Staatlichkeit, sondern bezieht sich auf „die unterschiedlichsten Formen
der Führung von Menschen“ (Lemke/Krasmann/Bröckling 2000: 10) und Einflussnahmen auf die
Selbststeuerung der Akteure, die von staatlichen Zwangs- über ideologische ‚Apparate’ (vgl. Althusser
1977) bis hin zu den ‚Selbsttechnologien’ (vgl. Lemke 2002) reichen und demnach die „Gesamtheit
der Institutionen und Praktiken [… und] von Prozeduren, Techniken, [und] Methoden, […] von der
Verwaltung bis zur Erziehung […umschließt,] mittels deren man die Menschen lenkt […und] welche die
Lenkung der Menschen untereinander gewährleisten“ (Foucault 1996b: 119).
Mit einem Verständnis von Jugendhilfe als ‚Regierung’ ist eine Regierungsform in der Blick genommen,
die gerade nicht auf ‚totale’ Kontrolle und Unterwerfung zielt, sondern, mit Bourdieu gesprochen, auf
positionale, dispositionale und symbolische Strukturierung des Möglichkeitsraums ‚regierter’ Akteure.
Dabei entspricht es der spezifischen ‚Regierungsrationalität’ der Jugendhilfe sich gemäß eines - eher
die feldspezifischen ‚Ökonomien der Praxis’ reflektierenden, als für den gesamten sozialen Raum
In den Worten Hermann Nohls (1963: 11) geht es um „soziale, sittliche und geistige Not“, d.h. positionale wie dispositionale
Aspekte der Lebensführung.
89
75
verbindlich definierten - symbolischen Kriteriums des ‚Gelingens’, auf eine die Logiken der Privatheit
(‚the civil’) und der Öffentlichkeit (‚the civic’) verknüpfenden Form der Lebensführung der
nachwachsenden Generation zu richten. Als Referenzgröße für ein Ge- oder Misslingen dient demnach
nicht ein als gültig typisierter gesellschaftlicher bzw. in ‚legales Kapital’ geronnener, sondern auch der
je feldspezifisch wirksame, durch die Praxis der Akteure selbst konstituierte ‚Common Sense’.
In der Regierungsrationalität der Jugendhilfe, eine gesellschaftlich normalisierende Antwort auf Defizite
und Probleme einer kulturell vermittelten Lebensführungspraxis junger Menschen zu geben (vgl.
Gildemeister 1995, Scherr 2002), stellen symbolisch ‚delegitimierte’ Akteure, die jene gültigen
Referenzgrößen ‚unterboten’ haben, in doppelter Hinsicht typische Adressaten dar:
Als organisierte Hilfe (vgl. Bommes/Scherr 2000: 13) reagiert die Jugendhilfe auf diese Akteure - und
in aller Regel durchaus auch in deren Interesse -, sofern sie je nach ‚professionalisierungstauglicher’
Begründung und Definition (vgl. Peters 1995), bezüglich ihrer gesellschaftlichen Position und ihrer
(mangelnden) Kapazitäten, in dieser Position ‚vernünftige’ Handlungspraxen und Daseinseinsweisen
zu entwickeln90, als ‚hilfsbedürftige’ bzw. ‚wahrscheinlich hilfsbedürftige’ Individuen darstellen.
Jugendhilfe reagiert auf diese ‚Hilfsbedürftigkeit’91 durch den Versuch der „Sicherung, [… und]
Rekonstruktion“ einer solchen Form gesellschaftlich figurierter „Subjektivität dort, wo sie durch
Eigenschaften des nichtgenetischen Erbes gefährdet und beschädigt wurde” (Winkler 1988: 121). In
einer
professionsadäquaten
Deutung
erscheint
die
‚Hilfebedürftigkeit’
von
Akteuren
der
nachwachsenden Generation mithin als der Bedarf an Vermittlung oder Ermöglichung legitimer Formen
sozialer Teilhabe und einer gleichzeitigen Hervorbringung einer dadurch ungefährdeten Form der
‚Identität’. Dies geschieht mittels des Versuchs einer Generierung von Habitus, d.h. als gezielte
Beeinflussung der gesellschaftlich vermittelten ‚Subjektwerdung’ der individuellen Akteure, die als
‚Selbsttechnologien’ des Subjekts (vgl. Foucault 1993) ihrerseits um die mehr oder weniger
permanente Auseinandersetzung hinsichtlich der zahlreichen Aspekte des ‚richtigen’, ‚guten’,
‚erstrebenswerten’ oder ‚gelingenden’ Lebens, als ‚normale’ Lebensweisen und Regelmäßigkeiten der
sozialen Milieus und der gegebenen gesellschaftlichen Formation zirkulieren. Es ist dieser Fokus der
jugendhilfetypischen ‚Regierungsrationalität’, der die Jugendhilfe als eine Instanz sozialer Kontrolle
kennzeichnet, die nicht nur auf eine Unterdrückung von ‚Devianz’ zielt, sondern vor allem auf die
Ermöglichung stabiler Lebensformen (vgl. Fraser 2003, Janowitz 1976, Schluchter 1979, Japp 1985).
Das von der Jugendhilfe im Rekurs auf Fragen der Unterstützung einer ‚gelingenden’ ‚Subjektwerdung’
zu bearbeitende Problem der Einschränkungen sozialer Teilhabemöglichkeiten - im Sinne struktureller
Benachteiligungen in sowie im Sinne einer Verwährung des Zugangs zu praxislogisch relevanten
sozialen Feldern - lässt sich mit einem Mangel ihrer Adressaten an feldspezifisch wirksamen - bzw.
einem Verfügen oder gar Überschuss an ‚falschen’ - materiellem, sozialen, kulturellen und
symbolischen Kapitalen in Verbindung bringen. Diese Mängellagen werden als soziale, bzw. als sozial
induzierte, personale Problemlagen von Sozialpolitik und sozialer Arbeit bearbeitet, sofern sie mit dem
Und das heißt zugleich bezüglich ihrer gesellschaftlich und feldspezifisch realisierten Teilnahme- und faktischen
Teilhabemöglichkeiten.
91 Zum Problem der Bestimmung von ‚Hilfsbedürftigkeit’ siehe Brumlik (1984), Brumlik und Keckeisen (1976)
90
76
besonderen ‚Feld des Sozialen’ (bzw. dem ‚field of welfare’ vgl. Peillon 1998) in Verbindung gebracht
werden.
Dieses durch besondere Institutionen, Logiken, Regelmäßigkeiten und symbolische Gültigkeiten
gekennzeichnete ‚Feld des Sozialen’ ist eng verbunden, wenngleich nicht identisch mit jenem
figurativen Raum den Jacques Donzelot (1980) und Gilles Deleuze (1980) als ‚das Soziale’ bezeichnen.
Während ‚das Soziale’ auf die besonderen ‚Regierungsweisen’ einer bestimmten historischen
gesellschaftlichen Formation verweist, findet sich das ‚Feld des Sozialen’ als ein Feld
„within th[is] broad field of social formation, but it also constitutes a differentiated domain of activity. The
differentiation of the welfare field is manifested by the configuration of agents which operate within it, the resources
which are mobilised, and by the stakes around which struggles develop” (Peillon 1998: 225).
Das ,Feld des Sozialen’ lässt sich demnach als ein relativ autonomes, von anderen Feldern wie etwa
dem der ‚Kriminalitätskontrolle’ unterscheidbares Kampffeld betrachten, das auf die dynamischen
Logiken der Wohlfahrtspraktiken – und die Habitus der Handlungsträger dieser Praktiken - innerhalb
jenes besonderen Raumes verweist, den ‚das Soziale’ beschreibt.
Die Existenz ‚des Sozialen’ ist insofern eine übergreifende makrosoziale Bedingung für das mikrosoziale
‚Feld des Sozialen’.
Dabei ist ‚das Soziale‘ selbst nicht als eine zeitlose Existenzform zu verstehen, die auf die Tatsache
menschlicher Sozialität verweist92. Vielmehr bezeichnet und generiert die strukturierte und
strukturierende Logik des Soziale eine bestimmte Form um in einer spezifischen, historischen
Figuration einer modernen, nachmetaphysischen, regulatorisch bzw. politisch ‚geschaffenen’ Ordnung
menschlichen Zusammenlebens, die
„innerhalb eines eingegrenzten geographischen und zeitlichen […Raums] die Bedingungen, [generiert] unter denen die
intellektuellen, politischen und moralischen Instanzen und Institutionen der Menschen an bestimmten Orten und in
spezifischen Zusammenhängen über ihre gemeinsame Erfahrung nach[denken] und auf sie Einfluss” zu nehmen
(Rose 2000: 75).
‚Das Soziale’ lässt sich in so fern als eine „politische Positivität“ (Ewald 1987: 6) und spezifische
Organisationsform von Gesellschaft (Donzelot 1994) verstehen, die auf die Möglichkeit einer
besonderen, voraussetzungsvollen Rationalität des Regierens über den gesellschaftlichen Raum
verweist.
Auf seiner operativen Wissensebene ist ‚das Soziale’ eine Form des Regierens – eine spezifische
Elaborierung jenes Arrangements von Technologien und Denkweisen, die Foucault als ‚Bio-Politik’
bezeichnet hat (dazu: Hewitt 1983) -, die eng mit dem Aufstieg der Sozialwissenschaften verknüpft ist
(vgl. Evers/Notwotny 1987, Ewald 1993, Wagner 1990).
Vor allem mit der Entwicklung der Sozialstatistik, die einen Einblick in den „objective, scientific
knowledge, part of a world [eröffnet] in which both the social and the natural may be measured,
calculated and therefore predicted” (Kampshall 2003: 7), werden die speziellen Wissensbestände
Es ist nicht zumindest nicht ausschließlich das ,Soziale’ im Sinne der Doppelbedeutung von dem ,Gesellschaftlichen’ und
dem ‚menschlichen Interaktionsprozess’ gemeint, das, wie etwa bei Max Weber oder Emile Durkheim, auf eine ‚objektive’
Existenzform verweist die von dem ‚Individuellen’, dem ‚Natürlichen’ oder dem ‚Physikalischen’ abgrenzbar ist und damit
zugleich auch das Feld der Soziologie als Wissenschaft beschreibt (vgl. Weber 1980, Durkheim 1976).
92
77
bereit gestellt, die es ermöglichen eine gesellschaftsregulatorische ‚Politik der großen Zahl’ in einer
rationalisierten systematisierten Form zu etablieren (vgl. Desrosières 1993, T. Porter 1995).
Mit der ‚Geburt’ dieser neuen Wissensbestände ist eine notwenige Voraussetzung beschrieben, die die
‚Entzauberung’ des prä-modernen Rekurses auf das rein Zufällige, Schicksalhafte oder göttlich
Gewollte ebenso ermöglicht, wie eine Relativierung und Erweiterung des frühmodernen Bezugs auf
den freien Willen, durch den die Akteure zunächst als rein individuelle, nur ihrer Rationalität
unterworfene Handlungsträger in Erscheinung treten und durch den das Schicksalhafte in individuelle
Schuldzurechnung und Verantwortung moduliert wird. Die frühmoderne, aufklärerische Welterklärung
trägt zwar dazu bei, das „liberale Credo […des] freien Wettbewerb[s] an die Stelle von Gottesurteil
und Gottesgnaden“ zu setzen (Muschg 1977: 153), und bleibt auch in der Folge ein inhärent zentraler
Bestandteil einer bürgerlich-kapitalistischen Ordnung (vgl. Sünker 2003), aber sie steht zugleich vor
dem Problem der Erklärung und damit der systematischen Bearbeitbarmachung regelmäßig
wiederkehrender ‚problematischer’ sozialer Phänomene (dazu Quetelet 1921 [1869]) in einer
zunehmend arbeitsteiligen und d.h. immer stärker in überindividuelle Verweisungszusammenhänge
einander unbekannter Akteure überführten, modernen Welt immer weniger tauglich zu sein. Kurz, die
moderne Welt steht vor dem permanenten Problem jener Frage, die den Raison D'Être der
Sozialwissenschaften darstellt: ‚Wie ist soziale Ordnung möglich?’
Mit dem Aufstieg der Sozialwissenschaften, tritt dem liberalen Erklärungsmuster eine gezielte und
systematisierte Generierung von Wissensbeständen an die Seite, die auch jenseits des Bezugs auf die
konkreten, einzelnen, je direkt handlungsverantwortlichen Akteure die Muster und Frequenzen jener
Phänomene sichtbar machen kann „that happen regularly enough and often enough in a whole
population of people to be broadly predictable, and so insurable” (Kampshall 2003: 7).
Basierend auf diesen Wissensbeständen, die sich als eine Grundlage für eine systematische
Gestaltbarkeit der Welt und Verfügbarmachung der Zukunft einer widersprüchlichen und fragilen
sozialen Ordnung erweisen (vgl. Evers/Nowotny 1987), stellt ‚das Soziale’ eine strukturierte und
strukturierende politische Denk- und Handlungsstrategie dar. In diesem Sinne ist das Soziale von
Beginn an mehr als nur eine Semantik des politischen Systems, sondern verweist auch auf die
Etablierung eines „dichte[n] Gewebe[s] von einander überschneidenden Regelkreisen und Apparaturen
zu denen sich Institutionen der sozialen Kontrolle“ zusammenschließen (Fraser 2003: 245) und ein
Bündel
von
Regierungstechniken
generieren,
um
eine
spezifische
Form
von
‚Subjekten’
hervorzubringen93.
Dabei lässt sich in so fern von einer ‚neuen’, im genannten Sinne ‚sozialen’ Form der Subjektivität
sprechen, wie – was bereits die Arbeiten von Max Weber verdeutlichen - jede Form der
„Subjektwerdung des Menschen, also jede Erzeugung von Typen sozialer Individualität […] ei[n] unverrückbare[s]
Stück materiellen Zwangs [erfordert], weil es stets wenn nicht der handfesten Disziplinierung, so doch der
physischen Präsenz verräumlichter Gewalt bedarf, um ein menschliches Wesen in das entsprechende Netzwerk
sozialer Regeln einzuüben“ (Honneth 2003: 24).
Mit Peillon (1998: 218) lässt sich davon sprechen, dass „welfare recipients are shaped as individuals through the welfare
state”.
93
78
Unter Berufung auf ‚das Soziale‘ geht es nun um genau dies: um einen rationalisierten Versuch,
vermittelt durch eine besondere Form koordinierter Strategien, Technologien, Teleologien und ‚Ethiken’
der Bearbeitung von Problemen der gesellschaftlichen Kohäsion, Stabilität und ‚Solidarität’, die auf
‚soziale’ Formen der Gerechtigkeit, Sicherheit, Rechte usw. rekurrieren, den Bestand einer sozialen
Ordnung zu sichern, die sich aus dem Ökonomischen alleine heraus nicht aufrecht erhalten kann und
die ihrerseits eine ermöglichende Bedingung für eine umfassende, keinesfalls vorraussetzungslose
Marktintegration in einer arbeitsteiligen Ökonomie repräsentiert. In einem gewissen Sinne wird damit
zugleich der Versuch unternommen dem Widerspruch von Lohnarbeit und Kapital eine quasisynthetisierende Antwort entgegen zu stellen, die diesen Konflikt in einem gewissen Sinne
‚entpolitisiert’ und die Möglichkeit einer sozialistisch-revolutionären Lösung zugunsten einer
‚solidarische’ Perspektive des Schutzes von beiden zurückdrängt (vgl. Ewald 1991, Defert 1991,
Procacci 1994). Mit Blick auf die Struktur der Gesellschaft moduliert das Soziale die Frage von ‚Klassen’
in Fragen ‚sozialer Schichtung’ und die ‚soziale Frage’ in Fragen ‚sozialer Probleme’94.
In diesem Sinne bezeichnet das Soziale vor allem eine „kollektive Existenz […] die Menschen in einem
sozialen ‚Großraum‘ und seiner Ordnung zusammen[bringt]“ (Karstedt 2003: 3). Dabei tritt an die
Stelle der individuellen Zurechnung und der individuellen Schuld, die noch zu Beginn des 19.
Jahrhunderts zentrale Elemente der ‚guten’ gesellschaftlichen Ordnung darstellen (vgl. Groenemeyer
2001, Lemke 1997) zunehmend eine Vorstellung von ‚gesellschaftlicher’ Verantwortung und von
Ansprüchen, die gegenüber der ‚Gesamtgesellschaft’ geltend gemacht werden können: „Es erfolgt eine
Umstellung des Regulationsmodus vom Prinzip der individuellen Verantwortung zu dem des sozialen
Risikos“ (Lemke 1997: 212). Mit dem Sozialen kommt auch der Politik und den politischen, bzw.
öffentlichen Sicherheitsversprechen (vgl. Kaufmann 1973) eine neue umfassende Bedeutung zu: den
gesellschaftlichen Raum zu gestalten (vgl. Karstedt 2003), wobei in wachsendem Maße spezielle, neu
entwickelte Institutionen damit betraut werden, „ausgehend von hinreichend umfassenden und
universalistischen Werten di[e] Handlungssteuerung [der sozialen Akteure] sicher[zu]stellen, damit die
Individuen sich auf autonome Weise in der Vielfalt von Situationen und Beziehungen orientieren
können“ (Dubet 2003: 79).
Soziogenetisch lässt sich die Etablierung des Herrschaftsraum ‚des Sozialen’ damit als eine
kollektivierende Fortführung eines fundamentalen Veränderungsprozesses der politischen Führung
verstehen, der seinen Anfang in dem beginnenden Zerfall der ständisch-feudalistischen Ordnung und
den mit der frühen Industrialisierung verbundenen Rationalisierungsprozessen findet.
Die ab dem 18. Jahrhundert einsetzenden Rationalisierungen zielen mittels eines systematischen,
zunächst jedoch noch vornehmlich auf die einzelnen Individuen ausgerichteten Prozesses der
‚Verfleißigung’
der
Herrschaftsunterworfenen
auf
die
Durchsetzung
eines
‚industrialisierten
Bewusstseins’ (vgl. Dreßen 1982), um über die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen hinweg,
möglichst alle Akteure systematisch in eine sich entwickelnde kapitalistische Ökonomie einzubinden
Zur Bearbeitung dieser ‚sozialen Probleme’ – nicht aber zur Frage von Lohnarbeit und Kapital - stellt auch Soziale Arbeit
eine mögliche Antwort dar. In diesem Kontext wird auch eine systematisierte Form der Jugendfürsorge dadurch ermöglicht,
dass ‚Verwahrlosungserscheinungen’ der (sub-)proletarischen Jugend von einem Problem der politischen Ökonomie zu
einem Problem der Erziehung werden (vgl. Ferchhoff/Peters 1979).
94
79
(dazu auch: Müller/Otto 1980, Lenhardt/Offe 1979). Wolfgang Dreßen verortet den hegemonialen
pädagogischen - aber auch juristischen - Diskurs von Mitte des 18. bis Mitte des 19. Jahrhunderts im
Kontext einer sukzessiven Zurückweisung einer auf verhältnismäßig dauerhaft etabliertem und
direktem Zwang operierenden ‚schwarzen Pädagogik’95. An deren Stelle tritt die Erprobung
pädagogischer Konzepte, die zunehmend Fragen der Selbstregulation und ‚Selbstregierung’ der
Akteure thematisieren. Die repräsentieren jedoch nicht nur den aufklärerischen Geist der ‚Mündigkeit’,
sondern bilden eine unerlässliche Vorraussetzung für eine systematische Erzeugung und Ordnung der
immer stärker arbeitsteiligen Entität ‚Gesellschaft’, zur Lösung des permanenten Problems ‚organischer
Solidarität’ (Durkheim 1977) bzw. sozialer Koproduktion und Integration der Akteure in wirtschaftliche
Produktions- und politische Herrschaftssysteme. In diesem Sinne hat jene Form des Kapitalismus, die
sich, „am Ende des 18. Jahrhunderts und zu Beginn des 19. Jahrhunderts entwickelt“ so Foucault
(1994b: 209), „als ihr erstes Objekt, den Körper, als Produktionsmittel und Arbeitskraft sozialisiert“.
Die ‚pädagogische Maschine’ (Dreßen 1982) des frühen Liberalismus, vor der Geburt des Sozialen (vgl.
Donzelot 1991), sucht die ihr unterworfenen Akteure insbesondere mittels der Etablierung von
Anstalten - wie sich mit Blick auf die Einrichtung von ‚Zucht-’ und ‚Arbeitshäusern’ aber auch Johan
Bernhard Basedows ‚Industrieschulen’ dokumentiert lässt (vgl. Marzahn/Ritz 1984, Sachße/Tennstedt
1980) – zunächst zu ‚Vereinzeln’, und ihren Eigenwillen zu brechen. Dies beschreibt jedoch keinen
Prozess despotischer Unterdrückung, sondern einen Versuch der ‚Erzwingung’ einer bestimmten Form
der Handlungsfähigkeit, die nur als ein produktives Mittel erscheint um den geordneten Menschen als
einen ‚freien’ zu re-etablieren (vgl. Dresen 1982, Foucault 1994). Die Fabrikation ‚gelehriger’ und
‚nützlicher’ Subjekte – im Sinne einer ‚politischen Anatomie des menschlichen Körpers’ (Foucault 1976)
- kennzeichnet einen Disziplinarmodus der Herrschaft, der eine wesentliche Grundlage für Etablierung
(industrie-)kapitalistischer Produktionsverhältnisse markiert, in dem er zugleich auf die systematische
Steigerung der verfügbaren Kräfte des Individual- wie Gesellschaftskörpers zielt und auf ihre
Schwächung zum Zwecke einer neuen, von der Feudalherrschaft systematisch unterscheidbaren Form
der politischen Unterwerfung (vgl. Foucault 1994).
Demgegenüber ist die ‚Entdeckung‘ des Sozialen als eine Sphäre der (administrativ) rationalisierten
und systematisierten kollektiven Risikobearbeitung (vgl. Donzelot 1991) - im Gegensatz zu dieser
‚subjektivierenden’ Rationalität einer ‚Verfleißigung’, zu ‚prä-sozialen’ Techniken der Behandlung von
Armut etwa in Form der frühbürgerlichen Philanthropie, zur karitativen Barmherzigkeit und
Armenfürsorge (vgl. Marzahn/Ritz 1984, Sachße/Tennstedt 1980) aber auch zu der Gewährleistung der
‚guten Ordnung und Sittlichkeit’ sowie des ‚gemeinen Wohls’ durch die (früh)neuzeitliche und
absolutistische ‚Policey‘ (vgl. Dinges/Sack 2000, Lüdke 1992, Preuß 1990) - im Kontext der Entwicklung
politischer und ökonomischer Bürgerrechte im Kapitalismus (vgl. Ganßmann 2000, Lewis 1998,
Marshall 1992) und der Bearbeitung der ‚Sozialen Frage‘ nach der ‚Take-off‘ Phase der
Industrialisierung, auf das letzte Drittel des 19. Jahrhundert zu datieren, und seit dem - wenn auch in
95
Michel Foucault (1999) verortet diesen Wandel der ‚Machttechnologie’ bereits im 17. Jahrhundert.
80
sehr unterschiedlicher Intensität und Reichweite (vgl. Esping-Anderson 1990) - den politischen
Regimes bürgerlicher Gesellschaften eingeschrieben (vgl. Offe 1984).
Die Institutionalisierung des Sozialen - in Form einer Sozial-Staatlichkeit – lässt sich als ein historisch
junger Aspekt eines bis zu seinem Zenit im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts immer umfassender
werdenden Sicherheitsversprechens verstehen96 (Kaufmann 1973): „In the wake of the ‚discovery of
the social’ (Donzelot […1980]), werden in den bürgerlich-kapitalistischen Regimes
„the principal objects of rule and the ways of engaging with them […] in terms of a collective social entity
[konsituiert] with emergent proprieties that could not be reduced to the individual constituents – or could not be
tackled adequately at the level of individuals. Social services, social insurance, social security, and social wage were
variously constituted by governments to deal with social problems, social forces, social injustices, and social
pathologies through various forms of social intervention, social work, social science, and social engineering. The
social appeared as a unified and unifying […] space of rule” (O´Malley 1999: 94).
Dieser Herrschaftsraum des Sozialen entwickelt sich zu der vorwiegend innerhalb der territorialen
Grenzen
einer
nationalen
Gesellschaft
konzentrierten
(vgl.
Fraser 2003), charakteristischen
Organisationsform moderner, industriekapitalistischer Gesellschaften. Für die Organisation dieser
Gesellschaftsformationen bzw. für die Hervorbringung einer stabilen, inklusiven und zugleich genügend
dynamischen Ordnung der Zusammenhänge von Produktion und Reproduktion, hat dieser verbundene
und verbindende (vgl. O’Malley 1999) gesellschaftliche Großraum den entscheidenden Vorteil, dass
„die Bereiche der Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, der Sozialarbeit, des Strafrechts, der
öffentlichen Gesundheitswesens, der Haft- und Jugendstrafanstalten, der Psychotherapie, der Eheberatung und der
Erziehung gegeneinander durchlässig [werden. …: Sie können] sich [alle] aus dem gleichen Vorrat an
Rationalisierungspraktiken bedien[en], während sie gleichzeitig ihre je eigenen Varianten einer allgemeinen
Grammatik der Governementalität entwickel[n]“ (Fraser 2003: 245).
Zugleich war es de facto von Beginn an möglich den für die Akteure handlungsermöglichenden und koordinierenden Raum des Sozialen hierarchisch zu strukturierten und systematisch mit ‚produktiven’,
strategisch
eingesetzten
Techniken
formeller
bzw.
institutionalisierter ‚sozialer’ Kontrolle zu
durchziehen, die auf eine ‚Nützlichmachung’ der individuellen wie kollektiven Akteure dieses Raums
zielen. Deren Reichweite und Effizienz geht weit über die sichtbaren und zwangsbasierten Elemente
des klassisch-liberalen Strafrechts hinaus (vgl. Pavlich 2001, Fraser 2003), dessen Bedeutung
zunehmend auf die einer ‚ultima ratio’ Lösung reduziert werden kann (vgl. Sack 1998).
Ein wesentliches Charakteristikum der politischen Rationalität des Sozialen ist es dabei, dass eine
administrativ erzeugte, kollektive Form der Solidarität über die Betonung individueller Verantwortung
gestellt (vgl. Donzelot 1994: 117) wird. Auch wenn dies nie bedeutet hatte die Verantwortlichkeiten
des Einzelnen völlig zu ignorieren, sondern die Formierung des Sozialen von Beginn an im Gegenteil
mit dem Versuch einhergeht, kooperative und produktive ‚Subjekte’ zu erzeugen, die nicht nur äußerer
Autorität, sondern vor allem auch innerer Selbstregulierung unterworfen sind (vgl. Fraser 2003,
Zaretsky 1976), so beinhaltet diese Verantwortungsverschiebung eine De-Privatisierung von Risiken.
Das Soziale repräsentiert in dieser Hinsicht eine Rationalität, die darauf gerichtet ist, die
unterschiedlichen Risiken vor dem Hintergrund ungleicher gesellschaftstopologischer Verortungen und
Einbettungen in strukturellen Zusammenhängen in einer mehr oder weniger universalistisch
96 Im Kotau dieses umfassenden Sicherheitsversprechens erweitert der nationalstaatliche Gewaltmonopolist seine
machtbasierten Infrastrukturen der Durchsetzung einer Ordnung um geldbasierte (vgl. Scherr 1999: 49).
81
ausgerichteten ‚Sozialbürgerschaft‘ auszugleichen (vgl. Ewald 1993). Anders formuliert: es ist eine
institutionalisierte Technologie sozialer Ver- und kollektiver, wechselseitiger Absicherung, die
Individuen weniger als eigenverantwortliche Bearbeiter individueller Unsicherheiten, sondern als Teil
eines sozialen Kollektivs in den Blick nimmt (vgl. Defert 1991), das Risiken durch eine „constitution of
mutualities“ (Ewald 1991: 203) sozialisiert97.
Auf der Basis einer solchen ‚Befreiung’ der einzelnen sozialen Akteure von der Last rein individuell zu
tragender Lebensrisiken und ihrer Zusammenfassung zu größeren, und idealtypisch letztlich einer
großen risikoteilenden Gemeinschaft (vgl. Ullrich 1999) wird dabei der Versuch unternommen, eine
ganze Palette von positionalen Problemlagen - allen voran Armut - aber auch dispositionale Probleme
sozialer Akteure dadurch zu regulieren, einzudämmen oder zu normalisieren, dass sie von individuellen
Schicksalsschlägen
oder
individuell
zu
verantwortenden
Verfehlungen
in
‚soziale
Probleme’
transformiert werden, deren Ursachen innerhalb der gesellschaftlichen Organisation zu suchen sind
(vgl. Schmidt-Semisch 2002, Groenemeyer 2001).
Soziale Arbeit lässt sich nun als ein Teil dieses Versuchs verstehen. Ihre Existenz selbst erscheint somit
als unauflösbar verknüpft mit den strukturierten Regelmäßigkeiten des politisch konstituierten Feldes
des Sozialen und den politischen Rationalitäten, die die Bearbeitung des Sozialen regulieren und
formieren.
In diesem Sinne lässt sich die spezifische ‚Regierungspraxis’ der Sozialen Arbeit als Teil jenes größeren
Konglomerats von ‚Taktiken des Regierens’ - das ‚das Soziale’ bezeichnet - präzisieren und als ein
Element einer Form der Führung, Anleitung, Hervorbringung, Formung, Gestaltung, Normierung,
Erzwingung etc. (vgl. O’Malley 2001a) formulieren, die systematisch von den Regierungspraktiken des
‚klassischen Liberalismus’ unterscheidbar ist (vgl. Rose 1996a, O’Malley 2001a).
Entgegen der Regierungspraxis des ‚klassischen Liberalismus’ verweist die des Sozialen vor allem
darauf, dass die Teilhabe der Bürger an der politisch verfassten Gemeinschaft „zunehmend von ihrer
[…je ] individuellen ökonomischen Tüchtigkeit abgekoppelt“ wird (Brumlik 2000b: 189). Auch die
Soziale Arbeit - als ein Teil dieser Regierungspraxis – reflektiert insofern einen „wesentliche[n]
Ausdruck des modernen Staates, der sich über gesetzliche Bindungen die Allzuständigkeit für die
Geschicke zunächst seiner Untertanen, dann seiner Bürger erworben hat” (Brumlik 2000b: 189) .
Sozialpolitik und Soziale Arbeit, - als Institutionen im spezifischen ‚Feld des Sozialen’ -, stellen
demnach wesentliche institutionalisierte Garanten dafür dar, das frühliberale Modell gesellschaftlicher
Integration und Ordnung, als einer ‚Kultur der Markvergesellschaftung’ vereinzelter Akteure, um das
Moment einer wohlfahrtspolitischen Gesellschaftsintegration im Sinne einer abstrakten ‚administrativen
Solidarität’ zu erweitern, die sich von privater Barmherzigkeit, moralisch-affektiver Verbundenheit
ebenso wie von der Ummittelbarkeit intersubjektiver Reziprozitätserwartungen entkoppelt (vgl.
Groenemeyer 2001, Ewald 1993, Schmidt-Semisch 2002).
Die politische Bearbeitung ‚des Sozialen’ erfolgt ‚im Feld des Sozialen’ im wesentlichen durch vier
analytisch
unterscheidbare
Interventionsformen:
rechtliche,
ökonomische,
ökologische
und
In so fern lässt sich der Tendenz nach davon sprechen, dass die als das Soziale artikulierten Formen des „risk government
view risk as being located in society as a whole, with the danger falling in a probabilistic fashion across the whole population,
97
82
pädagogische Intervention. Rechtliche Interventionsformen zielen auf den rechtlichen Status,
ökonomische auf die Einkommensverhältnisse, ökologische auf die materielle wie soziale Umwelt und
pädagogische auf die Handlungsfähigkeit von Personen(mehrheiten) (vgl. Kaufmann 1982, 1999,
Kaufmann/Rosewitz 1983, siehe auch: Luhmann 1981, Parsons 1978).
Im Sinne einer Dynamisierung des, dieser Perspektive - in einer heuristisch fruchtbaren, aber
analytisch zu statisch und geschlossen Weise - zu Grunde gelegten, strukturfunktionalistischen ‚AGIL’Modells von Talcott Parsons, lassen sich die in diesen Interventionen je hauptsächlich wirksamen
Machtmittel den von Bourdieu elaborierten Kapitalarten zurechnen: das ökonomisches Kapital
erscheint als das Machtmittel der ‚ökonomischen Interventionsform’, das soziale Kapital korrespondiert
im wesentlichen der ‚ökologischen’ und das kulturelle Kapital im Kern der ‚pädagogischen
Interventionsform’ während legales Kapital - als ‚geronnene’, formal institutionalisierte Form des
symbolischen Kapitals - den ‚rechtlichen Interventionsformen’ zu Grunde liegt.
Die (administrative) Sozialpolitik und die Soziale Arbeit lassen sich aus dieser Perspektive als
institutionelle Elemente und Träger der Interventionsformen eines sozialen Staats verstehen, um in
Rekurs auf unterschiedliche Machtmittel und in unterschiedlicher Reichweite verschiedene Facetten
sozialer Sicherheit zu gewährleisten. Soziale Sicherheit bezeichnet dabei das Kernelement der
Praxisrationalitäten im Feld des Sozialen, die auf die Verhütung des Auftretens bestimmter, als soziale
Risiken dechiffrierter, Phänomene gerichtet sind und darüber hinaus versprechen im Falle des Eintritts
der mit diesen Risiken verbundenen Schäden, kompensierend tätig zu werden (vgl. Schulte 1998). Die
Gewährleistung sozialer Sicherheit durch die administrative Solidarität des sozialen Staates beinhaltet
Infrastrukturmaßnahmen, Sach-, Geld- und Dienstleistungen, die auf die Sicherung der Reproduktion
gegenüber den in der Organisation des Sozialen eingeschriebenen ‚Standardrisiken’ wie Krankheit,
Arbeitslosigkeit, Alter etc., die Sicherung gegenüber ‚sozialen Problemen‘ wie Armut und Abweichung,
sowie die Sicherung der Sozialisation der Individuen als aktuale wie künftige Bürger sowie und vor
allem als Träger der Ware Arbeitskraft gerichtet sind.
Das entscheidende Spezifikum Sozialer Arbeit, als sozialstaatlich zu erbringende Dienstleistung und
besonderer Teil der Sozialpolitik – so ist das SGB VIII keinesfalls ein zufälliger, sondern ein (rechts-)
systematischer, in spezifischer Weise auf die nachwachsende Generation bezogener Teil des
Sozialgesetzbuchs98 (vgl. Richter 2000) - lässt sich nun gegenüber den anderen Aspekten und Formen
institutioneller und politischer Strukturierung des Feldes des Sozialen folgendermaßen beschreiben:
Sozialpolitik fokussiert in erster Linie gesellschaftliche und politische Positionen sozialer Akteure in der
staatlich gefassten, sozietalen ‚Gemeinschaft‘, im Sinne einer regulativen Reproduktion sozialer
Verkehrsformen und rundet - in ihrer helfenden Dimension - die Spitzen sozialer, positionaler
Ungleichheit kompensatorisch ab. Die rechtsförmig erbrachten, gesellschaftlich re-distributiven
Regulationsleistungs- und Sicherungsversprechen der Sozialpolitik sind hierbei bezogen auf den
einzelnen Akteur per se dispositionsneutral. Sie beziehen sich auf verallgemeinerbare Risiken, die
vornehmlich durch Institutionen der Sozialversicherung in standardisierbarer Form bearbeitet werden
individual characteristics being largely irrelevant” (Henman 2002: 3).
83
können,
nämlich
durch
den
Einsatz
bzw.
die
kompensatorische
Zurverfügungstellung
von
institutionalisierbaren und personenunabhängig übertrag- und damit distributierbaren (Macht-)Mitteln namentlich dem ökonomischen und dem legalen Kapital - zur relationalen (Re-)Positionierung im
Sozialen.
Innerhalb der Nation als territorial begrenztem Regierungsraum erfolgt dies mehr oder weniger
‚generalistisch’99, d.h. nicht nur mit vergleichsweise geringem Bezug auf die Dispositionen individueller
Akteure, sondern auch weitgehend ohne Bezug auf spezifische sozial-ökologische Aspekte der
‚räumlichen’100 Verortung einzelner Akteure.
Diese beiden nicht-universalisierbaren Bezüge werden von den Sozialen Diensten aufgegriffen, deren
Machtmittel - in Bezug auf ihre Wertigkeit und Verwertbarkeit ebenso wie auf ihre Wirksamkeit - in
einem wesentlich stärkeren Maße feldspezifisch gebunden sind, als dies bei den primären Machtmitteln
der Sozialpolitik der Fall ist. Diese weniger universellen Machtmittel der Sozialen Arbeit – namentlich
das kulturelle und das soziale Kapital – sind auch innerhalb eines nationalen Regierungsraums nicht
nur stärker feldspezifisch gebunden als das legale und ökonomische Kapital, sondern sie stellen auch
in einem engeren, territorialen Sinn in einem höheren Maße ein ‚ortspezifisches Kapital’ dar (vgl.
DaVanzo 1981), d.h. ein Kapital dessen Nutzen sich erhöhen, verringern oder sogar völlig verloren
gehen kann, wenn der Akteur, der es gebraucht, den Ort bzw. seine ‚sozialräumliche Verortung’
wechselt.
In den Regierungsweisen des Sozialen - insbesondere in ihrer keynesianisch-sozialstaatlichen Form demnach wird ein spezifisches Verweisungsverhältnis zwischen den differenten Interventionslogiken
der Sozialarbeit und Sozialpolitik hergestellt (vgl. Böhnisch 1982, Müller/Otto 1980), in dem Soziale
Arbeit darauf zielt, die inkorporierten, dispositionalen Aspekte der Individuen - als ‚Subjekte’ - mit den
‚sozialpolitischen’ Regulierungen ihrer sozialen und politischen Positionen im gesellschaftlichen Gefüge
in ein stabilisierendes Passungsverhältnis zu bringen (dazu Berger/Offe 1980, Offe 1987, Olk 1986,
Otto 1973, Schaarschuch 1998). Dabei kommt der Sozialen Arbeit die Aufgabe zu, auf Seiten der
Akteure, innerhalb der sozialpolitisch gesetzten und geforderten ‚Normalität’ – bzw. mit Max Weber
gesprochen, des gesetzten und geforderten ‚Rationalismus der ethisch-methodischen Lebensführung’ , handlungsfähige, ,normale Subjekte’ und stabile Identitäten zu generieren.
In diesem Sinne dienen personenbezogene soziale Dienstleistungen nicht zur Abdeckung von
Lebensrisiken, die in einer verallgemeinerbaren Form sozialversicherungsrechtlich geregelt sind (vgl.
Wohlfahrt 2000, Luhmann 1981), sondern von Lebensrisiken, die sich in den komplexen, konkreten
und je besonderen Konstellationen der praxislogischen Lebenszusammenhänge ihrer Adressaten
niederschlagen (vgl. Scherr 2002). Wie es Wendt (2001: 100) formuliert: „Soweit Sozialleistungen auf
ein Konto überwiesen werden, mischt sich die Sozialarbeit nicht ein”.
Wobei indes strittig ist, ob alle Aspekte des SGB VIII – z.B. § 45 und insbesondere auch § 43 - als materielle Teil des
Sozialrechts verstanden werden können.
99 Es lässt sich kaum bezweifeln, dass auch die ‚allgemeine’ Sozialpolitik, beispielsweise in Bezug auf Fragen von ‚Gender’
und ‚Race’ aber auch bezüglich Behinderungen (bzw. ‚capabilities’) faktisch deutliche Differenzierungen enthält (für diese
Hinweise danke ich Prof. John Clarke).
100 ‚Räumlich’ wird hier im Sinne von ‚Space’ und nicht von ‚Place’ verstanden (dazu: Kessl/Otto 2002)
98
84
Wenn die Dimension der Hilfe durch Soziale Arbeit in dieser Perspektive als eine ‚Zweitsicherung‘
erscheint (Scherr 2000: 75, vgl. Böhnisch 1982, Bommes/Scherr 2000), die jene Hilfen ergänzt, die auf
der Basis rechtlich definierter Ansprüche qua Distribution festgelegter Leistungen durch die sozialen
Sicherungssysteme nach Maßgabe einer vergesellschafteten Versicherungsrationalität (,socialized
actuarialism’) als „erzwungene Solidarität von Risikoungleichen“ (Schmidt-Semisch 2000: 52, vgl.
O’Malley 1992, Ewald 1991) erbracht werden, reagiert sie in erster Line auf die als mittelbar und
unmittelbar unterstellten, negativen handlungs- und ‚identitäts-’ bzw. lebenspraktischen Folgen und
Folgerisiken ihrer Adressaten, die mit politischen und gesellschaftlichen Positionen in Verbindung
gebracht, jedoch nicht in Form standardisier- und versicherbarer Leistungen bearbeitet werden bzw.
werden
können.
Dies
ist
kann
z.B.
der
Fall
sein,
weil
„Sozialpolitik
auf
Motive
und
Handlungsbereitschaften einer Vielzahl individueller Adressaten angewiesen […ist] deren Diversität in
Rechnung stellen […muss und d]ie generalisierten Medien Recht und Geld […] diese Motive nicht
hinreichend ansprechen und hervorbringen“ kann (Leisering 2001: 1218, vgl. Luhmann 2000).
Die Hilfe der Jugendhilfe bezieht sich demnach auf jene Risiken und Krisen der nachwachsenden
Generation in der gesellschaftlichem Praxis im Feld des Sozialen, zu deren, als gesellschaftlich
angemessen erachteten, Form der Bewältigung, weder die gesellschaftlich garantierte und
(sozial)politisch zugeteilte Menge an ökonomischem und juristischem Kapital, noch die Menge oder Art
der aktual individuell inkorporierten Ressourcen und Machtmittel – als individuelle ‚Kompetenz’ und
‚Lebensführungsfähigkeit’ – alleine ausreichend erscheinen. In diesem Sinne reagiert die Jugendhilfe in
der Dialektik von Position und Dispositionen nicht alleine auf ein Unterschreiten festgeschriebener
Größen und Grenzwerte auf der Ebene von Positionen im Feld des Sozialen, sondern auf eine
dispositionssensible Weise auf die - unterstellten oder artikulierten - „je konkreten Bedürfnisse”
(Blanke/Sachsse 1987: 260), die mit Blick auf die gesellschaftlichen Akteure der nachwachsenden
Generation, als individuelle oder kollektive Subjekte festgestellt werden101. Diese Bedürfnisse drücken
sich – etwa im Sinne von als riskant oder defizitär erachteten Sozialisations- und Lebensbedingungen,
ebenso wie im Sinne von erfahrenen Diskriminierungen und Missachtungen – als eine zumindest
potentielle, identitäre Entfernung von einem Funktionszustand aus, der als ‚vernünftig’ erachtet wird
(vgl. Brumlik 1992) oder als Gefährdung oder Beschädigung von Selbstbewusstsein, Selbstachtung
sowie selbstbestimmter Handlungsfähigkeit (vgl. Scherr 2000, 2002). Dabei ist es die primäre Aufgabe
der Jugendhilfe, die als sozialpolitisch relevant erachteten, dispositionalen Problemlagen sozialer
Akteure der nachwachsenden Generation, bezogen auf eine Vermittlung von Teilhabe, Vermeidung von
Nicht-Teilhabe oder Verwaltung der Nicht-Teilnehmer innerhalb der geltenden, praktischen wie
formalen Regeln und Regelmäßigkeiten des Sozialen zu bearbeiten, d.h. als Phänomene, die in einer
Hierauf weist im Kern auch Nohl in seiner Auseinandersetzung mit Verhältnis von Sozialpädagogik und Wohlfahrtspflege
hin. So konstatiert er, dass die „sachliche Hilfe, […] die primäre, die Mittelsorge […] den Faktor des Charakters vergisst, der
doch mindestens die Hälfte des Schicksals ist […]. Und so tritt die Sozialpädagogik als die andere Seite der Wohlfahrtsarbeit
hervor, ohne die sie ihr letztes Ziel wie ihre entscheidenden Mittel verfehlte, die persönliche Stützung und den Wiederaufbau
des Menschen selbst und seiner geistigen Umwelt“ (Nohl 1965: 18).
101
85
spezifischen Form der gesellschaftlichen Organisation entstehen und die im Rekurs auf diese
Organisation zu bearbeiten sind102.
In Bezug auf die Positionierung ihrer Adressaten im ‚Sozialen‘ geht es der Jugendhilfe nicht um eine
direkte und ummittelbare, individuelle Kompensation eines Mangels an ‚materiellen’ Kapitalen, sondern
vielmehr um die (ressourcenförmige) Erzeugung, wie den (machtförmigen) Einsatz inkorporierbarer –
in der Regel nicht materieller – Kapitalsorten, insbesondere des sozialen103 und kulturellen Kapitals.
Diese beiden Kapitalarten können durch die Adressaten in einem gewissen Sinne ‚inkorporiert’ werden
und sind - in ihrer nicht institutionalisierten Form – somit personengebunden bzw. intersubjektiv
einbebettet, und dies bedeutet zugleich habitusformierend oder, ‚pädagogischer’ formuliert, in sozialer
wie individueller Hinsicht ‚identitätsbildend’.
Dies stellt ein spezifisches Charakteristikum und damit verbunden auch die Basis für eine Eigenlogik
und eine relative Autonomie personenbezogener sozialer Dienste von einer verallgemeinerten
sozialpolitischen Risikoabsicherung dar. Allerdings bleiben die dispositionssensiblen Interventionen
dabei nicht nur auf der ‚materiellen’ Ebene (nämlich als deren substanzielle Ergänzung) an die
positionskompensierenden Sicherungsleistungen staatlicher Sozialpolitik gebunden – d.h. an das legale
Kapital, im Sinne rechtlicher Vorgaben, und an ökonomisches Kapital, im Sinne der Quantität der ihr
(zum Zwecke der Transformation) sozialpolitisch zur Verfügung gestellten, sozialstaatlichen
Redistributionsleistungen ökonomischer Art104 -, sondern auch in symbolischer Hinsicht. Obgleich selbst
nicht bzw. nur schwierig standardisierbar, zielen ihre Interventionen darauf, spezifische - zu den
Positionen ‚passende’ - Identitäten hervorzubringen. Auf der Ebene der Interventionsformen zielt die
Praxis der Erbringung sozial- und kulturkapitalbasierter, personenbezogener sozialer Dienstleistung auf
die kombinierte Wirkung ökologischer und pädagogischer Interventionen. D.h. auf „die Verbesserung
von Umweltsegmenten im Sinne größerer Nutzungschancen durch sozial schwache Gruppen”
(Kaufmann 1999: 937) - wobei im Rahmen der Jugendhilfe der Familie eine besondere Rolle
zukommt105 (vgl. Donzelot 1980, Jordan 2003, Karsten/Otto 1995) - und auf die „Entwicklung
[personenbezogener] sozialer Kompetenzen und von ‚Humanvermögen’” im Feld des Sozialen
(Kaufmann 1999: 938). Wie auch Bill Jordan (2003: 9) auf die spezifische Mischung sozial- und
kulturkapitalbasierter
Interventionen
Sozialer
Arbeit
aufmerksam
macht,
fokussieren
andere
Humandienstleistungen vor allem
In dem Maße wie diese Figurationen mit der ‚Identität’ der Adressaten der Jugendhilfe verknüpft werden und eben diese
wiederum den zentralen Ansatzpunkt der Interventionen der Jugendhilfe darstellt, treten die Individuen, an die sich die
Jugendhilfe als Adressaten wendet, auch dann, wenn sie als Handlungsträger identifiziert werden, denen ein Subjektstatus
zugeschrieben wird, nicht als unabhängig von konstituierenden gesellschaftlichen Vorgaben existierende ‚Subjekte’ in
Erscheinung (vgl. Hasse/Krücken 1999), sondern zugleich als eine ‚Konstruktion’, bzw. als ein, wie es Meyer et al. (1994: 21)
formulieren, „Mythos, der aus rationalisierten Theorien ökonomischen, politischen und kulturellen Handelns entsteht“.
103 Soziale Arbeit, so führt etwa Bill Jordan (2003: 9) mit Blick auf die Bedeutung des Machtmittels ‚soziales Kapital’ in der
Sozialen Arbeit aus,„gives priority to the bonds and conflicts between people, and to how moral ties and dilemmas, and the
co-operative and competitive aspects of groups and communities, both constrain and enable individuals. It is anchored in
collective life, and addresses service users as interdependent and interactive within social units“.
104 Selbst bei der ‚Aktivierung von Ehrenamtlichen’, spielt deren ökonomisches Kapital faktisch eine entscheidende Rolle (vgl.
Ignatieff 1991; empirisch: Brömme/Strasser 2000).
105 Dies gilt nicht nur mit blick auf das familienzentrierte KJHG in der Bundesrepublik: „Families“ so Bill Jordan (2003: 9) „have
always been the main social units upon which social work interventions focused“.
102
86
„on aspects of human development – improving competence, knowledge and skills through education and training,
curing or alleviating disease, or improving psychological functioning – which are more specific, and which add to
human capital [… while] social work [pays special attention] to the bonds and conflicts between people, and to how
moral ties and dilemmas, and the co-operative and competitive aspects of groups and communities, both constrain
and enable individuals. […Thus social work] addresses service users as interdependent and interactive within social
units”.
In diesem Sinne ist es gerade die Kopplung von sozialem und kulturellem Kapital, die es etwa Michael
Winkler (1995: 175) ermöglicht, von Sozialer Arbeit als einer ‚Infrastruktur’ zu sprechen „welche die
Fähigkeit zur Selbstprozessualisierung schafft, in der sich die Individuen an die Gesellschaft koppeln“.
Für die Jugendhilfe106, ist der zu bearbeitende Ausschnitt des Feldes des Sozialen spezifisch an die
Frage der sozio-historisch dominanten Definition des ‚Wohls’ der nichterwachsenen Population der
Gesellschaft gebunden: der Intervention wenn dies ‚nicht gewährleistet‘ ist (vgl. § 27 SGB VIII),
ebenso wie seiner strukturellen Ermöglichung sowie der Gestaltung seiner Bedingungskontexte, und
damit nicht nur Abwehr einer ‚manifesten’ Gefährdung dieses ‚Wohls’, sondern auch seiner
Optimierung (vgl. Münder/Schone 1999: 439) gemäß soziokulturell hegemonialer Standards.
In diesem Sinne ist das SGB VIII und die hieran orientierte Kinder- und Jugendhilfe eine Form der
Konkretisierung des allgemeinen, verfassungsrechtlichen Sozialstaatsgebots - als kodifizierte Form des
Sozialen – hinsichtlich der je besonderen Lebensverhältnisse von Kindern und Jugendlichen (vgl.
Richter 2000: 116).
Die gesellschaftlich institutionalisierte Sorge um das ‚Wohl’ der nachwachsenden Generation legitimiert
dabei das Zurverfügungstellen von Ressourcen ebenso wie den Einsatz von Machtmitteln durch die
Soziale Arbeit in Form der Jugendhilfe. Interventionen auf der Basis von sozialem und kulturellem
Kapital zur Gewährleistung des Wohls der nichterwachsenen Population stellen in diesem Sinne
zugleich den Versuch der Erzeugung spezifischer Formen der Identität und die Beeinflussung bzw.
Führung der Lebensführung der nachwachsenden Generation dar.
Eine solche Ausrichtung ist für die Jugendhilfe und ihre Vorläufer konstitutiv, seit im Kontext der
Entdeckung des Sozialen Ende des 19. Jahrhunderts ein spezifischer Bereich einer umfassenderen
Erziehungswirklichkeit entsteht, der als ein System gesellschaftlicher Eingliederungshilfen in Folge der
industriellen Entwicklung notwendig erscheint107 (vgl. Mollenhauer 1993: 13, Jordan 1983).
Dabei
entwickelt sich aus einer zunächst an in erster Linie ökonomischen, bzw. materiellen Hilfe orientierten
Fürsorge sukzessive eine ‚soziale Pädagogik‘ (vgl. Münchmeier 1981), die sich auf weitere Bereiche der
Erziehung
und
Sozialisation
entsprechend
der
industriekapitalistischen
Veränderungen
der
gesellschaftlichen Organisation richtet (vgl. Ferchhoff/Dewe 1979).
Eine solche Orientierung findet insbesondere auch in der Konstitution der Jugendhilfe als
personenbezogene soziale Dienstleistung ihren anschaulichen Ausdruck. In dieser semantischen
Thematisierung der Jugendhilfe verdeutlicht insbesondere das sogenannte ‚uno-actu‘ Prinzip (vgl. vgl.
Diese agiert im wesentlichen ‚eigenständig’ bzw. nach ‚eigenem Ermessen’ in Fällen und Konstellationen ‚unterhalb’ §
1666 BGB und in einer exekutiven Form ‚oberhalb’ eines von ihr - bzw. dem Jugendamt - eingeleiteten, aber juristisch (durch
ein Familiengericht) festgestellten Falls gemäß § 1666 BGB.
107 „In simple societies”, so kann Jordan (1981: 1) daher zurecht behaupten „there are no social workers. Orphans, widows,
handicapped people and the elderly are looked after within the extended family or tribe. Unconventional behaviour is either
106
87
Herder-Dornreich/Klötz 1972) eine Weise in die Lebenswirklichkeiten von Adressaten einzugreifen, die
deren Ko-Präsenz voraussetzt. Offensichtlich entspricht es dem Handlungsmodus der Jugendhilfe nicht,
Problemlagen des Sozialen auf einer, von den Dispositionen eines konkreten, sozialen Akteurs
abstrahierten Ebene gesellschaftlicher Position zu bearbeiten. Dies bedeutet aber nicht zwangsläufig,
das solche strukturellen ‚sozialen Probleme’ ausgeklammert werden. Sie werden vielmehr in einer
Weise ‚moduliert’, dass sie als Probleme in einer durch ökonomische, politische, soziale, kulturelle und
anthropologische Wirklichkeitsannahmen figurierten, ‚positional-dispositionalen Matrix’ (vgl. Abbildung
1) symbolisch entsprechend ‚repräsentierter’ bzw. ‚subjektivierter’ Individuen bearbeitbar werden, die
aber als leibhaftige empirische Akteure – deren Praxis der sichtbare Hinweis auf Probleme ihrer
,positional-dispositionalen Matrix’ ist - in den Prozess sozialpädagogischer Leistungserbringung
involviert sind.
Positionen
,subdominant’, unterhalb
(relationaler) ‚sozialer
Standards’
Dispositionen/
Habitus
‚inadäquat’ unterhalb
(hegemonialer) ,kultureller
Standards’
Praxisweisen
‚symbolisch delegitimiert’/
‚kriminalisiert’
(Abbildung 1: Die ‚positional-dispositionale Matrix’)
Die Fokussierung der Dispositionen verweist zwar darauf, dass Soziale Arbeit auf der Ebene der - diese
als interventionsrelevant identifizierten Dispositionen strukturierenden und teilweise auch beständig
neu verursachen - Positionen, alleine deshalb kaum einen eigenständigen und unmittelbaren Beitrag
zur Bewältigung von Problemlagen leisten kann, weil ihr die Zugriffsmöglichkeiten auf die
gesellschaftlichen Strukturen fehlen (vgl. Olk/Otto 1987: XVII), dies bedeutet allerdings nicht, die in
den Blick genommenen sozialen Lebensführungsprobleme isoliert am Individuum festzumachen108 (vgl.
Jordan 2003). Sie stellt sich in erster Line als eine Sensibilität gegenüber den Dispositionen sozial
verorteter Akteure dar, die mit ihren gesellschaftlichen und politischen Positionen im Feld des Sozialen
in Verbindung gebracht wird.
In so fern verweißt die Dispositionssensibilität der Jugendhilfe auf Interventionsrationalitäten, durch
die spezifische, regulative Vermittlungsleistungen im Verhältnis von vergesellschaftetem Subjekt und
der sozialen, kulturellen und politischen Organisation der sozialen Formation erbracht werden.
tolerated, venerated or punished by retributive methods. The notion of having specialists in planning the care of dependants,
or in changing the non-conformist behaviour of other people is largely the creation of modern industrialised societies”.
88
Während
sich
psychologisch
orientierte
Humandienstleistungen
idealtypischerweise
auf
die
Dispositionen, dispositionalen Problemlagen eines individualisierbaren Einzelnen beziehen (vgl. Jordan
2003), und auf Positionen in per se beliebigen sozialen Feldern und Sinnzusammenhängen nur in
sofern rekurrieren, wie sie für eine Bearbeitung der Dispositionen bzw. ‚Technologien des Selbst‘ (vgl.
Foucault 1993) von Bedeutung erscheinen109, und während sich die sozialpolitischen Interventionen
außerhalb der sozialen Dienste - indem sie Ressourcen zur Bearbeitung von Problemlagen zur
Verfügung stellen, die mit vergleichsweise unmittelbar aus legalem und ökonomischem Kapital
konvertierbaren Mitteln bewältigt werden können - primär auf die relationalen Positionen der Akteure
im Feld des Sozialen beziehen, die idealtypisch von einzelnen Individuen abstrahierbar sind,
unterscheidet sich die Soziale Arbeit von beiden: Das Spezifikum der dispositionssensiblen
Interventionen der Sozialen Arbeit besteht darin, die als Adressaten identifizierten sozialen Akteure
zugleich als einzelne leibhaftige und biographische Individuen und als sozial, politisch und symbolisch
figurierte Träger von Positionen im Feld des Sozialen zu adressieren.
In der Bearbeitung von Dispositionen teilt die Soziale Arbeit, in Bezug auf deren Verbindung mit
gesellschaftlichen Positionen, mit der Sozialpolitik - in einer Art strategischer Allianz - das generelle Ziel
einer regulativen Herstellung eines inkludierenden, sozialen Ausgleichs sowie sozialer Kohäsion. In so
fern sind die Interventionen Sozialer Arbeit, alleine mit Blick auf ihre anvisierte sozialregulative
Wirkung nicht in einem ausschließlich individuellen Sinne dispositionsorientiert. Sie zeichnen sich
vielmehr durch eine Dispositionssensibilität aus, für die es konstitutiv ist, zugleich positionsbezogen zu
bleiben.
Jugendhilfe vollzieht demnach in actu zwar eine dispositional bezogene Handlungsstrategie im Sinne
einer „Angleichung der Erziehungs- und Entwicklungsbedingungen durch den Ausgleich eines
strukturell oder individuell vorhandenen Defizits und die Befriedigung eines hieraus resultierenden
Bedarfs an Förderung im Sinne von Betreuung, Bildung, Erziehung und Therapie” (Wiesner et al. 2000,
SGB VIII § 1 Rdnr. 29 ff), dabei bleibt aber der sozialrechtliche ‚Grundtatbestand’ der Jugendhilfe nämlich „ein individuelles oder strukturelles Defizit an familialen Erziehungs- und Bildungsleistungen”,
das auf einen „objektiven Bedarf” an „Unterstützung und Ergänzung der Erziehung”, zur Förderung der
Entwicklung des Jugendlichen und „zur gesellschaftlichen Integration” (Wiesner et al. 2000, SGB VIII §
1 Rdnr. 29 ff) verweist - positional gefasst. Trotz der positionalen Fassung des ‚Grundtatbestandes’
richtet sich die Jugendhilfe interventionssystematisch jedoch primär
„auf die Bedarfssituation […] begrenzt auf die Bedürftigkeit, also die Unfähigkeit zur Bedarfsbefriedigung durch zumutbare
Selbsthilfe oder die Fremdhilfe anderweitig verpflichteter […und] nicht auf die Ursache der Entstehung der Bedarfssituation”
(Wiesner et al. 2000, SGB VIII § 1 Rdnr. 29ff)
Eine Bearbeitung ‚delegitimierter‘ Dispositionen, bzw. von Dispositionen, die in der Praxis sozialpolitisch
relevanter Felder auf Risiken verweisen, die die materiellen und symbolischen Strukturen und Logiken
Die Rede von ‚dispositionssensiblen’ Interventionen wird bewusst gegenüber dem Begriff einer ‚dispositionsorientierten’
Intervention vorgezogen, um den irreführenden Eindruck zu vermeiden, die Interventionen Sozialer Arbeit wären alleine als
Prozesse des ‚people-changing’ (vgl. Markert 2000, Olk 1986) hinreichend beschrieben (dazu kritisch: Jordan 2003).
109 So hebt etwa Hermann Wegener (1968: 369) hervor, dass es kennzeichnend für die Sozialpädagogik sei, dass „der
Erzieher das notwendige Prinzip des Individualisierens nicht einseitig als ausschließlich individuelle Therapie auffasst,
sondern als Hinführung zur Gemeinschaft und Gesellschaft“.
108
89
der Felder und eine mit diesen Logiken und Strukturen in Einklang zu bringende Konstitution des
‚Selbst’ der direkten Adressaten der Interventionen und Leistungen betreffen, stellt demnach den
zentralen Handlungsmodus Sozialer Arbeit im Feld des Sozialen dar .
Die Bearbeitung sozialer Lebenszusammenhänge im Sinne einer „gesellschaftlich verantwortete[n] und
institutionell verfestigte[n] Praxis der Lebenslaufregulierung” (Brumlik 2000c: 186) durch soziale
Dienste, auf der Basis der Machtmittel kulturelles und soziales Kapital, bleibt zugleich an die
gesellschaftlich dominanten oder zumindest akzeptabel scheinenden Symbolformen dieser Kapitale
gebunden. Das ‚doppelte Mandat’, genauer die operativen Elemente der Bildung, Sorge und Kontrolle
(vgl. Banks 1994: 1) der Jugendhilfe reflektieren demnach das Verhältnis von (Sozial- und Kultur-)
Kapitalakkumulationshilfe,
Kapitalzugangsermöglichung
und
der
(feldspezifisch)
hegemonialen
symbolischen Form dieser Kapitalen.
Auf eine in actu mit ihrer Leistungserbringung erfolgende, praxislogische Verteidigung der feld- oder
insgesamt gesellschaftsstrukturgebundenen Symbolform der Kapitale und damit verbunden auch ihre
praktisch wie analytisch nicht hintergehbare, konstitutive Form und Funktion ‚sozialer Kontrolle’, muss
sich Jugendhilfe schon alleine dann einlassen, wenn sie sicherstellen möchte, dass die von ihr
gebotenen, ermöglichten, aktivierten etc. Kapitale für die Akteure, denen sie zugute kommen sollen,
auch einen ‚Wert’ haben. Insofern - und nicht etwa weil sie per se ein Ausdruck eines ‚machthungrigen
Leviathan’ oder ähnliches wäre - ist Soziale Arbeit immer eine Instanz sozialer Kontrolle.
‚Soziale Kontrolle’ und zwar nicht nur im Sinne allgemeiner gesellschaftlicher Regulation und
Konstitutionselement
individueller
und
sozialer
Reproduktion,
sondern
im
Sinne
einer
dispositionsbezogenen Form der Kontrolle und „people-changing-function“ (Olk 1986: 240), ist
demnach
gerade
für
eine
gebrauchswertbezogene
Erbringung
personenbezogener
sozialer
Dienstleistungen, systematisch betrachtet zunächst keine ‚unerwünschte Nebenwirkung’, sondern
immanent notwendig. Dies hängt damit zusammen, dass die Kapitale, auf die sich die Interventionen
Sozialer
Arbeit
stützen,
ihren
praktischen
‚Wert’
–
als
praxisökonomisch
verwertbaren
gesellschaftlichen Wert – erst durch ihre Symbolform realisieren können. Diese Symbolform liegt
‚geronnen‘ als legales Kapital vor, oder ist eingebettet eine prävalente feldspezifische Struktur und
Logik der Praxis. In diesem Sinne kann Micha Brumlik (2000b: 186) gefolgt werden, wenn er Soziale
Arbeit als eine Form der Regelung eines spezifischen Grundproblems beschreibt, nämlich dem
„des zeitlich gestreckten Bedarfsausgleich im Fall der Unterversorgung mit jenen Ressourcen, die üblicherweise dem
Nachstreben legitimer gesellschaftlicher Ziele dienlich sind. Diese Unterversorgung erscheint sozial [positional] als
Armut oder Deprivierung, personal [dispositional] als Defizit oder Devianz”.
Unabhängig davon, ob die ‚Unterversorgung’ als ‚soziale’ oder ‚personale’ erscheint, bleibt im Falle
einer Intervention der Jugendhilfe die professionsadäquate Form der Kopplung von Position und
Disposition bestehen. In ihrem professionstypischen Bezug auf die positional-dispositionalen Matrix der
Akteure verdichtet sich dieses, als Ausdruck eines ‚doppelten Mandats’ fassbare Spannungsverhältnis
von öffentlicher Nachfrage und der Nachfrage des Nutzers an die Jugendhilfe idealtypisch darin, eine
‚subjektiv‘ befriedigende Sozialisation und Entwicklung im Rahmen einer ‚objektiv‘ gültigen
gesellschaftlichen ‚Normalität’, als der ‚Common Sense’, die Regeln und Regelmäßigkeiten des ‚Spiels’,
im Feld des Sozialen, zu gewährleisten.
90
Verbunden mit ihren Macht- und Interventionsmitteln im Feld des Sozialen erfolgt die Bearbeitung
delegitimierter Dispositionen durch die Jugendhilfe dabei prinzipiell und ausschließlich ‚präventiv’.
Sowohl ‚pro-aktive’ als auch ‚re-aktive’ Eingriffe der Jugendhilfe sind durch den Bezug auf Fragen der
Entwicklung junger Menschen, bzw. der nachwachsenden Generation immer zugleich auf die Zukunft
bezogen. Auch der Rückgriff auf soziales und kulturelles Kapital, als inkorporierbare Ressourcen und
Machtmittel in Bezug auf die Lebensführung folgt diesem Entwicklungsbezug, und ist der Logik nach
auf die Zukunft bezogen110. In all ihren Interventionen geht darum, dass potentielle oder aktuelle,
positionale wie dispositionale Probleme und Konflikte im Zeitverlauf vermieden werden können, sich
nicht ver- sondern entschärfen bzw. auflösen, von den betroffenen Akteuren besser bewältigt oder von
‚der Gesellschaft’ – bzw. bezogen auf die Interessen und aus der Perspektive der Umwelt der
betroffenen Akteure – befriedigender gemanaged und reguliert werden können111.
Über diese ‚präventive’ Rationalität der Interventionen der Jugendhilfe hinaus, lässt sich, wie im
nächsten Kapital gezeigt wird, argumentieren, dass die Jugendhilfe selbst ein ‚Produkt’ einer
spezifischen, historisch voraussetzungsvoll entwickelten Präventionslogik ist.
Eindringlicher noch hebt Klaus Mollenhauer (1959: 124) diesen Aspekt hervor, wenn er konstatiert, dass „die Abwertung
sozialer Gegenwart und die Ideen zur sozialen Erneuerung […] für das Vorhandensein wie für die Theorie der
Sozialpädagogik konstitutiv zu sein [scheinen]“.
111 Im Rahmen einer konsequent gedachten professionellen Orientierung und Praxisausrichtung an einer pro-aktiven
Präventionslogik kann jedoch der jugendhilfetypische Zusammenhang von Position und Disposition im Bezug auf den
Delegitimierungsgrad eine wesentliche Veränderung erfahren: Der Dispositionsbezug bleibt bestehen, bezieht sich jedoch auf
Dispositionen, die in ihrer inzidenten Form im Bezug auf das Feld noch nicht in einer Weise delegitimiert sind, dass sie
gegenwärtig der ‚besonderen’ dispositionale Erweiterung der ‚allgemeinen’ positionalen Intervention bedürfen. Eine solche
dispositionale ‚Hilfe’ ohne diesen Bedarf ist ebenso ‚präventiv’ orientiert wie paternalistisch. Dieser Bedarf wird in einer ersten
Präventionsvariante durch eine entsprechende Problematisierung bzw. Delegitimierung von Dispositionen durch den Bezug
auf eine Potentialität, nämlich ein Risiko, dass mit diesen Dispositionenen verbunden wird und diese damit problematisch
macht, selbst erzeugt. In einer zweiten Variante wird dieses Risiko nicht im Kontext der aktualen Dispositionen vermutet,
sondern aus der feldspezifischen Position mehr oder weniger kausal hergeleitet. Armut oder der Status ‚Ausländer’, so zum
Beispiel eine gängige Form dieser Variante, berge das Risiko der Abweichung der durch entsprechende prophylaktische
Maßnahmen ‚zuvor zu kommen’ sei. Aufgrund der professionsadäquaten Dispositionssensibilität wendet sich jedoch auch
diese Form der pro-aktiven Intervention letztlich – und mit ähnlichen Effekten - auf nach den je gültigen Interventionskriterien
aktual eigentlich nicht ‚interventionsbedürftig’ erscheinende Dispositionen der Akteure. Eine konsequent präventive
Orientierung beinhaltet mithin entweder die aktive Delegitimierung bzw. Problematisierung vorhandener Dispositionen sui
generis in Hinblick auf feldspezifisch relationale Positionen, oder die aktive Delegitimierung bzw. Problematisierung
präinzidenzialer Dispositionen aus einer statistischen Kopplung an die Position.
110
91
II. 4
DIE ‚GEBURT’
DER
PRÄVENTIONSORIENTIERUNG
UND DIE PRÄVENTIVEN
DIMENSIONEN
DER
JUGENDHILFE
II. 4.1
BEGRIFFSBESTIMMUNG : WAS IST PRÄVENTION?
Bezeichnet der Begriff der Intervention ein Eingreifen in einen Geschehensablauf, so verbindet der
Begriff der Prävention diesen Eingriff mit dem Ziel des Zuvorkommens oder Vorbeugens. Bezieht man
den Begriff Prävention auf abweichendes Handeln wird demnach ein Eingriff impliziert, der darauf
gerichtet ist, dem Phänomen oder Prozess zuvorzukommen, dass ein Handeln abweichend wird111.
In einer analytischen Definition kann Prävention nicht mehr als bedeuten, als die Vorverlagerung eines
Eingriffs, mit dem Ziel das Eintreten eines antizipierten, als unerwünscht betrachteten Zustands oder
Vorgangs zu verhindern, und somit einen anderen Zustand zu erhalten. Wesentlich sind also die
Dimensionen der Antizipation, der Vorverlagerung und der Zielgerichtetheit von Steuerungsversuchen
einer künftigen Entwicklung als Merkmale des Präventionsbegriffs.
Während
ausgehend
von
einem
spezifischen,
inzidenten
Phänomen
spezifische
Entstehungszusammenhänge retrospektiv einer in kausalanalytischen Form rekonstruiert werden
können, ist eine solche Form der Fallspezifität gegenüber einem zu prävenierenden Phänomen
unmöglich. Da sich Prävention als eine Intervention darstellt, die sich auf vorgängige Indikatoren
eines Phänomens, mit dem Ziel einer Verhinderung der Inzidenz dieses Phänomens bezieht, müssen
dessen Entstehungszusammenhänge prospektiv bestimmt werden. Eine solche Bestimmung ist nur
auf der Basis einer, notwendigerweise auf Aggregationen basierten, Berechnung statistischer
Wahrscheinlichkeiten möglich. Ausschließlich auf einer wahrscheinlichkeitsprognostischen Basis
gegenüber einer statistisch aggregierten Entität kann die einer präventiven Logik immanente
Behauptung aufrechterhalten werden, dass Ursachen, Auslöser oder begünstigende Umstände eines für den einzelnen Fall ja noch nicht eingetretenen und im Falle ‚gelungener’ Prävention auch in
Zukunft nicht eintretenden und daher für diesen spezifischen Fall auch nicht rekonstruktiv in seinen
Entstehungszusammenhängen bestimmbaren - Phänomens bekannt seien.
Alleine dieses Wissen ermöglicht Interventionen, die dann als Prävention bezeichnet werden können,
wenn sie auf prävalente Indikatoren gerichtet sind, die die statistische Wahrscheinlichkeit des Eintritts
eines Phänomens bestimmen, und dabei das Ziel verfolgen, diese Eintrittswahrscheinlichkeit zu
beeinflussen.
Prävention ist demnach keine Deskription eines beobachtbaren Eingriffs, sondern die als
Kontingenzregulation beschreibbare Zieldimension einer gegenwärtigen Intervention gegenüber einem
Phänomen, das zum Zeitpunkt der Intervention den Charakter eines ‚Risikos’ besitzt, d.h. eines
zukünftigen Schadens, dessen Eintrittswahrscheinlichkeit und/oder Ausmaß an gegenwärtige
Dabei ist es - entgegen vor allem in der Sozialpädagogik oft kolportierten Auffassungen - für eine taxionomische
Bestimmung von Prävention völlig sekundär, ob der antizipierte Umstand auf den sich die ‚präventiven’ Interventionen richten
auf die künftige Wiederholung eines bereits aufgetretenen oder eines befürchteten ‚neuen’ Phänomens beziehen.
Maßnahmen, die etwa einen Jugendlichen von einem Ladendiebstahl abhalten sollen, sind auch dann ‚präventiv’, wenn in
der Lebensgeschichte dieses Jugendlichen eine entsprechende Handlung bereits rekonstruiert kann.
111
92
Handlungsentscheidungen gekoppelt ist (vgl. Bröckling 2003, Luhman 1991). In diesem Sinne setzt
jede Form der Prävention immer zwei zentrale strategische Operationen voraus: „Predicing an
outcome and being able to intervene in (that is, alter) a predicted outcome“ (Walklate 2002: 60)
Die Beeinflussung der Kontingenz dieser Vorhersage kann sich darauf richten, einen möglichen
Zukunftsentwurf
möglicht
auszuschließen
oder
aber
die
Entwicklung
eines
bestimmten
Zukunftsentwurfs zu befördern, der sich sowohl von der Gegenwart als auch von dem möglichst
auszuschließenden Zukunftsszenario unterscheidet. In diesem Sinne hat Prävention in Bezug auf den
Versuch der Erhöhung der Wahrscheinlichkeit des Nicht-Eintritts einer unerwünschten Zukunft einen
‚konservativen’ Charakter und im engeren Sinne des Wortes logisch repressiven Charakter (vgl.
Schülein 1983: 17), der jedoch begrifflich widerspruchsfrei um das Moment einer proaktiven
Gestaltung erweitert sein kann, dessen präventive Qualität darin besteht, dass in dem Maße wie sich
dieser Impuls im Zeitverlauf realisiert, die gegenwärtige Kontingenz alternativer, unerwünschter
Zukunftsentwürfe reduziert.
Richtet sich Prävention auf durch menschliches Verhalten induzierte gesellschaftliche Phänomene bzw.
Phänomene, die sich auf ‚das Soziale’ beziehen, kann davon gesprochen werden, dass sich präventive
Eingriffe innerhalb eines Kontinuums vollziehen, das auf ein Verhältnis von Individuum und
Gesellschaft – bzw. ‚the civil’ und ‚the civic’ (vgl. Silverman 1997) - verweist: Prävention kann sich auf
die Wahrscheinlichkeit von Schädigung beziehen, die einem Individuum aus den vorherrschenden
Machbeziehungen und Lebens-, Handlungs- und Verkehrsformen gesellschaftlicher Praxisfelder
widerfahren. Prävention kann in diesem Fall als eine ‚subversive’ Strategie der Bearbeitung sozialer
Bedingungen
zugunsten
der
Individuen
verstanden
werden,
deren
Interessen
gegebene
gesellschaftliche Ordnungen und Regelmäßigkeitssysteme zuwiderlaufen.
Eine solche Subversion wäre jedoch ihrerseits ein bevorzugtes Objekt jener Präventionsstrategien, die
darauf gerichtet sind, die Kontingenz einer Schädigung der gesellschaftlichen Ordnung zu reduzieren.
In ihrer hegemonialen Form bezieht sich Prävention auf die Risiken, die bestimmte Phänomene,
Entwicklungen, Einzelne oder Gruppen für das Ziel einer Aufrechterhaltung und Erreichung der ‚SollWerte’ (vgl. Nogala 2000) einer bestehende normativen und/oder funktionalen Ordnungs- und
Bedingungsmatrix darstellen. Folgt man Siegfried Lamnek (vgl. 1994: 216) ist Prävention in diesem
Kontext eine ‚Subkategorie’ sozialer Kontrolle, deren Spezifikum darin bestehe, dass sie antizipatorisch
vor der Inzidenz bestimmter Praxisweisen einsetze. In Bezug auf diese Definition ist jedoch fraglich,
ob eine antizipatorische Dimension nicht ein Charakteristikum jeder Form sozialer Kontrolle ist, bzw.
ob eine lediglich nachgängige Ahndung bestimmter Handlungsweisen, die nicht zugleich auf das Ziel
verweisen, Unerwünschtes zu verhindern (vgl. Scheerer 2000) und/oder Erwünschtes zu erzeugen
(vgl. Peters 2000), d.h. eine Korrespondenz zwischen einem Ist- und einem Soll-Wert herzustellen
(vgl. Nogala 2000), überhaupt unter den Begriff ‚soziale Kontrolle’ subsummiert werden können.
Sofern soziale Kontrolle nicht als ein Phänomen gefasst wird, dessen Funktion eine ausschließlich
retributive ist (dazu: Sumner 2001), sind ‚Prävention’ und ‚soziale Kontrolle’ synonyme Begriffe.
Historisch geht der Begriff Prävention einem sozialwissenschaftlichen Begriff sozialer Kontrolle (dazu
Ross 1901) voraus. Die Verwendung des Begriffs ‚soziale Kontrolle’ selbst findet ihre Wurzelen in
93
Auguste Comtes Ausführungen zur ‚Voraussicht‘ (prèvision) und - davon beeindruckt – in der von
Ward geprägte Formel der ‚prediction in order to control’ (vgl. Dewe & Ferchhoff 1991: 503). Soziale
Kontrolle
und
Prävention
beziehen
sich
demnach
beide
auf
die
Fähigkeit,
gewünschte
Lebensperspektiven und -prinzipien zu regulieren.
Prävention lässt sich in so fern als eine Intervention sozialer Kontrolle betrachten, die sich als
Strategie der vorausschauender, d.h. - auf einer teleologischen Ebene - zukunftsgerichteter,
Kontingenzbearbeitung darstellt. Diese Kontingenzbearbeitung kann verschiedene Formen annehmen:
sie kann darauf abzielen, bestimmte Phänomene völlig auszumerzen, darauf ihre Formen und
Ausmaße zu verändern, sie kanalisierend in Kontexte zu leiten, in denen sie weniger störend oder
einfacher zu ‚managen‘ scheinen etc. - Je nach gesellschaftlichem Feld, nach Operationalisierungen
der in diesem Feld eingelagerten Interessen und nach den Verweisungszusammenhängen zwischen
Kontrollsubjekten und Kontrollobjekten kann die eine oder andere Strategie vorherrschend sein.
Unabhängig davon bleibt für alle Präventionsstrategie eine Referenz auf verbindliche Normen und
Standards konstitutiv.
Diese können als sektorale Hegemonien in ‚alltäglichen’ Normalitätserwartungen wirksam sein,
eingeschrieben in der strukturierten Logik der Praxis einzelner sozialer Felder. Sie können auch –
und/oder zugleich - in Form legalen Kapitals, als gesetzte Standards der bevorzugten oder zumindest
akzeptierten Verkehrsformen über einzelne soziale Felder und intersubjektive Sinnzusammenhänge
hinweg, verallgemeinernd für eine gesamte gesellschaftliche Formation Gültigkeit besitzen und durch
formale Institutionen aufrecht erhalten werden. In jedem Falle trifft eine partikulare, sozietal
verallgemeinerte oder administrativ repräsentierte Gemeinschaft durch die Typisierung eines Zustands
als präventionswürdig eine Entscheidung darüber, welche mit dieser Typisierung in Verbindung
gebrachten Lebensäußerungen sie nicht (mehr) zu dulden bereit ist. Eine solche Entscheidung
impliziert wie es Zygmunt Baumann formuliert eine ‚Zumutung’ mit zweifachem Effekt: nämlich eine
Ordnung und eine Norm (vgl. Baumann 1997: 115).
Erst durch einen solchen Bezug können ‚normale’ bzw. ‚akzeptable’ Handlungsweisen in Abgrenzung
zu ‚abweichenden’ und ‚unerwünschten’ symbolisch markiert werden. Damit ist jedoch zugleich auch
umgekehrt impliziert, dass Bemühungen zur Aufrechterhaltung der je gegebenen Formen dieser
Markierung notwendigerweise Abweichung - als ihren Konterpart – konstituieren (vgl. Sack 1993).
Die Etablierung solcher Markierung – und in so fern auch die Konstitution von Abweichung – ist nicht
auf einen empirischen Durchschnitt bezogen, sondern verweist auf ‚symbolische Macht’ (vgl. Bourdieu
1985, 1987). Mit Rekurs auf die ihnen zu Grunde liegenden (symbolischen) Machtprozesse und
Machtverhältnisse, können verschiedenen Formen dieser Markierungen danach unterschieden werden,
ob sie ‚lediglich‘ handlungsstrukturierend in die Strukturen einer feldspezifischen Praxis durch die
Praxis eingeschrieben, oder in einer zu legalem Kapital ‚geronnenen’ Form kodifiziert sind.
Im ersten Fall werden sie nach der Maßgabe der je hegemonialen Praxisform wirksam.
In einer institutionalisierten Fassung werden sie ihrer feldspezifischen Diachronität entrissen und
wirken (formal neutral) über die dominanten Praxisformen einzelner Felder und über je aktuelle
gesellschaftliche Konkurrenz- und Klassenkämpfe hinweg. Konflikte werden damit ihres intrinsischen
94
Maßstab - der hegemonialen und auf symbolischer Ebene ‚moralkapitalistisch’ als legitim bewerteten
Praxis – enteignet und dem verallgemeinerten Maßstab des legalen Kapitals jenseits einer ‚Praxis der
Praxis‘ (vgl. Bourdieu 1987) zugeführt.
Diese Differenz entspricht der Differenz von formeller und informeller Kontrolle112, die in sofern mehr
als nur unterschiedliche Mittel der Aufrechterhaltung derselben ‚Markierungen’ darstellen. Das
Verhältnis von formeller und informeller Kontrolle und die Frage welche Bedeutung welcher
Kontrollform in den einzelnen Präventionsstrategien zugestanden wird, ist demnach äußert
bedeutungsvoll für die Setzung der symbolischen Demarkationslinien akzeptabler Lebensäußerungen
und damit verbunden der gesellschaftlichen Produktion Ordnung und Abweichung.
Alleine aufgrund der Feldspezifität hegemonialer Praxisformen ist davon auszugehen, dass „formelle
und informelle Kontrolle keine inhaltliche Gleichsinnigkeit aufweisen, sondern eher durch Divergenzen
und Diskrepanzen gekennzeichnet sind“ (vgl. Sack 1997: 23). Soweit die empirische Logik der Praxis
eines einzelnen soziales Feld nicht deckungsgleich ist mit der institutionellen Repräsentation des
gesamten sozialen Raum, kann es alleine deshalb keinen Gleichklang zwischen informeller und
formeller Kontrolle geben, weil erstgenannte auf die Diachronität je feldspezifisch hegemonialer
symbolischer Macht verweist, während sich die formelle Kontrolle auf deren Synchronisierung zu
einem gesellschaftlich verallgemeinerten und verbindlichen Aggregat als ‚legales Kapital’ bezieht.
Dies bedeutet, dass etwa Verschiebungen in den Präventionsstrategien zu Gunsten einer Stärkung der
informellen Dimension von Prävention auch als Verschiebung der Parameter der Erzeugung von
‚Norm(alität)‘ und ‚Ordnung(en)‘ verhandelt zu verhandeln sind, die zumindest die Relativierung einer
verallgemeinernden
Legalitätsorientierung
zugunsten
einer
Orientierung
an
je
‚sektoralen
Hegemonien‘ impliziert und vice versa.
II. 4. 2
Der
Begriff
‚PRÄVENTIVE‘ UND ‚NICHT-PRÄVENTIVE‘ DIMENSIONEN MIT ABWEICHUNG BEFASSTER INSTITUTIONEN
‚Prävention’
erscheint
als
eine
geeignete
Formel
für
einen
rationalen
und
vorausschauenden Umgang für alles, was mit Gefahren, Schädigungen Unsicherheit, Problemen,
Konflikt oder kurz mit allem in Verbindung gebracht werden kann, was sich als nicht erwünscht
darstellen lässt. In diesem Sinne ist ein Rekurs auf Prävention insbesondere zur (Selbst-)Beschreibung
der Interventionen jener Institutionen geeignet, die sich mit den ‚Schattenseiten des gesellschaftlichen
Normalitätsentwurfs’ (vgl. Mollenhauer 1994) auseinandersetzen.
Das SGB VIII, als die rechtliche Rahmung der Kinder- und Jugendhilfe zeichne sich, so die nahezu
einhellige Meinung seiner Kommentatoren, vor allem dadurch aus, dass es ein modernes
Im Rahmen der Auseinandersetzungen mit dem den zeitgenössischen Präventionsstrategien wird sich zeigen, dass
letztgenannter (wieder) verstärkt Bedeutung zugemessen wird. Würde dieser Bedeutungsgewinn nur eine Verschiebung der
Mittel der Aufrechterhaltung derselben ‚Markierung’ darstellen, könnte man ihn durchaus lediglich als quantitativen Zuwachs
der Kontrolldichte bzw. Unterstützung der formalen Kontrollinstanzen verhandeln oder, im Falle einer sukzessiven Ersetzung
formeller Kontrolle in einigen Bereichen, als deren ökonomisch und organisatorisch günstigeres Äquivalent (vgl. Cohen 1979,
Scull 1980).
112
95
Leistungsgesetz mit präventivem Charakter sei113. Im Achten Jugendbericht (1990: 84 ff) wird
Prävention von lediglich nachgehenden Hilfen unterschieden und unter den Strukturmaxime einer
lebensweltorientierten Jugendhilfe nimmt Prävention den prominenten ersten Rang ein (vgl. Thiersch
1992). Auch hinsichtlicht der Prozesse einer so genannten ‚Normalisierung der Sozialarbeit’ zu einem
„Standardangebot für Normalbiographien“ (Merten & Olk 1999: 976) und der Fortentwicklung der
Kinder- und Jugendhilfe zu einer modernen, personenbezogenen sozialen Dienstleitung wird eine
‚präventive Orientierung’ als wesentlicher Indikator angeführt (vgl. 9. Kinder- und Jugendbericht,
Merten & Olk 1999).
Allerdings ist die ‚Entdeckung’ der Prävention kaum auf die letzten Dekaden des 20. Jahrhunderts zu
datieren. Explizit wird der präventive Charakter der Sozialpädagogik von Gertrud Bäumer (1929: 221),
als ein „gemeinsames Werk der Heilung oder Vorbeugung“ beschreiben und auch im Sinne
handlungspraktischer Orientierungen bringen z.B. die Jugendfürsorgeleitbilder im Wilhelminischen
Reich, systematische Rekurse auf die Notwendigkeit präventiver Gesichtspunkte in der Jugendhilfe
explizit zur Geltung (vgl. Niemeyer 2000: 442). Weniger systematisch, aber an durchaus zentralen
Stellen finden sich Konzepte, denen aus moderner Perspektive zumindest eine ‚präventive’ Intention
bescheinigt werden kann bereits bei den ersten ‚Fürsorgetheoretikern’ der frühen Neuzeit (vgl. etwa
Juan Luis Vives 1526). Kurz, der ‚Ruf nach Prophylaxe’ ist kein neues Phänomen in der Jugendhilfe,
sondern stellt von Beginn an ein zentrales Konstitutionselement der Sozialen Arbeit und ihrer
Vorgänger dar (vgl. Blanke & Sachße 1987: 260).
In der Tat erscheint eine präventive Orientierung selbstredend sinnvoll und einleuchtend. In
normativer Hinsicht ist Prävention ‚gut’ weil soziale Probleme ‚schlecht’ sind (vgl. Walklate 2002: 60).
Für Prävention zu sein, hat einen appellativen Charakter, der in etwa dem Bekenntnis gegen Sünde zu
sein entspricht (vgl. Gilling 1999: 2) und die eigene Positionierung auf der ‚richtigen’ Seite zum
Ausdruck bringt. Strategisch impliziert Prävention, es sei besser etwaige Problemlagen von vorn
herein zu verhindern, als sie später, wenn sie eine ‚Zuspitzung’ und ‚Verhärtung’ erfahren haben, - mit
‚großem Aufwand - kurieren zu müssen. Daher reiche es, wenn man
„Probleme lösen, Verhältnisse verbessern und Kinder und Jugendliche fördern und Unterstützen will […] nicht,
immer nur als Feuerwehr gefordert zu sein, wenn […] das Kind bereits in den Brunnen gefallen ist. Gefordert sind
Strategien und Ansätze, die früher ansetzen, zu einem Zeitpunkt also, ‚bevor es zu spät ist’“ (Lüders 1999).
In diesem Kontext finden sich Bestimmungsversuche – und Abgrenzungsversuche zum Begriff der
Intervention - die Prävention als ‚rechtzeitige Intervention’ (vgl. Böllert 1996: 440) oder gar als
„richtige Reaktion zum richtigen Zeitpunkt“ (Gabriel 2001: 18) fassen – und damit zugleich eine ‚gute’
und angemessene von einer offensichtlich ‚schlechten’ Jugendhilfe zu unterscheiden. Eine solche
Definition, im Sinne nur ex post im Verhältnis zur Zielerreichung bestimmbaren Qualität einer
Intervention, hat einen stark appellativen Charakter, der es sehr erstrebenswert macht möglichst alle
Maßnahmen als präventiv zu beschreiben, über analytische Überzeugungskraft verfügt er jedoch
Damit ist vor allem auch gemeint, dass es im Vergleich zum ‚Jugendwohlfahrtsgesetz’ den Charakter eines ‚repressiven
Eingriffsrechts’ verloren hätte
113
96
kaum114: ‚Nicht- präventiv’ würde gemäß dieser Definition entweder bedeuten insgesamt falsch oder
zum falschen Zeitpunkt einzusetzen oder beides. Jedenfalls wird damit ein Vorgehen, das wie auch
immer, nicht richtig ist. Auch auf einer politischen Ebene besteht über die Notwenigkeit von
‚Prävention’ ein breiter Konsens. Auch hier können im einzelnen allerlei durchaus widersprüchliche
Maßnahmen gleichzeitig mit dem Etikett ‚präventiv‘ versehen werden.
In interventionslegitimatorischer Hinsicht ist der Präventionsbegriff für die Jugendhilfe nahezu
unverzichtbar. Er ermöglicht ihr etwa logisch und praktisch widerspruchsfrei, neben ihren ‚freiwilligen
Leistungen’ und der Erfüllung der Rechtsansprüche ihrer Adressaten auch ihre ‚echt hoheitlichen’
Ordnungstätigkeiten (vgl. Münder 2001: 1010) als Prävention zu verhandeln und vor dem Hintergrund
des, ja nicht ‚eingriffs-’ sondern ‚präventionsorientierten’ SGB VIII, eine „Gegenüberstellung von
Sozialanspruch und Sozialdisziplinierung [zu vermeiden], indem es [… sie beide] in den Dienst
präventiver Sozialplanung stellt“ (vgl. Richter 2001: 1027). Da es der strukturellen Logik der
Interventionen der Jugendhilfe entspricht präventiv zu sein, ist eine solche Umbenennung von
Eingriffen in Prävention zwar analytisch nicht sonderlich hilfreich, aber auch nicht falsch.
Nicht nur in der Jugendhilfe, sondern auch im kriminalpolitischen Diskurs hat sich der Rekurs auf
‚Kriminalprävention‘ jenseits einer strafjustiziellen Ahndung zur dominierenden Zielorientierung
entwickelt (vgl. Walter 1999: 25 ff). Allerdings ist ‚Prävention’ auch hier ein zwar keinesfalls
voraussetzungsloses und zur Rekonstruktionen der kriminalpolitischen Straf- und Kontrollrationalitäten
im analytischen Sinne korrektes Etikett, aber es wird als kategorial ‚falscher’ Gegenbegriff zur
‚Intervention’ bzw. ‚Repression’ verwendet und bleibt darüber hinaus weitgehend inhaltsfreie: Legt
man ein traditionelles kriminologisches Verständnis zu Grunde, nach dem Prävention all jene
Maßnahmen bezeichnet, die auf eine kalkulierende Erzeugung von Konformität zielen beachtet
darüber hinaus, dass die Personen, die in den direkten ‚Genuss‘ entsprechender Maßnahmen
kommen, nicht einmal identisch sein müssen, mit denen, auf die die Prävention zielt115, ist der Kritik
von Lowman et al. (1987: 4) insgesamt zu zustimmen, dass der Präventionsbegriff wie ein „Dietrich
[wirke] der so viele Türen öffnet, dass seine analytische Kraft abhanden kommt“. Ebenso wie im Falle
‚sozialer Kontrolle’ ist ein unbestimmter Rekurs auf ‚Prävention’ ein, wie es Stan Cohen (1985)
formuliert,
‚Mickey Mouse Konzept‘, das von der frühkindlichen Sozialisation bis zur Todesstrafe
reicht. Alle Interventionen, die sich deshalb auf Sacherhalte, Personen, Konstellationen oder
Situationen richten sind, weil sich diese als riskant beschrieben lassen, können zutreffend als
Prävention beschrieben werden.
Auf einer analytischen Ebene ergeben sich beispielsweise bei der Orientierung am Begriff der ‚Rechtzeitigkeit‘ u.a.
Fragen hinsichtlich seiner Operationalisierung, seiner Abgrenzung, der ‚Um-Zu-Variablen’ auf die er sich beziehen soll usw.
sowie die grundsätzliche Skepsis, ob ‚Rechtzeitigkeit’ – die Kontingenz menschlichen Handelns gesetzt - überhaupt eine
prospektive Kategorie darstellen kann, oder nicht vielmehr selbst eine retrospektive Interpretation des Geschehenen
darstellt.
115 So will etwa der amerikanische Ökonom Isaac Ehrlich (1975) in einer ökonometrischen Analyse des
Abschreckungseffekts der Todesstrafen errechnet haben, dass pro zusätzlicher Hinrichtung bis zu acht Tötungsdelikte
verhindert werden könnten. Pointiert formuliert Edwin M. Schur (1974) dass die eigentliche Funktion der Strafe nicht darin
bestünde Abweichende selbst zu „zu ändern oder potentielle Abweichende abzuschrecken, sondern darin den sozialen
Zusammenhalt zu fördern oder zu verstärken“.
114
97
Zwar Wandeln sich die jeweiligen Normen und Maßnahmen tendenziell mit ihrer Zielsetzung, jedoch
liegt grade in Bezug auf abweichendes Handeln die Unterscheidung präventiv/nicht präventiv in nicht
in der Norm oder der Maßnahme selbst, sondern in ihrer Legitimation begründet. D.h. es ist nicht
notwendig, eine Norm oder Maßnahme als solche, sondern nur ihre symbolische Besetzung zu ändern,
um sie von einer ‚nicht-präventiven‘ in eine ‚präventive‘ zu ‚verwandeln‘.
Wenn etwa Rössner et al. (2002: 6f) beispeilsweise argumentieren, Repression und Prävention seien
„zwei divergierende Ansätze“ und von „Argumente[n] für und wider Prävention und Repression“
sprechen (vgl. auch Body-Gendrot 2000), so mag dies als ein, wie auch immer begründetes, Votum
intendiert sein, mit punitiven, strafrechtlichen - in aller Regel aber nichtsdestoweniger ‚präventiven’ Maßnahmen zugunsten prä-justizieller Interventionen möglichst sparsam umzugehen, analytisch ist
eine solche Unterscheidung indes nicht haltbar116.
Ob eine Intervention präventiv ist oder nicht, hängt nicht von der Maßnahme selbst, sondern von ihrer
Zwecksetzung ab. Sperrt man, um ein Beispiel zu geben, einen des Normbruchs überführten
Menschen ein, ist daraus alleine zunächst zu nicht erkennen, ob diese Intervention präventiv ist oder
nicht. Sperrt man ihn – z.B. für drei Jahre117 - mit der Begründung ein, dass er verbrochen habe, und
die Strafe daher verdiene, ist diese Intervention nicht präventiv. Sperrt man den gleichen Menschen
für den Rest seines Lebens ein, weil er ein gefährlicher Verbrecher sei, den es unschädlich zu machen
gilt, ist diese Intervention – u. U. ausschließlich - präventiv. Dem weder entgegen, dass beide
Maßnahmen Interventionen sind, noch dass beide Intervention inhaltlich in so fern gleich gerichtet
sind, dass sie Freiheit entziehen, noch dass die präventive Variante ungleich repressiver ist als die
nicht-präventive und schließlich auch nicht, dass beide Interventionen ex post nach einem inzidenten
Normbruch einsetzen.
Um die Frage des präventiven und nicht-präventiven Umgangs mit Abweichlern, jenseits der
analytisch völlig unbrauchbaren Gegensatzpaare ‚Repression und Prävention’ oder ‚Prävention und
Intervention’ zu erhellen, bietet sich ein historischer Blick in den Strafdiskurs an.
Mit Blick auf philosophische Auseinandersetzungen mit dem Thema Strafe lässt sich davon sprechen,
dass eine Begründung ‚repressiver’ bzw. ‚punitiver’ Intervention durch ‚präventive’ Zwecken ein sehr
altes Argument ist. Argumentative Figuren dieser Art finden sich etwa in Senecas ‚De ira‘ (‚Über den
Zorn’) - nach dem vernünftigerweise nicht gestraft werden sollte weil gefehlt wurde, sondern damit
nicht gefehlt werde - ebenso wieder, wie in Platons Ausführungen zur die Lehrbarkeit der Tugend im
‚Protagoras’.
In einem systematisch-techologischen Sinne ist die Bindung der Bestrafung eines Individuums an
gesellschaftliche Zwecke jedoch ein sehr voraussetzungsvolles Produkt einer Wissensformation und
Subjektrepräsentation, die vor allem im 19. und 20. Jahrhunderts dominant wird. Wenn Franz von List
mehr als zwei Jahrtausende nach Platon mit seiner These provoziert, Strafe sei „Prävention durch
Phillipe Robert (2003: 116) beklagt ananlytisch zu Recht, dass, „the term prevention is even commonly used to designate
any non-punitive solution susceptible of reducing the frequency of criminal behavior, despite the fact that logically, it
obviously includes deterrence through punishment“.
117 Von Hirsch (1996: 321) - ein Vertreter von nicht-präventiven 'just desert' Strafen - empfiehlt dass die Strafe für meisten
Delikte - dabei hat er Straftaten wie Tötungsdelikte und bewaffnete Überfälle im Blick - unter drei Jahren bleiben sollen.
116
98
Repression; oder wie wir ebenso gut sagen können: Repression durch Prävention“ (Liszt 1905: 176),
so argumentiert er auf Basis einer Form der Strafe, einem Kanon von Wissen und einer Rationalität
staatlicher Herrschaftsausübung, die nur sehr bedingt an Platon anschließt.
Jenseits philosophischer Traditionslinien ist der Unterschied vielleicht noch gravierender. Die
zumindest im außer- und nach-römischen Mitteleuropa keinesfalls ‚schon immer’, sondern erst ab
etwa dem 12. Jahrhundert auftauchenden formellen Strafen (vgl. Achter 1951, Brockmann 1988) sind
zunächst ‚nicht-präventiv‘. Neben der, ebenfalls ‚außerpräventiven’, ‚germanischen’ Traditionen eines
Schädigungsausgleichs für begangenes Unrecht (vgl. Foucault 2002) – ein ‚Kompensationsprinzip’ das
sich neben dem Moment der Übelvergeltung (talionsche Strafe) auch in der Hethitischen
Rechtssammlung (1500 v.Chr.), dem griechischen und dem römischen Recht findet (vgl. Messmer
2001) - wird Strafe ihrer Logik nach als absolute Strafen vollzogen. Sie stellt eine ‚zweckgelöste
Majestät‘ (vgl. Maurach 1971) bzw. einen Selbstzweck dar, der sich an einer vollzogenen,
abgeschlossenen Tat orientiert, sich bereits durch den bloßen Vollzug erfüllt und nicht auf Effekte
außerhalb der Strafe selbst zielt.
Die Begründung dieser Strafformen erfolgt im wesentlichen normativ-metaphysisch118, aufgrund
sittlicher und prinzipieller Notwendigkeit (vgl. Neumann & Schroth 1980: 11f), nicht aber aufgrund
einer ‚Angemessenheit’ in Bezug auf die soziale und persönliche Situation des Delinquenten oder einer
gesellschaftlichen Nützlichkeit bzw. ‚sozialen‘ Aufgaben der Strafe. Obgleich die ‚absoluten’ Strafen mit
dem frühen Liberalismus an Bedeutung verlieren, folgt im Prinzip auch noch Immanuel Kant dieser
Perspektive, wenn er fordert einen Täter kategorisch zu sanktionieren, ‚weil er verbrochen hat’ (vgl.
Kant 1956). Das Kant’sche Argument für die ‚absolute Strafe’ ist vom einem aufklärerischen, gegen
Willkür und Despotie gerichteten Impetus beseelt, der gänzlich anti-präventiv ist: der Täter soll nur
für die Tat bestraft werden, die er tatsächlich und schuldhaft vollzogen hat.
Absolute Strafen können sich im Wesentlichen auf drei Rechtfertigungsmuster beziehen. Neben der
von Kant und Hegel bemühten Gerechtigkeitstheorie bestehen diese im Sühne- und Reuegedanken
(vgl. Neumann & Schroth 1980). Der Sühnegedanke impliziert das Moment der Rache und Vergeltung,
aber auch die – ebenso wenig präventiven – Vorstellungen von Versöhnung und Ausgleich. Eng damit
verbunden ist der Reuegedanke, demgemäß die Strafe zugleich die Reue des Delinquenten
symbolisiert, der seine Strafe ‚annimmt’. Dieses ‚Annahmen’ ist eher symbolisch als empirisch zu
verstehen und findet sich etwa in der von Foucault beschriebenen Vierteilung des ‚Königsmörders’
Damiens, die damit beginnt, dass dieser „vor dem Haupttor der Kirche von Paris öffentliche Abbitte“
tun und „seine rechte Hand […dabei] das Messer halten [soll], mit dem er den Vatermord begangen
hatte, und mit Schwefelfeuer gebrannt werden“ (Foucault 1994: 9, vgl. Karasek 1994).
Sämtliche Begründungen absoluter Strafen sind nicht zukunftsbezogen, sondern darauf gerichtet
einen in der Vergangenheit beschädigten Gleichgewichtszustand wieder herzustellen. Nach der
Gerechtigkeitstheorie wird durch die Strafe - als die Negation der Negation (vgl. Hegel 1970) – der
Bruch des Gesellschaftsvertrags ausgeglichen oder eine gleichsam ‚naturrechtliche‘ Gerechtigkeit
Ein häufig im engeren Sinne religiöser Einfluss ist dabei unübersehbar und hat sich, trotz weitgehend säkularisiertem
Strafrecht bis heute zumindest in Diktionen wie Bußgeld, Sühne, Schuld, Reue, Gnade oder Verkehrssünder erhalten.
118
99
reetabliert, in dem das durch die Tat entstandene metaphysische Ungleichgewicht wiederhergestellt
wird. Auch im Sinne der Sühnetheorie sorgt die Strafe für die Versöhnung des Delinquenten mit der
Natur, der Gemeinschaft oder dem Souverän, an denen sich der Delinquent durch seine Tat
versündigt
habe.
Insbesondere
die
öffentlichen
und
blutigen
Körperstrafen,
Martern
und
Hinrichtungen sind darauf gerichtet, sichtbar zu demonstrieren, dass die Macht des Souveräns auch
mit die der Übertretung seiner Gebote durch seine Unterworfenen ungebrochen ist (vgl. LudwigMayerhofer 2000: 330, Foucault 1994) – ein Moment der Strafe, das sich in sublimierter Form bis
heute erhalten hat (vgl. Hess & Stehr 1987, Steinert 1997).
Insbesondere im frühen Liberalismus und der Aufklärung dominiert eine – vor allem mit den Namen
Cesare Beccaria (1738-1794) und Jeremy Bentham (1748-1832) verbundene – rechtsformalistische
Position den Strafdiskurs. Obgleich diese Position bemessen an den Prämissen des präventiv
begründeten
‚Strafmodernismus’
(vgl.
Garland
1985)
in
wesentlichen
Bereichen
als
‚anti-
präventionistisch’ bezeichnet werden kann, setzt sich ein bis heute erhaltenes Moment der Prävention
mit dieser Perspektive durch: das Moment der Abschreckung.
Über dieses Abschreckungsmoment hinaus ist die frühliberale Position jedoch insofern nicht präventiv,
wie sie darauf besteht, dass sich eine Differenzierung der Kategorien des Kriminellen sowie der Grund
und das Maß der Strafe einzig aus den begangenen Delikten und dem normativen Erfordernis ihrer
Vergeltung - als einem tatbezogenen Schuldausgleich - herleitet (vgl. Albrecht 1999: 48f).
Mit
Bezug
auf
die
Täter
interessierten
aus
dieser
frühliberalen
Perspektive
weder
ihre
Persönlichkeitsmerkmale, noch die Bedingungen ihrer Genese, noch die Frage unter welchen
Bedingungen sich die Persönlichkeit und ihre Handlungsformen prospektiv in die eine oder andere
Richtung entwickeln werden119. Im Gegensatz zur modernen Präventionslogik sind die Täter in dieser
Rationalität keine ‚Risikosubjekte’. Sie interessieren, pointiert formuliert, nicht einmal als leibhaftige,
„individuelle Subjekte, sondern nur als abstrakte Rechtssubjekte, die nicht durch Interventionen von
außen verändert werden sollen“ (Groenemeyer 2001: 120).
Aus der frühliberalen Perspektive unterscheiden sie sich von konformen Akteuren ausschließlich darin,
dass sie die Regeln des Gesellschaftsvertrag gebrochen haben (vgl. Kunz 1998), weshalb – vor dem
Hintergrund des von den Liberalen gesetzten, prinzipiellen Freiheitsrechts der Akteure, von staatlichen
Interventionen verschont zu bleiben – der formalistisch formulierte Zweck der Strafe auch nur darin
liegen darf, den vergangenen, abgeschlossenen Verstoß gegen das Recht zu sanktionieren. Basierend
auf dem, aus dem römischen Recht übernommenen, ‚nulla poena sine lege’ Grundsatz repräsentiert
ein solcher Formalismus das klassisch liberalen Strafecht weniger das Moment der bloßen Rache,
Diese Ausführungen haben für die klassisch-liberale Position viel stärkere Geltung als für die ‚pönale Wirklichkeit’ dieser
historischen Epoche selbst . Es sei darauf verwiesen, dass es im 18. und 19. Jahrhundert sowohl auf das Strafrecht als auch
auf den Strafvollzug starke Einflüsse gab, die dieser liberalen Position eine deutlich soziale Position entgegensetzten. Der
Bezug auf die soziale Positionierung, und die Forderung der 'Sünde' und der Kriminalität etc. durch soziale Reformen und die
Besserung des Einzelnen zu begegnen findet sich sehr deutlich bei einigen Einflussreichen reformerischen Kräften und vor
allem in der (philanthropischen wie der politisch-aufklärfrischen) Literatur seit der Zeit um die französische Revolution. Die
Position ‚child saver’ Mitte des 19. Jahrhunderst, den kriminellen Jugendlichen nicht durch Strafe, sondern durch die
disziplinierende Kraft der Arbeit und konsequent religiöse Erziehung kann keinesfalls einfach als eine subdominante Position
119
100
sondern stellt zugleich eine Garantie der Freiheitssicherung - formal gleich zu behandelnder Bürger120 gegen die Ansprüche und Willkür des Staates dar (vgl. Albrecht 1994).
Der Ausgangspunkt des klassischen Strafrechtssystems ist die Repräsentation der Akteure als ‚homo
penalis’ (vgl. Lemke 1997, Pasquino 1991), der als rational entscheidendes freies Individuum
verstanden wird (Groenemeyer 2001: 120) und dieses auch bleiben soll.
Während all diese Momente von einer präventiven Rationalität weit entfernt sind, ermöglicht eine
solche – im wesentlichen auf einer utilitaristischen Philosophie gespeiste - Repräsentation des
Rechtsbrechers durch das Moment der Abschreckung durch Strafe, die erste, grundlegendste und am
stärksten durchgängige Form der Prävention im Kriminalitätsdiskurs. Diese Präventionsform basiert
auf der Annahme, dass - wie William Seagle (1951: 357) in seiner ‚Weltgeschichte des Rechts’
ausführt „Menschen vernünftige, denkende Wesen seien, die sich bei ihrem Verhalten nach den Erwartungen von Lust und
Unlust lenken lassen. Aus diesem Grunde werde, so nahm man an, ein Mensch von kriminellen Handlungen
abstehen, wenn die dafür angedrohte Strafe ausreiche, um die Hoffnung auf einen möglichen Vorteil oder
materiellen Gewinn aufzuwiegen“.
Dieser präventive Aspekt wird von Beccaria wie Bentham explizit erwünscht und in dem Sinne
systematisch ausgearbeitet, dass die Strafhöhe genau so gestaltet sein soll, dass sie gezielt den
‚Nutzen’ einer Tat nivelliert. Diese Präventionsdimension ist jedoch in so fern eher ‚passiv’, wie sie der
Strafdrohung - und damit vor allem der Existenz und Gewissheit einer Strafe - immanent sein soll,
„von einer intentionalen positiven Beeinflussung im Sinne einer Spezialprävention [(s.u.) kann aber]
keine Rede sein“ (Cornel 2003: 35). Die strafende Intervention gegenüber den einzelnen
Rechtsbrechern selbst bleibt in sofern keine zielgerichtete Form einer ‚aktiven’ Kontingenzbearbeitung,
wie sie nach wie vor im wesentlichen auf die Schuld des Täters bezogen ist und weder mit einem
systematischen, sozialregulatorischen Anspruch – da es nach dieser Auffassung eben keine
(‚gesellschaftlichen’) Ursachen für die Tat außerhalb der freien Willensentscheidung des einzelnen
Subjekts gibt - noch differenziert nach ‚Risikosubjekten’, sondern proportional zur vollzogenen Tat
erfolgt: „Kriminalprävention war also vor […] den zwei letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts noch
nicht die bestimmende Legitimation der Ausschließung bzw. des Einschlusses“ (Cornel 2003: 35).
Allerdings wird bereits von einem entscheidenden Denker der Strafklassizismus des 18. Jahrhunderts,
Jeremy Bentham, mit dem Modell des Panoptikums – bei Bentham ein Turm im Gefängnis, der so
positioniert ist, dass ein Wächter möglichst in alle Zellen blicken und die Insassen überwachen kann,
ohne von ihnen selbst gesehen zu werden - die Idee einer Form der Prävention entwickelt, die in ihrer
Grundidee zentral für die Präventionsformen moderner Gesellschaften und die ihnen zu Grunde
liegenden Machtverhältnisse wird. Weniger das Panoptikum selbst, als vielmehr das, was Foucault
(2002: 748f) als ‚Panoptismus’ nennt repräsentiert drei Aspekte, die für den modernen
Präventionsmus von zentraler Bedeutung sind: Überwachung, Kontrolle und Besserung. Diese Form
der präventiven Rationalität, repräsentiert den Übergang zu einen ‚Strafmodernismus’ (vgl. Garland
betrachtet werden. Dies gilt analog auch für die ‚gefallen’ Frauen und in einem abgeschwächten, nichtsdestoweniger
feststellbaren Maße auch für männliche Erwachsene.
120 Im Deutschen Reich freilich noch Untertanen
101
1985), der dem liberalen ‚Strafklassizismus’ entgegensteht. Die ‚klassische’ Straftheorie, obgleich mit
ersten ‚präventiven Dimensionen’ versehen,
„knüpft die Strafe und die Möglichkeit einer Bestrafung an mehrere Voraussetzungen: Es muss ein explizites Gesetz
geben; es muss ein expliziter Verstoß gegen dieses Gesetz vorliegen; und die Strafe muss die Funktion haben, das
Unrecht das der Gesellschaft durch den Gesetzesverstoß zugefügt worden ist, wieder gutzumachen und [- hierin
liegt die, wenngleich noch systematisch nachgeordnete, präventive Idee -] eine Wiederholung nach Möglichkeit zu
verhindern. Diese legalistische […] Theorie ist das genaue Gegenteil des Panoptismus. Im Panoptismus erfolgt die
Überwachung des einzelnen nicht auf der Ebene des Tuns, sondern des Seins; nicht auf der Ebene der tatsächlichen
sondern der möglichen Taten. Dadurch tendiert die Überwachung zu einer immer stärkeren Individualisierung des Täters
und achtet immer weniger auf die rechtliche Bedeutung, die strafrechtliche Qualifizierung der Tat“ (Foucault 2002:
749, Herv. H.Z.).
Trotz dieser Idee dominiert die klassische Straftheorie in Deutschland noch im (ab 1871 etablierten)
Strafrecht des Kaiserreichs. Auch wenn die Form der Strafbegründung dort mit ‚instrumentellen’,
(general-)präventiven Einschüben verbunden ist - die im wesentlichen an die Annahme geknüpft sind,
dass die Androhung von Vergeltung die Rechtstreue der Bevölkerung stärke – bleibt der den
‚absoluten’, nicht-präventiven Straflegitimationen geschuldete Gedanke der Tat-Schuld-Vergeltung
zentral (vgl. Naucke 1999: 337). Dieser Gedanke verliert - wie in Deutschland vor allem das
Jugendgerichtsgesetz von 1923 dokumentiert – im Verlauf des 20. Jahrhundert zunehmend an
Dominanz und wird durch viel eher ‚technologisch’ als normativ begründete Strafen bzw. ‚Maßnahmen’
verdrängt, die sich aus den Überlegungen so genannter relativer Straftheorien speisen121, die eine
Denklogik formulieren, die in ihren Grunddimensionen eine deutliche Verwandtschaft mit dem
‚Panoptismus’ Benthams - oder vielleicht besser Foucaults - aufweisen und für sich beanspruchen auf
‚empirischen’ Wissenskategorien und weniger auf ‚normativen’ Straftheorien zu beruhen.
Die für die relativen Straftheorien konstitutive soziale Zweckgebundenheit der Strafe, kennzeichnet
diese als ein ‚präventives’, d.h. funktional auf die Reduzierung der Kontingenz individueller
Abweichung
gerichtetes
Instrument.
„Die
moderne
[…]
Strafrechtsschule
und
einen
auf
Zweckrationalität schauende Kriminalpolitik interessierten sich nun auch für die Ursachen von
Delinquenz, wollten nicht mehr nur Vergeltung, sondern Prävention“ (Cornel 2003: 35).
Die intellektuelle Basis für diesen fundamentalen Wandel besteht im wesentlichen in einer
Veränderung der Repräsentation des Kriminellen (vgl. Melossi 2000) und damit verbunden auch in
den Technologien des Umgangs mit ihm, die vor allem im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts
einsetzen.
Wesentlich ist, dass sich der Rechtsbrecher nicht mehr nur durch seine Tat konstituiert, sondern einen
bestimmten, intrinsisch von konformen Akteuren unterscheidbaren Typus darstellt: aus dem ‚homo
penalis’ wird ein anhand intrinsische Merkmale kategorisierbarer ‚homo criminalis’ (vgl. Beirne 1993,
Pasquino 1991) bzw. ‚uomo delinquente (Lombroso 1876), der „vor dem Verbrechen und letzten
Endes sogar unabhängig vom Verbrechen“ identifizierbar ist (Foucault 1994: 324).
Die Geburt des ‚homo criminalis’ ermöglicht Formen der Prävention, die sich systematisch vom bloßen
utilitaristischen Abschreckungsgedanken abgrenzen lässt: das Prinzip der Normalisierung überwiegt
121 Im Gegensatz zum Jugendgerichtsgesetz, können sich im Erwachsenenstrafrecht zentrale Momente solcher absoluten
Theorien, bzw. Rechtfertigungen von Strafe vor allem bis in die frühen sechziger Jahre halten, bis sie im Rahmen der
Strafrechtsreform 1969 und 1975 weitgehend von so genannten relativen Straftheorien verdrängt wurden
102
zunehmend die Sanktionierung. Diese Präventionsformen beginnen sich ab Ende des 19. Jahrhunderts
sukzessive durchzusetzen und werden ab Mitte des 20. Jahrhunderts in einer Weise dominant wird die
sich, alleine sprachlich daran ablesen lässt, dass etwa in den USA seit den 1950 Jahren nicht mehr
von Gefängnissen sondern von ‚correctional institutions’ die Rede ist und sich die ‚American Prison
Association’ in ‚American Correctional Association’ (1954) umbenennt (vgl. Rotman 1995).
Nachdem vor allem Cesare Lombroso (1862, 1876) naturwissenschaftliche Methoden und
Instrumentarien elaboriert hat, um den ‚Verbrechermenschen’ - als einen biologisch festgelegten
Atavismus - zu identifizieren und zu bestimmen (dazu: Garland 2002, Melossi 2000), ist es nur wenig
später Enrico Ferri - Lombrosos wichtigster Schüler und soziologisch argumentierender Vertreter der
italienischen ‚scuola positiva’ –, der insofern zu einem Vordenker der ‚strafmodernistischen’
Präventivlogik wird, wie er in der Strafe einen von der Logik Tat-Schuld-Vergeltung nahezu völlig
abgekoppelten und auch vom Gedanken der Abschreckung unhängigen, funktionalen Teil der
‚Sozialhygiene’ erblickt: Ihre „einfache und dumme repressive Funktion soll in eine klinische
transformiert werden, durch die die Gesellschaft von der Krankheit des Verbrechens genau so wie von
anderen physischen und mentalen Krankheiten geheilt wird“ (Ferri 1895: 286 [zuerst: 1882]).
Das revolutionäre Moment und der epochale Bruch dieses Arguments besteht in der Repräsentation
des Verbrechers als einem pathologischen Subjekt dem weniger mit Drohung, sondern mit einem
Vollzug einer ‚Strafe’, als einer gezielten, ‚passenden’ Maßnahme begegnet werden soll, die selbst
einen funktionalen, ‚technologischen’ Zweck besitzt. Dieser Zweck richtet sich nicht an den
vollzogenen Taten aus, sondern an der spezifischen Konstitution des Verbrechers selbst.
In Deutschland ist die Entwicklung der ‚relativen’, zweckgebundenen Strafe ist vor allem mit den
Namen von Liszt verbunden122, der ebenfalls Ende des 19. Jahrhunderts in seinem ‚Marburger
Programm‘ – vor allem mit Blick auf Nicht-Erwachsene - fordert Strafen in erster Line auf „[d]ie
Besserung der besserungsfähigen und besserungsbedürftigen“ (Liszt 1905: 166) Jugendlichen
ausrichten, die es entsprechend zu identifizieren gilt. Diese Aufgabe soll dem Staat zukommen, da nur
ihm die „Selektion des sozial untauglichen Individuums“ anvertraut werden könne (Liszt 1905: 163).
Das oft zitierte Argument, dass es bei den Straftaten bestimmter Jugendlicher besser sei ‚nichts’ zu
tun wird in diesem Sinne mit der Forderung nach Aussonderung und härtesten Strafen für
‚Gewohnheitsverbrecher‘123:
„Sicherheitshaft für Gewohnheitsverbrecher, Arbeitshaus mit militärischer Strenge ohne Federlesen und so billig wie
möglich, wenn auch die Kerle zugrunde gehen, Prügelstrafe unerlässlich. Der Gewohnheitsverbrecher […] muss
unschädlich gemacht werden, und zwar auf seine Kosten, nicht auf die unseren“ (Liszt 1880, nach Plewig 1995: 227).
Das wesentliche Moment dieser neuen Repräsentation des Kriminellen und des ‚präventiven’ Umgangs
mit ihnen besteht nicht darin mehr oder weniger repressiv zu sein, sondern die Maßnahmen eher an
Und in einem gewissen Sinne auch mit Anselm Feuerbach der jedoch den – in Kern schon von Bentham benannten Strafzweck im Abschreckungscharakter von Strafen betont.
123 Diese Sichtweise war keinesfalls ein ‚humanisierender’ oder gar ‚sozialdemokratischer’ Erfolg. Sie lässt sich eher als eine
Form des Regierens beschreiben, die Foucault als ‚Biomacht’ analysiert. Das NS Regime hatte kein Problem die Liszt’sche
Sichtweise – genauer das Präventionsmodell der ‚Défense Sociale’ – zu adaptieren. Folgt man dem Reichsrechtsführer
Frank in seinen Ausführen zur ‚Nationalsozialistischen Strafrechtspolitik’ (1938) ist der „Zweck der Strafe“ im
122
103
den Besonderheiten des Risikosubjekts selbst als an seinen konkreten Taten auszurichten und damit
‚gesellschaftlich’ nützliche Effekte zu erzeugen. An dem ‚materiellen’ Phänomen, dass die Delinquenten
eingesperrt
und
gezüchtigt
werden
sollten,
änderten
die
relativen
bzw.
‚präventiven’
Strafbegründungen wenig. Was sich verändert ist vor allem die im Liberalismus entscheidende Frage
‚Was hast du getan?’
In der neuen Rationalität „[w]ird im Falle der Verhaftung eines Delinquenten sein Fall komplett
durchleuchtet, zurück bis zu jenem Zeitpunkt als er das Licht der Welt erblickt. Die entscheidenden
Fragen sind dabei: Wer bist du? Wie bist du? Warum bist du? Was bist du?“124 (Garland 1985: 121).
„Sein Familienleben, seine schulischen Leistungen, seine Vorlieben, sein Wohnumfeld, seine Freunde,
all das“ - so verdeutlicht Reinhard Kreissl (2000: 29) am fiktiven Beispiel eines „Jugendliche[n], der in
seinem Alltag möglicherweise einmal 30 Minuten seiner Zeit darauf verwendet hat ein Auto
auszubrechen“ - „wird unter dem Gesichtspunkt analysiert, dass es in irgendeinem Sinne kausal für
eine Handlung verantwortlich ist, die für den Betroffenen selbst möglicherweise vollkommen
nebensächlich ist“.
Die Perspektive verschiebt sich also von der Kriminalität zum Kriminellen selbst als der zentralen
Kategorie von Kontrolle und Strafe. Dieser Wechsel des Paradigmas und Objektbezugs lässt sich in
einem gewissen Sinne als die ‚lombrosianische’125 Basis der Durchsetzung eines zumindest die ersten
drei Viertel des 20. Jahrhunderts dominierenden ‚Strafmodernismus’ (vgl. Garland 1985) im Feld der
Kriminalitätskontrolle beschreiben. Die strafmodernistischen Strategien basieren auf einer ‚neuen
Kategorie des Wissens’ (vgl. Pasquino 1991), die es erlaubt, den Rechtbrecher von andern Individuen
nicht mehr nur dadurch zu unterscheiden, dass sich dieser für einen Normbruch entschieden hat,
sondern er wird zu einer, logisch unabhängig von seinen Taten, unterscheidbaren Kategorie eines
Akteur, dessen Handlungen lediglich ein sichtbarer Ausdruck vorgängiger innerer und äußerer
Determinierungen sind.
Erst auf dieser Wissensbasis, bzw. auf der Basis der ‚Verwissenschaftlichung’ und empirischen
Erforschbarkeit der Fragen von Kriminalität und Strafe, lässt sich von der Möglichkeit einer
umfassenden ‚präventiven Wende’ im Feld der Kontrolle und Strafrechts sprechen. Die gesamte Idee
der Prävention, so François Ewald (1998: 11 ff), ist an die „Utopie einer Wissenschaft gebunden, die
Risiken zusehends in den Griff bekommen soll, […sie] ist eine Haltung, die sich prinzipiell auf das
Vertrauen in die Wissenschaft und ihre Gutachten stützt“. Aber auch umgekehrt ist – wie David Matza
(1974) ausführt – die Kriminologie selbst eine Wissenschaft, deren erster und primärer Daseinsgrund
weniger das Verstehen, als vielmehr der Versuch der ‚Ausmerzung’ ihres Gegenstands war (bzw. ist).
Nationalsozialismus „die Vernichtung des absolut besserungsunfähigen, gemeinen, meist rückfälligen Verbrechers, die
Besserung des noch besserungsfähigen, die Erziehung des noch erziehbaren Rechtsbrechers“.
124 Symptomatisch dafür ist eine - von Sack (2002) berichtete – Kommission von sieben Kriminalanthropologen (unter ihnen
Cesare Lombroso), die auf ihrem zweiten Kongress der Kriminalanthropologie in Paris 1889 ins Leben gerufen wurde um auf
‚wissenschaftliche’ Weise in einer vergleichenden Untersuchung die Frage zu klären ob soziale oder biologisch-genetische
Gründe ‚den Kriminellen’ erzeugen. Die Aufgabe dieser Kommission lautete bezeichnenderweise wie folgt: „Zu vergleichen
sind eine Anzahl von mindestens hundert lebenden Kriminellen, davon je ein Drittel Mörder, Gewalttäter und Dieben, mit
einer ebenso großen Zahl von hindert ehrbaren Menschen [‚honnêtes gents’], deren Vorleben und das ihrer Familien
genauestens bekannt ist“
104
Auf dieser Basis werden Rechtfertigungen von Strafe auf der Basis einer Fassung von Kriminalität als
Produkt des freien Willens eines autonomen, rationalen Akteurs zurückgewiesen (vgl. Lemke 1997).
Genau genommen wird sogar ‚der Kriminelle’ als autonome Person ‚vernichtet’. In den Worten von
Jean-Paul Sartre (1952: 545): „Par la connaissance scientifique, la société prend d’elle même une
conscience réflexive: elle se voit, elle se décrit, elle voit dans le voleur un de ses innombrables
produits; elle l’explique par des facteurs généraux. Quand elle a fini son travail, il ne reste plus rien de
lui“.
Die früh-liberale ‚klassische’ Straftheorie seien, so resümiert Pasquale Pasquino (1991) die Argumente
des ‚neuen’ Projekts, nicht nur praktisch falsch gewesen, wie die immer höhere Verbrechensraten
signalisierenden - ebenfalls neuen Instrumente - der ‚Moralstatistik’ verdeutlichen (vgl. Quetelet
1869), sondern auch theoretisch, weil der ‚homo criminalis’ keinesfalls wie jede andere normale
ehrenwerte Person auch denke. Genau genommen ‚denkt’ der ‚Verbrechermensch’ überhaupt nicht: er
tut nur das was er ist.
Diese ‚strafmodernistische’ Perspektive (vgl. Garland 1985) setzte sich nicht nur in Europa, sondern
etwa zeitgleich auch in den USA durch (vgl. Morris & Rothman 1995). Exemplarisch hierfür sind die
Ausführungen von Arthur Mac Donald seinem Werk ‚Criminology’ von 1893. „Whatever the remedy [to
crime]“, so führt Mac Donald (1893: 272), in deutlicher Nähe zu Lombroso aus, notwendig sei immer
„a thorough investigation of the criminal himself, both psychologically and physically, so that the
underlying and constant cause of crime can be traced out“ (Herv. H.Z.). Allerdings, so fährt er an
gleicher Stelle fort, würde ein großer Teil der Kriminalität aus den soziale Bedingungen erwachsen
„and hence is amenable to reformation, by changing this conditions“. Dabei ist es an dieser Stelle
zunächst weniger wichtig, ob der Verbrecher als ein ‚unschuldiges’ Opfer eines evolutionären
biologischen Atavismus (vgl. Lombroso & Ferro 1996 [1895]), individueller, psychischer Pathologien
oder der sozialen (vgl. Lacassagne126 1885 nach Sack 2002) und ökonomischen Bedingungen (vgl.
Bonger 1996 [1916]) rekonstruiert wird. Wesentlich ist, dass sich determinierenden Bedingungen im
Sinne einer statistischen Regelmäßigkeit von Kriminalitätserscheinungen (vgl. Quetelet 1842) und in
Form einer Regelmäßigkeit in der Entstehung klassifizierbarer und individuell erforschbarer
verbrecherischer Individuen erfassen lassen (vgl. Bertillon 1889, Ferri 1895, Liszt 1905).
Erst diese Repräsentation des Kriminellen ist es, die den Einzug der Psychiatrie und ihren Techniken
der Prognose und Heilung (vgl. Foucault 1994, Althoff & Leppelt 1995) und – nicht zuletzt, da sich zur
gleichen Zeit auch die Konzeption des Kindes und Jugendlichen als eine spezielle Kategorie unter den
Kriminellen durchsetzt, auf die mit einer speziellen Form des Strafrechts zu reagieren sei (vgl. Cornel
2003, Garland 1985, Newburn 2002) - der (Jugend)Fürsorge und ihren Techniken der Besserung und
Erziehung in das Strafrecht ermöglicht und notwenig erscheinen lässt.
Der auf dem ‚Psy-Wissen’ (vgl. Donzelot 1980) medizinischer, sozial- und humanwissenschaftlicher
Disziplinen basierende ‚Macht-Wissenkomplex’ des ‚Strafmodernismus’ richtet sich weniger auf die
In Anlehnung an den italienischen Physiker und Psychiater Cesare Lombroso (1835-1909)
Fritz Sack (2002: 30) zitiert den Anthropologen Alexandre Lacassagne (1885) mit dem Satz: „Les sociétés ont les
criminelles, qu elles méritenet“ – „Jede Gesellschaft hat die Verbrecher die sie verdient“.
125
126
105
Rache am Kriminellen, noch in erster Linie auf die Eindämmung der Kriminalität per se, als vielmehr vor allem zu Beginn des 20. Jahrhunderts - auf die ‚Reformierung’ des Krimiellen (vgl. Cornel 2003)
und - mit dem Aufstieg der fordistischen Phase des Kapitalismus - zunehmend auch auf seine soziale
‚Reintegration’ (vgl. Cohen 1979, Taylor 1999). Zugleich werden Kriminalität und Strafe tendenziell
von ‚moralischen’ zu ‚klinischen’ Angelegenheiten modifiziert: Die Entwicklung moderner Institutionen,
„particularly the prison, was aimed at displacing popular emotions from the centre of punishment by
extending the control of state based professionals“ (Simon 1998: 464).
Kriminalität und die gesellschaftliche Reaktion auf diese ist fortan nicht mehr nur eine Sache des
Strafrechts, sondern wird zu einer differenzierten, professionalisierten und rationalisierten Frage der
‚richtigen’ Technik und zu Angelegenheit des Expertenwissens verschiedener Disziplinen. Foucault
spricht von einer weit ausdifferenzierten Bandbreiten unterschiedlicher „Normalitätsrichter“, die
überall anzutreffen sind in einer sich entwickelten „Gesellschaft des Richter-Professors, des RichterArztes, der Richter-Pädagogen, des Richter-Sozialarbeiters“ (Foucault 1994: 392), die nicht nur eine
Vielzahl von „Techniken und Institutionen [bereitstellen] die der Messung, Kontrolle und Besserung
der Anomalen dienen“, sondern auch eine neue „Grenzziehung zwischen dem Normalen und dem
Anormalen“ (Foucault 1994: 256) ermöglichen. Bezogen auf Kinder und Jugendliche setzt sich dabei
eine Undefinition von Abweichung durch die einen alternativen Umgang mit Abweichlern rational
erscheinen lässt die zu einem zentralen Charakteristikum für die Reaktionen der Jugendhilfe und des
gesamten Strafkomplexes wird: „das Verhalten soll nicht [nur] einfach geahndet, sondern aus den
personalen Problemstrukturen der Kinder und Jugendlichen erklärt und damit der pädagogischen
Verhaltensbeeinflussung zugänglich gemacht werden“ (Böhnisch 1982: 22).
Vor allem gegenüber Jugendlichen erfolgen strafjustizielle Entscheidungen auf dem Höhepunkt dieser
‚neuen’ Rationalität
„stets ‚in Würdigung der Gesamtpersönlichkeit des Angeklagten’, d.h. die aktuell zu verhandelnden abweichenden
Ereignisse werden immer auch in den Kontext der biographischen Geschichte des Angeklagten gestellt. Der Richter
entwirft [… dabei] ein retrospektiv gerichtetes Bild der je besonderen Individualität und Entwicklungsgeschichte des
‚Missetäters’ und sucht aus dieser interpretativ rekonstruierten Lebensgeschichte historisch-genetische Gründe für
sein abweichendes Verhalten zu identifizieren. Gestützt auf dieses durch retrospektive Interpretation gewonnene
Bild der bisherigen Lebensgeschichte gibt der Richter zugleich ein prospektiv gerichtetes Urteil über die
‚vorhersehbare’ zukünftige Entwicklung des betroffenen Angeklagten. Er verlängert die biographische Entwicklung
und entwickelt eine entsprechende Verhaltensprognose. Erst wenn [dies] dem Richter gelingt […] gewinnt er seine
Handlungsfähigkeit gegenüber dem konkreten Fall und vermag weitergehende rechtliche Maßnahmen zu ergreifen“
(Brusten & Herriger 1980: 670f).
Diese Rekonstruktion der Vergangenheit, aus der sich eine begründete Prognose über eine
wahrscheinliche Zukunft herleiten lässt - auf deren Bearbeitung die auf dieser Wissensgrundlage
beruhenden Interventionen zielen - ist die wissenstheoretische Grundfigur der Präventionsidee und
bezogen auf die Vergangenheit und Zukunft von Kindern und Jugendlichen auch die der modernen
Kinder- und Jugendhilfe.
Pointiert formuliert lässt sich insofern behaupten, dass ‚Prävention’ in einem analytischen Sinne keine
Strukturmaxime oder ähnliches der Jugendhilfe ist, sondern dass die ‚Geburt’ der modernen
106
Jugendhilfe selbst in epistemologischer Hinsicht erst durch die Präventionsidee ermöglicht wird127, die
wiederum selbst an die wesentlich grundlegendere, moderne Vorstellung der Bearbeitbarkeit und
Beeinflussbarkeit der Kontingenz der Zukunft, d.h. insbesondere einer (sozial)technologischen
Beherrschbarkeit von (sozialen) Risiken gebunden ist128 (vgl. Evers & Nowotny 1987).
Auf einer administrativen Ebene setzt sich eine Reinterpretation der Zwecke staatlicher Strafe als
Prävention und Mittel zur Gestaltung des Gemeinwohls im Kontext der Entwicklung des modernen
Verwaltungsstaates
und
seinem
erhöhten
Interventions-
und
Steuerungsbedarf
durch:
Als
gesellschaftliche und säkularisierte Aufgabe des Staates, so die neue Sichtweise, komme der Strafe
„nur eine soziale, keine sittliche, keine moralische und keine religiöse Aufgabe“ (Baumann 1984: 34)
mehr zu. Damit flexibilisiert sie ihren zunächst unbedingten, zumindest formal a-politischen Charakter
des Rechtsgut- und Freiheitsschutzes - auf dessen Basis sie in der Aufklärung und im frühen
Liberalismus gegründet worden ist - und gibt ihn mit der zunehmenden Legitimation als ‚sozial
nützliches’ Präventionsinstrument sukzessive auf (vgl. Albrecht 1994, Naucke 1990):
Unabhängig von der Ausformulierung der Zweckorientierung des Strafrechts im einzelnen, kann davon
gesprochen werden, dass alles, was über ein ausschließlich tatschuldorientiertes Strafrecht hinausgeht
eine Seite „der selben Münze [ist]: die Institutionalisierung präventiver Steuerungskapazität der
politisch-administrativen und rechtlichen Einrichtungen“ (von Trotha 1992: 189).
Mit der ‚präventiven Wende’ wird das Strafrecht demnach von einem Mittel der Vergeltung zu einem
steuernden und sozial gestaltenden Instrument (vgl. Scheerer 1996: 80). Die strafrechtliche
Rationalität
verschiebt
sich
von
einem
liberalen
Modell
des
‚due
process’
zu
einem
sozialtechnologischen ‚crime control model’ (vgl. Packer 1969), das in seiner präventiven Orientierung
auf Veränderung gerichtete Interventionen verweist, die zwar eine Reaktion auf gezeitigte
Abweichungen darstellt, aber sich mit Bezug auf die Kontrolle und Regulation des Risikos, d.h. der
kalkulierbaren
Wahrscheinlichkeit
künftiger
Abweichungen
begründet
und
rechtfertigt
(vgl.
Groenemeyer 2001, Hudson 2001). Der staatliche Anspruch auf eine Demonstration von ‚Souveränität’
durch Strafe ist damit zwar nicht verschwunden, gerät aber zumindest zwischenzeitlich gegenüber
seinem Gestaltungs- und Regulationsanspruch in den Hintergrund (vgl. Garland 2001), d.h. gegenüber
genau jener präventiven Logik des Interventionsstaats, die die Geburtsstunde der Soziale Arbeit als
einem institutionalisierten Bestandteil der Regulation des Sozialen markiert.
In modernen Demokratien ist eine solche präventive Orientierung der Strafe durch das
Rechtsstaatsprinzip an die ‚nicht-präventiven‘ Grundsätze von Fairness und Verhältnismäßigkeit
gebunden, und damit der Tendenz nach gebrochen129, da sie induzieren, dass Versuche der
Nahezu wörtlich formuliert wird dies wenn das SGB VIII §1 Abs3 die Jugendhilfe dazu verpflichtet „junge Menschen in
ihrer individuellen und sozialen Entwicklung [zu] fördern“ namentlich zu einer „eigenverantwortlichen und
gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit“ (SGB VIII §1 Abs1). Diese Aufgabe mag zwar als ‚Bildungsauftrag’ interpretiert werden
(vgl. Scherr 2002), verweist jedoch auf eine präventives Anliegen, das sich substanziell nur wenig von dem –
legitmatorischen – Präventionsauftrag des Jugendstrafrechts unterscheidet, nachdem „der Verurteilte dazu erzogen werden
[soll], künftig einen rechtsschaffenden und verantwortungsbewussten Lebenswandel zu führen“ (§ 91 JGG).
128 Dies gilt auch für Lombroso, der sich für Prävention durch gezielte Eugenik einsetzte.
129 Beispielsweise wäre es zwar nicht verhältnismäßig aber ‚präventiv‘ durchaus legitimierbar, alltägliche Bagatellen hart zu
sanktionieren, den ‚wohlintegrierten“ und ‚konformen‘ Kriegsverbrecher in Friedenszeiten gewähren zu lassen.
127
107
Verwirklichung von ‚Gerechtigkeit‘ (vgl. Höffe 2001) - und mithin auch die (‚absoluten‘) Dimensionen
von Schuldausgleich, Sühne und Vergeltung für begangenes Unrecht (vgl. BverfGE 45, 253f) - in so
genannten ‚Vereinigungstheorien’ in die Legitimation der Strafen einfließen. Dieser Einschub
‚absoluter’ Ideen stellt sich aber mehr oder weniger nur als Korrektiv zu den ‚relativen’ Theorien dar,
die primäre Legitimation der Strafe ist ihre Präventivfunktion, bzw. wie es in einer Entscheidung des
Bundesgerichtshof von 1970 heißt, eine Beschaffenheit durch die, „sie sich zugleich als notwendiges
Mittel der präventiven Schutzaufgabe des Strafrechts erweißt“: Strafe „darf nur präventiv ausgerichtet
sein“ (Ostendorf 1996: 32).
Auf einer legitimatorischen Ebene ist Strafe ist damit von einer normativ-philosophischen, bzw.
‚metaphysisch’ (Neumann & Schroth 1980) begründeten Reaktion auf eine vergangene Tat zu einem
erfahrungswissenschaftlichen Einwänden unterworfenen Mittel zum Zweck der Kontingenzreduzierung
kriminalisierter Gefährdungen geworden. Obwohl staatliches Strafen demnach eine Reihe von Zielen
haben kann - und immer noch hat - ist ihr hauptsächliches Anliegen nach der ‚präventiven Wende’ des
Strafmodernismus ein instrumentelles: die Raten von abweichendem Verhalten zu reduzieren oder
einzudämmen. In diesem Sinne kann sie als eine Möglichkeit unter anderen betrachtet werden, die
entwickelt worden, um als eine legal bewährte Methode, die Aufgabe der Kontrolle von Kriminalität
und Abweichung zu erleichtern (vgl. Garland 1990: 18).
Eine andere, mögliche Variante unter der Vielzahl von Strategien im Umgang mit abweichendem
Verhalten von Kindern und Jugendlichen sind die jugendhilferechtlichen Angebote und Maßnahmen
selbst (vgl. Walter 1993: 192).
Vor dem Hintergrund der ‚präventionsnotwenigen’ Geburt des ‚speziellen Wissens’ über den ‚homo
criminalis’ (vgl. Pasquino 1991) und deren Modifikation auf die, auch im strafrechtlichen Sinne
erfolgende, ‚Erfindung’ des Jugendlichen (vgl. Newburn 2002) ist es nicht verwunderlich, dass die
Beschäftigung mit Kriminalität bzw. Devianz von Beginn an keinesfalls nur ein Randbereich der
Jugendhilfe und ihrer Vorläufer ist. In einer sozialhistorischen Untersuchung hat etwa de Swaan
(1993) aufgezeigt, dass weniger der Humanismus oder gesellschaftliche Fürsorge und Mitleid mit
armen und marginalisierten Gruppen das zentrale Movens bei der Entstehung des ‚sorgenden Staates‘
im Sinne einer modernen Sozialpolitik war, sondern bürgerliche Schutzinteressen vor den ‚classes
dangereux‘ und den gefährlichen Nebenfolgen von Armut und Ausgrenzung, im Sinne von Seuchen
und Krankheiten, sowie eben auch der Kriminalität, seitens jener durch ‚Immoralität‘ und
‚Demoralisierung‘ gekennzeichneten Arbeiterklasse130 (vgl. Engels 1962: 355).
„Die Geburtsurkunde der modernen Jugendfürsorgeerziehung“ attestiert etwa Detlev Peukert (1986:
68) in einem vergleichbaren Kontext, „wurde von der Strafrechtspflege ausgestellt“. Die Etablierung
der Sozialpädagogik folgt nicht zuletzt dem, der skizzierten Präventionslogik folgenden Phänomen,
dass ‚Verwahrlosung‘ - als ein funktionales Äquivalent für Kriminalität im Kindes- und Jugendalter - in
130 Beschwörungen der - in der Regel auf Individuen disaggegierten - ‚classes dangereux‘ haben sich bis heute erhalten. Sie
legitimieren konservative ‚law-and-oder‘ Vorstellungen (vgl. Murray 1990, Bennett et al. 1996, Wilson & Herrnstein 1985)
ebenso, wie sie die ‚gesamtgesellschaftliche‘ Dringlichkeit sozialreformerischer Ambitionen oder die präventive Nützlichkeit bzw. Förderungswürdigkeit - disziplinärer, professioneller und ehrenamtlicher Tätigkeiten in allen Bereich der Sozialisation,
Erziehung und Bildung verdeutlichen (vgl. Baethge et al. 1998).
108
der bürgerlichen Gesellschaft in ein - von der politischen Ökonomie entkoppeltes - Problem der
Erziehung umdefiniert wird (vgl. Ferchhoff & Peters 1979: 5f), während sich eine Pädagogisierung
sozialer
Kontrolle
strukturierend
auf
jenen
Raum
auswirkt,
der
die
Entstehungs-
und
Ausbreitungsbedingungen für die Institution Sozialarbeit bereitstellt (vgl. Münchmeier 1981).
Selbst wenn bestritten werden kann, dass die Jugendhilfe eine Institution sei, die sich alleine aus der
Existenz des Kriminalitätsproblems im engeren Sinne entwickelt, sondern dass das Moment der
sozialen Regulation der Daseinsvorsorge von Beginn an einen mindestens ebenso wichtigen
Bestandteil
ihrer
Rationalität
ausmacht,
ist
kaum
zu
bestreiten,
dass
das
umfassende,
sozialtechnologisch ausgerichtete, präventive Denken erstens beide Aspekte umspannt und in einen
eng korrespondierenden Zusammenhang bringt, und zweitens einer politischen Rationalität und der
Konstitution eines Feldes - genauer dem ‚space of rule’ ‚des Sozialen’ – den Weg eröffnet, auf den die
Jugendhilfe unentrinnbar verwiesen ist. In diesem Sinne eröffnet der soziale Präventionismus die
Bedingung der Möglichkeit für die Entstehung der Jugendhilfe in einem modernen Sinne: Prävention,
als die Bearbeitung der Kontingenz von Risiken im Feld des Sozialen (dazu auch: Rauschenbach
1992), ist der Raison d'Être der Jugendhilfe.
II. 4.3
ZUR KLASSIFIKATION PRÄVENTIVER STRATEGIEN
Wenn es demnach möglich ist, alle Maßnahmen der Jugendhilfe auch aus der Perspektive der
Prävention zu betrachten, so kann eine Analyse der Prävention der Jugendhilfe sinnvollerweise nur die
Analyse und Interpretation der je vorherrschenden Strategien dieser Prävention sein, d.h. die Frage
des Wie und des Weshalb und nicht des Ob. Hierfür sollen im nächsten Abschnitt die basalen
Klassifikationsmöglichkeiten der Prävention diskutiert werden. Die Strategien der Prävention werden
dabei unter anderem hinsichtlich ihrer ihres Objektbezugs, ihrer Funktion, ihres Zeitpunktes und ihres
Theoriebezugs einer Taxionomie der Prävention geordnet.
II. 4.3.1
BEREICHS- UND ZIELGRUPPENBEZOGENE KLASSIFIKATION DER PRÄVENTION
Eine wesentliche Differenzierung der Präventionskonzepte zielt auf die Frage, in welchen Bereichen
irgendetwas oder irgendjemand, abgeschreckt, vorgebeugt, verhindert, vermieden, reduziert,
reformiert, integriert, kontrolliert, diszipliniert, beschützt, gesichert, unterstützt, (um)gelenkt,
substituiert, verbessert oder aber in Ruhe gelassen werden soll.
Grundlegend ist dabei die Unterscheidung, ob als Objekt der Prävention ein Akt bzw. die Tat selbst
oder ein Akteur bzw. der Täter fokussiert wird.
Beziehen sich die Präventionsbemühungen auf den Akt selbst, ist es möglich – aber nicht notwendig -,
dass sie in einem konservierenden Sinne lediglich auf die bloße Verhinderung einer zukünftigen ‚Tat’
abzielen, d.h. auf die Erhaltung Status quo. Eine Orientierung am Akteur hingegen, z.B. durch
pädagogische Einflussnahmen, verweist immer auf den Versuch, den potenziellen Urheber einer
unerwünschten Handlung selbst zu ändern, d.h. nicht nur etwas Gegebenes zu erhalten, sondern eine
109
Alternative zu erreichen. Die am Akteur orientierten Maßnahmen gehen also im Sinne einer aktualen
Veränderung über eine bloße zukunftsbezogene Verhinderung hinaus. Der zu verändernde aktuelle
Zustand des potentiellen Täters, wird dabei als Ursache für das zu verhindernden Phänomen
betrachtet. D.h. nach der präventiven Logik ist das zu Verändernde selbst nicht das ‚Problem’,
sondern Indikator kontingenten Entwicklung deren mehr oder weniger wahrscheinlicher Endpunkt das
‚Problem’ darstellt. In dieser Hinsicht besteht
„kein essentieller, sondern lediglich ein analytischer Unterschied zwischen Prävention und Intervention [. Allgemein
…] lässt sich dann sagen, dass mit Bezug auf ein mehrstufiges kausalanalytisches Handlungsmodell die ‚Logik der
Prävention‘ darauf gerichtet ist, den Ort des Eingreifens möglichst weit nach vorne zu legen“ (Kaufmann 1999:
924f).
Dabei ist es jedoch nicht der Zustand des Bestehenden selbst, sondern eine hypothetische,
wahrscheinlichkeitskalkulatorisch ‚berechnete’ Zukunft, die die Begründung und Legitimation für eine
soziale Intervention (vgl. Otto 1991a) in das je Gegebene liefert. Bezogen auf das Gegebene ist der
‚präventive’ Eingriff aber nicht präventiv, sondern reaktiv. Er reagiert auf vergangene und
gegenwärtige Phänomene und Geschehensabläufe. In diesem Sinne eignet sich der Begriff
„Intervention […] besser als Prävention als Grundbegriff sozialwissenschaftlicher Analysen sozialpolitischer,
medizinischer, psychologischer, sozialpädagogischer oder sozialarbeiterischer Maßnahmen, weil er die Perspektive
des Beobachters von Handlungen impliziert und die Ambivalenz allen Eingreifens zu thematisieren gestattet“
(Kaufmann 1999: 925).
Verlässt man die Position eines Beobachters der bloßen Vorgänge und bezieht die Ebene der
diskursiven Interventionslegitimation mit ein, kann ‚Prävention’ innerhalb des Überbegriffs der
Intervention analytisch nichtsdestoweniger dadurch spezifiziert werden, dass Intervention einen
Eingriff in einen Geschehensablauf bezeichnet, während Prävention dessen Begründung und
Zielrichtung formuliert. Wenn Interventionen ganz allgemein Reaktionen gegenüber Phänomenen
darstellen, liefert Prävention eine spezifische Begründung für diese Reaktion, indem sie auf dem
‚riskanten’ - d.h. nicht zwangsläufig aktual ‚problematischen’ - Charakter dieses Phänomens
aufmerksam macht. Zugleich beschreibt sie die Zielrichtung dieser Intervention, in dem sie auf die
Intention einer - wie auch immer gearteten – Kontingenzbearbeitung im Sinne einer Einschränkung,
Reduzierung, Kanalisierung oder Vermeidung einer unerwünschten Zukunft verweist.
Klassifiziert man diese ‚präventiven’ Interventionen objektbezogenen, lassen sich, in fließenden
Übergängen,
personale,
soziale,
situative
und
‚definitionsbezogene’
Präventionskonzepte
unterscheiden, die sich, bezogen auf Kriminalprävention, in unterschiedlicher Intensität und
Reichweite auf den ‚kriminellen’ Akt, seine situative Kontextuierung und die Beschaffenheit bzw. das
Verhalten des Gegenstands bzw. des Opfers dieses Aktes richten oder auf den ‚kriminellen’ Akteur,
seine Motive, ‚sozialen Bezüge‘ (vgl. Göppinger 1983) und die inneren und äußeren Bedingungen,
denen er unterworfen ist.
Während eine personale bzw. ‚dispositionale’ (vgl. Farrington 2002) Form der Kriminalprävention die
einzelnen Akteure als empirische Individuen fokussiert und dabei die Annahme der Vorhersagbarkeit
zukünftiger Abweichung aus den charakterisierbaren ‚Persönlichkeitsstrukturen’ impliziert, bezieht sich
eine ‚soziale’ Kriminalprävention auf die Formen bzw. die Verkehrsbeziehungen des gesellschaftlichen
110
Lebens, und unterstellt dabei „die Prognostizierbarkeit der Auftretenswahrscheinlichkeit abweichenden
Verhaltens in gegeben Milieus“ (Brumlik 2000c: 194).
Personale (Kriminal)Prävention, richtetet sich auf die sozial, aber auch ‚bio-physikalisch’ inkorporierten
oder genetisch prädisponierten, jedenfalls individualisierbaren Dispositionen und Vulnerabilitätsmuster
(vgl. Resch 1996, Moffitt 1990) eines einzelnen Akteurs, im Sinne einer Eindämmung, ‚erzieherischen’
Veränderung und/oder Kompensation jener Risikofaktoren bzw. einer Stärkung jener protektiven
Faktoren,
die
das
Auftreten
von
normabweichendem,
psychopathologischen
oder
‚Risikoverhaltenweisen’ wahrscheinlicher – bzw. unwahrscheinlicher - machen (vgl. Reese &
Silbereisen, Raithel 2002, Montada 1995, Farrington 2002).
Während sich eine personale Form der Prävention auf die individualistisch gefassten dispositionalen
Aspekte der positional-dispositionalen Matrix der Akteure bezieht, basiert eine soziale, bzw.
‚strukturelle’ Prävention im Kern auf der Annahme, dass Abweichungen Gründe haben, die außerhalb
der Person des Abweichlers selbst liegen, etwa in der Organisation der Gesellschaft, in der
gesellschaftlichen Positionierung der Akteure und daraus erwachsenden Zwängen (strains) und/oder
in den Interaktionsstrukturen zwischen dem Akteur und ‚dem Sozialen’ (vgl. Young 2001, Currie
1998). Obwohl diese Form der Prävention häufig von ‚fortschrittlichen’ Kräften eingefordert wird, die
darauf verweisen, dass Sozialreformen, sozialer Ausgleich, soziale Sicherung, ein Abbau von
Machtasymmetrien etc. inter alias auch eine Möglichkeit darstellen, um Abweichungen zu verhindern,
ist, wie etwa Elliot Currie (1991) aufzeigt, ein Verweis auf die präventive Kapazität des Sozialen
keinesfalls per se mit ‚liberalen’ oder sozialreformerischen Zielsetzungen verbunden. Es ist ein
klassisch konservativer Standpunkt, dass ‚die Gesellschaft’ selbst das entscheidende Problem sei,
wenn beispielsweise ihre zentralen Institutionen ebenso wie die zivilgesellschaftlichen Akteure zu
wenig zur Durchsetzung von Werten, Moral, Konformität, Disziplin und der Kontrolle von Kriminalität
beitragen (vgl. Melossi 2000). Mit Blick auf ihren dispositionssensiblen Positionsbezug lässt sich –
unabhängig von ihrer Positionierung auf einer ‚progressiven’ oder ‚konservativen’ Seite – davon
sprechen, dass eine teils spannungsreiche, vermittelnde Position, die sich auf einem Kontinuum
zwischen den unterschiedlichen personalen bzw. dispositionalen und sozialen Ansätzen bewegt, im
Kern die interventionsrationalitäts- und professionsadäquate Präventionsstrategie der Jugendhilfe
darstellt.
Weitgehend
unberücksichtigt
bleiben
gesellschaftliche
oder
persönliche
Dimensionen
und
Ursachenkomplexe in den tatorientierten, situationsbezogenen Strategien der Prävention. Diese zielen
auf die Bearbeitung und Gestaltung der (sozial)räumlichen Gegebenheiten, die Gelegenheiten zur
Abweichung induzieren, um diese zu erschweren, bzw. zu verhindern. Während der potentielle Täter
in der Regel als ein im sozialen, psychologischen, biologischen und moralischen Sinne ‚ganz normaler’
– in der Regel rational kalkulierender – Akteur verstanden wird (vgl. Felson 1998, Clarke 1997, von
Hirsch et al. 2001), beziehen sich die Interventionen auf eine - häufig technische - Gestaltung der
Arrangements und räumlichen Settings, die auf die unmittelbaren Handlungsvollzüge der Akteure
wirken
(vgl.
Ekblom
2001,
Brantingham
&
111
Brantingham
1995).
Den
professionellen
Interventionsrationalitäten der Jugendhilfe kommt in diesen Präventionslogiken keine eigenständige
‚präventive’ Bedeutung zu.
Die hier als ‚definitionsorientiert‘ beschriebene Form der Kriminalprävention bezeichnet weniger eine
institutionalisierte,
handlungspraktische
Strategie,
als
eine
akademische
oder
sozial-
und
kriminalpolitische Form der Wissenserzeugung und Präventionsperspektive, die zugleich auf
weltanschauliche Selbstverständnisse und gesellschafts- und berufspolitisch wirksame Interessen
verweist.
Die praktische Relevanz einer ‚definitonsorientierten Prävention’ ergibt sich nur mittelbar, aus ihrer
symbolischen Wirksamkeit als Machtmittel in der Strukturierung des Feldes der Kriminalitätskontrolle
und im Sinne Generierung habitueller bzw. ‚doxischer’ Schemata auf Seiten der Akteure sozialer
Kontrolle. ‚Definitionsorientierte’ Prävention ist Teil der Dynamik gesellschaftlicher Regulationen.
Da
gerade
die
Wahrnehmungen
von
Risiken
in
einem
erheblichen
Ausmaß
sozialen
Definitionsprozessen unterworfen sind (vgl. Beck 1986: 30), bezieht sich diese Form der Prävention
auf die sozialen Risikoregulationen, durch die auf das differenzielle Kalkül von Gefahren Einfluss
genommen wird (vgl. Ewald 1991). Dabei entspricht es der Logik der Prävention, ‚Gefahren’ dadurch
bearbeit- und regulierbar zu machen, dass sie diese in ‚Risiken’ transformiert (vgl. Japp 1992), d.h. in
jenes auf die „Gestaltbarkeit von Gesellschaft“ (Evers & Nowotny 1987) verweisende ‚moderne’
Konzept, das das ersetzt „was man sich früher als Fortuna dachte“ (Giddens 1990: 30). Prävention als die Form der Risikoregulation - ist eng entsprechend verbunden mit dem, was Bourdieu
‚symbolische Macht’ nennt, nämlich die Macht zu benennen und damit zu klassifizieren131.
Klassifikation, so ist sich Bourdieu mit Zygmunt Baumann (1995: 14) einig, bedeutet nämlich vor allem
„der Welt eine Struktur zu geben, ihre Wahrscheinlichkeiten zu beeinflussen; einige Ereignisse
wahrscheinlicher zu machen als andere; sich zu verhalten als wären die Ereignisse nicht zufällig, oder
die Zufälligkeit von Ereignissen einzuschränken oder zu eliminieren“.
Insbesondere Mary Douglas hat darauf aufmerksam gemacht, dass der den präventiven Zielen und
Gegenstandsbestimmungen logisch zu Grunde gelegte Begriff des ‚Risikos’ keine Essenz – wie es noch
bei Beck (1986) anklingt -, sondern eine Denkform bezeichnet, oder, wie François Ewald in seiner
Zurückweisung einer Vorstellung vom ‚Risiko per se’ zusammenfasst: „as Kant might have put it, the
category of risk is a category of the understanding; it cannot be given in sensibility or intuition”.
Die Rede vom Risiko beinhaltet also nicht nur den Rekurs auf die bloße Wahrscheinlichkeit eines
Ereignisses, „but also the probable magnitude of its outcome, and everything depends on the value
that is set on the outcome“ Douglas (1992: 31). Zur Bestimmung dieses ‚Outcome’ ist es notwenig,
den Modus zu bestimmen
„in which the identification of particular sources of threat and danger (and by extension whom we blame for them)
refracts a given community's disposition towards order and authority […] The presentment of risk, therefore, is
inherently political: it galvanizes action and prompts discourse“ (Sparks 1997: 425).
In einem gewissen Sinn kann der Interpretation von François Dosse (1997: 372) zugestimmt werden dass Bourdieu „den
Klassenkampf neu [fasst] als Kampf um die Klassifizierung“
131
112
Die Bestimmung der Wahrnehmungsmodi von Risiken ist demnach ein Teil dessen, was mit Bourdieu
als symbolische Macht beschreiben lässt. Risiken sind selbst nicht vorab bestimmt, sondern werden,
als soziale Risiken, innerhalb eines positional-dispositionalen Kontextes durch die Dimensionen von
Wahrscheinlichkeit, Regelmäßigkeit und Berechnung konstituiert. Dabei ist eine Gefahr oder ein Risiko
nicht nur die Konstitution eines kausalen Zusammenhangs von gegenwärtig bestehender Lage und
einem zukünftigen (bedrohlichen) Ereignis, sondern ein „Urteil über einen derartigen Zusammenhang“
(Preuß 1994: 527, Herv. H.Z.).
Die präventive Qualität einer, quer zu allen anderen Formen der Prävention liegenden,
‚definitionsorientierten Prävention’ besteht dabei in einem symbolischen Kampf um hegemoniale
Klassifikationsschemata, weil die Existenz eines Gegenstandes als zu prävenierendes Risiko weniger
auf eine objektive Qualität, als auf die Erzeugung einer sozialen Wahrnehmung verweist (vgl. Douglas
& Wildavsky 1982). Die Entwicklungen von bestimmten ‚Risiken’ als soziale Phänomene ist demnach in
einem Prozess der symbolischen Produktion von ‚Anerkennung und Verkennung’ (vgl. Bourdieu 1982,
1987, 1998) eingelagert und kann dadurch ‚verhindert’ werden, dass ihre gesellschaftliche Er- und
Anerkennung abgewehrt wird. Diese diskursive Form der ‚Prävention’ verweist auf die Konstitution der
zu prävenierenden Sachverhalte und der angemessenen Strategien, die davon abhängen, welche
‚objektiven‘ Interessen (vgl. Bourdieu 1987) die Risiken und ihre Bewältigungsversuche berühren.
Im Rahmen einer bereichs- und zielgruppenbezogenen Klassifizierung der Präventionsstrategien ist
ferner eine von Sandra Walklate (1996) getroffene Unterscheidung hilfreich, die auf die – sehr stark
auf die Wirkungen einer ‚definitionsorientierten Prävention’ verweisende - sozialstrukturell selektive
Fokussierungen von Präventionsstrategien aufmerksam macht. Walklate unterscheidet zwischen
‚crimes of the street‘ als den ‚sichtbaren‘ Delikten im öffentlichen Raum, die vor allem bei
marginalisierten Gruppen vermutet werden, ‚crimes of the suit‘ als den Verbrechen der Eliten und
‚crimes behind closed doors‘ als den Delikte, die sich im geschützten, privaten, beziehungsweise
intimen Raum, wie beispielsweise der Familie, ereignen.
Diese Differenzierung kann um die risikoträchtigen, aber kaum dramatisierten beziehungsweise
kriminalisierten Routinen und Aktivitäten der ‚Wohlanständigen’ oder um die ‚Abweichung der
Angepassten‘ (vgl. Frehsee 1991) einerseits und um die ‚Verbrechen’ des Staates und seiner
Institutionen (zum Problem: Huggins 1998, 2000, Jäger 1989) andererseits erweitert werden. Eine
solche Unterscheidung ist in sofern analytisch hilfreich, wie die unterschiedlichen ‚Arten’ von
Abweichung (vgl. Peters 1995), von Mitgliedern unterschiedlicher Klassen, aber auch von
unterschiedlichen Alters- (vgl. Sessar 1997) und Geschlechtergruppen (vgl. Heidensohn 2002) in
unterschiedlicher Form und Häufigkeit und in verschiedenen sozialen Praxisfeldern verübt werden:
ebenso wie alle anderen Praxisformen (vgl. Bourdieu 1985, 1987, Bourdieu & Wacquant 1996) sind
auch alle Abweichungsformen im weitesten Sinne klassenspezifisch (vgl. Quinney 1977). Empirisch
betrachtet richtet sich Kriminalprävention jedoch überproportional häufig auf bestimmte Delikte
vergleichsweise machtloser Gruppen und auf bestimmte, in der Regel subdominante Akteure, die
vornehmlich im öffentlichen Raum situiert sind (vgl. Walklate 1996): Offensichtlich werden ‚Risiken’
sozialstrukturell hoch selektiv konstruiert.
113
II. 4.3.2
DIFFERENZIERUNG VON PRÄVENTION NACH FUNKTIONEN
Nicht nur die präventiven Funktionen des Strafrechts (vgl. Hübner 1997), sondern auch die
Präventionsbemühungen sub- und prä-justizieller Instanzen – der Jugendhilfe inklusive - lassen sich
funktionsspezifisch in Strategien der negativen und positiven Spezial- und Generalprävention sowie
Strategien der ‚Unschädlichmachung’ einordnen. Die Präventionsstrategien basieren hierbei auf
negativ sanktionierenden Kontrolltechniken, die abweichendes Handeln neutralisieren sollen und
bedingungsverändernden Strategien, die auf Änderungen von Personen, soziale Lagen und
Situationen zielen (vgl. Peters 1995: 137ff):
-
Negative Spezialprävention richtet sich auf den (potentiellen) Täter selbst. Sie soll den
Einzelnen durch das verbüßen, oder die Androhung von Strafe - einem absichtsvollen
Zufügung von Leid (vgl. Christie 1986) - abschrecken, und ihn dazu bewegen, sich (in
Zukunft) konform zu verhalten um Strafe zu vermeiden (Zimring & Hawkins 1973).
-
Auch negative Generalprävention oder Abschreckungsgeneralprävention ist „auf die der
Sanktionsdrohung und einer gegebenen Sanktionspraxis eigene Abschreckung potentieller
Normbrecher bezogen“ (Albrecht 1993: 157). Jedoch dient die Sanktionierung eines
Straftäters nicht dazu, nur ihn, sondern in erster Linie auch alle anderen, potentielle
Folgetäter von ihrem Vorhaben abzubringen (vgl. Kunz 1998, Lamnek 1994: 226). Die Akteure
an denen punitive Maßnahmen vollzogen wird, sind demnach nicht mit denen identisch, auf
die sich die präventive Wirkung beziehen soll. Paradigmatisch für Strategien negativer
Generalprävention sind symbolisch expressive und andere sichtbar gemachte Formen der
Überwachung, Drohung und Bestrafung (bis hin zu Chain-Gangs und post-modernen
Varianten des Prangers vgl. Etzioni 1997a).
-
Positive Spezialprävention ist die präventive Leitidee des so genannten ‚Erziehungsgedankens’
im Jugendstrafrecht und die Basis des ‚rehabilitativen Ideals’ (vgl. Allen 1981) der
Behandlungsansätze
des
‚Straf-Wohlfahrtskomplexes’
insgesamt.
Sie
zielt
auf
die
‚Verbesserung‘ der sozialen Kompetenzen und moralischen Haltungen, bzw. der Erziehung,
Therapie, Resozialisierung und normativen Umorientierung des einzelnen Täters.
-
Positive General- oder Integrationsprävention zielt auf die ‚Einübung von Rechtreue‘ und eines
allgemeinen Rechtsbewusstseins (vgl. Müller-Tuckfeld 1996), sowie verallgemeinerten Formen
einer - kontrafaktischen - Stabilisierung von Verhaltenserwartungen (vgl. Luhmann 1983) und
damit auf die Legitimation des Rechts und die Stärkung des Rechtgüterschutzes (vgl. Lamnek
1994). Allgemein formuliert besteht die Aufgabe dieser Form der Prävention in der „Erhaltung
der Norm als Orientierungsmuster für sozialen Kontakt“ (Jakobs 1991: 11). Positive
Generalprävention bezeichnet den Versuch, durch Drohung und Vollzug von Strafen die
Geltung von Strafrechtsnormen zu verdeutlichen (vgl. von Trotha 1987) um den ‚materiellen’
Effekt zu erreichen, dass sich die (scheinbar) ‚konforme’ Mehrheit auch weiterhin konform
verhält. Obwohl die Integrationsprävention, im Sinne einer Präventionsform, die überwiegend
114
auf symbolische Wirkungen zielt, als die am schwierigsten einer systematischen, empirischen
Prüfung zu unterziehende Präventionsform gilt – und als Straflegitimation in der
zeitgenössischen strafjustiziellen Landschaft eine deutliche Aufwertung erfährt (vgl. MüllerTuckfeld 1996, Schünemann et al. 1998) –, lässt sich alleine aus logischen Gründen davon
sprechen,
dass
diese
‚Integrationsprävention’
nur
solange
funktionieren
kann,
wie
Normbrüche als Ausnahme definiert sind. Popitz (1968) spricht von einer ‚Präventivwirkung
des Nichtwissens’, auf Basis der Einsicht, dass eine integrative Wirkung präventiver
Bemühungen weder auf einem Minimum, noch auf einem Maximum, sondern auf einem
(selektiven) Optimum an Verhaltenstransparenz basiertt. Hält man sich den empirischen
Verbreitungsgrad von Normbrüchen vor Augen, kann die so begründete Form der Strafe
demnach „ihre soziale Wirksamkeit nur bewahren, solange die Mehrheit nicht bekommt, was
sie verdient.“ (Popitz 1968: 20)
Die Modi von Spezial- und Generalprävention ergänzen sich zwar teilweise gegenseitig, stehen aber
zugleich auch in einem Spannungsverhältnis. Der Einsatz spezialpräventiver Maßnahmen wird
reguliert, beziehungsweise endet dort, „wo die Beschädigung des Vertrauens der Allgemeinheit in die
Wirksamkeit der Strafrechtspflege sowie des allgemeinen Rechtsbewusstseins befürchtet wird“
(Albrecht 1993: 157). Die Bedeutung des Strafrecht bei den Funktionen ‚negativer‘ Prävention – die im
Modus der Abschreckung funktionieren - liegt auf der Hand. Nachdem die ‚negative’ Prävention, durch
den Einzug des Wohlfahrtsstaates in das Strafrecht, vor allem ab den 1960er Jahren zumindest
rhetorisch in Misskredit geraten war, gewinnt sie auf der Basis der Annahme neo-klassischer und
ökonomischen Ansätze wieder an praktischer und ideologischer Bedeutung (vgl. Cornel 1985,
Tzannetakis
2001),
„dass
die
Häufigkeit
des
Auftretens
krimineller
Handlungen
von
der
Wahrscheinlichkeit und der Schwere staatlicher Strafe sowie der Schnelligkeit, mit der Strafe eintritt,
abhängt“ (Albrecht 1993: 157).
Aber auch das Wegsperren selbst kann, im Sinne einer ‚(selective) Incapacitation’ (vgl. Zimring &
Hawkins 1995), über eine mögliche Abschreckungswirkungen hinaus, eine empirisch durchaus
effektive Präventivfunktionen beinhalten (vgl. MacKenzie 1997): Wegsperren kann als Prävention
durch ‚Unschädlichmachung’ verstanden werden.
Unschädlichmachung ist eine fünfte, logisch eigenständige, mögliche präventive Funktion von
Interventionen, die in zeitgenössischen ‚Risikogesellschaften’ (wieder) deutlich an Gewicht gewinnen.
Dabei geht es darum, missliebige, riskante oder störende Elemente aus einzelnen Sektoren oder aus
‚der Gesellschaft’ insgesamt zu entfernen, um zugleich ihr Risikopotential zu beseitigen oder zu
kanalisieren: Wer strikt überwacht wird, so lässt sich argumentieren, begeht weniger, wer Knast sitzt
begeht, während dieser Zeit, zumindest in Freiheit, keine Straftaten und wer hingerichtet wird,
überhaupt keine mehr. Es ist nicht nur im internationalen Vergleich sehr variabel, sondern es lässt
sich auch auf der je nationalen Ebene eines Rechtsraums nicht mit Bestimmtheit sagen, für welche
Akteure diese ‚Unfähigmachung’ als angemessene Präventionsstrategie betrachtet wird (vgl. Garland
2001a, Wacquant 2001). Claude Faugeron (1995) unterscheidet drei kategoriale Gruppen, für die
‚Unfähig’-
bzw.
Unschädlichmachung
durch
(punitiven)
115
Ausschluss,
mit
unterschiedlichen
Begründungen, Anwendung findet: die ‚Gefährlichen’, um ‚die Gesellschaft’ bzw. potentielle Opfer zu
schützen, die ‚Anderen’, zur Exklusion der als unerwünscht Klassifizierten und eine Gruppe, die in so
fern als die der ‚Störer’ bezeichnet werden kann, wie ihre ‚Unfähigmachung’ aus Autoritätsgründen
geschieht, wenn die Staatsmacht, bzw. ihr reibungsloses Funktionieren in Frage gestellt wird.
‚Unfähigmachungen’ als präventive Strategien müssen nicht immer punitiven Charakter haben. Eher
‚aussperrende’ als ‚einsperrende’ Formen der (sektoralen) Unschädlichmachung sind beispielsweise
Platzverweise zur ‚Gefahrenabwehr’, selektive Einreiseverbote für ‚Hooligans‘ bei internationalen
Fußballtournieren, Abschiebungen von ‚kriminellen Ausländern‘, nächtliche Ausgangssperren für
Jugendliche aber auch Eingangskontrollen etwa durch Türsteher vor Lokalen und Clubs oder den
Sicherheitsdienst einer Universität.
‚Unschädlichmachung‘ als analytische Einheit bemisst sich nicht an der Intensität oder einem
repressiven Gehalt der Maßnahmen. Werden längere Öffnungszeiten für Jugendhäuser gefordert,
damit sich Jugendliche nicht auf der Straße aufhalten und dadurch ‚Jugendauffälligkeiten‘ in
öffentlichen Räumen zurückgehen (vgl. IM Baden-Württemberg 1997b: 117), so zielt diese Forderung
argumentationslogisch nicht auf die präventive Leistung der Jugendarbeit selbst, sondern auf die
Wirkung des Fernhaltens aus anderen, spezifischen sozialen Feldern - in diesem Falle in der
geographischen Dimension der Innenstädte. Analytisch liegt der funktionale, kriminalpräventive Gehalt
aller Formen des Verwahrens – ob in Jugendhäusern, geschlossenen Heimen oder Segelschiffen auf
dem offenen Meer –, jenseits aller anderen Absichten, auch in der Funktion einer temporalen
und/oder sektoralen Unschädlichmachung.
Die Jugendhilfe, als ein Teilsystem, das sowohl „mit der vorsorglichen Vermeidung und kurativen
Beseitigung von Normverletzungen beziehungsweise mit der Gewährleistung durchschnittlich
erwartbarer
Identitätsstrukturen“,
als
auch
auf
einen
verallgemeinerten
Schutz
von
Normalitätsvorstellungen (Olk 1995: 23) zielt, kann mit unterschiedlichem Schwergewicht für sich
reklamieren, auf allen fünf Ebenen zu wirken.
Kriminalprävention durch die Jugendhilfe kann hierbei sowohl innerhalb des Strafrechts greifen, als
auch als eine Alternative zu diesem. So beinhaltet das verfassungsmäßig im Strafrecht verankerte
Verhältnismäßigkeitsgebot, dass sich strafrechtliche Maßnahmen als „erforderlich und geeignet
erweisen [müssen]. Erforderlich sind Strafrecht und Strafe aber nur dann wenn nicht andere, weniger
einschneidende Mittel und Verfahren zur Verfügung stehen, die mindestens dasselbe Ausmaß von
Prävention gewährleisten“ (Albrecht 1995: 19).
Wenn auch nicht unbedingt politisch, so gilt das Strafrecht zumindest in rechtlicher Hinsicht als ‚ultima
ratio’, die den jugendhilferechtlich begründeten, vergleichsweise weniger einschneidend und
eingriffsintensiven Maßnahmen132 nach gelagert sein sollen. Dabei liegt der Schwerpunkt der
Jugendhilfe nicht auf der ‚negativen’, sondern auf der ‚positiven’ Spezial- und Generalprävention.
So arbeitet die Jugendhilfe – auch völlig ohne Bezug zum Strafrecht- im Modus einer ‚positiven’
spezialpräventiven Perspektive, wenn sie versucht, „den individuellen Fall an die generalisierte
Diese Einschätzung hat zumindest dann Gültigkeit, wenn sie auf Überlegungen bezogen ist, ob man einem konkreten
Handeln x mit strafrechtlichen Sanktionen oder jugendhilferechtlichen Angeboten begegnet.
132
116
Bezugsnorm anzupassen, also potentiell abweichende Adressatengruppen durch entsprechende
Angebote und Unterstützungsleistungen in die Lage zu versetzen, geltenden Normen selbstständig zu
folgen“ (Olk 1995: 23), und auch innerhalb des Jugendstrafrecht soll die Jugendhilfe - vor allem im
Kontext des so genannten ‚Erziehungsgedankens’ - zur positiven Spezialprävention beitragen.
Wenn soziale Inklusion eine funktionale Aufgabe der Jugendhilfe darstellt, ist der Modus ‚positiver’
Generalprävention, bzw. Integrationsprävention ebenfalls ein zentraler sozialpolitischer Bezugspunkt
(kriminal-)präventiver Sozialer Arbeit. Dieser Aspekt realisiert sich handlungspraktisch insbesondere
dann in einer pointierten Form, wenn nicht ein einzelner sozialer Akteur, sondern - wie zum Beispiel
im Falle der ‚sozialräumlichen Orientierungen’ – ein Kollektiv von Akteuren das Objekt der
Interventionen der Jugendhilfe bildet.
Analytisch lassen sich aber alle integrativen Bemühungen der Jugendhilfe bzw. Sozialer Arbeit im
allgemeinen, makrosozial auch als Beitrag zur Erhaltung des ‚sozialen Friedens’, als ‚kollektives Gut’
und damit als positive Generalprävention betrachten. Dies gilt insbesondere, wenn sie sozial- und
jugendpolitisch agiert und reagiert, um die Bedingungen aus denen Devianz erwachst könnte zu
ändern, und damit gleichzeitig zu einer stabilen, nicht-inkrimierten Form der Bedürfnisbefriedigung
(vgl. Viehmann 1995: 11) innerhalb der praxisökonomisch je hegemonialen Strukturen einer
Gesellschaft beiträgt. Damit sorgt sie zum einen für Integrationsmöglichkeiten in die gesellschaftliche
‚Normalität’ bestehender Gesellschaftsstrukturen bzw. für die Integration in die Logik der einzelnen
sozialen
Felder
und
trägt
dabei
gleichzeitig
zur
Reproduktion
dieser
Normalität
und
Normalitätsvorstellungen bzw. der Stabilisierung der bestehenden, feldspezifischen Ordnung bei.
Als eine interventionslogisch primär auf die ‚positiven’ Formen der Prävention gerichtete Institution, ist
die
Beziehung
der
Jugendhilfe
zur
‚negativen’
General-
und
Spezialprävention
durchaus
spannungsreich und teilweise widersprüchlich. Zunächst impliziert die Intervention der Jugendhilfe das
genaue Gegenteil ‚negativer’ Präventionsformen. Sie wird, wie Müller und Sünker (1995: 304)
ausführen, unter anderem gerade deshalb eingesetzt, weil sie „den Vorteil, [… bietet, dass sie] offen
ist auch für die ex-post-Zuordnung neuer Maßnahmen, die – würden sie als Strafe deklariert – in der
Bevölkerung eine geringere Akzeptanz hätten“. Andererseits unterscheiden sich – besonders plastisch
verdeutlicht im Kontext geschlossener Heime -, die „Einrichtungen des Sozialstaates […] gelegentlich,
was den Kontaktverlust zur Außenwelt und die psychischen Wirkungen auf die Insassen angeht, kaum
von denen des strafenden Rechtsstaats“ (Stolleis 1980: 141, im Überblick: Chassé 1999).
Wesentlich bedeutsamer als ihre ‚reale’ Wirkung, ist für die Zuordnung zu einem Präventionsmodus
jedoch die zu Grunde gelegte Rationalität und Art der Begründung einer Intervention.
Wenn im Kontext der zeitgenössisch revitalisierten Idee der Wichtigkeit des ‚Grenzen setzten’ und der
‚schnellen und spürbaren Normverdeutlichung’ (vgl. DJI 2001) im „pädagogischen Feld […] Erziehung
und Strafe uno actu zusammenfallen“ (Böhnisch 1999: 188) sollen, ist damit – unabhängig von einem
noch näher zu analysierenden, durch diese Positionen zum Ausdruck gebrachten Erstarken neokonservativer Prämissen in der Jugendhilfe – auf die analytische Möglichkeit verwiesen,
Interventionen der Jugendhilfe auch als Momente der negativen Spezialprävention zu fassen. In
einem empirischen Sinne werden die Interventionen der Jugendhilfe von ihren Adressaten auch
117
durchaus als ‚abschreckende’ Strafe erlebt: Das ‚Abschreckungspotential’ von Jugendhilfemaßnahmen,
braucht den Vergleich zu anderen formellen Sanktionsandrohungen nicht zu scheuen. Folgt man einer
Untersuchung von Karstedt (1999: 20) zu Schwereeinschätzungen erlebter Sanktionen, so wurden
Maßnahmen des Jugendamtes von 57,1 % und Schadenswiedergutmachung unter Aufsicht eines
Sozialarbeiters zu 60,0 % der Befragten als „sehr schlimm oder ziemlich schlimm“ eingestuft, während
dies im Falle einer Verhängung einer Geldstrafe und eines Absitzens der Strafe an einigen
Wochenenden oder Wochentagen in einer Jugendarrestzelle für je 0,0 % der Befragten (!!) der Fall
war.
Die negativen spezialpräventiven Momente der Jugendhilfe lassen sich auch generalpräventiv
verallgemeinern: „Unter generalpräventiver Perspektive bedeutet der Schutz einer Norm […] vor allem
das Bestreben durch einen geeigneten Umgang mit devianten Personengruppen (z.B. in Form von
Bestrafung oder Ausgrenzung) die Gültigkeit der Norm zu bestätigen und die übrigen Mitglieder der
Gemeinschaft abschreckungswirksam davon abzuhalten, die Norm zu brechen“ (Olk 1995: 23).
Eine Unterscheidung von ‚positiver’ und ‚negativer’ Spezial- und Generalprävention ist insofern eher in
Bezug
auf
die
Argumentations-
und
Legstationsrationalität
als
in
einem
essentiellen
maßnahmeimmanenten Sinne möglich. Nicht nur in der Jugendhilfe kann ein und dieselbe Maßnahme
verschieden begründet werden. So erfordert etwa der strafrechtliche Versuch von Stabilisierung des
Rechtsbewusstseins (‚positive Generalprävention‘), die Demonstration der Gültigkeit der Norm d.h.
eine Anwendung der Normen auf einzelne Straftäter, die auf dieser Ebene ebenso gut als ‚negative
Spezialprävention’ betrachtet werden könnte.
Für die Attribute ‚positiv’, ,negativ’, ‚general’ oder ‚spezial’ ist offensichtlich weder die Frage, wie
schwerwiegend die ‚präventiven’ Maßnahmen ‚subjektiv’ empfunden werden, noch die Frage, wie hoch
oder rigide die intendierte oder ‚objektive’ Eingriffsintensität ist, ein Unterscheidungskriterium. So ist
häufig gerade nicht der Verweiß auf die positive Spezialprävention, der die Eingriffsintensität einer
Maßnahme begrenzt, sondern es sind die Grundsätze von Rechtsstaatlichkeit und Verhältnismäßigkeit,
die allzu ‚präventive’ Überlegungen in die Schranken weisen (empirisch: Dünkel 1990). Es ist
empirisch durchaus vertretbar, von einem Schutz des Täters vor dem Erziehungsgedanken (vgl.
Albrecht 2000) - und vor der Zudringlichkeit und der Intensität der Vorschläge von Jugend- und
Jugendgerichtshilfe (vgl. Heinz & Hügel 1986, Drewniak et al. 1997) - durch das Strafrecht zu
sprechen.
II. 4.3.3
KLASSIFIKATION DER PRÄVENTION NACH DEM ZEITPUNKT DER INTERVENTION
Aus der Medizin ist die auf Georges Caplan (1964) zurückgehende Differenzierung hinsichtlich des
Zeitpunktes der Maßnahmen in Form von primärer (Fokus auf die Gesamtpopulation), sekundärer
(frühestmögliche Diagnose) und tertiären Prävention (Rehabilitation) entnommen (vgl. Pschyrembel
1993: 1238). Auf das Feld des Sozialen und der Kriminalitätskontrolle übertragen ist das
bemerkenswerte
dieser
Klassifizierung
zunächst
eine
Begriffsstrategie
Interventionsform als Prävention gekennzeichnet wird (vgl. Kaufmann 1999: 925).
118
durch
die
jede
Zugleich ist in einer Übertragung auf das Feld des Sozialen der implizierte Zeit(punkt)bezug der
Intervention eher irreführend, weil oft alle drei Formen der Prävention faktisch parallel stattfinden
(vgl. Pease 1997). Der ‚sekundären’ und ‚tertiären’ Form der Prävention ist dabei eine mittelbar oder
unmittelbar personalisierende Strategie immanent, während ‚primäre Prävention’ auch weitergefasste,
vom Einzelnen abstrahierende, sozialpolitische bzw. gesellschaftsstrukturelle Momente impliziert.
Bezogen auf das Feld der Kriminalitätskontrolle lassen sich die einzelnen Dimensionen wie folgt
charakterisieren:
Primäre Prävention bezeichnet Maßnahmen, die durch eine Bearbeitung gesellschaftlicher Verhältnisse
und Bedingungen (vgl. BMJFFG 1990: 85), bzw. durch eine Beeinflussung ‚tieferliegender Ursachen‘
die Entstehung von Abweichungen verhindern sollen. Primäre Prävention setzt insofern logisch
unabhängig von dem Vorliegen manifester ‚Risikofaktoren’ ein. Im Sinne einer Beeinflussung der
sozialen oder räumlich-situationalen Bedingungsmatrix „without reference to criminals or potential
criminals“ (Pease 1994: 660) reflektiert sie somit generelle Fragen sozial- und ordnungspolitischer
Regulation (vgl. Brantingham & Faust 1976, Crawford 1998, Gilling 1997).
Primäre Prävention lässt sich als eine vom einzelnen Akteur bzw. vom einem identifizierten Träger von
Risiken abstrahierende, grundlegende Regulation fassen, die normierend auf strukturelle soziale
Konflikte mit dem Ziel einer spezifischen Form gesellschaftlicher Reproduktion wirken soll (vgl. Peters
& Kunstreich 1990, Böllert 1992).
Als ‚primäre Prävention’ und gesellschaftliche Regulation das Lohnarbeit-Kapital-Verhältnis in
verallgemeinerter Form präsentiert sich demnach vor allem die Sozialpolitik und das ‚primäre’ System
sozialer Sicherung. Demgegenüber kann Soziale Arbeit dadurch charakterisiert werden, dass sie sich,
im Sinne einer institutionalisierten, ‚vergesellschaftete Sozialisationsarbeit’, auf die einzelnen
gesellschaftlichen Akteuren – als individuelle oder kollektive ‚Subjekte’ - richtet (vgl. Kessl et al. 2002).
Nicht nur mit Rekurs auf die Inkorporierungsnotwenigkeit der Machtmittel soziales und kulturelles
Kapital, auf denen die Interventionen der Jugendhilfe basieren, sondern insbesondere auch im
Kontext
einer
dienstleistungstheoretischen
Begründung
der
Jugendhilfe,
wird
auf
diesen
Personenbezug aufmerksam gemacht, wenn explizit auf ein ‚uno-actu-Prinzip’ (vgl. Herder-Dornreich
& Klötz 1972) der Leistungserbringung rekurriert wird, die ‚an’ einer Person erbracht werden muss
(vgl. Blanke & Sachße 1987), und in so fern auf die Notwenigkeit einer empirischen Anwesenheit
dieser Person verweist.
In diesem Sinne ist es fraglich, ob primäre Prävention in einem analytisch engen Sinne überhaupt ein
systematischer Bestandteil des Aufgaben- bzw. den Möglichkeitsbereichs der Jugendhilfe sein kann.
Zwar betreibt Jugendhilfe auch allgemeine Formen der Aufklärung, sie mag entsprechende allgemeine
‚Bildungsprozesse’ auslösen, die sich mit Blick auf das präventive Moment auch als eine mögliche
Form ‚primärer Prävention’ beschreiben lassen könnten, auch nimmt Jugendhilfe – etwa als Teil
‚lokaler Sozialpolitik’ (vgl. Olk & Otto 1989) – durchaus sozialpolitisch Einfluss und gestaltet - etwa mit
Blick auf die Sozial- bzw. die Jugendhilfeplanung – insbesondere kommunale Sozialpolitik auch selbst
mit, dennoch vollziehen sich ihre professionellen Leistungserbringungen, als eine Instanz der
Erbringung personenbezogener sozialer Dienstleistungen – unabhängig von einer ‚ökologischen
119
Wende’ in der Sozialen Arbeit (vgl. Blanke & Sachße 1989) - mit einem dispositionssensiblen Blick auf
die Akteure und damit analytisch auf der Ebene ‚sekundärer Prävention’. Hierauf verweist auch der 10.
Kinder- und Jugendbericht, der davon spricht, dass primäre Prävention für die Jugendhilfe „nur eine
programmatisch-strategische Zielvorstellung anzeigen [könne]. Primäre Prävention ist […] eher ein
politisch-legitimatorischer Begriff, der die ‚Philosophie’ des KJHG formuliert und nicht eine konkrete
Handlungsanleitung für die Praxis“ (BMFSFJ 1998: 178).
Überraschenderweise hat es sich mit Bezug auf ‚kriminalpräventive’ Aufgaben der Jugendhilfe in der
einschlägigen bundesdeutschen Literatur durchgesetzt, unter anderem die Bearbeitung von ‚sozialen
Mängellagen’ und ‚Defiziten in der Sozialisation’ (vgl. Koetzsche 1995: 441) bzw. von ‚Armut und
psycho-sozialen Belastungen’ (vgl. Lüders 1999) der ‚primären Kriminalprävention’ zuzuordnen.
Diese Einordnung ‚primärer’ Kriminalprävention kann analytisch nicht überzeugen: Wenn diese
Interventionen als zur Verhinderung bzw. Verringerung von Straftaten geeignete Maßnahmen
dargestellt werden, dann liegt dieser Strategie die Annahme zugrunde, dass solche (Entwicklungs-)
Belastungen - gleich ob materieller, kultureller oder psychischer Natur –, Ursachen oder Auslöser für
Abweichungen bzw. ein Abweichungsrisiko darstellen (vgl. Plewig 1990: 23). In diesem Falle wären
die diesen Belastungen ausgesetzten individuellen oder kollektiven Akteure als ‚gefährdet‘ identifiziert.
Die (pädagogischen) Interventionen, die auf diese Gefährdung reagieren sind demnach Reaktionen
auf Risikofaktoren und d.h., analytisch betrachtet, keine Maßnahmen der ‚primären’ sondern
Maßnahmen der ‚sekundären‘ Kriminalprävention. Um pädagogische Interventionen als primäre
Prävention im analytischen Sinne zu verstehen, müssten sich diese Maßnahmen ausschließlich auf die
Regulation dieser Umstände beziehen, ohne - als „Reaktionen auf die unerwünschten Nebenfolgen
sozialer Problemlagen“ (Scherr 2000: 75) - eine Verknüpfung zu den hiervon Betroffenen als
Risikogruppe bzw. potentiell ‚Deviante‘ herzustellen. Ein solcher ‚dispositionsunsensibler’ Versuch der
strukturellen Beeinflussung der Prävalenz von Abweichung - ohne Bezug auf die Inzidenzrate – mag
als theoretisches Modell möglicherweise denkbar sein, steht in jedoch einem Spannungsverhältnis zu
den praktischen und professionsstrukturellen Handlungslogiken der Sozialen Arbeit.
In zeitpunktbezogener Hinsicht stellt also die so genannte ‚sekundäre Prävention‘ analytisch wie
praktisch die (kriminal-)präventive Haupt-, oder radikaler formuliert, die strukturell einzige
Interventionsform der Jugendhilfe dar. Folgt man Pease (1997: 965) ist diese Präventionsform nicht
nur die Form der Prävention der Institutionen Sozialer Arbeit, sondern diese ist auch umgekehrt deren
hauptsächlicher Träger: „youth work assume ledership in secondary prevention“.
„Secondary prevention seeks to change people, typically those at high risk of embarking upon a
criminal career, before they do so“ (Pease 1997: 965). Sie bezieht sich auf ‚identifizierte‘, potentiell
gefährdete oder gefährliche d.h. riskante Akteure. Von sekundärer Prävention ist dann die Rede,
wenn auf der Basis von Gefährdungsmerkmalen - als Rückfall hinter die gültigen ‚Kulturideale‘ (vgl.
Cremer-Schäfer & Steinert 1998: 63) - oder „im Anschluss an abweichendes Verhalten Maßnahmen
ergriffen werden, um künftig ein solches zu verhindern“ (Lamnek 1994: 227). Auch opferbezogene
Maßnahmen, die auf eine Veränderung des (Risiko-)Verhaltens potentieller Opfer zielen, um diese vor
Straftaten zu schützen fallen unter den Modus sekundärer Prävention.
120
In der Logik sekundärer Prävention werden also aktuale, auf die ‚Behandlung’ bereits eingetretener
unerwünschte Entwicklungen oder Ereignisse zielende Intervention zugleich als zukunftsbezogene
Prävention begründet. Insbesondere auf der Ebene ‚sekundärer Prävention’ wird demnach deutlich,
dass Unterschied von ‚Prävention’ und ‚Intervention’ kein substanzieller, sondern ein symbolischer ist:
ein Unterschied der sich ausschließlich auf der Ebene der Begründung und Legitimation zeigt.
Mit Blick auf die bundesdeutsche akademische Debatte drängt sich in diesem Kontext auch hinsichtlich
der Zuordnung der Interventionen sozialer Kontrolle zur ‚primären‘, ‚sekundären’ und ‚tertiären‘
Prävention der Verdacht auf, dass es selbst bei den Systematisierungsversuch dieses ideologisch sehr
stark besetzten Themas weniger um analytische Konsistenz und Plausibilität, als um eine Hierarchie
des - fachlich oder sozialpolitisch – Wünschenswerten geht. Maßnahmen die auf eher eine ‚edle‘
sozialpolitische bzw. sozial ausgleichende Dimension verweisen werden als ‚primäre‘ Prävention
verhandelt,
während
offensichtlich
sicherheitsfixierte
Maßnahmen nahezu ausschließlich der
‚sekundären‘ (und ‚tertiären’) Prävention zugeordnet werden133
Dies gilt nicht nur hinsichtlich einer ‚Beseitigung von Sozialisationsdefiziten’ als ‚primäre Prävention’
sondern auch in Bezug die Zuordnung einer auf (räumliche) Situationen rekurrierende „Veränderung
der Tatgelegenheitsstrukturen, Verringerung von Zielobjekten, Erhöhung des Schwellenwerts
erforderlicher Täterenergie“ (Koetzsche 1995: 442) als ‚sekundäre‘ Kriminalprävention.
Diese Präventionsform hat zwar weniger einen ‚sozialen’, als einen ‚sicherheitsmateriellen’ Charakter,
aber dies kann keine analytische Rechtfertigung sein, sie der ‚sekundären’ Prävention zu zuordnen.
Vielmehr lässt sich davon sprechen, dass sie darauf ausgerichtet ist, das (territoriale) Setting, in dem
das soziale Leben stattfindet, in einem intentionalen und zielgerichteten Sinne, aber ohne direkte –
bzw. immanente - Referenz auf die Gefährdungsmerkmale Einzelner zu regulieren. Räumliche,
bauliche und technische Beeinflussungen des sozialen Verhaltens ebenso wie Manipulationen und
Kanalisierungen des sozialen Setting und der sozialen Verkehrsströme, sind d analytisch keine
‚sekundäre’ Prävention, sondern können vielmehr als eine auf die Gesamtpopulation bezogene
Strategie der ‚environmental defence’ und in diesem Sinne als ein Idealtyp ‚primärer’ Prävention
angeführt werden (vgl. Lab 1997, Pease 1997, 2002).
Analytisch sich demgegenüber auf Abschreckung einzelner zielende Maßnahmen ebenso zur
sekundären Prävention zu rechnen, wie Bemühungen „durch beratende, behandelnde und betreuende
Angebote“ (Böllert 1992: 161), oder allgemeiner „durch aktive Stützung normangepassten Verhaltens“
(Trenczek & Pfeiffer 1996: 14), d.h. durch Veranlassung zu einem „rechtschaffenden bis disziplinierten
Lebenswandel“, als der „individuellen Bringschuld für ‚Integration’“ (Cremer-Schäfer/Steinert 1998:
64), eine Verfestigung von Abweichung bzw. das Umschlagen von einem Risiko – einer potentiellen
Inzidenz - in eine virulente Inzidenz zu verhindern. Das Ziel der Jugendhilfe kann dabei, in Anlehnung
an Lothar Böhnisch (1982), als das einer ‚sekundären Normalisierung’ und als Versuch der Schaffung
Dabei mag es durchaus sein, dass spezifisch deutsche Einordnung, der Tendenz geschuldet ist ‚zuerst‘ auf
sozialpolitische Maßnahmen zurückzugreifen – oder diese zumindest rhetorisch hervorzuheben - bzw. , skeptischer
formuliert, zunächst sozialpolitische Maßnahmen auf ihren möglichen kriminalpräventiven Gehalt hin abzuklopfen. Diese
Einordnung ist dann jedoch vor allem als eine (legitimatorische) Erklärung des ‚guten Willens‘ dienlich als von analytischer
Überzeugungskraft.
133
121
einer (Re)Integrationsperspektive für potentiell, partiell oder temporär Ausgegrenzte verstanden
werden.
Allerdings ist Strategien einer ‚sekundären’ und ‚tertiären’ Prävention, insbesondere vor dem
Hintergrund ihres personalen Bezugs, ein zentrales Problem immanent, nämlich das, der
Verhältnismäßigkeit ihrer Interventionen. So ist in der auf ‚Gefährdungsmerkmale’ zielenden
sekundären Prävention nicht anders als der ‚tertiären’ Prävention eine Form der Subjektorientierung
angelegt, in der die ‚Klientenkarriere’ in den Mittelpunkt gestellt wird134 (vgl. Otto 1983: 219). Richten
sich die Präventionsbemühungen in dem jugendhilfetypischen Bezug auf die positional-dispositionale
Matrix primär auf dispositionale bzw. individualbiographische Aspekte, d.h. zielen sie also auf eine
„Persönlichkeitsveränderung des Täters […], so kann diese ‚Maßnahme‘ nicht mehr vorab begrenzt werden. Das
Maß bestimmt sich vielmehr am Grad des spezifischen Persönlichkeitsdefizits in einem kontinuierlichen Prozess
interventionsbegleitender Erfolgsmessungen anhand […] fixierter Normalitätsstandards.“ (Albrecht 1999: 23)
Eine solche Ausrichtung der Interventionen ist den Eingriffsrationalitäten der Jugendhilfe zwar nicht
per se immanent, jedoch ist eine Tendenz zu einem primär auf die Dispositionen der Akteure
zielenden Zugriff insbesondere dann stark, wenn es um die Bearbeitung von Risiken abweichenden
Verhaltens geht.
In dieser Hinsicht erscheint auch eine analytisch trennscharfe Unterscheidung zwischen den je
personenbezogenen Formen der ‚sekundären’ und ‚tertiären’ Prävention schwierig. Erscheinen die
‚Problemgruppen‘ und ‚Risikopopulationen‘ als Adressaten einer ‚sekundären’ Prävention als
„besserungsbedürftig, erziehungsbedürftig, verwahrungsbedürftig“ (Cremer-Schäfer & Steinert 1996:
441), so markiert dies bereits einen fließenden Übergang zur ‚tertiären’ Prävention.
Technologisch interpretiert ist das Ziel der tertiären Prävention die Vermeidung von Rückfälligkeit
durch ‚sachgerechte’ Sanktion bzw. Behandlung in einem allgemeinen Sinne. Zwar können auch die
abschreckenden Funktionen negativer Spezialprävention ebenso wie die der Unschädlichmachung als
Mittel tertiärer Prävention betrachtet werden, jedoch legitimiert sich - insbesondere in Bezug auf die
Maßnahmen der Jugendhilfe - auch die ‚tertiäre’ Prävention in häufig als eine Form der Intervention,
der das Prinzip der Inklusion zu Gunde liegt. Als ‚tertiäre’ Prävention in diesem ‚inkludierenden’ Sinne
lassen
Maßnahmen
zur
Besserung,
Nacherziehung
und
Resozialisierung
im
Anschluss
an
abweichendes Handeln verstehen, mit denen rehabilitative bzw. reintegrative Zielsetzungen und
normative Umorientierungen (vgl. Lamnek 1994: 227) des – überführten - ‚Täters’ erreicht werden
sollen.
Um die reaktiven Maßnahmen der ‚tertiären Prävention‘ als ‚Prävention‘ beschreiben zu können,
bedarf es einer Repräsentation der formell Kriminalisierten als eine besondere ‚Risikopopulation‘
erneuter zukünftiger Straffälligkeit. Die Begründungen der Interventionen der Jugendhilfe als ‚tertiäre’
Prävention sind mithin von denen der ‚sekundären’ Prävention analytisch kaum zu unterscheiden. Für
134 Stellt ein ‚fürsorgerisches Motivvokabular’ der sekundären Prävention mittelbar oder unmittelbar die ‚abweichenden‘
Eigenschaften einer Person als implizite Ursachentheorie der Auffälligkeit heraus (vgl. Cremer-Schäfer & Steinert 1996: 441)
bleiben sozialpädagogische Maßnahmen - unberührt von ihrer unterstellten ‚Generalisierung’ (Schefold 1992: 231) im Sinne
einer „alters- und adressatenentgrenzten Sozialen Arbeit“ (Rauschenbach 1992: 53) - als personalisierende sekundäre
Prävention tendenziell auf einer Ebene „auf der unterschiedliche soziale Konflikte in institutionelle Regelungen interpretiert,
technologisiert und damit entpolitisiert werden [können]“ (Böllert 1992: 161).
122
die
Jugendhilfe
besteht
der
Unterschied
zur
sekundären
Kriminalprävention
als
Interventionslegitimation darin, dass die Risiken ihrer Adressaten durch das symbolische Kapital
hierfür legitimierter Instanzen ‚offiziell’ festgestellt wird. Demgegenüber ist das Ziel – und oft auch die
Methode – der Intervention letztlich dasselbe: Ein als wahrscheinlich unterstelltes (Wieder)Auftreten
von Gefahren oder Gefährdungen soll verhindert oder ‚gemanaged’ werden.
Die Logik des ‚präventiven’ Handlungsmodus der Jugendhilfe lässt sich in so fern als die der
‚sekundären’ Prävention beschreiben, d.h. der Reaktion auf ‚Risiken’. Eine Abgrenzung der
‚sekundären’ zur ‚tertiären’ Prävention innerhalb der Jugendhilfe verweist in Bezug auf ‚allgemeine’
soziale Risiken falls überhaupt auf eine – kaum in empirisch fixierbaren Demarkationslinien
festzulegende – Veränderung im Grad der Wahrscheinlichkeit einer ‚Gefährdung‘ oder ‚Gefährlichkeit‘
der Adressaten, in Bezug auf das ‚besondere’ Risiko der Kriminalität ist eine lediglich eine Frage
symbolischen ‚Validierung’ dieses negativen Guts durch ‚legales Kapital’.
II. 4.3.4
DEVIANZTHEORETISCHE KLASSIFIKATION
Als eine abschließende Möglichkeit der taxionomischen Klassifikation erscheint es sinnvoll, die
Präventionsstrategien nach ihrem impliziten oder expliziten theoretischen Bezug und damit zumindest
mittelbar verbunden, auch ihres Gesellschaftsbilds zu differenzieren (zum Zusammenhang:
Gronemeyer 2001, Melossi 2000).
Obgleich zur Kategorisierung auch andere Unterscheidungen der Theoriebezüge möglich sind (vgl.
Albrecht 2002, Groenemeyer 1999, Lamnek 1996), lässt sich die Varianz durch eine idealtypisierende
Differenzierung in positivistisch-individualisierende, positivistisch-sozialstrukturelle, individualisierendkonstruktivistische und hegemonietheoretische bzw. ideologiekritische Ansätze abdecken. Die
Mehrheit der neueren Ansätze stellen Modifikationen, ‚Übersetzungen’ und vor allem Kombinationen
und Integrationen – im Sinne diverser Versuche einer ‚conceptual integration’, ‚positional integration’
oder ‚theoretical syntheses’ (vgl. Eifler 2002: 56 ff) – dieser grundsätzlichen Analysemuster dar.
Positivistisch-individualisierenden Theorien zufolge ist das Risiko, die Abweichung oder gar die
Abartig- oder Bösartigkeit (vgl. Bennett et al. 1996) eine „dem Subjekt innewohnende Eigenschaft“
(Castel 1983: 53). Die hierauf basierenden Ansätze unterstellen eine Verschiedenheit konformer und
abweichender Individuen und die Möglichkeit Risikosubjekte von nicht riskanten anhand intrinsischer
Merkmale der (defizitären) Persönlichkeit des Einzelnen zu unterschieden. Die Erklärungen, warum die
Dispositionen eines Individuums ‚so sind’ reichen von (sozio)biologischen Erklärungsansätzen (vgl.
Kretschmer 1921, Wilson & Herrnstein 1985), über medizinisch-psychiatrische und psychologische
Erklärungen (vgl. Eysenek 1996), Anlage/Umwelt-Modelle (vgl. Göppinger 1983), Lern- und
‚Entwicklungstheorien (vgl. Akers 1973) bis hin zu, im weitesten Sinne soziologisch argumentierenden,
multi-faktoriellen Ansätze (vgl. Glueck & Glueck 1950). Die positivistisch-individualisierenden Theorien
lassen sich auch als Theorien des ‚defekten Individuums’ beschreiben, wobei teils eher der ‚defekte
Organismus’, teils eher die ‚defekte Sozialisation’ als genetischer Determinant dieses ‚Subjekts’ gefasst
wird. Gemeinsam ist ihnen eine Naturalisierung oder zumindest Statisierung des Sozialen. Gleich ob
123
sie
im
engeren
Sinne
biologisch-genetisch
argumentieren,
auf
eine
negative
‚individuelle
Lerngeschichte’ oder eine ‚missglückte Gewissensbildung’ (Lamnek 1994: 212) verweisen oder eine
Psychopathologisierung des Einzelnen in eine Betrachtung des ‚Täters in seinen sozialen Bezügen’
(vgl. Göppinger 1983) einbetten, stellen diese Theorietraditionen die deutlichsten Grundlagen jenes
‚Lombrosian Project’ (vgl. Hughes 1998, Garland 2002) dar, in dem der ‚Strafmodernismus’ des 19.
und 20. Jahrhunderts seine Wurzeln findet. Durchaus im engeren Sinne der, mit dem Namen Cesare
Lombroso verbundenen, positivistischen Tradition verpflichtet, sind diese Ansätze auf der Suche nach
dem, wie auch immer bedingten ‚uomo delinquente’ (Lombroso 1876), d.h. sie richten den Blick auf
„die Inkompetenz […] des Individuums, sich angemessen zu verhalten“ (Albrecht 1999: 36). Eine
Analyse, Dynamisierung oder dar Kritik des (normativen) Maßstabs einer solchen Angemessenheit ist
in dieser Tradition entweder zweitrangig oder bleibt völlig aus. Der Logik nach wird seine Gültigkeit
naturalisiert bzw. essentialistisch gesetzt. Allgemeiner: Individualisierend-positivistische Ansätze
abstrahieren von gesellschaftlichen Normen und den dahinter liegenden (Herrschafts-)Prozessen und
(Macht-)Strukturen zu Gunsten einer paradigmatischen Beschränkung auf die Täterseite mit dem Ziel
einer „Reduktion unerwünschter Verhaltensweisen“ (Lamnek 1994: 212) und einer Erprobung von
Maßnahmen, durch die das einzelne riskante Individuum, „bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung der
bestehenden Strukturen“ (Lamnek 1994: 212), ‚abgeschreckt’ ‚gebessert’ bzw. ‚(um)erzogen’ oder
‚unschädlich’ gemacht wird. In diesem Sinne dienen sie einer aktiven Reproduktion des
gesellschaftlichen Status quo. In kriminologischer Hinsicht wird das Programm positivistischindividualisierende inzwischen häufig als Teil des ‚rechter Realismus’ (‚right realism’) verhandelt (vgl.
Walklate 1998) Auf die Jugendhilfe bezogen, geht es dann beispielsweise um Interventionsstrategien
auf der Basis von Mechanismen der ‚positiven’ und ‚negativen Verstärkung’, um Formen der Wert- und
Normverdeutlichung zur Motivation oder Handlungsaktualisierung konformen Handelns, um die
Stärkung external und internal kontrollierender, konformer sozialer Bindungen, um das ‚ab-’ oder
‚antrainieren’ von Verhaltensweisen, um die Etablierung ‚positiver Leitbilder’ etc. (vgl. Janssen 1997).
Positivistisch-sozialstrukturelle Ansätze gehen ebenfalls grundsätzlich davon aus, das Konformität und
Abweichung unterscheidbare Klassen von Handeln, bzw. Akteuren bilden, „die grade durch die ihnen
eigentümliche Form der Abweichung, durch dem Verhalten inhärente Merkmale schlüssig
unterschieden und bestimmbar sind“ (Keckeisen 1974: 25) Allerdings teilen diese Ansätze die
Annahme der ursächlicher Bedingtheit von Abweichung in einer personalisierten Verhaltenspathologie
des individuell Abweichenden nicht (vgl. Haferkamp 1972), sondern ziehen divergente Norm-, Wertund Handlungsmuster induzierende, gesellschaftliche Strukturen in eine Kriminalitätserklärung ein. In
einem gewissen Sinne repräsentieren sie die ‚soziologische Dimension’ des ‚Lombrosian project’ dar.
Positivistisch-sozialstrukturelle Ansätze basieren im Wesentlichen auf Theorien einer ‚defekten
Sozialstruktur’. An die Stelle minderwertiger, pathologischer, missgeleiteter oder fehlsozialisierter
Individuen treten dabei soziale Pathologien, die einen sozialen Druck (‚strain’) auf bestimmte
Lebenslagen ausüben, und entsprechend Risiken evozieren (vgl. Merton 1968, Agnew 1992).
Während dieser Theoriestrang auf eine inverse, sozialpolitisch zu bearbeitende Beziehung von
individualisierbaren Gefährdungen und Gefahren und der sozioökonomischen Gesellschaftsstruktur
124
verweist,
bleiben
die
je
bestehenden
und
den
Kriminalisierungen
zu
Grunde
liegenden
Normensysteme, als gültige gesellschaftliche Organisationsprinzipien, die weitgehend unhinterfragte
Referenz135: Ein Pathologisierungskonzept bleibt in einer vermittelten Weise bestehen. Auf der Basis
anomietheoretischer (vgl. Merton 1968, Bohle 1975) und, in deren Gefolge, subkultur- und
kulturkonflikttheoretischer Annahmen (vgl. Böhnisch 1999, Cohen 1955, Cloward 1968, Miller 1968)
sowie Ansätzen zur ‚sozialen Desintegration’ (vgl. Heitmeyer 1999) und ‚Desorganisation’ (vgl. Bursik
1999) wird es aber von der Ebene der Individuen auf die der sozialen Systemen und Strukturen
gehoben, die ihrerseits jedoch auf den Einzelnen ‚abstrahlen’ (vgl. Sack 1993: 278).
Präventive Ansätze auf der Basis dieser Überlegungen zielen im Kern darauf, die Normen ebenso wie
die Lebensbedingungen der identifizierten Gruppen zu modifizieren und Abweichung dadurch zu
reduzieren, dass eine Anpassung an die bestehenden gesellschaftlichen Erfordernisse und
Normalitätsvorstellungen
strukturell
ermöglicht
bzw.
erleichtert
wird.
Eine
Fokussierung
gesellschaftlicher Verhältnisse, die über Fragen von distributiver Ungleichheit hinausgeht und zugleich
(symbolische) Macht- und Herrschaftsverhältnisse, Definitionsprozesse oder die Handlungsmaximen
der Instanzen sozialer Kontrolle selbst in den Blick nimmt bleibt für diese Ansätze als
Präventionsstrategie systematisch zweitrangig, wenn nicht ausgeschlossen.
Auf der Basis positivistisch-sozialstruktureller Erklärungsmodelle lassen sich nichtsdestoweniger
gesellschaftliche Reformen, insbesondere hinsichtlich der Kompensation sozialer Ungleichheit,
einfordern – wobei das Ungleichheitsmodell üblicherweise das der Schichtung und nicht der Klasse ist.
Demgegenüber werden jedoch gesellschaftliche Machtverhältnisse, die Gültigkeit der (Mittelklasse-)
Normen und die Aktivitäten der Instanzen, die diese Aufrechterhalten, wenn überhaupt, funktional,
aber nicht systematisch und in einem generellen Sinne in Frage gestellt. Sie konstituieren auch in
diesen Modellen die Zielvorgaben der Prävention:
„Zur Disposition stehen also nur sozio-kulturelle Orientierungsmuster gesellschaftlicher Gruppen. Die Erreichung
von Konsens ist nur möglich über Anpassung der Unterschichts- oder Subkulturnormen an die Standards der
herrschenden Mittelschicht. Methodisch und operational heißt Prävention aus dieser theoretischen Sicht
Sozialarbeit“ (Albrecht 1999: 41)
Für die Jugendhilfe sind die auf diesen Ansätzen basierenden Präventionskonzepte - zumal dann wenn
sie ‚abstrahlungstheoretisch’ gefasst werden - zentral. Dies gilt nicht nur auf der Ebene professioneller
Deutungsmuster (vgl. Thiem-Schräder 1989), sondern vor allem, weil diese Ansätze handlungslogisch
relativ reibungslos mit einer professionstauglichen Perspektive auf die positional-dispositionale Matrix
zu vereinbaren sind. Es kann ein Bezug auf ‚den Abweichler’ als Person und damit auch die sine qua
non Kategorie ‚pädagogischer Interventionen’ bestehen bleiben, während - analog zur positional
dispositionalen Kopplung - die Ursachen über den Abweichler (individuelle Pathologie) hinaus reichen
und
auf
die
gesellschaftliche
Organisation
verweisen.
Nahezu
idealtypisch
für
diese
‚abstrahlungstheoretische’ Perspektive ist die von Lothar Böhnisch (1999) vorgestellte ‚pädagogischsoziologische Einführung’ in das Problem abweichenden Verhaltens, in dem er die Frage der ‚System-‚
135
Hier zeigt sich die generelle Affinität des gesamten Theoriestrangs zum Strukturfunktionalismus
125
und vor allem der - den sozialkapitalbasierten Interventionen sozialer Arbeit wesentlich weitreichender
zugänglichen - ‚Sozialintegration’ mit der Frage ‚antisozialer Tendenzen’ des Subjekts verkoppelt.
Eine auf sozialstrukturell-positivistische Ansätze rekurrierende Form der Prävention verbindet die
Aufforderung an die Jugendhilfe ihren Adressaten kompensatorisch Chancen zu eröffnen, um „Zugang
zu den legitimen Mitteln ‚gesellschaftlichen Erfolgs’ zu bekommen“ (Peters 1997: 49), mit dem
methodischen Weg, dies über eine ‚reaktive Bedingungsveränderung’ zu erreichen (vgl. Lamnek 1994:
214, Peters 1995). Diese ‚reaktive Bedingungsveränderung’ als präventive Hauptstrategie der
Jugendhilfe ist besonders geeignet, um durch Beeinflussungen und Veränderungen der Bedingungen
Modifikationen im Verhalten ihrer – re-personalisierten - Adressaten zu induzieren, und diese in die
Lage zu versetzen, ihre Autonomie innerhalb der gegebenen - und durch die Interventionen selbst
reproduzierten - (symbolischen) Bedingungsmatrix (wieder)herzustellen und zu sichern. D.h. die
Adressaten
werden
Normvorstellungen
dazu
zu
befähigt,
lösen,
und
„sich
von
von
selber
den
bislang
Konformität
prägenden
(im
Sinne
gruppenspezifischen
des
dominierenden
Normensystems) anzustreben“ (Lamnek 1994: 214). In modifizierter Form bleibt demnach auch bei
den sozialstrukturell-positivistischen Ansätzen ein personalisierbarer Behandlungsanspruch insofern
bestehen, wie auf dieser Basis unterstellt werden kann, dass die Bedingungsebenen von Devianz zwar
„in der devianten Person (und ihrem unmittelbaren sozialen Umfeld) lägen, von dieser jedoch nicht zu
verantworten seien“ (Peters 1995: 166). Die hierzu passenden Interventionen auf der Ebene
individueller Akteure verweisen auf eine Kopplung der Machtmittel kulturelles und soziales Kapital,
und damit auf die Interventionsmittel Sozialer Arbeit.
Individualisierend-konstruktivistische Ansätze verstehen Risiken, Gefahren oder Gefährdungen als
Produkte von Aushandlungsprozessen. Was in den positivistischen Ansätzen – im Sinne eines ‚right’
oder ‚left Realism’ - als substanzhafte und feststellbare Eigenschaft betracht wird, erscheint hier als
ein kontingentes Ergebnis von Konstruktionen, Interpretationen und Sinnzuschreibungen der
betroffenen Akteure und vor allem auch der Instanzen sozialer Kontrolle selbst. Die zugeschriebenen
Eigenschaften und Status können, als Ergebnis eines interaktiven Prozesses, von den ‚betroffenen’
‚Kontrollobjekten’ inkorporiert und im Sinne einer ‚abweichenden Karriere’ (vgl. Quensel 1970)
‚verwirklicht’ werden. Individualisierend- konstruktivistische Ansätze sind in dieser Hinsicht vor allem
als interaktionistische Modelle ‚krimineller Sozialisation’ zu verstehen (vgl. Lemert 1975, Quensel
1970), die ihren Fokus nicht nur auf die ‚Sozialisationsobjekte’, sondern vor allem auch – in durchaus
‚kritischer’ Absicht - auf die ‚Sozialisationsagenten’ richten. Im Sinne einer mikrosozialen Variante des
so genannten ‚labeling approach’ (zur kritischen Würdigung: Ferchhoff & Peters 1981) folgt auf einen,
analytisch zu vernachlässigenden, Akt ‚primärer Devianz’ ein selektiv wirklichkeitskonstituierender
Prozess, welcher ‚sekundäre Devianz’ (vgl. Lemert 1975) dadurch erst hervorbringt, dass in seinem
Verlauf die Kategorie ‚abweichend’ zugeschrieben, und das einzelne Individuum von dem
definitionsmächtigen, gesellschaftlichen Umfeld als Delinquent stigmatisiert wird. Erst wenn dieses
Stigma, so die vom symbolischen Interaktionismus beeindruckte Annahme, in Form einer Übernahme
des Status ‚Abweichler’ - als dominantes Fremdbild - in das eigene Selbstbild aufgenommen worden
ist, komme es, im Sinne einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung, zu einer Veränderung der
126
personalen Identität und die ‚Kriminalisierten’ weisen schließlich ‚tatsächlich’ „die einschlägigen
Merkmale von Kriminellen auf“ (Lamnek 1994: 215; Becker 1981, kritisch: Albrecht 1993). Der
wesentliche Unterschied zu den positivistischen Ansätzen ist der systematische Bezug auf die
Handlungsmaxime und Definitionsprozesse der Kontrollinstanzen insbesondere auf den Ebenen der
Normanwendung und Bedeutungszuschreibung, bzw. der Ebene sozialer Interaktion.
Für die individualisierend-konstruktivistischen Ansätze bestehen die Prämissen der Prävention sowohl
in der Vermeidung potentiell kriminalisierbarer Handlungen, d.h. „Verhaltensweisen […], die mit hoher
Wahrscheinlichkeit als kriminell oder anormal etikettiert werden“ (Lamnek 1994: 215), als auch in der
Vermeidung oder Verringerung kriminalisierender Etikettierungen, bzw. stigmatisierender Reaktionen
durch die definitionsmächtigen Instanzen selbst. In diesem Sinne bleiben auch individualisierendkonstruktivistischen Ansätze - bzw. ‚gemäßigten’ Labeling-Ansätze (vgl. Schneider 1987) - einem
vergleichsweise konservativen (vgl. Ferchhoff & Peters 1981, Ziegler 1999)
„hilfswissenschaftlich-kriminologischen Präventionsziel verpflichtet. […] Zur Disposition stehen Einstellungen,
Alltagstheorien und individuelle Verhaltensstrategien aller Beteiligten, sowie praktische Routineabläufe
polizeilichen [sozialpädagogischen] und strafjustiziellen Handeln“ (Albrecht 1999: 44).
Für progressive Formen der Jugendhilfe sind die präventiven Implikationen diese Erklärungsmodells in
so fern relevant, wie sie auf die Notwenigkeit der Überprüfung eigener Routinen und Erprobung von
Maßnahmen verweisen, die potentiell abweichende Karrieren möglichst nicht nach ‚unten’, sondern
nach ‚oben’ lenken (vgl. Brumlik & Holtappels 1993: 101). Um Kriminalisierungen und Zuschreibungen
zu verhindern wäre, diesen Ansätzen zu Folge, vor allem eine Reorganisation der Interaktion und
Kommunikation im System sozialer Kontrolle notwendig, durch die Subsumtionslogiken vermieden
(Mollenhauer & Uhlendorff 1992), die Perspektiven der Betroffenen selbst gestärkt und systematisch
einbezogen werden (vgl. Schnurr 2001) und auch abweichendes Handeln „soweit irgend möglich
toleriert und konstruktiv behandelt oder [zumindest] nicht isolierend unterdrückt wird“ (Busch 1995:
683). Prävention entspricht nach den Vorstellungen einiger Vertreter dieser Ansätze weniger einer
‚Verhinderung’ oder ‚Unterdrückung’ von Normabweichungen, sondern ist eher als eine Form der
„Arbeit an Situationen von Unsicherheit“ (Cremer-Schäfer 2000: 22) zu verstehen, die darauf zielt „für
die als gefährlich erachteten Gruppen […] Ressourcen zur besseren Bewältigung ihrer Lebenssituation
[zu] bieten und Konflikte [zu] zivilisieren“ (Cremer-Schäfer 2000: 22).
Andererseits ist die Verbreitung und häufig verkürzte Rezeption des Etikettierungsansatzes in der
Sozialen Arbeit (dazu: Brumlik 1989, Sack 1997) aus einer eher ‚radikalen’ Sicht (vgl. Autorenkollektiv
1971) nicht unkritisch zu betrachten. Prävention auf der Basis individualisierend-konstruktivistischer
Ansätze impliziert zunächst einmal ‚weniger’ an personalisierenden Interventionen in die individuellen
Lebensläufe der Kriminalisierten (Peters 1997: 59). Nichtsdestoweniger lässt sich davon sprechen,
dass sich diese Perspektive auch als Instrument für durchaus traditionelle präventive Logiken, im
skizzierten ‚positivistischen’ Sinne, wirkungsvoll und vor allem berufspolitisch ausgesprochen nützlich
gestalten kann. Nicht obwohl, sondern weil die Instanzen sozialer Kontrolle stigmatisieren, ist es
sinnvoll, schon so weit wie möglich im Vorfeld anzusetzen, um schädliche Folgewirkungen dieser
127
Instanzen und schädliche die Kriminalisierungsprozesse möglichst zu verhindern136. Das Risiko
verschiebt sich von der ‚Kriminalität’ zu einem dynamisierten Prozess der Kriminalisierung und
legitimiert damit noch mehr Interventionen, die noch früher einsetzen und - im Gegensatz zu den
sozialstrukturell argumentierenden ätiologischen Ansätzen – nicht einmal auf eine Verbesserung der
sozialen Stellung der Adressaten selbst gerichtet sein müssen, sondern eher auf eine Reduzierung des
‚allgegenwärtigen’ - und in seinem Beginn beliebig weit nach vorne zu verlagernden - Risikos eines
psycho-dynamischen Prozesses einer Übernahme einer Abweichlerrolle.
Während Prävention auf der Basis einer individualisierd-konstruktivistischen Perspektive demnach eine
Liberalisierung
und
Demokratisierung
der
Interventionsformen
und
die
Zurückhaltung
bei
ordnungspolitischen Interventionsanlässen implizieren kann, ist es de facto gerade auch auf der Basis
dieser kritisch-aufgeklärten Ansätze gelungen
„sozialtechnologische Maßnahmen mit dem Ziel der Prävention zu verbinden und dadurch zu legitimieren. […]
Insofern gilt: ‚Die Kriminalprävention im Kindergarten ist die Folge der Aufklärung über die gesellschaftliche
Produktion von Kriminalität’“ (Scherr 1997:256, vgl. Lindenberg & Schmidt-Semisch 1996: 296)
Im Kontext dieser Logik haben sich – falls überhaupt - nicht nur die stationären Maßnahmen
reduziert, sondern vor allem die ambulanten, möglichst ‚ent-formalisierten’ und lebensweltlichen
Maßnahmen erweitert. Die Interventionen begründen sich dabei nicht (nur) auf der Basis wie auch
immer begründeter ‚Risikofaktoren’, die man bei dem Adressaten A finden kann und bei B nicht,
sondern durch einen Rekurs auf die Notwendigkeit eines ‚Empowerns’ und ‚Stark Machens’, das für A
und B gleichermaßen wichtig sei - je um das Risiko von Stigmatisierung und Kriminalisierung zu
verhindern, denn schließlich „gibt [es] kein risikofreies Verhalten“ (Luhmann 1991: 37).
Die ursprüngliche Kritik des Stigmabegriffs - abweichendes Verhalten sei ein Verhalten, das erfolgreich
so bezeichnet werde (vgl. Becker 1981) - in kann auf diese Weise in neue Kategorien überführet
werden, die sich in Stellenpläne und Mittelzuweisungen umsetzten lassen.
Gesellschaftstheoretisch orientierte Labeling Ansätze gehen ebenso wie die individualisierenden
Labeling Modelle von einer „gesellschaftlichen Produktion abweichenden Verhaltens“ (Ferchhoff &
Peters 1981) aus, sehen aber den ‚Grund’ für die Kriminalisierung alleine in der herrschaftlich
konstituierten Normsetzungen und Normdurchsetzungen definitionsmächtiger Instanzen. Hierbei
fokussieren sie nicht nur die Prozesse der Kriminalisierung als gesellschaftliches Produkt, sondern
auch die zu Grunde liegenden ‚Produktionsverhältnisse’ (vgl. Ziegler 1999). Etikettierungen werden
weniger als interaktive Aushandlungsprozesse, sondern als selektive Zuweisung eines ‚negativen Guts’
(Sack 1972) verstanden, dessen, sich zu den positiven sozialen Güter antiproportional verhaltende,
Verteilungsmechanismen durch vorherrschende Machtasymmetrien und gesellschaftsstrukturelle
Interessen bestimmt sind und Kontroll- und Disziplinierungsbedürfnisse reflektieren, die auf eine
(ideologische) Aufrechterhaltung von organisatorischen und strukturellen Herrschaftsverhältnissen in
einer bestimmten Politik- und Staatsform gerichtet sind (vgl. u.a. Sack 1972, Smaus 1986, 1998,
Ferchhoff & Peters 1981).
136
Für Hinweise danke ich Prof. Michael Lindenberg
128
‚Prävention’ beinhaltet in dieser Hinsicht vor allem die Distanz zu den „normativ fixierten
Präventionszielen“ des Strafrechts (Albrecht 1999: 46). Nicht eine wie auch immer organisierte
Bekämpfung von Kriminalität, sondern die Verhinderung eines Prozesses der Kriminalisierung der
problematischen Situationen subdominanter Klassen und Gruppen im Kapitalismus steht im
Vordergrund eines solchen ‚Präventionskonzeptes’ (vgl. Hulsman 1996: 300, Chambliss 1996).
Prävention wandelt sich damit letztlich zur Gesellschaftspolitik mit dem Ziel einer Veränderung der
kapitalistischen Klassengesellschaft und der Rolle des Staates (vgl. Albrecht 1999: 46). Dabei geht es
nicht nur um den selektiven und herrschaftlichen Charakter der Rechtssetzung und -durchsetzung,
sondern, auf Basis der Überlegung, dass selbst eine Gleichbehandlung auf der Basis ungleicher
Vorraussetzungen nicht zu Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit im Ergebnis führen kann (vgl. Hall
1996), um eine Veränderung der produktiven und reproduktiven gesellschaftlichen Struktur.
Mit der konkreten Praxis der Jugendhilfe scheinen die in der Regel auf die Organisation kapitalistischer
Gesellschaften bezogenen, gesellschaftstheoretisch fundierten Labeling Ansätze wenig kompatibel.
Dennoch können diese Überlegungen nicht nur als eine „Sensitivisierung und Sensibilisierung
gegenüber Herrschaftsmechanismen“ (Peters 1997: 59) verstanden werden, sondern auch als
Aufforderung, sich in (lokale) Politikverhältnisse einzumischen, um die Interessen der Subdominanten
zu artikulieren, um die Kontexte, die Kriminalisierungsprozessen dienlich sind, möglichst wirkungsvoll
zu verändern und Hegemonieverhältnisse zu verschieben (vgl. Ziegler 1999: 136). Kurz:
‚Kriminalprävention’ meint hier den utopisch-heroischen Versuch „Einengungen, strukturelle Gewalt,
Macht- und Herrschaftsausübung von Gruppen zu Gunsten einer sozialqualifizierenden Demokratie“
(Busch 1995: 683) zu reduzieren und sich, wie beispielsweise die Redaktion Widersprüche (1984: 121)
im Anschluss an eine ‚radikale Soziale Arbeit’ vorschlägt, in Form einer ‚Politik des Sozialen’ in und
gegen den sozialen Staat zu positionieren und sich, je nach Anlass, zugleich um dessen Verteidigung,
Kritik und Überwindung zu Bemühen.
II. 4.4
DIE NOTWENDIGKEIT EINER GESELLSCHAFTLICHEN FUNDIERUNG DER JUGENDHILFE
Die Multidimensionalität und Widersprüchlichkeit des Präventionsbegriffs verweist darauf, dass weder
die Feststellung die Jugendhilfe agiere präventiv, noch der ‚Wille zum präventiven Handeln’ per se
eine gehaltvolle Basis für eine Analyse darstellen kann. Wenn ‚Prävention’ aber sowohl eine fachliche
Grundausrichtung, als auch den durch die Konstitution ‚des Sozialen’ bestimmten Daseinszweck der
Jugendhilfe - in ihren ‚helfenden’ wie ‚kontrollierenden’ Dimensionen - darstellt, so verweist die Frage
der ‚Prävention’ in der Jugendhilfe notwenig auf die Frage der Teleologien, sowie Denk- und
Handlungsrationalitäten der Jugendhilfe in einem allgemeinen Sinne und damit auch der Figuration
ihres gesellschaftlichen Feldes: dem Sozialen.
Eine solche Bestimmung kann nicht nur auf einer abstrakten Ebene erfolgen, in der über die
allgemeinen und überzeitlichen strukturellen Beziehung zwischen ‚der Jugendhilfe’ und ‚der
Gesellschaft’ verhandelt wird, sondern soll auf der Grundlage einer spezifischen Situierung der
Jugendhilfe
vor
dem
Hintergrund
eines
konkret
129
historischen
Entwicklungsstandes
einer
gesellschaftlichen Formation geschehen. Die Jugendhilfe, ihre ‚präventiven’ Bemühungen und die
ihnen zu Grunde liegenden ‚Subjektrepräsentationen’ verändern sich parallel zu Entwicklungen der
gesellschaftlichen Formation in die sie eingebettet sind. Dies gilt schon alleine, weil die Institutionen
Sozialer Arbeit auf der Basis ihrer historischen und historisch gewachsenen Verflechtung mit dem
staatlichen Sozialleistungssystem (vgl. Bauer 2000: 10) auf eine spezifische gesellschaftliche
Verfasstheit zielen. So fern die Leistungen der ‚vergesellschafteten Sozialisationsarbeit’ Jugendhilfe
(vgl. Kessl et al. 2002) als gesellschaftliche Tätigkeiten zu verstehen sind, die nicht nur bezogen auf
jene gesellschaftliche Konstitution der Bereiche, die sie unmittelbar fokussieren, sondern auch in
Bezug auf ihre eigenen Konzepte und Methoden im Zusammenhang mit dem Stand der
gesellschaftlichen
Entwicklung
stehen,
ist
‚Gesellschaftstheorie’
ein
zentraler
Bereich
jeder
theoretischen Annäherung an die Soziale Arbeit (vgl. Thiersch & Rauschenbach 1987).
Um gehaltvolle, über partikulare Deskriptionen hinausgehende Aussagen über Jugendhilfe leisten zu
können ist es darum zunächst notwendig, ihre Aufgaben, Funktions- und Statusbestimmungen vor
dem Hintergrund der jüngeren Entwicklungen kapitalistischer Klassengesellschaften westlicher
Provenienz zu analysieren.
Eine solche Analyse muss auf der theoretischen Ebene insofern über die Argumentationslinien
Bourdieus hinausgehen, wie dieser in seinen Analysen des Verhältnisses von Praxis, Habitus und Feld
kaum systematische Ausführungen über die Organisation und Entwicklung (kapitalistischer)
Gesellschaftsformationen Sinne anbietet. Genau diese wirken jedoch mittelbar und unmittelbar auf die
konkret historische Formierung des Sozialen – als dem Bezugsfeld der Jugendhilfe – ein, und
kennzeichnen gerade in ihrer zeitgenössischen Form eine „grundlegende Neuordnung der Beziehung
zwischen den Nationalstaaten einerseits und zwischen Individuum und Gesellschaft andererseits“
(Gerlach 2000: 125f).
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