Tonkünstler-Orchester Niederösterreich Der Spieler unterm Eis Das unglaublich turbulente Leben und Schaffen des Dmitri Schostakowitsch Ein Projekt im Rahmen der Tonspiele für 13- bis 19-jährige Schülerinnen und Schüler Vorbereitende Unterrichtsmaterialien für Lehrerinnen und Lehrer der Schulstufen 8 – 12 zusammengestellt von Corinne Eckenstein und Tristan Jorde Inhalt VORWORT EVN .....................................................................................................................................3 VORWORT TONSPIELE, ...................................................................................................................... 4 DER SPIELER UNTERM EIS.................................................................................................................5 DAS LEBEN DES DMITRI SCHOSTAKOWITSCH (1906 – 1975) ................................................... 6 CHRONOLOGIE................................................................................................................................ 6 DER TRIUMPH UND DAS PROBLEM DES JUNGEN GENIES .................................................. 9 LADY MACBETH UND SKANDAL ................................................................................................. 9 LEIDEN ALS QUELLE DER KÜNSTLERISCHEN INSPIRATION .............................................. 11 SPÄTER RUHM NACH STALINS TOD......................................................................................... 12 ANDERE KÜNSTLER IN DIKTATUREN ...........................................................................................14 WEBLINKS UND ORIGINALAUFNAHMEN .................................................................................... 15 MITWIRKENDE IM KONZERT ......................................................................................................... 16 2 EVN unterstützt das Projekt «Tonspiele» des Tonkünstler-Orchesters Niederösterreich – spielerisch Musik erleben Die seriöse Wissensvermittlung an Kinder und Jugendliche in zielgruppengerechter Form ist EVN ein großes Anliegen. Seit weit über 4 Jahrzehnten wird seitens EVN eine aktive Schulbetreuung («Young Energy») durchgeführt. Sowohl die Breite des Schulangebotes, als auch die lange Tradition der Betreuung sind unter den österreichischen EVU´s einmalig. Den Schwerpunkt bildet die Bereitstellung von Lehrbehelfen über Energie, Vorträge der EVN, Schulbetreuer in den Klassen, sowie Besichtigungen von Kraftwerken und Anlagen von EVN. Mit der Unterstützung der «Tonspiele», die Kinder und Jugendliche in einem sehr frühen Stadium für klassische Musik begeistern sollen, leistet EVN einen Beitrag zu einer modernen Musikvermittlung in Niederösterreich. Dr. Burkhard Hofer, Vorstandssprecher EVN www.young.evn.at 3 Liebe Lehrerinnen und Lehrer, wir freuen uns sehr über Ihr Interesse an dem Projekt «Spieler unterm Eis». Es bietet eine außergewöhnliche Gelegenheit in das Leben und Schaffen des russischen Komponisten Dmitri Schostakowitsch einzutauchen. Die Aufführung führt uns dabei durch seinen Werdegang und zeigt ihn als spannende Figur zwischen dem stalinistischen Regime und seinem Willen zur künstlerischen Freiheit. Mit dem Ersten Gastdirigenten der Tonkünstler, Michail Jurowski, haben wir außerdem das Glück, einen Zeitzeugen und bekannten Schostakowitsch-Interpreten auf dem Dirigentenpult zu erleben, der als Kind sogar noch mit Schostakowitsch gemeinsam am Klavier gespielt hat. Seine persönlichen Geschichten und Anekdoten werden Teil dieses spannenden Konzertes sein. Mit den folgenden Unterlagen möchten wir Ihnen die Möglichkeit bieten, vertiefend in die Thematik und die Inszenierungsweise des Erzählkonzerts einzutauchen. Dafür bietet Ihnen diese, von der Regisseurin zusammengestellte Materialsammlung interessante Hintergrundinformationen zu verschiedenen Elementen der Produktion, als auch Anregungen zur kreativen Auseinandersetzung mit den Inhalten der Performance. Die Mappe soll Ihnen als Unterstützung dienen, um den Vorstellungsbesuch mit einer Vor- und Nachbereitung abzurunden. Die Angebote verstehen sich als Impulse, die Sie nach eigenem Ermessen mit Ihrer Klasse oder Ihren Kindern durchführen und auf deren Bedürfnisse spezifisch abstimmen können. Die Informationen sollen Anregungen für weiterführende Recherche sein und Anknüpfungspunkte zur eigenen Umsetzung bieten. Wir hoffen, Sie damit neugierig zu machen und stehen Ihnen jederzeit für Fragen, Anregungen und Feedback zur Verfügung. Viel Spaß bei der gemeinsamen Vorbereitung und natürlich beim Konzert wünschen Ihnen Christina Krug und Joachim Unger von den Tonspielen 4 Der Spieler unterm Eis Programm Auszüge aus dem vielfältigen Schaffen von DMITRI SCHOSTAKOWITSCH : «Lady Macbeth von Mzensk». Ausschnitte aus den Fünf Zwischenspielen für Orchester op. 114a, (Passacaglia & «Auf dem Polizeirevier) Symphonie Nr. 7 C-Dur op. 60 «Leningrader», Ausschnitt aus dem ersten Satz Symphonie Nr. 1 f-moll op. 10, Ausschnitte aus dem 1. und 2. Satz Galopp aus der Operette «Moskau-Tscherjomuschki» Symphonie Nr. 9 Es-Dur op. 70, Ausschnitte aus dem 4. und 5. Satz Symphonie Nr. 15 A-Dur op. 141, Ausschnitt aus dem 4. Satz Ballettsuite Nr. 1 für Orchester, 1. Satz Ballettsuite Nr. 2 für Orchester, 3. Satz Mitwirkende Tonkünstler-Orchester Niederösterreich DIRIGENT Michail Jurowski SCHAUSPIEL | REGIE Corinne Eckenstein SCHAUSPIEL Tristan Jorde & 2 jugendliche Darsteller Ausgangspunkt des Stückes Am Beispiel des Genies Schostakowitsch soll - für Jugendliche adaptiert - erlebt werden, wie schwierig es ist, unter totalitären Systemen Kunst zu schaffen, in einer ständigen, lebensgefährlichen Gratwanderung zwischen gerade noch akzeptabler Anpassung und mehr oder weniger offenem Widerstand. Zwei Jugendliche werden dabei mittels eines zauberhaften Klingeltons immer wieder - und nicht chronologisch – in einzelne Abschnitte aus dem Leben von Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch hineingezogen und erleben sowohl die Ängste eines Künstlers in der Diktatur, als auch die kraftspendende Faszination der Musik. 5 Informationen für Lehrerinnen und Lehrer Das Leben des Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch (1906 – 1975) Chronologie (Quelle: Deutsche Schostakowitsch-Gesellschaft, Ergänzungen von C. Eckenstein) 1906 25. September in Petrograd geboren 1917 21.-25. Oktober Bolschewistische Revolution 1919 Scherzo fis-Moll, op. 1 für Orchester 1922 unerwarteter Tod des Vaters an Lungenentzündung, finanzielle Notlage der Familie Suite fis-Moll, op. 6 für 2 Klavier, Andenken an den Vater Gründung der UdSSR 1923 Erkrankung an Bronchien- und Lymphdrüsentuberkulose, Operation, Rekonvaleszenz auf der Krim Arbeit in Kinos als Stummfilmpianist 1924 Tod Lenins, Triumvirat um Stalin, Petrograd in Leningrad umbenannt Erkrankung der Mutter, weiterhin Arbeit in Kinos als Stummfilmpianist 1925 I. Symphonie f-Moll, op. 10 fertig (UA 12.05.1926 Leningrad) 1926 1. Klaviersonate , op. 12 (UA 12.12.1926 Leningrad) Begegnung mit Darius Milhaud in Leningrad 1927 lernt Iwan Sollertinsky kennen II. Symphonie H-Dur, op. 14 «An den Oktober» (UA 5.11.1927 Leningrad) lernt Nina Warsar kennen Begegnung mit Alban Berg bei der Aufführung von Wozzeck in Leningrad Stalin übernimmt mit Gewalt alle Posten 1928 Die Nase, op. 15 fertig (UA 16.06.1929 konzertant, 18.01.1930 szenisch, Leningrad) Begegnung mit Arthur Honegger 1929 III. Symphonie Es-Dur, op. 20 «Der 1. Mai»(UA 21.01.1930 Leningrad) 1930 Begin der Arbeit an Lady Macbeth, op. 29 (UA 22.01.1934 Leningrad) UA Ballett Das goldene Zeitalter, op. 22 1932 Wird im Sowjetischen Komponisten Verband in den Vorstand der Leningrader Abteilung gewählt heiratet Nina Warsar 1934 Suite für Jazz Orchester Nr. 1 UA Lady Macbeth in Leningrad 1. Aufführung Lady Macbeth in Moskau 1936 Stalin besucht eine Aufführung der Lady Macbeth im Bolschoi Theater und verläßt sie nach der Pause Artikel in der Prawda: Chaos statt Musik 6 Schostakowitsch vom Komponisten Verband als Formalist verurteilt V. Symphonie c-Moll, op. 43 fertig komponiert (am 23.11.1936 zurückgezogen, UA 30.12.1961) Moskau, Geburt der Tochter Galina 1937 Lehrstuhl für Komposition im Konservatorium Leningrad V. Symphonie d-Moll, op. 47 (UA 21.11.1937 Leningrad) 1938 1939 Geburt des Sohns Maxim VI. Symphonie h-Moll, op. 54 (UA 21.11.1939 Leningrad) zum Ordentlichen Professor im Leningrader Konservatorium ernannt Begin der Neuorchestrierung des Boris Godunow von Mussorgsky (fertig Mai 1940, UA 4.11.1959) 1940 Sommer Klavierquintett g-Moll, op. 57 (UA 23.11.1940 Moskau) 1941 Stalin Preis fürs Klavierquintett VII. Symphonie C-Dur, op. 60 «Leningrad»(UA 5.03.1942 Kuibyschew) Nach Moskau dann Kuibyschew evakuiert Beginn der Belagerung von Leningrad 1942 Aug-Jan 43 Schlacht um Stalingrad 1943 Teilaufhebung der Belagerung Leningrads, 650.000 Tote an Hunger 2. Klaviersonate h-Moll, op. 61 (UA 6.06.1943 Moskau D.Sch.) Rückkehr nach Moskau VIII. Symphonie c-Moll, op. 65 (UA 4.11.1943 Moskau) 1944 Befreiung von Leningrad 1945 Yalta Konferenz IX. Symphonie Es-Dur, op. 70 (UA 3.11.1945 Leningrad) 1947 erneut zum Professor am Leningrader Konservatorium berufen aber bleibt in Moskau wohnen als Vorsitzender des Leningrader Komponisten Verbands gewählt 1948 wieder wegen Formalismus verurteilt, verliert alle Ämter, finanzielle Notlage 1. Violinkonzert a-Moll, op. 77 fertig (UA 29.10.1955 Leningrad) 1. Kongreß des Komponisten Verbands Arbeit an Antiformalistischer Rayok (geheim) 1949 rehabilitiert 1950 Stalin Preis für die Filmmusik «Der Fall von Berlin» und für «Das Lied von den Wäldern» Begegnung mit Hanns Eisler in Ost-Berlin 1953 Tod Stalins X. Symphonie e-Moll, op. 93 (UA 17.12.1953 Leningrad) 1954 Begegnung mit Bertolt Brecht in Berlin Tod der Frau Nina Warsar in Jerewan an Krebs nach kurzem Klinikaufenthalt 1955 9. November Tod der Mutter Suite für Varieté-Orchester 1956 heiratet Margarita Kainova (Komsomol Aktivistin) 1957 2. Kongreß des Komponisten Verbands, zum Sekretär des Komponistenverbands der UdSSR 7 gewählt Weiterarbeit an Rayok XI. Symphonie g-Moll, op. 103 «Das Jahr 1905» (UA 30.10.1957 Moskau) 1958 Beginn der Orchestrierung der Oper Chowanschtschina von Mussorgsky für einen Film erste Symptome der neurologischen Krankheit (Lähmungen der rechten Hand) Resolution der Kommunistischen Partei um die Fehler des Dekrets 1948 zu korrigieren Lenin Preis für die XI. Symphonie lernt Irina Supinskaya kennen 1959 Scheidung von Margarita Kainova Diagnose einer unheilbaren chronischen Entzündung des Rückenmarks: Lähmungen der rechten Hand 1960 lernt Benjamin Britten in London kennen 1961 Krankenhausaufenthalte XII. Symphonie d-Moll op. 112 «Das Jahr 1917» (UA 1.10.1961 Leningrad und Kuibyschew) UA IV. Symphonie c-Moll, op. 43 Moskau 1962 XIII. Symphonie b-Moll, op. 113 «Babi Yar» (UA 18.12.1962 Moskau) heiratet Irina Supinskaya (Literatur Verlegerin) 1963 UA Oper Katerina Ismailowa («Lady Macbeth») 1965 Aufenthalt in neurologischem Krankenhaus Rekonvaleszenz in Bjelorussia 1966 1. Herzinfarkt, zwei Monate Krankenhaus Aufenthalt 1967 Mehrere Krankenhaus Aufenthalte wegen komplizierten Beinbruchs 1969 Krankenhaus Aufenthalt XIV. Symphonie g-Moll, op. 135 (UA 29.09.1969 Leningrad) 1970 Krankenhaus Aufenthalt in Kurgan 13. Streichquartett b-Moll, op. 138 (UA 13.12.1970 Leningrad) 1971 XV. Symphonie A-Dur, op. 141 (UA 8.01.1972 Moskau) Krankenhaus Aufenthalt in Kurgan Aufenthalt im Komponistenheim in Repino 2. Herzinfarkt, Krankenhaus Aufenthalt bis 26. Dezember 1972 besucht Benjamin Britten in Aldeborough Krankenhaus Aufenthalt wegen Lungenkrebs, Radiotherapie 1973 erneute Radiotherapie 14. Streichquartett Fis-Dur, op. 142 (UA 12.11.1973 Leningrad) 1974 15. Streichquartett es-Moll, op. 144 (UA 15.11.1974 Leningrad) Suite nach Michelangelo Versen, op. 145 (UA 23.12.1974 Leningrad) 1975 Aufenthalt in Repino Sanatorium Violasonate C-Dur, op. 147 (UA 1.10.1975 Leningrad) im Krankenhaus in Moskau an Herzversagen gestorben in Moskau auf dem Nowodiewitschy Friedhof begraben 8 Anknüpfungspunkte für den Unterricht: Geschichtsunterricht – 20. Jahrhundert – Die Geschichte der Russischen Revolution und ihre Auswirkungen auf Europa Der Glaube an den neuen Menschen – Faszination der Revolution für viele KünstlerInnen Die brutale Enttäuschung durch die folgenden Entwicklungen, vor allem den Stalinismus Der Austausch innerhalb der musikalischen Avantgarde (z.B. Schostakowitsch, Eisler, Britten, Milhaud, …) Der Triumph und das Problem des jungen Genies Als Zwanzigjähriger landete Schostakowitsch bereits einen Welterfolg. Seine 1. Symphonie (1925) wurde kurz nach der Uraufführung gleich auch unter großer Beachtung in Berlin und New York gespielt – er wurde zu einem jungen Weltstar. Dies verschaffte ihm in seiner ersten Schaffenszeit die Freiheit, auch in der Sowjetunion seinen eigenen avantgardistischen Weg zu gehen. Aber auch Experimente mit anderen kulturellen Einflüssen (Suiten für Jazz Orchester 1934, 1938, die dann viel später auch in der Suite für Varieté Orchester, ca. 1955, wieder eine Anknüpfung fand) reizten ihn, er genoss diesen Status, stellte sich aber genau so gern in den Dienst der Sowjetischen Kulturproduktion. Von dieser wurde er auch gerne vereinnahmt und eng in die Musikstrukturen der UdSSR eingebunden, mit allen verbundenen Freiheiten und Zwängen. Anknüpfungspunkte für den Unterricht: junge Weltstars – Wie gehen sie mit dem Ruhm um? Wie kann die Schaffenskraft über längere Zeit erhalten werden Wie schwer ist die Balance zwischen künstlerischer Ambition und «schnellem Geld und Ruhm? Vergleiche mit heutigen Stars der Populärmusik (Amy Weinhouse, Justin Bieber,...) Lady Macbeth und Skandal Mit der Aufführung der unkonventionellen Oper «Lady Macbeth von Mzensk» erreichte Schostakowitsch einen weiteren Triumph, der kurz darauf einen jähen Absturz fand. Beim dem Besuch einer Vorstellung verließ der Diktator Stalin vorzeitig seine Loge und einen Tag darauf erschien in der «Prawda» folgender Artikel: 9 28. Januar 1936, Prawda, Chaos statt Musik (Übersetzt von Andrej Schdanow) Im Zusammenhang mit dem Wachstum der Kultur in unserem Lande hat das Bedürfnis nach guter Musik zugenommen. Niemals und nirgendwo haben die Komponisten so ein dankbares Publikum gehabt. Die Volksmassen erwarten schöne Lieder, aber zugleich auch gute Instrumentalwerke und Opern. Manche Theater servieren dem sowjetischen Publikum, das höhere kulturelle Ansprüche stellt, D. Schostakowitschs Oper Lady Macbeth von Mzensk als etwas Neues, als eine große Errungenschaft. Eine diensteifrige Musikkritik hebt diese Oper in den Himmel und überschüttet sie lärmend mit Ruhm. Statt einer sachlichen und ernsthaften Kritik, die ihm in seiner weiteren Arbeit von Nutzen sein könnte, bekommt der junge Komponist nur enthusiastische Komplimente zu hören. Von der ersten Minute an verblüfft den Hörer in dieser Oper die betont disharmonische, chaotische Flut von Tönen. Bruchstücke von Melodien, Keime einer musikalischen Phrase versinken, reißen sich los und tauchen erneut unter im Gepolter, Geprassel und Gekreisch. Dieser "Musik" zu folgen, ist schwer, sie sich einzuprägen unmöglich. Das gilt für fast die ganze Oper. Auf der Bühne wird der Gesang durch Geschrei ersetzt. Gerät der Komponist gelegentlich in die Bahn einer einfachen und verständlichen Melodie, so stürzt er sich sofort wieder, als wäre er erschrocken über ein solches Unglück, in das Labyrinth des musikalischen Chaos, das stellenweise zur Kakophonie wird. Die Ausdruckskraft, die der Hörer erwartet, wird durch einen wahnwitzigen Rhythmus ersetzt. Durch musikalischen Lärm soll Leidenschaft zum Ausdruck kommen. Der Grund für all das liegt nicht in der mangelnden Begabung des Komponisten, nicht in seinem Unvermögen, einfache und starke Gefühle in der Musik auszudrücken. Diese absichtlich "verdrehte" Musik ist so beschaffen, daß in ihr nichts mehr an die klassische Opernmusik erinnert und sie mit symphonischen Klängen, mit der einfachen, allgemeinverständlichen Sprache der Musik nichts mehr gemein hat. Das ist eine Musik, die nach dem gleichen Prinzip der Negierung der Oper aufgebaut ist, nach dem die "linke" Kunst überhaupt im Theater die Einfachheit, den Realismus, die Verständlichkeit der Gestalt, den natürlichen Klang des Wortes negiert. Diese Musik kommt einer Übertragung der noch um ein Vielfaches gesteigerten negativen Züge des Meyerholdschen Theaters auf die Oper gleich. Das ist die "linke" Zügellosigkeit an Stelle einer natürlichen, menschlichen Musik. Die Fähigkeit guter Musik, die Massen mitzureißen, wird hier kleinbürgerlichen, formalistischen Anstrengungen und der Verkrampfung geopfert, damit man mit den Methoden der Originalitätshascherei Originalität vortäuschen kann. Dies ist ein Spiel mit ernsthaften Dingen, das übel ausgehen kann. Die Gefahr einer solchen Richtung in der Sowjetmusik liegt klar auf der Hand. Die "linke" Entartung in der Oper hat den gleichen Ursprung wie die "linke" Entartung in der Malerei, der Dichtung, der Pädagogik und der Wissenschaft. Das kleinbürgerliche "Neuerertum" führt zur Loslösung von der wahren Kunst, der wahren Wissenschaft und der wahren Literatur. Der Komponist der Lady Macbeth von Mzensk mußte die nervöse, verkrampfte, epileptische Musik des Jazz entlehnen, um seinen Helden Leidenschaft zu verleihen. Während sich unsere Kritik - und damit auch die Musikkritik - vor dem Sozialistische Realismus verneigt, setzt uns die Bühne mit Schostakowitschs Werk gröbsten Naturalismus vor. Die Kaufleute und das Volk - alle werden stumpf und grausam dargestellt. Die Kaufmannsfrau, die durch Mord Reichtum und Macht gewinnt, wird als ein Opfer der bürgerlichen Gesellschaft vorgestellt. Leskows Geschichte bekommt eine Sinnlichkeit, die sie eigentlich nicht hat. Und das alles ist grob, primitiv und vulgär. Die Musik ächzt und stöhnt, keucht und gerät außer Atem, um die Liebesszenen möglichst natürlich darzustellen. Und die "Liebe" wird in der ganzen Oper in der vulgärsten Weise breitgetreten. Das Doppelbett des Kaufmanns steht als Mittelpunkt auf der Bühne. Auf dem Bett werden alle "Probleme" gelöst. Im selben grob naturalistischen Stile wird auch der Tod durch vergiften gezeigt, ebenso die Prügelszene. Der Komponist hat sich offensichtlich nicht die Aufgabe gestellt, dem Gehör zu schenken, was die sowjetischen Opernbesucher von der Musik erwarten und in ihr suchen. Als hätte er bewußt seine Musik chiffriert, alle Töne in ihr so durcheinandergebracht, daß sie nur für Ästheten und Formalisten, die ihren gesunden Geschmack verloren haben, genießbar bleibt. Er ignoriert die Forderung der sowjetischen Kultur, Grobheit und Primitivität aus allen Bereichen des sowjetischen Lebens zu verbannen. Diese Lobpreisung kaufmännischer Wollüstigkeit bezeichnen einige Kritiker als 10 Satire. Hier kann in keiner Weise von Satire die Rede sein. Mit allen Mitteln sowohl der musikalischen als auch der dramatischen Ausdrucksfähigkeit ist der Autor bestrebt, die Sympathien des Publikums für die groben und vulgären Bestrebungen und Taten der Kaufmannsfrau Katerina Ismailowa zu gewinnen Lady Macbeth erfreut sich eines großen Erfolges bei der ausländischen Bourgeoisie. Vielleicht wird die Oper gelobt, weil sie so absolut unpolitisch und verwirrend ist. Läßt sich das nicht damit erklären, daß diese zappelige, kreischende, neurotische Musik den perversen Geschmack der Bourgeoisie kitzelt? Unsere Theater wandten nicht wenig Arbeit auf, um die Oper von Schostakowitsch in Szene zu setzen. Die Darsteller zeigten bedeutendes Talent in der Überwindung des Lärms, des Schreiens und des Kreischens des Orchesters. Durch dramatisches Spiel versuchten sie, die melodische Dürftigkeit der Oper auszugleichen. Leider traten dadurch ihre grob - naturalistischen Eigenschaften nur noch klarer hervor. Das talentierte Spiel verdient Anerkennung, die verausgabten Kräfte - Bedauern. Damit war Schostakowitsch ganz hochoffiziell in Ungnade gefallen. Die Stalinistische Führung erwartete «pflegeleichte Volksmusik» oder «sozialistischen Realismus“, aber jedenfalls keine modernen, experimentellen und bisher ungehörten neuen Kompositionen. Da gleichzeitig die großen stalinistischen Säuberungswellen anliefen, musste Schostakowitsch von dem Augenblick an jederzeit die Geheimpolizei fürchten. Er lebte in unmittelbarer Todesangst und zum Teil auf dem Gang vor seiner Wohnung auf seinem Koffer schlafend, weil er mit seiner nächtlichen Verhaftung rechnete. Und er wollte in so einem Fall seine Kinder nicht wecken und ihnen diesen demütigenden Anblick ersparen. Obwohl er mehrmals zum – fast immer ausweglosen, weil zur sofortigen Inhaftierung führenden – Verhör der Geheimpolizei gebracht wurde, machten ein Zufall und seine Bekanntheit das Unmögliche möglich. Er kam wieder frei. Die Todesangst blieb noch viele Jahre und wurde erst mit dem Ende des Stalinismus für ihn weniger. Leiden als Quelle der künstlerischen Inspiration Die folgenden Lebensjahre versuchte Schostakowitsch einen sehr heiklen, schwierigen Weg, um seine Notwendigkeit des Komponierens leben zu können, aber trotzdem sich und seiner Familie das Überleben zu sichern. Dies sind wohl die bedrückendsten und deprimierendsten Jahre im Leben des Komponisten. Er versucht immer wieder mit gefälligen Kompositionen das Regime und die Aufsichtsbehörden gnädig zu stimmen. Gleichzeitig schreibt er im geheimen Kämmerchen avantgardistische und sogar ausgesprochen regimekritische Werke (s.- später – Antiformalistischer Rajok). Und auch in seinen offiziell aufgeführten Werken sind jede Menge Hinweise auf in der Musik versteckte Systemkritik zu finden (s. 9. Symphonie). Gleichzeitig passiert mit Ausbruch des 2. Weltkriegs und dem darauffolgenden Angriff der Deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion ein vehementer Einschnitt in sein Leben. Er ist auf der Flucht vor den feindlichen Truppen und komponiert ein Unterstützungswerk für die belagerte Bevölkerung von Leningrad. Mit seiner Leningrader Symphonie (Symphonie Nr. 7, Uraufführung 1942) schafft er ein Meisterwerk, das sowohl eine bittere Anklage gegen den Aggressor (die Wehrmacht als Belagerer von Leningrad), als auch ein leidenschaftliches Plädoyer gegen den Krieg an sich enthält und sich jedes Triumphgefühls 11 enthält. Sie kann sogar einmal in der belagerten Stadt aufgeführt werden und schafft somit den leidgeplagten Menschen für einige Augenblicke Freude und Ablenkung. Und auch zum Ende des 2. Weltkriegs setzt Schostakowitsch mit seiner 9.Symphonie (1945) wieder ein Werk, das anstatt wie von Stalin als Siegessymphonie erwartet, eine feingliedrige, wehmütige Komposition ist. Die noch dazu mit einer Art Zirkusstück endet und damit das Groteske am Krieg und Trauer über die Millionen Toten über jedes Gefühl von Triumph stellt. Einmal mehr wird Schostakowitsch dafür des «Formalismus» bezeichnet. Dies war damals eine sehr böse und potenziell todbringende Kritik an Kunstwerken, die nicht der offiziellen Doktrin entsprachen. Als Reaktion darauf entsand insgeheim die Komposition «Antiformalistischer Rajok (1948 – 1957)», in der er Professoren des Sowjetischen Komponistenverbandes und der Akademie karikierte und Ihre überholten, stockkonservativen Ansichten zu Musik musikalisch durch den Kakao zog. Und bereits nach dem Tode Stalins – und nach der umfassenden Rehabilitierung von Schostakowitsch- entstand auch die Operette «Moskwa, Tscherjomuschki (1958)», in der er einmal mehr Funktionäre (diesmal rund um ein obskures Neubauprojekt am Rande Moskaus) satirischmusikalisch verunglimpfte. Doch war dies so gut in die Operette eingebettet, dass sich letztlich niemand in den offiziellen Stellen an dem witzigen Gesamtwerk störte. Anknüpfungspunkte für den Unterricht: KünstlerInnen in Diktaturen – wie gehen wir heute damit um? Kampagnen im Internet? Welche Wege gibt es da zwischen Anpassung, Widerstand, Emigration und verdeckter Opposition? Welche aktuellen Beispiele von Unterdrückung und Anpassung sind bekannt (vgl. aktuelle Debatte über die russische Punkband «Pussy Riot», den chinesischen Konzeptkünstler Ai Weiwei, die Fatwa gegen den indisch-britischen Autor Salman Rushdie, der algerische Sänger Cheb Khaled, ...) Später Ruhm nach Stalins Tod Mit der sogenannten Entstalinisierung ab 1953 erlangte auch Schostakowitsch wieder vollen Zugang zu seinen Ämtern als Komponist, Mitglied des Komponistenverbandes und der Akademie. Mit dann auch wieder verstärkt getätigten Auslandsreisen mehrte sich sein Weltruhm, so dass auch die verstaubte Bürokratie des Sowjetstaates sich gezwungen sah, Schostakowitsch seinen Platz einzuräumen, als großartiger, vielfältiger Komponist von Weltgeltung. 12 Dafür wurde seine Gesundheit immer schlechter, wiederholte Krankenhausaufenthalte, Operationen und Rehabilitationen schwächten den Komponisten, der dennoch unermüdlich und mit erstaunlicher Schaffenskraft bis zu seinem Tod noch unzählige großartige Werke schrieb und auch aufführte. Während Schostakowitsch für seine letzten Symphonien davor meist einen Chor oder Gesangsolisten forderte, beinhaltet die letzte, 15. Symphonie (UA 1972) eine reine Orchesterbesetzung. Auffällig ist an dieser Sinfonie zudem die Häufigkeit von Zitaten; so treten Motive aus Gioacchino Rossinis «Guillaume Tell» und aus Richard Wagners Opern, aber auch Themen aus eigenen, früheren Werken auf. Insgesamt gestaltet Schostakowitsch das sinfonische Geschehen sowohl mit heiteren als auch mit traurigen Momenten. Der vierte Satz zeichnet sich vor allem durch polyrhythmische Elemente und perkussive Instrumentation aus, und verarbeitet das Todesverkündungsmotiv aus «Die Walküre» sowie Zitate aus «Tristan und Isolde». Diese Symphonie ist bereits ein vorweg genommener großer Abschied und auch ein Resumée eines unglaublich vielfältigen, zwischen Heldenverehrung und Todesangst angesiedelten Komponistenlebens. Und auch die posthume Verehrung durch die offiziellen Stellen der UdSSR erreichte eine Höhe und eine Verklärung, die ihm kaum einmal zu Lebzeiten zuteil wurde. Mit kaum einem Wort wurde nach seinem Tod auf seine extrem kritische Position vor allem während des Stalinismus, aber auch danach noch eingegangen. Einmal mehr wurde hier ein Künstler nach seinem Tod zum noch größeren Symbol der kulturellen Schaffenskraft einer Nation hochstilisiert. Während er selbst Zeit seines Lebens hauptsächlich seinem inneren Drang des Schaffens, der neuen Wege, der Experimente, der Vielfalt und des Unkoventionellen gehen wollte. Und damit im Licht seiner Kunst jedes totalitäre System als das erscheinen lässt was es ist: zynisch, brutal und menschenverachtend. Anknüpfungspunkte für den Unterricht: KünstlerInnen vor und nach dem Tod – wie wird immer wieder damit umgegangen? Österreichs Umgang mit Mozart, mit Karl Kraus, mit Thomas Bernhard? Kunst als Plädoyer für Ungewöhnliches, Neues, Ungehörtes, Ungesehenes, als Fernrohr für Weitblick und Öffnung des Horizonts? Vergleiche die Kritik an neuen Musikformen (Populärkultur oder «Hochkultur») 13 Andere Künstler in Diktaturen Neben dem Beispiel von Schostakowitsch gibt es auch einige andere – länger und nicht so lange zurückliegende – Geschichten von Komponisten in autoritären, diktatorischen Systemen. Ein Zeitgenosse Schostakowitschs war zum Beispiel der österreichische Komponist und Schüler von Arnold Schönberg, Hanns Eisler (1898 bis 1962), der zunächst kämpferisch gegen den Aufstieg der Nationalsozialisten ankomponierte (u.a. als guter Freund und Weggefährte Bert Brechts), vor diesen dann in die USA fliehen musste. Dort wurde er gleich bei Kriegsende (1948) wieder aufgrund der antikommunistischen Hexenjagd der sogenannten Mc Carthy Ausschüsse ausgewiesen. Dann wollte er in Wien, der Stadt seiner Jugend weiterleben und komponieren. Auch die Österreicher verweigerten dem verfolgten Eisler Heimatrecht und Staatsbürgerschaft, so dass er schließlich jene der DDR annahm, in der er auch dann starb. Der Komponist Richard Strauss (1864 - 1949) wählte bei der Machtergreifung der Nationalsozialisten den Weg der Anpassung und wurde sogar zeitweilig Direktor der Reichsmusikkammer des NS Staates. Er schrieb einige hochproblematische Jubelkompositionen und genoss bis zum Untergang des sogenannten Dritten Reichs höchstes Ansehen. Er gilt heute wieder als unumstrittene Größe des Musikschaffens. Richard Wagner (1813 – 1883) beteiligte sich auf revolutionärer Seite an dem Maiaufstand in Dresden 1849, der niedergeschlagen wurde und daraufhin steckbrieflich gesucht, durchlebte viele Stationen der Flucht und Emigration, unter anderem in die Schweiz und in das damals noch österreichische Venedig, bis er schließlich in Bayern Schutz des dortigen Königs fand und zu einer Art Staatskünstler von Königs Gnaden wurde. Durch den Missbrauch seiner Musik durch die Nationalsozialisten gilt er bis heute als nationalistischer Komponist, der nicht mehr mit seinem persönlichen revolutionären Lebensabschnitten in Verbindung gebracht wird. 14 Weblinks und Originalaufnahmen Neben den umfangreichen Dossiers in Wikipedia zu den genannten Personen und Werken, sind vor allem diese Weblinks empfehlenswert zur Unterstützung in der Unterrichtsarbeit zu «Der Spieler unter dem Eis»: Schostakowitsch Tage: http://www.schostakowitsch-tage.de Deutsche Schostakowitsch Gesellschaft: http://www.schostakowitsch.de/ Zur «Lady Macbeth von Mzensk» und dem Skandal in der Stalin Ära http://www.arnoldschalks.nl/tltd.main.html Dmitri Shostakovich playing Symphony 7 (Leningrad) https://www.youtube.com/watch?v=Ya79lvGgalU&feature=related Shostakovich plays a fragment of his 7th symphony (1941) https://www.youtube.com/watch?v=nOKL_q-Ribs&feature=related Dmitri Shostakovich filmed in 1975 https://www.youtube.com/watch?v=F6xTDVGZ-zo&feature=related Close Up: Shostakovich - part 1 of 6 (and following parts) https://www.youtube.com/watch?v=DRJdd7VMyUU&feature=related Aus dem Stanley Kubrick Film «Eyes Wide Shut» (1999, Film ab 18, Video jugendfrei), Nach der «Traumnovelle» von Arthur Schnitzler, mit Tom Cruise und Nicole Kidman, Walzer hier mit falscher Werksbezeichnung (richtig: Suite für Varieté-Orchester): «Eyes Wide Shut - Waltz No.2, Jazz No.2 Music Video» https://www.youtube.com/watch?v=J_o3mSUW7mI&feature=fvwrel 15 Mitwirkende im Konzert Tonkünstler-Orchester Niederösterreich Das Tonkünstler-Orchester Niederösterreich ist eine der wichtigsten Institutionen der österreichischen Musikkultur. Der Kernbereich der künstlerischen Arbeit ist das traditionelle Repertoire von der Klassik über die Romantik bis ins 20. Jahrhundert; gleichzeitig setzen die Tonkünstler Akzente im Bereich der Gegenwartsmusik. Das Orchester knüpft damit an sein mehr als 100-jähriges Wirken im österreichischen und internationalen Konzertleben an. Mit der Saison 09-10 übernahm der in Kolumbien geborene und seit 1997 im Wiener Musikleben beheimatete Andrés Orozco-Estrada das Amt des Chefdirigenten. Chefdirigenten vor Andrés Orozco-Estrada waren unter anderem Walter Weller, Heinz Wallberg, Miltiades Caridis, Fabio Luisi und Kristjan Järvi. Weiters arbeiten die Tonkünstler mit prominenten Gastdirigenten zusammen, darunter Jeffrey Tate, Jun Märkl, Hugh Wolff, Andrew Litton, Giovanni Antonini, Christopher Hogwood, Christian Zacharias, Heinz Holliger sowie dem Ersten Gastdirigenten Michail Jurowski. 16