Ernst Christen Wahrheit ist nicht immer wahr Buddhistische Geschichten Publikation BoD Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte sind vorbehalten. Copyright © 2007 bei Ernst Christen. 1. Auflage »Wahrheit ist nicht immer wahr« von Ernst Christen ISBN-13: 9783837002355 Herstellung und Verlag: Books on Demand GmbH, Norderstedt Gesamtkonzept (Text, Umschlag, Abbildung): Der Autor www.ernst-christen.ch -3- Vorwort Innerhalb weniger Jahrzehnte erlebte die Menschheit eine beispiellose technische Entwicklung und nichts in der bekannten Vergangenheit lässt sich mit der unglaublich raschen Abfolge der technischen Epochen der Gegenwart vergleichen: Das Industriezeitalter, das Transportzeitalter, das Elektronikzeitalter, das Atomzeitalter, das Raumfahrtzeitalter und schließlich das Computerzeitalter. Die Menschheit ist heutzutage in der Lage, unzählige Objekte aus sämtlichen wissenschaftlichen Gebieten zu identifizieren und ihre materiellen Eigenschaften genau zu analysieren. Der heutige Mensch verfügt über ein enormes Wissen - aber trotzdem ist es diesem Menschen bis heute nicht gelungen zu erkennen, wer denn der Erkennende all dieses Wissens überhaupt ist. Wer bin ich? Wer erkennt all dieses Wissen? Wer erkennt all die Antworten? Woher komme ich? Wohin gehe ich? Wozu das alles? Wir kennen zehntausend Wahrheiten über genauso viele Dinge, aber niemand kann die einfache Frage, wer wir sind, wahrhaftig beantworten. Und dabei ist das die essentielle und große Frage, die die Menschheit seit jeher -5- sorgt und plagt. Die vorliegende Sammlung von Buddhistischen Geschichten versucht diese bedeutungsvolle Frage befriedigend zu beantworten. Es sind Geschichten, die zu intuitiver Selbsterkennung führen sollen, Geschichten, die von spirituellem Erwachen, von Weisheit und Hingabe erzählen, von Erleuchtung. Aber auch von Wissen und Unwissen, von Dünkel und Zweifel. Allerdings können diese Geschichten lediglich den intellektuellen Teil der Frage, wer ich bin, beantworten, womit noch keine befriedigende Antwort erbracht ist. Was fehlt? Nichts anderes als ein Mark und Knochen durchdringendes Erlebnis. Weiß man lediglich vom Hörensagen, wie eine Mango schmeckt, so ist damit höchstens unser Intellekt befriedigt. Hat man dann aber eine Mango gegessen, so weiß man dank einem durchdringenden Erlebnis vollumfänglich Bescheid und niemand kann einem je wieder ein X für ein U vormachen. Um nun in Angelegenheiten wie Weisheit, Freiheit und Güte ein durchdringendes Erlebnis zuwege zu bringen, gibt es die Meditation. Sehr empfehlenswert ist die buddhistische Atem-Meditation (Anapanasati), bei der der -6- Geist durch die auf die Ein- und Ausatmung gerichtete Achtsamkeit kultiviert wird, um als ersten großen Schritt eine durchdringende, erlebende Schauung auf unser wahres Wesen hervorzurufen; d.h. eben den zu erkennen, der erkennt. Der Meditierende wird sich dabei intuitiv gewahr, was das leidvolle im Leben ist, was die Quelle dieses Leids ist; er wird sich gewahr, dass er diese Quelle in sich versiegen lassen kann und er wird sich auch gewahr, wie er das anzustellen hat. Und diese geschaute Wahrheit ist wahr. Immer. Und auch wenn sie mal nicht wahr sein sollte, ist sie trotz allem halt eben doch wahr. Das ist ganz einfach. Die Frucht dieser Wahrheitsschauung ist nichts Minderes als ein unser gesamtes Wesen durchdringendes Erlebnis absoluter Freiheit, umfassender Weisheit und unendlicher Güte. Das ist immerhin schon Mal die halbe Miete in diesem Leben! Das soll man nicht verpassen! Wie meditiert man also? Man setzt sich mit geradem Rücken hin (entweder auf den Boden oder auf einen Stuhl, den Rücken nicht anlehnen), schließt die Augen und lenkt die Aufmerksamkeit auf die Empfindung des einund ausströmenden Atems (z.B. am Rand der -7- Nasenlöcher oder im Rachen. An beiden Orten spürt man die Luftbewegung ziemlich gut). Schweift man von der Beobachtung dieser Empfindung ab, führt man die Aufmerksamkeit einfach wieder auf die Beobachtung des Atems zurück und lässt sie dort ruhen. Dabei schaut man einfach zu, was in uns drinnen alles so passiert ohne jedoch einzugreifen oder sich davon wegtragen zu lassen. Einfach nur zuschauen und die Aufmerksamkeit stabil auf dem Meditationsobjekt, dem Atem, ruhen lassen! Mit der Zeit lernt man, sich immer weiter zu beruhigen und die Gedanken werden immer weniger. Und jetzt kommen wir zum Kern der ganzen Sache: Wenn ein vergangener Gedanke aufgehört hat und ein zukünftiger Gedanke noch nicht entstanden ist, so ist da eine kleine Lücke dazwischen. Diese Lücke zu verlängern ist Meditation. Aus dieser gedankenlosen und leeren Lücke erscheint ohne unser Zutun alles Weitere von selbst. Die meditative Achtsamkeit auf die Einund Ausatmung ist, so die Überlieferung, von Buddha selber praktiziert, gelehrt und für alle als geeignet empfohlen worden. Entsprechende Literatur darüber kann in fast jeder Buchhandlung gefunden werden. Sehr emp-8- fehlenswert ist das Sachbuch »Anapanasati« von Buddhadasa Bhikku (einflussreicher Theravada Mönch aus Thailand, 1906 – 1993) der sehr tief in das Thema eindringt, die Technik, die Vorgehensweise, mögliche Probleme und die Etappen dieses geistigen Wegs aus eigener Erfahrung detailliert beschreibt. Viele dieser Anekdoten mögen den intellektuellen Leser verwirren, jedoch führen sie äußerst treffend, wenn auch bewusst auf widersprüchliche Art und Weise, direkt zum Kern der Buddhistischen Lehre: der Leerheit aller Daseinsphänomene. Ein rein rationales Verstehen dieser Texte – und davor sei eindringlich gewarnt! - ist nicht möglich. Die Früchte der Erweckung, nämlich absolute Freiheit, umfassende Weisheit und unendliche Güte müssen, um in uns ganzheitlich realisiert zu werden, genau gleich wie die Mango, einverleibt werden. Dazu gibt es die Meditation. Nur so ist die durchdringende Erfahrung zu verwirklichen. Versucht man dennoch diese Texte mit dem Kopf zu verstehen, als eine Art Rätsel, eine Knacknuss, geht man völlig in die Irre, und letztlich könnte man durchaus meinen, die hier zitierten, ehrwürdigen Weisen seien nichts anderes -9- als ein paar unzurechnungsfähige Verrückte, die man für Erleuchtete hielt. Es sei hier noch ein Mal angemerkt, dass jede dieser Geschichten von absoluter Freiheit, umfassender Weisheit und unendlicher Güte durchtränkt ist. Wie man aber den Geschichten ihre Essenz entlockt, die sich dem Meditierenden in einem tiefen und widerspruchlosen Verstehen jenseits unseres gesammelten Wissens und unseres so sehr gehegten und gepflegten Erfahrungsschatzes manifestiert, das muss in meditativer Versenkung jeder für sich selber entdecken. Ist eine dieser Geschichten durchdringend verstanden, sind gleichzeitig alle anderen Geschichten auch gemeistert und können nun, in ihrer Essenz dem Meditierenden bewusst geworden, die allzeit gegenwärtige Erfahrung des Hier und Jetzt erhellen und zur Blüte bringen, zu einer Blüte von nie zuvor im Leben gesehener Schönheit. Die in diesem Buch gesammelten Geschichten stammen aus verschiedenen Quellen der Buddhistischen Literatur. Die Mehrzahl entstammt den Überlieferungen des japanischen Zen Buddhismus. Andere habe ich während meiner Ausbildung irgendwo auf -10- dieser Welt gehört und später aufgeschrieben. Nur wenige dieser Weisheiten sind also auf meinem eigenen Mist gewachsen und erblüht, die meisten sind definitiv irgendwo abgeschaut, umgeschrieben und ein bisschen verschönert worden (so viel zur literarischen Leistung des Autors). Mögen diese Geschichten dem Leser helfen, die Welt des Erwachens, die Welt der allumfassenden Weisheit, des höheren Glücks und der selbstlosen Nächstenliebe tief greifend und dauerhaft zu eröffnen. Ernst Christen Sept. 2007 -11- Geleitwort »Es ist das wesentliche Merkmal des Buddhismus, dass die grundlegende Wahrheit immer nur in sich selbst gesucht wird und niemals in irgendetwas Äußerem.« Zenkei Shibayama -13- Einer lächelt Es wird erzählt, dass Buddha einst mit seinen Mönchen auf dem Geierberg saß, als ein Hindupriester zu ihm trat, ihm eine Blume schenkte und ihn bat, die buddhistische Lehre darzulegen. Der Buddha nahm die Blume, hielt sie hoch und betrachtete sie aus der Leere hinaus in vollkommen erhabener Schauung. Da lächelte der Mönch Mahakasyapa. Der Buddha sagte darauf zu ihm: »Ich besitze das Auge, das den Schatz der absoluten Wahrheit, die kosmische Unterweisung, das universelle Gesetzes, den Geist der Erweckung sieht. Nur du allein hast die Essenz meiner Unterweisung verwirklicht.« Weite Leere, nichts Heiliges Als der Wandermönch Bodhidharma von Indien nach China kam, begegnete er einem Kaiser. Dieser war ein verehrender Anhänger und großzügiger Förderer des Buddhismus und hatte in seinem Herrschaftsbereich viele Klöster bauen lassen, die Priester und Mönche stets unterstützt und unzählige Kopien der -15- heiligen Schriften drucken und verteilen lassen. Nun fragte er Bodhidharma, den Meister der Buddha Lehre, welche Verdienste er sich damit erworben habe. »Keine.« antwortete Bodhidharma. »Warum keine?« wollte der Kaiser wissen. »Was ihr getan habt, bringt kaum Verdienst.« erklärte Bodhidharma. »All das, was ihr erwähnt habt, wird schließlich nichts als Verblendung schaffen, weil es zwecks persönlichen Nutzens geschah. Es gleicht eher dem Schatten als der Form. Man könnte meinen, es liege ein Verdienst darin, aber in Wirklichkeit ist da nur Verblendung.« Den Kaiser verwirrten diese Worte und er fragte: »Was sind denn die wahren Verdienste frommer Handlungen und religiöser Praxis?« »Die wahren Verdienste sind der Zustand der reinen Weisheit; die Freiheit von den Fesseln der Illusion, des Leidens und der Anhaftung.« antwortete Bodhidharma. Kaiser: »Und was ist das wichtigste Element um diese Verdienste zu erlangen?« Bodhidharma: »Weite und durchdringende Leere, nichts Heiliges.« Der Kaiser, noch verwirrter, fragte weiter: »So wer bist du, der vor mir steht?« Bodhidharma sagte: »Ich weiß es nicht.« -16- Himmel und Hölle Ein großer, zäher Krieger, der schon manch grausame Schlacht überlebt hatte, ging einen kleinen Mönch besuchen, weil er etwas mehr über Himmel und Hölle erfahren wollte. »Mönch!«, sagte er mit dem barschen Ton eines Mannes, der sofortigen und unbedingten Gehorsam gewohnt ist, »lehre mich etwas über Himmel und Hölle!« Der kleine Mönch sah langsam zu dem mächtigen Krieger auf und entgegnete voller Verachtung: »Dich etwas über Himmel und Hölle lehren? Überhaupt nichts kann man dich lehren. Du bist schmutzig, du stinkst und deine Klinge ist rostig. Du bist eine Scham und Schande für die Kaste der Krieger. Geh mir aus den Augen! Ich kann dich nicht ertragen!« Der Krieger begann vor Wut zu zittern und lief rot an. In blindem Zorn riss er sein Schwert aus der Scheide um den Kopf dieses dreisten Mönchs kurzerhand abzuschlagen. »Das ist die Hölle.« sagte der Mönch freundlich mit erhobenem Finger und gerade noch rechtzeitig. Der Krieger war überwältigt. Das Mitgefühl und die Ergebenheit dieses kleinen -17- Mönchs, der bereit war sein Leben herzugeben, um ihm diese Lehre darzubieten und ihm die Hölle zu zeigen, berührten sein innerstes Wesen. Langsam senkte er sein Schwert, erfüllt von Dankbarkeit und plötzlichem Frieden. »Und das ist der Himmel.« sagte der Mönch freundlich und beendete damit seine Darlegung von Himmel und Hölle. Die Grundregel der höchsten Weisheit Eines Tages kam ein wissbegieriger Mann, der schon viele heilige Schriften studiert hatte und dabei auf seinem spirituellen Weg ins Stocken geraten war, zu einem weitum bekannten Meister und bat: »Meister, schreibt mir bitte die Grundregeln der höchsten Weisheit auf.« Er hoffte dabei etwas Gescheites zu lernen und einen Durchbruch auf seinem Weg zu erringen. Der Meister griff sofort zum Schreibzeug und schrieb flink auf einen großen Bogen Papier in schönen Schriftzeichen das Wort »Aufmerksamkeit.« »Ja… ist das denn alles?« fragte der Mann erstaunt. »Andere Meister haben dicke Bücher -18- über die Grundregeln der höchsten Weisheit geschrieben. Wollt ihr nicht noch etwas hinzufügen?« Der Meister hörte aufmerksam zu, nickte verständnisvoll und schrieb daraufhin gleich zweimal hintereinander: »Aufmerksamkeit, Aufmerksamkeit.« »Nun,« meinte der Mann schon ziemlich gereizt, »ich sehe wirklich nicht viel Tiefes oder Geistreiches in dem, was Ihr da gerade geschrieben habt. Im Gegenteil: Es erscheint mir töricht! Da gehört noch viel mehr dazu!« Wieder hörte der Meister dem Mann aufmerksam zu, nickte verständnisvoll und schrieb ohne einen Moment zu zögern das gleiche Wort gleich dreimal hintereinander: »Aufmerksamkeit, Aufmerksamkeit, Aufmerksamkeit.« Halb verärgert begehrte der Mann nun zu wissen: »Was bedeutet denn dieses Wort Aufmerksamkeit überhaupt?« Und der Meister antwortete freundlich: »Aufmerksamkeit bedeutet aufmerksam zu sein.« -19- Wer? Wenn da jemand eine Frage stellt, wer genau stellt da eigentlich eine Frage? Und wenn dann da jemand eine Antwort erkennt, wer genau erkennt da eigentlich eine Antwort? Gute Vorsätze Man könnte meinen, dass ein mit guten Vorsätzen gepflasterter Lebensweg direkt in himmlische Gefilde führt. Leider aber ist dem nicht so, denn dieser Weg führt direkt in die Hölle! Richtiges Verstehen Wenn wir Kinder sind und die Dinge um uns nicht verstehen, sind Berge nichts anderes als eben Berge. Wenn wir als junge Menschen anfangen zu verstehen, sind Berge plötzlich nicht mehr Berge. Verstehen wir aber dann als erwachte Menschen endlich richtig, sind Berge wieder Berge. -20-