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Thomas Gutknecht
Philosophische Bildung.
Ein Vorschlag für die Praxis der Philosophie6
Auf alles zu hören, was uns etwas sagt, und es uns gesagt sein zu lassen,
darin liegt der hohe Anspruch, der an jeden Menschen gestellt ist.
Sich für sich selbst daran zu erinnern ist eines jeden ureigenste Sache.
Es für alle und es für alle überzeugend zu tun ist die Aufgabe der Philosophie.
Hans-Georg Gadamer
Das Leben ist kein Problem, das man lösen, sondern eine Wirklichkeit, die man erfahren muss.
Søren Kierkegaard
Nichts ist praktischer als eine gute Theorie.
Leibniz und Kant in den Mund gelegt
„Ihr Herr Sohn studiert in Wien Philosophie? Was wird er denn dann einmal sein, wenn er fertig ist?“ wird der Kommerzienrat Moses Bloch gefragt.
Leicht indigniert und resigniert antwortet Vater Bloch: „Tja, ich fürcht: ein
alter Jud.“ Die Vielschichtigkeit der Antwort in diesem typisch jüdischen
Witz möchte ich gar nicht erst ausbuchstabieren. Nur dies zum Einstieg in
das Thema „Philosophische Bildung“: Ein alter Jud – das deutet wohl auf
die Unabschließbarkeit eines philosophischen Studiums. Trotz all der geistigen Mühen aber bleibt der Jude doch nur das, was er zuvor schon war:
eben weiterhin Jude, gefährdet in seiner antisemitischen Mitwelt ohne jede
Aussicht auf Anerkennung. Hätte der junge Bloch doch wenigstens das Antworten erlernt, wie das in den Domänen von Religion oder auch Wissenschaft bedenkenlos üblich geworden ist. Aber er „studiert“ Philosophie.
Er übt bestenfalls das Philosophieren und erlernt dabei die zwar hohe, aber
anscheinend nutzlose Kunst des Fragens.
Durch das Studium der Philosophie erwirbt man keine professionelle
Qualifikation. „Philosoph“ – ein Beruf? Nein, ein schlechter oder melancho-
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Es handelt sich bei dem vorliegenden Text um die „Kurzfassung“ eines weit ausführlicheren Essays, der vom Autor erst zu einem späteren Zeitpunkt veröffentlicht werden wird.
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Einleitender Beitrag
lischer Witz – damals wenigstens, als es noch Kommerzienräte gab und das
geistige Leben hierzulande vom Jüdischen kräftig belebt worden war.
Ist – vom Schrecken des Ungeistes und seinen verheerenden Folgen abgesehen – wenigsten in Sachen Philosophie etwas „besser“ geworden seit
jenen Tagen vor mehr als hundert Jahren? Auf halbem Weg zu uns Heutigen
klagte Adorno die „Halbbildung“ an. Konrad Paul Liessmann nennt die so
genannte Bildung von heute eine Erscheinungsform der Unbildung. Denn
Bildung, so Liessmann, ist der Anspruch auf ein angemessenes Verstehen.
Doch dessen Voraussetzungen scheinen kaum noch gegeben. Lässt sich in
philosophischer Besinnung und von den Ressourcen philosophischer Bildung her überhaupt noch aufzeigen, was Bildung letzten Endes bedeutet?
Was ist philosophische Bildung?
Aufs Ganze partizipiert ja philosophische Bildung nicht dergestalt am herkömmlichen Bildungsideal, welches primär auf Wissenszuwachs bezogen ist,
als es quer dazu Wissen befragt. Im Kern geht es um das Denken. Und geradezu instinktiv spüren die Menschen, dass das Denken etwas Subversives
hat, gar etwas Destruktives – und dass der Besonnene am Ende nur insoweit
klüger ist, als er gelernt hat, unbegründeten Wissensanmaßungen mit guten
Gründen zu widersprechen. Beharrt man nur lang genug auf der Forderung,
gute Gründe genannt zu bekommen, blickt man früher oder später in die
ganze Abgründigkeit der Existenz.
Wir sind noch nicht geübt darin, dass wir in der gemeinsamen Ratlosigkeit eine Chance nicht nur zum Weiterdenken, sondern vor allem auch
zur Stabilisierung des Miteinanders im Kommunizieren erkennen. Es gibt
nicht nur eine Begriffsstutzigkeit hinsichtlich des Terminus Philosophie.
Eine gewisse, sozusagen gesunde Begriffsstutzigkeit gehört zum Philosophieren selbst. Und ohne eine (dazu-)gehörige Portion Selbstironie kann man
es wohl auch nur schwer aus- und durchhalten, in eigener Person die der
Philosophie nachgesagte und im Philosophierenden habituell gewordene
Naivität zu leben. Und doch macht eben dies den wirklich philosophisch
Gebildeten aus: ganz schlicht – geradezu wie die Kinder – „Warum-Fragen“
zu stellen.
Robert Spaemann unterscheidet die „Warum-Fragen“ von den „WieFragen“. Letztere kennzeichneten die Wissenschaft, erstere hätten mit der
Legitimation zu tun, verbunden mit ebenso kindlichen Ideen wie Freiheit,
Glück und Würde. Solch naives Denken stellt auch Methoden in Frage, die
der Denkersparnis Vorschub leisten. Hans Kudszus fasste dies einmal so: Be-
Philosophische Bildung. Ein Vorschlag für die Praxis der Philosophie
kommt das Denken Angst vor der eigenen Courage, flüchtet es in die Methode. Wenn Heidegger behauptet, die Wissenschaft denke nicht, betont er
sofort, dass dies kein Vorwurf sei. Es ist einfach nicht deren Sache. Dafür ist
sie, kurz gesagt, nicht naiv genug. Sie bewegt sich gleichsam bereits auf einer
zweiten oder dritten Reflexionsstufe. Dafür ist sie aber bedenkenlos genug,
die Vergegenständlichung des Menschen zu befördern. „Philosophie wird
deshalb genau so lange da sein, wie wir eine Grenze unserer eigenen Vergegenständlichung wollen“, erklärt Robert Spaemann.
Wer rhetorisch gewandt und geübt auftritt, über umfängliche Wissenszusammenhänge verfügt und sein intellektuelles Können mit Geschick erfolgreich vermarktet, ist noch längst kein Denker, bestenfalls ein medientauglicher „Aufklärer“ oder vielleicht ein den Zeitgeist bündelnder Feuilletonist,
ein politikfähiger Gelehrter, doch womöglich bloß ein Blender, der mit
Gedanken anderer handelt – einen Vielwisser hätte ihn Heraklit abschätzig genannt –, dem die einzig legitime Intellektuellen-Unbescheidenheit abgeht, die in der Radikalität des Weiterfragens besteht. Ein Philosoph, der ein
„Philosophie-Experte“ sein möchte, ist ein Widerspruch in sich. Und wenn
schon von Erfahrung oder Expertise die Rede sein soll, dann handelt es sich
– ganz sokratisch – allenfalls um Erfahrenheit in Bezug auf Fallstricke des Erfahrenseins. So konnte Thomas Polednitschek als Philosophischer Praktiker
etwa formulieren: „Eine unberatene Gesellschaft ist keine schlecht beratene
Gesellschaft.“
Zur philosophischen Bildung gehört daher auch die Witterung einer gesunden Skepsis, die sich kein X für ein U vormachen lässt. In philosophische
Bildung fließt ein, was an Befreiungspotential im Denkvermögen liegt.
Demzufolge ist besonders philosophische Bildung kein Arsenal, sondern Bildung ist, mit einem Wort von Hans Blumenberg, ein Horizont. Und einen
solchen skizziert Peter Bieri sehr hellsichtig, wenn er anmerkt: „Der Gebildete ist einer, der ein möglichst breites und tiefes Verständnis der vielen
Möglichkeiten hat, ein menschliches Leben zu leben.“ Der Gebildete also
sucht Klarheit zu gewinnen über sich im Bewusstsein der brüchigen Vielfalt
in seinem Inneren. Er weiß, dass er keine soziale Identität für bare Münze
nehmen braucht.
Fast scheu möchte ich in diesem Zusammenhang die These vorbringen: Zwischen Meisterschaft im Leben, Bildung und Philosophie lässt sich
letztlich nicht trennen und kaum mehr unterscheiden. Der Ausdruck „philosophische Bildung“ scheint eine Tautologie zu sein. Es mag sicher unbescheiden klingen, als Philosoph zu behaupten, dass alle Bildung darauf hinauslaufe, philosophische Bildung zu sein, und dass dies darauf hinausläuft,
ein menschlicher Mensch zu werden, also „Philosoph“.
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Einleitender Beitrag
Philosophische Bildung ist die kritische Fähigkeit, uns von der natürlichen Sehnsucht nach Wundermännern in uns selbst nicht blenden zu lassen. Philosophische Bildung zeigt sich in der tätigen Philosophie, die sich
solchem Ansinnen entzieht und widersetzt. Für die Philosophie wirbt man
nicht mit Erfolgsversprechen. Zur Philosophie bereit machen kann nur, wer
Menschen die Augen öffnet für die Realitäten und den Preis der Freiheit. Mit
Platon gesagt: Soweit uns der Weg aus der Höhle gelingt und es möglich ist,
nach der Umwendung der eigenen Seele und nach dem Aufstieg aus der Bilderwelt des Schattenreichs erneut uns hinzuwenden zu den noch Gefangenen. Was uns zu freien Menschen macht ist: im Interesse des Menschen
als zur Freiheit Gerufene tätig zu sein. Auch Kant, uns näher, spricht an
vielen Stellen davon, wie bequem es doch ist, in der Unmündigkeit zu verharren und anderen das verdrießliche Geschäft des Denkens zu überlassen.
Bescheidenheit und Unbescheidenheit gehen in philosophischer Bildung
Hand in Hand als das Vermögen der Unbescheidenheit des Fragens mit der
Bescheidenheit im möglichen Angebot von Antworten. Das Infragestellen
seiner selbst ist hierbei natürlich inbegriffen. Ein Nachdenken darüber, dass
alle Bildung letztlich auf philosophische Bildung zuläuft, verbindet sich mit
der Überlegung, was uns zu freien Menschen macht. Und zu freien Menschen macht uns nur unsere Bildung. Denn was zählt ist nicht, was den Praktikern so gerne abverlangt wird: Hilfe zum glückenden Leben. Gekonntes
Scheitern hat ebenfalls sein Recht, zumal wenn man am Ungeist und seinen
Gestalten, etwa der Gewalt, scheitert. Nicht ob etwas gut ausgeht, sondern
ob etwas Sinn hat – ohne Rücksicht darauf, wie es ausgeht – interessiert den
philosophisch Gebildeten.
Der Gebildete wird, das betont Peter Bieri, vor bestimmten Dingen besonderen Ekel empfinden:
„Vor der Verlogenheit von Werbung und Wahlkampf; vor Phrasen, Klischees und allen Formen der Unaufrichtigkeit; vor den Euphemismen und der zynischen Informationspolitik des Militärs; vor allen Formen der Wichtigtuerei und des Mitläufertums,
wie man sie auch in den Zeitungen des Bürgertums findet, die sich für den Ort der
Bildung halten. Der Gebildete sieht jede Kleinigkeit als Beispiel für ein großes Übel,
und seine Heftigkeit steigert sich bei jedem Versuch der Verharmlosung. Denn wie
gesagt: Es geht um alles.“
Immer wieder muss daher auch bei der Bildung betont werden, was sie nicht
ist. Bildung ist nicht Gelehrtheit, nicht das Resultat erworbenen Wissens
oder regelgeleiteter Handlungskompetenzen. Bildung ist eher verwandt mit
Tugend im aristotelischen Sinn. Sich bilden ist ein Prozess eigenverantwortlichen geistigen Wachsens. Ich zitiere nochmals Peter Bieri:
Philosophische Bildung. Ein Vorschlag für die Praxis der Philosophie
„Bildung ist etwas, das Menschen mit sich und für sich machen: Man bildet sich.
Ausbilden können uns andere, bilden kann sich jeder nur selbst. Das ist kein bloßes
Wortspiel. Sich zu bilden ist tatsächlich etwas ganz anderes, als ausgebildet zu werden. Eine Ausbildung durchlaufen wir mit dem Ziel, etwas zu können. Wenn wir uns
dagegen bilden, arbeiten wir daran, etwas zu werden – wir streben danach, auf eine
bestimmte Art und Weise in der Welt zu sein.“
Und bei der Unterstützung dieses „Strebens“ mag einer richtig verstandenen
und umsichtigen Philosophischen Praxis auch eine große Bedeutung zukommen. Doch wenden wir uns zuerst den Gefahren und den „Fallstricken“
zu, die damit auch verknüpft sein können:
Philosophische Praxis als Brotberuf?
Was die Berufsaussichten eines Philosophen angeht, könnte man beispielsweise zunächst an Kants ironischen Bemerkungen im Streit der Fakultäten,
seiner letzten selbstständigen Schrift, mit der er der Philosophie – und uns
– noch einmal ein schönes Denkmal gesetzt hat, überprüfen und darüber
nachdenken, ob sich die Verhältnisse seither tatsächlich zum Besseren entwickelt haben, d. h. wieweit Aufklärung gekommen ist. Für Kant ist der Philosoph ein Parteigänger der Freiheit – doch eben das hat seinen Preis. Die
Vertreter der oberen Fakultäten (Jurisprudenz, Medizin und Theologie) erlernen einen Brotberuf. Sie erweitern ihr Grundlagenstudium um und mit Praxiswissen, verlieren aber in der Ausrichtung an bestimmten Zwecken weithin die innere Unabhängigkeit, weil an diese Professionellen ständig nur
allzu menschliche Interessen und Forderungen herangetragen werden. Der
Jurist soll helfen, bei etwaigem Verstoß gegen das Sittliche doch noch eine
an und für sich rechtmäßige Bestrafung abzuwenden. Der Arzt soll dem, der
ungesund lebt, unter Aufbietung aller erdenklichen Mittel die Folgelasten
abnehmen und ersparen. Der Theologe soll mitwirken, dass man bei aller
sündhaften Lebensführung doch noch in den Himmel kommen kann. Sie
alle werden so zu Ratgebern im Dienst der Unfreiheit und der Unvernunft.
Instrumentelle Vernunft obsiegt über sachhaltige Rationalität.
Verbunden mit der Behauptung, dass Philosophieren der Würde des Menschen „geschuldet“ ist, aber nicht in die Horizonte von Herrschaftswissen
und der Verwertungszusammenhänge eingeordnet werden kann, steht nun
die Frage an, wie Philosophie als freier Beruf in der Sphäre der Erwerbsarbeiten Platz finden kann. Honorar ist ein dehnbarer Begriff und Inhaber von
Honorarprofessuren können ein Lied davon singen, dass derart zugestande-
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Einleitender Beitrag
ne „Ehre“ sich in keiner Hinsicht rechnet. Meine These: Der philosophisch
Gebildete nimmt in Kauf, dass, wo er das Wertvolle dem Nützlichen vorzieht, Recht getan ist und er seinen Lohn schon empfangen hat. Im Unterschied zu Gütern entzieht sich das Gute jedem Marktwert. Schon Aristoteles
wusste, dass „Wahrheit“ und Geld kein gemeinsames Maß besitzen können.
Für mich lautet daher die zentrale Frage: Kann man das Wirken im Dienst
von Wahrheit und Freiheit zum „Brotberuf“ machen? In den letzten drei
Jahrzehnten sind ja vielerorts vielfältige Formen einer Praktik entstanden,
die als Praxis der Philosophie verstanden werden dürfen und sich als
Philosophische Praxen konstituieren.
In einem Zug mit der Idee, einen solchen Philosophen-Beruf zu etablieren, kam auch die Frage auf, ob und wie dafür ausgebildet werden könne,
ob man also Philosophische Praxis zu lehren vermöge. Ich warne beharrlich
davor, dem Irrtum zu erliegen, dass hier ein Berufsfeld zu bestellen wäre
und die Menschen nur darauf warteten, ungetröstet von der Kirche und unberaten von den Intellektuellen es endlich mit geschulten Philosophinnen
und Philosophen zu tun zu bekommen, die ihrer Berufung als Intellektuelle
gerade so dienstfertig entsprechen, dass dies eine marktfähige Angelegenheit wird. Der Markt ist – Erich Fromm wurde nicht müde, es zu erläutern
– nicht der Ort für Wahrheit und Freiheit. Mehreren Herrschaften zugleich
zu dienen käme der Quadratur des Kreises gleich. Mit Schopenhauer, der den
Staatsphilosophen Hegel im Visier hat: Kann für die Philosophie leben, wer
von ihr lebt?
Der Wunsch der Menschen, passiv, ja abergläubisch die Leistung von Experten abrufen zu können, trifft heute auf die Ambitionen arbeitsuchender
Philosophiestudenten. Was aber mag passieren, wenn die Leute bequem erreichen möchten, was sie suchen, und doch letztlich nur finden können in
freier Selbsttätigkeit als vernünftige Subjekte; wenn sie Anweisungen zum
Glück im Leben suchen anstelle von Sinn, der nur selbsttätig und in Wahrheit zu stiften ist; und junge Philosophen sich erkühnen (entblöden?), diesem Begehren willfährig nachzukommen?
Es schmerzt mich auch geradezu, wenn Hochschulabgänger in Philosophischer Praxis „ausgebildet“ werden wollen und mit dem Ansinnen kommen,
nun müssten endlich auch „Übungen“ stattfinden, etwa um vom „Verkopften“ wegzukommen und dergleichen Grillen mehr. Selbst in Kollegenkreisen
bekommt man zuweilen die Forderung zu hören, mehr den Dialog zu üben
anstatt über Dialoge zu reden. Aber ist das nicht genau die philosophische
Aufgabe – im gewählten Beispiel – : den Dialog über den Dialog angemessen
zu führen und insoweit zu üben, also so „über“ die Dinge ins Gespräch zu
kommen, dass von der Sache des Denkens ausgehend Erkenntnis zu Mittei-
Philosophische Bildung. Ein Vorschlag für die Praxis der Philosophie
lung gerät, die Menschen stärkt? Wenn Kierkegaard fordert, Wahrheit sei nur
als subjektive „zu haben“, wendet er sich damit weder gegen die Anstrengung des Begriffs und noch weniger redet er einem Subjektivismus das Wort.
Zwischen subjektiv und subjektivistisch liegen Welten.
„Praxis“ meint nicht Gesprächstechniken einstudieren (was schon Verkäufern eher schadet als nützt), sondern einer Sache, die Gegenstand des
Gesprächs ist, und Menschen, die miteinander kommunizieren, näher zu
kommen. So kann das Teilen ein Mitteilungsgeschehen werden, das bestenfalls Existenzmitteilung wird. Und im letzteren Sinn mögen Philosophische
Praktikerinnen und Praktiker auch wichtige Aufgaben zu erfüllen haben.
Zum Verständnis meines anvisierten Bildungsbegriffs scheint mir jedoch
wichtig, darauf hinzuweisen, dass philosophische Bildung besonders und gerade für die Betreiber einer Philosophischen Praxis unabdingbar ist. Denn die
Verantwortung für die Menschen und die Treue zum Denken und zur Philosophie müssen dahin führen, dass praktizierende Philosophen (soweit sie
eben Philosophen sind) der Verlockung zu Bärendiensten widerstehen. Und
zur Bildung philosophischer Praktiker gehört auch ein Gefahrenbewusstsein,
dass die Menschen durch „Bärendienste“ – auch wenn sie am Markt nachgefragt oder gar gefordert sein mögen – ebenso leicht wie die praktizierenden
Philosophen selber Schaden nehmen können.
Im Namen „Philosophische Praxis“ steckt in zweifacher Weise die Freiheit. Die im besten Sinn „akademische Freiheit“ klingt im Wort Philosophie
an und der Ausdruck Praxis selbst meint ja nichts anderes als das Freiheitsgeschehen im intersubjektiven Miteinander. Philosophische Praxis stellt konkret wie metaphorisch einen wie immer gearteten Raum zum Philosophieren zur Verfügung. Philosophieren qua Denken ist der eigentliche „Beruf“
des Philosophischen Praktikers.
Doch Philosophische Praxis verwirklicht das Philosophische nicht als
Rekurs auf eine Idee von Philosophie, sondern in der Existenz des Praktizierenden bekommt Philosophie ein Gesicht, kommt Philosophie zur Realität. Der natürliche Ort der Wahrheitssuche ist ja das Miteinanderreden der
Menschen; Wahrheit ereignet sich im freien Dialog, in der Diskussion, im
Gespräch, in der Sprache also und im Wort. Und Philosophische Praxis wirkt
segensreich vor allem in Ermahnungen und durch Einladung zur Besinnung.
Hier ist die erste Aufgabe Philosophischer Praktiker: zur Selbstverantwortung rufen. Und am glaubwürdigsten wird das wohl immer dann geschehen,
wenn dies erkennbar in der eigenen Lebenspraxis geleistet wird.
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Einleitender Beitrag
Eine wohl verstandene Philosophische Praxis ist daher mehr
als ein Brotberuf!
Der wirkliche Lehrer ist immer das Leben selbst. Soweit es allerdings Vorbilder und hilfreiches Milieu braucht, darf nicht bloß auf Zufälligkeiten bildnerischer Atmosphäre gesetzt werden. Der Kältestrom moderner Gesellschaften
verlangte ganz explizite „Maßnahmen“ zur Charakterbildung. Und in diesem Sinn mag Philosophischen Praktikerinnen und Praktikern eine wichtige
Rolle zukommen. Ein praktizierender Philosoph muss aber auf jeden Fall
ein existenzieller Denker sein oder seine Praktik endet im Zynischen. Um
Worte, Namen oder Titel – wer ist ein Philosoph? – geht es dabei gar nicht.
Eher schon um eine Idee vom guten Leben und um die Auffassung von dem
Dienst, der im Hinblick darauf der (philosophischen) Bildung zukommt.
Ganz traditionell und mit Aristoteles antworte ich auf die Frage nach dem
guten Leben für alle Menschen, dass es je eines sein soll, das die höchsten
Möglichkeiten jedes Menschen freisetzt, damit er womöglich das Äußerste
seines Menschseinkönnens realisiert. Dabei kommt der geistigen Aktivität
eine ausgezeichnete Stellung zu. Denn sonst unterschiede sich der Mensch
– wie die Alten sagten – nicht vom Vieh. Menschliches Leben – verläuft es
in unbeschädigten Bahnen – ist auf geistiges Leben ausgerichtet, auf Wahrheit und Gutsein, auf Liebe. Es wird erfüllt in der Begegnung mit Anderen
(Personwert) und überhaupt allem, was wertvoll ist und Reichtum schenkt.
Gedacht ist dabei zuerst an den inneren Reichtum, doch der äußere braucht
wie alles, was „gehabt“ werden kann, nicht denunziert werden. Nur sollte
der Besitzende nicht vom Besitz besessen sein. Wenn Bildung die Verfassung ist, die den Menschen instand setzt, sowohl sich selbst als auch seine
Beziehungen in Ordnung zu bringen, dann zielt Bildung auf das Personale,
die Herzmitte von Selbstsein und Mitsein in einem. Bildung zeigt sich in der
Teilhabe am Weltgeschehen, in der Bereitschaft, Anerkennung zu gewähren,
z. B. im Brückenbau im interkulturellen Dialog, wie überhaupt in der Fähigkeit zur Empathie.
Seitens der Philosophischen Praxis muss aber auch leidenschaftlich geächtet werden, was undialektisch und undifferenziert „vom Geist nichts
duldet als das methodologisch Approbierte“ (Adorno). Philosophischer
Praktiker ist viel mehr, wer philosophiert. Genauer: wer mit den Menschen
philosophiert, wer mit ihnen aus ihrer Lebenssituation mitgehend diese zu
durchdenken versucht. Dazu gehört vieles, was zu bedenken bleibt. Etwa
dass nur verstehen kann, wer seine Zeit und sich in und aus seiner Zeit versteht. Da hilft fortgesetztes Nachdenken über das dunkle Wortpaar Ich – Du,
etwa mit Gadamers Celan-Kommentar oder Bubers Dialogischem Prinzip,
Philosophische Bildung. Ein Vorschlag für die Praxis der Philosophie
um ein kleines, aber für alle Verstehensbemühungen zentrales Thema anzudeuten. Begriffe wie Anerkennung und Liebe, Verzeihen und Versöhnung,
Schuld und Sühne bleiben stets in der Diskussion. Intensität des Denkens
hat Vorrang vor dem extensiven Wissen.
Lässt sich nun philosophische Bildung lehren und lernen? Kann das Betreiben einer Philosophischen Praxis als ein Beruf verstanden werden? Ich
denke, dass philosophische Bildung das wesentliche Erfordernis ist – und
schon genügt. Sie aber muss notwendig im ureigensten Reifungsprozess realisiert werden – unter Verzicht auf vermeintlich mögliche Aus-, Weiter- und
Fortbildungsmaßnahmen.
Im Jahr 2013 hat die Internationale Gesellschaft für Philosophische Praxis
(IGPP) in Verbindung mit dem neu gegründeten Berufsverband für Philosophische Praxis (BV-PP) einen Bildungsgang gestartet, der mir persönlich eine
Herzenssache ist. In Entsprechung zu der hilfreichen Unterscheidung von
charismatischen und pragmatischen Praktikern wurde die offene Frage aufgegriffen, wie ohne Verpflichtung auf einen (charismatischen) Meister einerseits, aber ohne geistlose Verschulung – etwa durch Einführung von „tools“,
„skills“, Methodenschnickschnack und anderen Pragmatien – andererseits
Bildungsprozesse im Sinn der Selbstbildung unterstützt werden könnten.
In diesem Zusammenhang möchte ich noch einmal Kant – ohne Kommentar – zu Wort kommen lassen, der die nachfolgende Empfehlung ja selber als „Zusammenfassung“ seiner diesbezüglichen Überlegungen verstand:
„Drei Regeln für das Philosophieren. Für die Klasse der Denker können folgende Maximen (die als zur Weisheit führend bereits oben erwähnt worden) zu unwandelbaren Geboten gemacht werden:
1. Selbstdenken.
2. Sich (in der Mitteilung mit Menschen) in die Stelle jedes Anderen denken.
3. Jederzeit mit sich selbst einstimmig zu denken.
Das erste Prinzip ist negativ (nullius addictus iurare in verba magistri – auf keines
Lehrers Worte zu schwören verpflichtet), das der zwangsfreien; das zweite positiv,
der liberalen, sich den Begriffen anderer bequemenden, das dritte der konsequenten
(folgerechten) Denkungsart […]“
Denn, so Kant: „Die wichtigste Revolution in dem Innern des Menschen ist: der Ausgang desselben aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Statt dessen, dass bis
dahin Andere für ihn dachten und er bloß nachahmte, oder am Gängelbande sich
leiten ließ, wagt er es jetzt, mit eigenen Füßen auf dem Boden der Erfahrung, wenn
gleich noch wackelnd, fortzuschreiten.“
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Einleitender Beitrag
So lautet nun abschließend mein Vorschlag für eine Praxis der Philosophie: in dem skizzierten Geist Menschen ermutigen, sich zu bilden. Anstecken mit Philosophie, anregen zum Denken, offensiv und begründet die bequemen Wege sprengen. Philosophische Praxis hat in ihrem Angebot nichts
anderes als Philosophie. Die zu vermitteln bedarf es vor allem erst einmal der
philosophischen Bildung. Diese aber entsteht durch die Liebe zum Denken
wegen der Liebe zum Menschlichsten des Menschen – was vollste Verantwortung für alles einschließt, was lebt.
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