Dialogthemen

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GESCHICHTE UND GEGENWART
LEHREN UND LERNEN
„Mit Metaphern über Musik reden“
Zwei Dialogthemen von Jürgen Oberschmidt,
Pädagogische Hochschule Weingarten
Zu „Beziehungsweise. Begegnungen beim Schreiben über Musik“
Ein Essay von Joachim Reiber
Dialogbeitrag 1
Mut zur Vermutung!
Wie metaphorisches Sprechen die fachbegrifflichen Grenzen überschreiten hilft
Herzlichen Dank dem Arbeitskreis für Schulmusik Sachsen (AfS) und dem Verband deutscher Schulmusiker Sachsen (VdS)
<www.vds-afs.de> für die freundliche Zurverfügungstellung des Beitrages, erschienen als Oberschmidt, Jürgen: Mut zur
Vermutung! Wie metaphorisches Sprechen die fachbegrifflichen Grenzen überschreiten hilft. In: Ortwin Nimczik und Jürgen
Terhag (Hrsg.): musikunterricht 1. Bildung – Musik – Kultur. Zukunft gemeinsam gestalten. Kassel u. Mainz 2013: AfS/VDSEigenverlag, S. 104-109.
Reden ist Silber, Musizieren ist Gold?
Das Dilemma der musikalischen Analyse im Unterricht
Robert Schumann bringt das Dilemma der musikalischen Analyse auf den Punkt und spricht dabei
sicherlich so manchem Lehrenden und Lernenden aus dem Herzen: Alles Reden über Musik kann die
sinnlichen Empfindungen nicht erschöpfend in Worte fassen; für den Philosophen Peter Sloterdijk
gleicht das im Unterricht verordnete Reden gar einem „Attentat auf das Grundrecht der Musik,
ausschließlich mit ihren Mitteln für sich zu sprechen“ (Sloterdijk 2007, S. 29). Dies ist auch das
Dilemma der musikalischen Analyse im Unterricht.
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Nun hat sich gerade Robert Schumann glücklicherweise nicht an sein eigenes Schweigegebot
gehalten, sich selbst in einer äußerst fantasievollen Sprache bewegt und als Rezensent in der von ihm
begründeten Neuen Zeitschrift für Musik gezeigt, dass man über Musik nicht schweigen kann,
sondern geradezu reden muss. Dies gilt auch für jenen Aufsatz über Chopins Klavierkonzerte, in dem
er das Reden über Musik gänzlich abschaffen wollte. Von Schumann erfahren wir, dass As-Dur die
„Mondscheintonart“ sei, ihm begegnen beim Hören „lauter springende Champagnerstöpsel“,
„duftende Schnapsgläschen“ (zit. nach Sponheuer 2004, S. 95) – und nicht zuletzt „sähe man die
weißen Alpenriesen die Augen zudrücken“ (zit. nach Rummenhöller 1980, S. 17). Schumann nähert
sich der Musik aus der Perspektive allegorischer Figuren: Er schlüpft in die Gestalt des feurig
kämpfenden Florestan, des schwärmerischen, aber stillen Eusebius oder bedient sich des maßvollen
Blicks eines weisen Meister Raro. Musik erscheint ihm hier nicht als ein messbares objektives
Gegenüber, sondern sie wird aus den verschiedenen Blickwinkeln seiner Davidsbündler in den Blick
genommen.
Im Musikunterricht beschränken sich Vermittlungsbemühungen häufig darauf, Musik aus einer
Perspektive zu betrachten und ihr in guter Tradition einer „old german musicology“ ein Sagen
abzupressen. Ziel dieser schematisierten Denk- und Verstehensprozesse ist es, eine uniformierte
terminologische Sprache einzuüben, die oft reichhaltige, fantasievolle Schülersprache mit der
begrifflichen Brille zu lesen und all jenes, was nicht in dieses grobe Raster der Begriffe passt,
auszublenden. Hierzu wird im Unterricht ein immer gleiches Menü aufgetischt: Beschreibe, wie die
Musik auf dich wirkt! – Wo beginnt das zweite Thema? Jeder Schüler versteht hier sehr schnell, was
ihm als lockende Vorspeise und was als Hauptgericht serviert werden soll. Sinnliche
Überwältigungen, wie sie sich etwa in der reichen, metaphorischen Sprache Robert Schumanns
äußern, finden im Unterricht allenfalls auf diesem unverbindlichen Tummelplatz vorgeordneter
subjektiver Sinnzuschreibungen ihren Platz. Dieses wenig appetitanregende Entree, bei dem das
begriffliche Besteck der musikalischen Analyse schon am Tellerrand lauert, führt dazu, dass
persönliche Begegnungen mit einer Musik ausbleiben und musikalische Struktur ohne dieses
unverbindlich anmutende „Labern“ durch formalisierte, aber oberflächliche Beschreibungen des
Notentextes aus der Distanz durch Kimme und Korn erlegt wird. Ausgewählt werden hierzu Werke,
die sich möglichst bequem begrifflich vermessen und so vermitteln lassen. Um Komponisten mit
affektivem Appeal – wie Tschaikowsky, Rachmaninoff oder Mahler – wird ein verlegener Bogen
gemacht, obwohl gerade ihre Musik die Schülerinnen und Schüler besonders ansprechen würde.
Diese verordneten Analysen, in denen Schülerinnen und Schüler ihren eigenen Zugang und ihre
eigene Sprache nicht wiederfinden können, haben Lehrende und Lernende müde gemacht: Wir
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möchten Musik kennenlernen – aber nicht so viel darüber reden! Und nicht zuletzt aus diesem Grund
hat sich längst das Musikmachen vor die Worte gestellt (vgl. Oberschmidt 2011b).
Ziel des vorliegenden Beitrags ist es nun, die verschiedenen Sprachebenen im Unterricht miteinander
zu verknüpfen, Verbindlichkeiten in den unvermittelten Assoziationen und unverbindlich
anmutenden Äußerungen der Schülerinnen und Schüler aufzuzeigen, ihnen die Flügel ihrer Fantasie
loszubinden und ein Zutrauen in die eigenen Gewissheiten zu schenken. Die Musikwissenschaft hat
uns diesen Weg längst vorgezeichnet: „Man gewähre dem Herzen Zutritt in den unterkühlten
modernen Analytikerraum“ (De la Motte 1986, S. 104), verlangt Diether de la Motte mit Blick auf sein
trockenes Geschäft und vielleicht lohnt sich auch ein kurzer Blick in analytische Texte, die sich in
dieser eingeforderten Welt der Empfindungen bewegen. Helmut Lachenmann etwa betritt mit seiner
Analyse zu Weberns Orchesterstücken op. 10 diesen musikalischen Kosmos, in dem die bisher
geltenden Kategorisierungen weitgehend außer Kraft gesetzt sind. Diese Reise führt ihn zu einem
Text, der subjektiv anmutende Assoziationen ausdrücklich zulässt und dabei nahezu poetisch
anmutet: „Dabei ist das Ganze nichts anderes als eine Serenade im Mondschein des FlageolettKlangs, mit herübergewehten Tönen von dort, wo die schönen Trompeten blasen und die
todkündende Posaune, Instrument des Jüngsten Gerichts, antwortet, bis die Militärtrommel zum
Zapfenstreich ruft, die Idylle aufstört und sich der Liebhaber, die Mandoline unterm Arm
weiterzirpend, davonmacht, während die Angebetete ihm mit einer Geigenfigur nachwinkt“
(Lachenmann 2004, S. 123).
Metaphern sind mehr als ornamentales Stilmittel und sprachliche Ersatzformen
Unbestreitbar ist sicherlich, dass Sprache eine Vermittlungsfunktion zwischen der Welt der Objekte
und den Denkwelten der einzelnen Subjekte erfüllt und dass hier fachliche Begriffsmuster als
kognitive Ordnungsschemata unabdingbar sind. Im Unterricht sind wir geneigt, eine fachbegriffliche
Orientierung als höchst entwickelte Repräsentationsform anzusehen, zumal diese ja in den
Wissenschaften umfassend praktiziert wird, um die Welt nach festen Maßstäben zu vermessen (vgl.
Oberschmidt 2013). Metaphern haben hingegen ein geringeres Prestige: Vage und dehnbar wie ein
Gummiband scheinen sie der begrifflichen Welt lediglich vorgeordnet. Und doch besitzen Metaphern
besondere kognitive Qualitäten, so dass es sich lohnt, diesem schillernden Phänomen nachzugehen.
Das griechische Wort „Metapher“ bedeutet so viel wie „Übertragung“, das beschreibt bereits
Aristoteles. In dem von ihm beschriebenen Beispiel überträgt die Metapher „Die Sonne lacht“ die
menschliche Eigenschaft des Lachens in den neuen Zusammenhang „Himmelskörper“. Metaphern
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sind falsche Aussagen – schließlich kann die Sonne nicht wirklich lachen – und doch verstehen wir
eine Metapher, wenn es uns gelingt, Merkmale eines Gegenstandes (des Bildspenders) auf einen
anderen (den Bildempfänger) zu beziehen. Dichtern, die es mit der Wahrheit nicht so genau nehmen
müssen, räumt man diesen Gebrauch von Metaphern ein. Philosophen und Wissenschaftler –
darunter fallen auch jene, die sich mit den schönen Künsten beschäftigen – dürfen den
ursprünglichen Sinn nicht verfremden oder vernebeln, sie müssen sich begrifflich klar ausdrücken,
ihnen sind derartige Ausschweifungen und Abweichungen von der Norm nicht gestattet. Das
Ersetzen des eigentlich Gemeinten durch einen entliehenen Ausdruck lässt sich nach der auf
Aristoteles zurückgehenden Substitutions- oder Vergleichstheorie der Metapher auch rückgängig
machen, wenn wir eine übertragene, uneigentliche Bedeutung durch eine wörtliche, eigentliche
ersetzen. Hintergrund für diese Bestimmung der Metapher liefert die antike Sprachauffassung, nach
der Gegenstände mit bestimmten Begriffen etikettiert werden.
Metaphern gelten dabei oft als zweitbeste Lösungen, die als spekulative Hypothesen den
begrifflichen Objektivierungen vorgeordnet sind. Als sprachliche Ersatzform stopfen sie lexikalische
Lücken, weil sich die Sprache der Begriffe noch nicht hinreichend in den Wortschatz der Schülerinnen
und Schüler eingenistet hat oder erst mühsam aus dem verschütteten Wissen hervorgeholt werden
muss. Ein Staccato klingt „getupft“ oder „abgerissen“, eine Melodie ist „heiter“ oder „streitlustig“,
Klänge scheinen „grell“, „düster“, „spitz“ oder „stumpf“. Ähnlich wie in den Naturwissenschaften,
wenn der interzelluläre Informationstransport als „Gentaxi“ bezeichnet wird, akzeptieren wir die
didaktisch-vermittelnde Funktion der Metaphern im Gefälle einer unterrichtlichen Experten-LaienKommunikation: Als „Dekor mit didaktischen Endzwecken“ (Nieraad 1977, S. 10) dienen Metaphern
als ein “didaktisch-methodisches Mäntelchen” (Voß 2005, S. 9), das je nach unterrichtlicher
Wetterlage an- oder abgelegt werden kann. Friedrich Nietzsche, der in seiner Abhandlung Über
Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne Begriffe als „bewegliches Heer von Metaphern“
(Nietzsche 1988a, S. 881) entlarvt hat, bringt diese explikative Wirkung mit den Worten Christian
Fürchtegott Gellerts auf den Punkt: Wir gebrauchen ein Bild, um „dem, der nicht viel Verstand
besitzt, die Wahrheit durch ein Bild zu sagen“ (zit. bei Nietzsche 1988b, S. 92).
Wie eine Trägerrakete, die Zulieferdienste ausführt, sucht man auch die Metapher als überflüssig
abzustoßen, wenn das Unterrichtsgespräch eine gewisse Flughöhe erreicht hat. Doch wie lässt sich
nun unsere Metapher „Die Sonne lacht“ ins Wörtliche zurückholen? Die Sonne „scheint“, sie „strahlt“
oder „leuchtet“? Auf der Suche nach Entsprechungen haben wir ein ganzes System von Dingen bzw.
von Eigenschaften vor Augen, wenn wir uns eine „lachende Sonne“ vorstellen. Gleiches gilt für eine
„streitlustige Melodie“ oder ein „kämpferisches Thema“. Heute geht man daher auch von einem
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dynamischen Verständnis der Bedeutungsentstehung aus, bei der durch eine Metapher verschiedene
semantische Felder verknüpft und durch eine Ansammlung von Assoziationen miteinander vermischt
werden.
Der amerikanische Philosoph Max Black erklärt dies anhand der Metapher „Der Mensch ist ein Wolf“
(Black 1983, S. 70); auf ihn geht die Interaktionstheorie der Metapher zurück: Eigenschaften, die dem
Wolf zugesprochen werden, verbinden sich mit denen des Menschen und betrachten ihn als ein
„wölfisches Wesen“. Gleichzeitig erhält der Wolf dadurch menschliche Züge. Metaphern sind ein
Wahrnehmungsangebot, das die Aufmerksamkeit auf einen besonderen Aspekt konzentrieren und
uns in den Bann der Sache hineinführen kann. Black vergleicht den Bildspender mit einem Filter, der
bestimmte Eigenschaften hervorhebt, andere hingegen ausblendet. Diese gedankenleitende Wirkung
hebt das Wilde, Raubtierhafte, Habgierige am Menschen hervor, während zivilisiertere Züge in den
Hintergrund treten. Durch dieses Hervorheben der kognitiven Funktion wird auch das kreative
Potenzial, der spezifische Mehrwert metaphorischer Sprache hervorgehoben und deutlich, warum
sich diese nicht ohne Verlust durch wörtliche Ausdrücke ersetzen lassen kann: „Die Metapher ist
durch nichts zu ersetzen und ersetzt nichts“ (Ingendahl 1971, S. 305).
Die Kognitive Metapherntheorie
Auch im Rahmen ihres Deutschunterrichts begegnen Schülerinnen und Schüler einer Metapher
vornehmlich als sprachliches Mittel zur Bereicherung einer dichterischen, poetischen Sprache im
Reservat der rhetorischen Figuren (Katthage 2004). Allenfalls „tote“ oder „erloschene“ und zum
Begriff „erstarrte“ Metaphern vom Stuhlbein bis zur Nervensäge laufen ihnen im begrenzten Rahmen
der üblich elementaren Sprachreflexionen über den Weg. Unbeachtet bleibt auch hier ein
„Paradigmenwechsel in der Metaphernforschung“ (Kohl 2007, S. 119), der sich durch die Kognitive
Metapherntheorie (Lakoff u. Johnson 2004) längst vollzogen hat: Für die amerikanischen Linguisten
und Sprachphilosophen George Lakoff und Mark Johnson ist die Metapher primär eine Erscheinung
des Denkens, eine „anthropologische Universalie“ (Kohl 2007, S. 119) zur Erfahrungsbewältigung, die
alle Lebensbereiche durchdringt. Es sind metaphorische Konzepte, die all unsere Wahrnehmung und
unser Handeln im Hintergrund lenken. Bereichsmetaphern wie „Theorien sind Gebäude“, „das Leben
ist eine Reise“ oder „Zeit ist Geld“ strukturieren unser Denken und Handeln, was in einzelnen
Lexemmetaphern wie „Zeit sparen“, „Zeit gewinnen‘, „Zeit investieren“ oder „Zeit stehlen“ einen
sprachlichen Niederschlag findet.
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Auch die verschiedenen Strategien der musikalischen Analyse folgen diesem begrenzten Setting von
metaphorischen Konzepten, die sich tief in die wissenschaftliche Terminologie eingesenkt haben: Wir
konzeptionalisieren Musik als „Sprache“, „Architektur“, „Energie“ oder als „Handlungsgeschehen“.
Dementsprechend formen diese metaphorischen Konzepte unsere Begriffe, wenn wir von Vorderund Nachsatz, Klangrede, einer Phrase oder gar von musikalischer Prosa und musikalischen
Gedanken sprechen. Oft bieten Schülerinnen und Schüler uns in ihren Äußerungen Schattierungen
dieser bereits etablierten Strategien an. Musik hat einen Tonfall, unterschiedliche Sprechweisen, sie
klingt murmelnd, abweisend, flüsternd, insistierend, sprudelnd, nachdenklich. In ihren Begegnungen
entwickeln die Lernenden häufig auch ein externes Handlungsgeschehen, das stets Spuren ihrer
persönlichen Erfahrungsmuster trägt. Es sind narrative Erzählungen, in denen sich ihr eigenes Erleben
eines Dramas in Tönen widerspiegelt. Oft müssen sie sich jedoch in die noch fremden Konzepte
eingewöhnen: Wenn wir etwa selbstredend von hohen und tiefen Klängen sprechen, ordnen wir
verschiedene Frequenzen in einem „virtuellen Raum“ (de la Motte-Haber 1990, S. 44) an, der
keineswegs naturgegeben ist. Eine aufsteigende Tonleiter erklingt auf dem Klavier von links nach
rechts, auf dem Cello von oben (tief) nach unten (hoch). Kinder, die sich (noch) nicht unserer
kognitiven Routinen bedienen, sprechen auch von hellen oder scharfen Klängen. Manchmal
bedienen sich Schüler gänzlich anderer Strategien: Dann wird Musik zu „Materie“ (bröckelnd, hart,
weich) oder „Organismus“ (stoßweise, heftig, regelmäßig oder keuchend atmend, sie besitzt eine
entsprechende Körperhaltung, lässt sich einkleiden, hat Gangarten). Mühevoll wird nun die vom
Lehrer gewünscht zielführende und gleichsam reduzierte fachbegriffliche Perspektive herausgelesen,
die womöglich vom Schüler ursprünglich gar nicht mitgedacht worden ist und das eigentlich
innovative Potenzial seines Denkens unberücksichtigt lässt. Daher soll nun ein Zugang entwickelt
werden, der es dem Lehrenden erlaubt, sich von den eigenen, etablierten Konzepten zu lösen, um
die Entdeckungen der Lernenden für kreative und individuelle Verstehensprozesse anzunehmen.
Musikalische Analyse als Metaphernreflexion in drei Stufen der Annäherung
Jede Metaphernkommunikation birgt einen Entdeckungsvorgang, der unübersichtliche Phänomene
geistig zu konzeptualisieren vermag. Es sind einmalige und individuelle Zugänge, die ein integratives
Denken formt, das nicht nur etwas benennen, sondern auch strukturieren und interpretieren will.
Der Untersuchungsgegenstand wird also durch diese Brille bzw. diesen Filter gesehen und
abgetastet. Dabei ist die Metapher nur ein Werkzeug des Erkennens, kein vermuteter musikalischer
Gehalt, keine zementierte Deutung oder verbindliche Sinnzuschreibung. Dieses Potenzial einer
Metapher, das Unbekannte einer Musik mit den Begriffen und Merkmalen des Bekannten vor Augen
zu stellen, macht sie zu einem Denkmittel des eigenen Erkundens und Forschens. Leider stehen
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Metaphern nicht im Wörterbuch, es gibt auch keine Leitfäden oder Handbücher für das Bilden von
Metaphern. Es sind Sprachschöpfungen des Augenblicks, Geistesblitze, die sich zufällig aufdrängen:
Metaphern kommen – oder eben auch nicht.
All dies verspricht zunächst keine guten Aussichten für die Planung von Lernprozessen. Und doch gibt
es Möglichkeiten, eine unterrichtliche Atmosphäre und methodisch-didaktische Rahmung zu
schaffen, die verdeutlicht, dass Metaphern nicht nur als Sprache zweiter Wahl geduldet werden,
sondern ausdrücklich erwünscht sind. Hierzu erfolgt die Auseinandersetzung mit dem objektiven
musikalischen Gegenstand und den subjektiven Hör- und Denkwelten der Schülerinnen und Schüler
im Rahmen eines dreistufigen Prozesses: Eine initiale und spontane Metapher wird gebildet,
anschließend sprachlich verdichtet und erst dann auf den zugrunde liegenden Gegenstand
angebunden (Oberschmidt 2011a, S. 109ff). Die sprachliche Verdichtung ist dabei die wichtigste
Phase: All das, was sich zunächst im ahnungsvoll Nebulösen bewegt, muss hier zum Vorschein
gebracht werden. Dieses ist die wichtigste Phase, die im Unterricht allzu oft übergangen wird. Es geht
hier nicht darum zu ergründen, was unter einer „kämpferischen“ oder „streitlustigen“ Melodie
verstanden wird. Dies würde den Blick vorschnell auf musikalische Momente und begriffliche
Normen beschränken. Vielmehr gilt es zu ergründen, was mit Kampf oder Streitlust assoziiert wird.
Erst in einer solchen Ausdifferenzierung – etwa in Form einer Mindmap – tritt zutage, was sich hinter
der initialen Metapher an verborgenem Wissen verbirgt. Dieses feinmaschige Netz an sprachlichen
Schattierungen liefert dann das Material für erste Ausblicke auf kompositorische Details, die in der
Ausdifferenzierung bereits mitschwingen, aber bisher noch verschwommenen in den Bildern
verborgen liegen. Erst auf diese Weise wird die Fülle der Eigenschaften, die gesamte Reichweite, aber
auch die Begrenztheit eines metaphorischen Konzepts sichtbar und zugleich verhindert, dass eine
innovative Metapher vorschnell auf einen Begriff determiniert wird und so das schöpferische
Potenzial, all die Weisheiten, die stillschweigend von ihren Urhebern mitgedacht wurden, verloren
gehen.
In einer dritten Phase sollte nun das geschaffene Modell an die gehörte Musik angebunden werden.
Dies geschieht mit Hilfe des begrifflichen Wissens und gegebenenfalls auch mit dem stützenden
Notentext. Ob hier bereits auf ein systematisches analytisches Konzept und die erworbene und
verlässlich etablierte Begrifflichkeit zurückgegriffen werden kann oder ob all dieses im Rahmen des
Unterrichts erst erarbeitet und eingeführt wird, hängt selbstredend von dem jeweiligen
unterrichtlichen Settings und den Vorerfahrungen der Lernenden ab. Wichtig erscheint jedoch, dass
die angewandten Begriffe kein totes Wissen bergen, sondern unmittelbar an das eigene Erleben, das
sich in jedem metaphorischen Konzept spiegelt, anknüpfen: Begriffe werden gebraucht, um sich über
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die individuellen Wahrnehmungsmuster zu verständigen und auszutauschen. Die angestrebte
musikalische Analyse geschieht hier quasi en passant, in einem Unterricht, der sich jenen Fragen
stellt, die durch konventionelle Zugänge eher abgewiesen werden: „Wer oder was oder wie bist du,
du fremdes Gebilde? Deine Sprache ist neu, wie kann ich sie verstehen? Deine Erscheinung ist
rätselhaft, wie erkläre ich sie mir? Du hast auf mich eine seltsame Wirkung, liegt das an dir oder an
mir?“ (Schmidt-Banse 2005, S. 493).
Die Vagheit metaphorischer Redeformen
Doch wie gestaltet sich nun ein Unterricht, in dem sich dreißig Schüler mit ihren beliebig
anmutenden Metaphern auf eigene Wege machen, um ihr ästhetisches Erlebnis in Worte zu kleiden?
Wie kann hier eine notwendige – auch von Schülerinnen und Schülern zu Recht eingeforderte –
Verbindlichkeit erzielt werden, die sich vom leidigen, unverbindlichen Labern abgrenzt? Zunächst
einmal wird es immer gemeinsame Schnittpunkte zwischen den individuellen metaphorischen
Konzepten geben, die den Verdacht widerlegen, dass assoziatives Hören beliebig sei. Auch ein
fremdes Bild ist manchmal dazu angetan, das eigene Hören zu sensibilisieren und Zutrauen in die
eigenen Bilder zu finden. Es sind gerade diese unterschiedlichen Blickwinkel, die eine Musik aus den
jeweiligen Perspektiven ausleuchtet und eine konstruktivistische Beschau jenseits festgeschriebener
Bedeutungen erst ermöglicht. Schülerinnen und Schüler werden so zu jungen Davidsbündlern, die
einer Musik als Florestan, Eusebius oder Meister Raro begegnen und aus ihren individuellen
Blickwinkeln ausleuchten. Dabei wird sich zeigen, dass gerade jüngere Schülerinnen und Schüler es
vermögen, sich mit grenzenloser Fantasie und mit Metaphern, die oft genau ins Schwarze treffen, der
gehörten Musik zu nähern und mit diesem unverstellten Blick ihren älteren Mitschülern meist weit
voraus sind. Der Lernzuwachs, der sich dann durch jahrelange Vermittlungsbemühungen einstellt,
besteht vor allem in der Fähigkeit, die unvermuteten Metaphernfunde in das sich zunehmend
ausdifferenzierende Wissenssystem zu integrieren und an den musikalischen Gegenstand
anzubinden.
Auch in schriftlichen Arbeiten und Klausuren können kurze Texte, die etwa von jüngeren
Schülerinnen und Schülern im Vorfeld erstellt worden sind, bearbeitet werden. Wer dies probiert,
wird feststellen, mit welcher Hingabe diese Texte ausgewertet werden: Hier entstehen keine
Beschreibungen im luftleeren Raum, in denen Strukturmomente, die in einer Partitur abgelesen
werden, lediglich aufgezählt werden. Der auszuwertende Text, die fremde Metapher, erweist sich
hier als ein roter Faden, der durch die eigene Analyse leitet, Assoziationen infrage stellt oder
begrifflich abdichtet, ein entworfenes Handlungsgeschehen an die musikalische Struktur anbindet,
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eigene Bilder entstehen lässt: „Die Wahrheit ist eben kein Kristall, den man in eine Tasche stecken
kann, sondern eine unendliche Flüssigkeit, in die man hineinfällt“ (Musil 1978, S. 533f).
Verwendete Literatur:
BLACK, Max: Die Metapher. In: Haverkamp, Anselm (Hg.): Theorie der Metapher. Darmstadt 1983, S. 55-79
DE LA MOTTE, Diether: Analysen musikalischer Analysen. In: Schmidt, Hans-Christian (Hg.): Neue Musik und ihre
Vermittlung. Mainz 1986, S. 102-104.
DE LA MOTTE-HABER, Helga: Musik und bildende Kunst. Von der Tonmalerei zur Klangskulptur. Laaber 1990
INGENDAHL, Werner: Der metaphorische Prozess. Methodologie zu seiner Erforschung und Systematisierung. Düsseldorf
1971
KATTHAGE, Gerd: Didaktik der Metapher. Perspektiven für den Deutschunterricht. Baltmannsweiler 2004
KOHL, Katrin: Metapher. Stuttgart 2007
LACHENMANN, Helmut: Musik als existentielle Erfahrung. Schriften 1966-1995. 2. Auflage. Wiesbaden 2004
LAKOFF, George und Johnson, Mark: Leben in Metaphern. Konstruktion und Gebrauch von Sprachbildern. 4. Auflage.
Heidelberg 2004
MUSIL, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften, Gesammelte Werke, Band 2, Reinbek 1978
NIERAAD, Jürgen: Bildgesegnet und bildverflucht. Forschungen zur sprachlichen Metaphorik. Darmstadt 1977
NIETZSCHE, Friedrich: Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne. Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe in
15 Einzelbänden. Hg. von G. Colli und M. Montinari, Bd. 1., München 1988 (a), S. 873-890
NIETZSCHE, Friedrich: Die Geburt der Tragödie. Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden. Hg. von G.
Colli und M. Montinari, Bd.1, München 1988 (b), S. 9-156
OBERSCHMIDT, Jürgen: Mit Metaphern Wissen schaffen. Erkenntnispotentiale metaphorischen Sprachgebrauchs im
Umgang mit Musik, Augsburg 2011a
OBERSCHMIDT, Jürgen: Über Musik reden. Einblick in die einschlägige fachdidaktische Diskussion. In: Johannes
Kirschenmann, Christoph Richter, Kaspar H. Spinner (Hg.): Reden über Kunst. Projekte und Ergebnisse aus der
fachdidaktischen Forschung zu Musik, Kunst, Literatur. München 2011 (b), S. 391-411
OBERSCHMIDT, Jürgen: Aufstieg und Fall des begriffsgeschichtlichen Paradigmas. Zur Sprache der musikalischen Analyse
zwischen Metapher und Begriff. In: Bernd Enders, Jürgen Oberschmidt, Gerhard Schmitt (Hg.): Die Metapher als Medium
des Musikverstehens. Osnabrück 2013, S. 309-331
RUMMENHÖLLER, Peter: Der Dichter spricht. Robert Schumann als Musikschriftsteller. Kassel 1980
SCHMIDT-BANSE, Hans Christian: Röntgenbild, Steckbrief, Portrait … oder was? Über das Elend musikalischer Analysen in
der Schule. In: Bullerjahn, Claudia, Gembris, Heiner und Lehmann, Andreas C. (Hg.): Musik: gehört, gesehen und erlebt.
Festschrift Klaus-Ernst Behne zum 65. Geburtstag. Hannover 2005, S. 489-512
SCHUMANN, Robert: Gesammelte Schriften über Musik und Musiker. Repr. d. Ausg. Leipzig 1854. Wiesbaden 1985
SLOTERDIJK, Peter: Der ästhetische Imperativ. Schriften zur Kunst. Hg. und mit einem Nachwort versehen von Peter Weibel.
Hamburg 2007
SPONHEUER, Bernd: Sprechen über Musik – Robert Schumann. In: Blumröder, Christoph v. und Steinbeck, Wolfgang (Hg.):
Musik und Verstehen. Laaber 2004, S. 95-112
VOSS, Reinhard: Die neue Lust auf Unterricht und das Wissen, sich auf eine ungemütliche Sache einzulassen. In: Voß,
Reinhard, Hrsg. Unterricht aus konstruktivistischer Sicht. Die Welten in den Köpfen der Kinder. Weinheim, Basel 2005, S. 813
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Dialogbeitrag 2
Metaphern sind „Brotverwandlungen des Geistes“ – Gastrosophische Überlegungen
aus musikpädagogischer Perspektive
Herzlichen Dank dem Musikverlag epOs-Music, einer Einrichtung der Forschungsstelle Musik- und Medientechnologie (fmt)
an der Universität Osnabrück <www.epos.uos.de/music>, für die freundliche Zurverfügungstellung des Beitrages,
erschienen als Oberschmidt, Jürgen: Metaphern sind „Brotverwandlungen des Geistes“ – Gastrosophische Überlegungen
aus musikpädagogischer Perspektive. In: Bernd Enders, Jürgen Oberschmidt, Gerhard Schmitt (Hrsg.): Die Metapher als
Medium
des
Musikverstehens.
Osnabrück
2013:
epOs,
S.
203-225,
vgl
dazu
<http://www.epos.uni-
osnabrueck.de/music/templates/buch.php?id=100>
Dichter sind bildende Künstler
›Der Morgen erwacht‹. Es giebt keinen Morgen; wie kann er schlafen? Es ist
ja nichts, als die Stunde, wenn die Sonne aufgeht. Verflucht! Die Sonne geht
ja nicht auf; auch das ist ja schon Unsinn und Poesie. O dürft’ ich nur einmal
über die Sprache her, und sie so recht säubern und ausfegen! O verdammt!
Ausfegen! Man kann in dieser lügenden Welt es nicht lassen, Unsinn zu
sprechen!
(Tieck 1852, S. 84)
Dichter sind bildende Künstler, die mit den zahllosen Farb- und Formnuancen ihrer Sprache die
Phantasie und Assoziationen ihrer Leser anregen, um Einzigartiges und Außergewöhnliches zu sagen.
Dabei nutzen sie allerlei Zierrat, um die Sinne anzuregen: „Viel lügen die Dichter“ (Aristoteles/Bonitz
1995, 983, a3) – und es ließe sich hinzufügen, Dichter lügen, und sie wissen, dass sie lügen. Dieser
Vorwurf gehört einerseits seit der Antike zum „Standartrepertoire der epistemologischen
Kunstfeindschaft“ (Hammermeister 2007, S. 90). Andererseits sind die Dichter, die wissentlich
lügend durch den Tag wandern, dem Wissenschaftler einen Schritt voraus: Wenn sie sich dem
Unbegreiflichen nähern, dies zu begreifen suchen und danach streben, dieses mit ihrer reichen
Metaphorik in Worte zu fassen.
Ludwig Tieck hat in ironischer Weise dargestellt, wie nun solch ein bildender Künstler resignativdichtend und lügend durch den Tag wandelt – und dies gerade dann, wenn er verzweifelt versucht,
die Wahrheit zu sagen, wenn er danach strebt, sich von seiner dichterischen Sprache zu lösen,
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uneigentliche Wörter durch eigentliche zu ersetzen, um in einer metaphernlosen Sprache die
Wirklichkeit zu benennen und ihr die Wahrheit abzuringen. Ludwig Tieck hat feststellen müssen, dass
es diese Eigentlichkeit nicht gibt: „Nein, diese Eigentlichkeit ist ein Phantom“ (Weinrich 1976, S. 324).
In seiner Vorschule der Ästhetik hat sich Jean Paul ebenso aufgemacht, hinter die etablierten Begriffe
zu schauen, auch für ihn ist die Sprache „ein Wörterbuch erblasseter Metaphern“ (Jean Paul 1990
[1804], S. 184) – und dies trifft selbstredend auch für jedes Wörterbuch der musikalischen Begriffe
zu: Jeder Versuch, die flutende Luft begrifflich zu fassen, ist ein metaphorischer, in jedem etablierten
Begriff schwingen metaphorische Konzepte mit, die sich an den jeweiligen, stets wechselnden
ästhetischen Normen orientieren und Musik als Sprache, als Energie, als feste Materie oder als
organisches Wesen metaphorisch konzeptualisieren.
Doch wenn in der Sprache alles irgendwie metaphorisch ist, alternativ alle Begriffe metaphorischen
Ursprungs oder sämtlichen Metaphern Begriffsqualitäten zugesprochen werden (Willer 2005, S. 89),
weitet dies den Metaphernbegriff in die Beliebigkeit aus, so dass er letztlich seine „pragmatische
Differenzierungskraft gegenüber nicht-metaphorischen Sprachformen verliert und so grau wird wie
alle Katzen in der Nacht“. Wilhelm Köller fügt hier weiter an, dass wir in dieser bedenklichen
Situation „das Phänomen Metapher letztlich nicht begrifflich, sondern nur metaphorisch
objektivieren können“ (Köller 2004, S. 592). Das Wort übertragen (epiphora), das Aristoteles,
Ahnherr aller Metapherntheorie, benutzt, bezeichnet einen kognitiven Vorgang, nicht den
physischen Vorgang des Hinübertragens. So ist nur eines gewiss: Eine Metapher ist eine Metapher.
Die Metapher überträgt – den Bazillus der Phantasie auf die reine, sterile Vernunft
(Nach Ulrich Erckenbrecht, Divertimenti. Wortspiele, Sprachspiele, Gedankenspiele, Göttingen 1999,
S. 98)
Wissenschaft – und auch jene Wissenschaft, die sich mit den schönen Künsten beschäftigt – verfolgt
die Strategie, wahrheitsfähige Behauptungen aufzustellen und sich im Bereich der sterilen Vernunft
zu bewegen. Betrachtet man das Reden über Musik, das den Anspruch dieser Wissenschaftlichkeit
einlösen möchte, geht es in besonderer Weise darum, die Tondichtung vor dem Bazillus der
Phantasie zu schützen und von allzu zudringlichen semantischen Konnotationen zu befreien. Auch in
den Gefilden der Musiktheorie genießt die Metapher keinen guten Ruf; hier dürften sicher auch
Erfahrungen mit einer allzu subjektiv-konkreten musikalischen Hermeneutik eine Rolle spielen.
Suggestiv statt argumentativ erscheinen etwa Arnold Scherings Beethoven-Deutungen (vgl. Schering
1973 [1934]), allzu schwer wiegt auch das Gepäck erzähl-vermittelnder Geschichten in
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populärwissenschaftlichen Konzertführern, mit jeglichem Verzicht auf eine hinreichende Reflexivität
der hier angebotenen Bilder (Wolf 2002, S. 25). Es ging auch in der Wissenschaft lange Zeit darum,
das Denken und Reden von diesen Verunreinigungen zu befreien, die Sprache „auszufegen“, „tönend
bewegte Formen“ (Hanslick 1989 [1854], S. 59) mit logischem Kalkül zu vermessen und von allen
poetischen Trübungen rein zu halten.
Sprachbilder in Bildungskontexten
Dürfen sich nun Schüler den Schönheiten einer dichterischen Sprache bedienen oder müssen sie ihr
Reden zwischen schöngeistiger Sprache und rationaler Wahrheit trennen?
Behelfen sie sich der dichterisch-metaphorischen Sprache als einer Sprache des Ersatzes, weil sie die
eine metaphernfreie Formelsprache (noch) nicht kennen? Was bliebe ihnen in einer von Metaphern
ausgefegten Sprache an ärmlichen Begrifflichkeiten übrig?
Wie orientieren sich nun Schüler in diesem Geflecht von lexikalisierten und kreativen Metaphern,
zwischen etablierter und innovativer Metaphorik?
Wie unterscheiden sie zwischen toten, verblassten Metaphern, die bereits zu Begriffen erstarrt sind,
und ihren eigenen Wort- bzw. Begriffsschöpfungen, die dann in tote Metaphern übersetzt werden
möchten?
Wie finden sich Schüler ohne Notenkenntnisse zurecht, wenn ein Lehrer selbstredend akustische
Phänomene im Raum anordnet, von hohen und tiefen Tönen spricht, die in den Ohren der Schüler
zugleich auch spitz, scharf, hell, leicht bzw. dumpf, dunkel und schwer sein können?
Auf dem Klavier gibt es kein oben und unten, hier gilt es für Schüler tastend zu erspüren, ob sie diese
nun rechts oder eher links auf dem Klavier suchen müssen. Was dem Laien als ungewöhnlich und
metaphorisch erscheint, ist dem Fachmann (Der Bergmann bedient sich zur Kohleförderung mit
großer Selbstverständlichkeit eines „Hundes“, während große Teile der Sprachgemeinschaft gewohnt
sind [oder sein sollten], diesen ausschließlich an der Leine zu führen. Hierzu: Nieraad 1977, S. 2) als
fixierter Terminus längst geläufig: „Wissenschaftliche Metaphern sind janusköpfig. Aus der Innensicht
eines Faches besitzen sie den Status von Fachbegriffen (Termini). […] Wissenschaftliche Termini
bleiben aber – auch wenn sie zu Fachbegriffen geworden sind – in ihrem Kern an ihre Modellfunktion
gebunden, die ursprünglich durch eine metaphorische Übertragung zustande kam. Die begriffliche
‚Abdichtung‘ wissenschaftlicher Begriffe gegen ihre Implikationen aus der Alltagssprache bereitet
dem Lernenden oft Schwierigkeiten“ (Caviola 2003, S. 21).
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Auch Schüler sind bildende Künstler, sie bedienen sich ihrer zur Verfügung stehenden Werkstoffe,
und manchmal gelingt es auch ihnen, Beachtliches und Eindrückliches in Worte zu fassen. Felix
Mendelssohn Bartholdy hat dies in einem Brief an seinen Vater zur Sprache gebracht: „Ich kann es
oft gar nicht begreifen, wie es möglich ist, über Musik ein so genaues Urteil zu haben, ohne
technisch musikalisch zu sein“ (zit. nach: Geck 2009, S. 192).
Es gibt also eine Musikalität, die sich jenseits dieser handwerklichen Musikalität befindet. Sie beruht
auf ein intuitives Wissen, das abseits der erlernten Begriffe, aber auch fern von erworbenen oder zu
erwerbenden musikpraktischen Fähigkeiten zu Hause ist. In einer Lesart des 21. Jahrhunderts ließen
sich Mendelssohns Einlassungen mit Stefan Koelsch international und kürzer formulieren:
„Nonmusicians are Musical“ (Koelsch 2000, S. 520-541).
Was Mendelssohn intuitiv gespürt und der Neurowissenschaftler Stefan Koelsch mit dem ihm zur
Verfügung stehenden Instrumentarium gründlich erforscht hat, ist bisher noch zu wenig in das
musikpädagogische Bewusstsein geraten (vgl. Jorgensen
2011; Oberschmidt 2011). Eine allen
Menschen gegebene, universelle Musikalität ist hier letztlich in Aussicht gestellt, die dann ohne ein
Vorwissen mit Metaphern zum Vorschein gebracht werden kann. Dies sind Versprechungen, die eher
an Verheißungen eines Werbeprospektes erinnern, die angesprochenen zentralen Probleme des
Redens über Musik nicht lösen, aber hier vielleicht zu neuen Orientierungen führen können.
„Culture depends on cookery“ – Die Kultur hängt von der Kochkunst ab
(Nach Oscar Wilde, Vera, or The Nihilists, Stilwell 2006, S. 34 [2. Akt, Fürst Paul])
Nimmt man den Grundsatz Lakoffs und Johnsons ernst, dass Sprache und Denken metaphorisch
organisiert ist, scheint ein metaphorischer Ausblick auf das Phänomen Metapher auf diese Weise
zulässig. Dieses Argumentieren in Metaphern geschieht nun in Anlehnung an eine Metametapher aus
Jean Pauls Vorschule der Ästhetik, hier gelesen als eine Vorschule der kognitiven Metapherntheorie.
Jean Paul bildet hier sozusagen eine Vorhut, eine Avantgarde, da für ihn die Metapher nicht nur ein
Redeschmuck oder eine besonders geistreiche Erfindung darstellt, sondern „natürliche
Sprachphänomene“ kennzeichnet und er gerade ihre „integrative Wirkung auf das menschliche
Denken“
rühmt (Köller 2004, S. 630f). Letztlich ist der zentrale Gedanke der kognitiven
Metapherntheorie bereits für Jean Paul verbindlich: „Unbekannte Gegenstände der Wirklichkeit
werden durch den Erfahrungshorizont integriert und zu etwas Eigenem gemacht, indem sie benannt
werden. Um aber etwas Fremdes benennen zu können, werden Bezeichnungen bekannter Dinge
kombiniert und auf das Unbekannte übertragen“ (Allert 1987, S. 5).
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Jean Paul verortet die Metapher in einer Vorschule der Ästhetik, weit ist also noch der Weg, bis die
Metapher von diesem speziellen Aspekt der Sprache, nämlich dem des dichterischen, poetischen
Sprechens oder einem Spezialproblem der Philosophie bei Hans Blumenberg (der sein Interesse von
der Philosophie noch hauptsächlich auf die Dichtung gelenkt hat, vgl. dazu: Hörisch 2010, S. 231) zu
einer „anthropologischen Universalie“ (Kohl 2007, S. 119) heranwächst. Bei Jean Paul ist die
Metapher noch ein Sprachphänomen mit Resonanzen im Denken, während Lakoff und Johnson
(Lakoff, Johnson 2004) den kognitiven Aspekt der Metapher zum primären erklären und zeigen, dass
Metaphern auch die gewöhnlichsten sprachlichen Verwendungen durchdringen und nun ihren Fokus
auf alltagssprachliche Phänomene legen. Und doch geziemt es sich, von hier aus auch einen Ausblick
auf die Sprache der Wissenschaft zu wagen: „Er [Jean Paul] sieht die Metapher als anfängliche
Struktur der Sprache, die der begrifflichen vorausgehe. Damit wird die Dichtkunst mit ihren
Metaphern als eine ursprüngliche Ausdrucksform des Menschen aufgewertet. Die Poesie wird zur
Grundlage jeder, auch der wissenschaftlichen Sprache“ (Allert 1987, S. 4).
Die eigentliche Heimat des Denkens siedelt also auch Jean Paul nicht im Reich stabiler Begriffe,
sondern in beweglichen, neugestalteten bildlichen Vorstellungen an. Metaphern sind für Jean Paul
„Brotverwandlungen des Geistes“ (Jean Paul 1990 [1804], S. 184).
Dieser Metapher soll nun in den folgenden Überlegungen nachgegangen werden. Um ihre
Reichweite und den kognitiven Mehrwert zu erspüren, gilt es nun, den Konnotationen im
bildspendenden Bereich „Brot/Brotverwandlung“ nachzugehen und zu zeigen, wie „weitreichend und
umfassend das tägliche Essen die menschliche Welt erzeugt.“ (Lemke 2007) Insofern versteht sich
dieser Beitrag als gastrosophische Überlegung aus musikpädagogischer Perspektive: „Kochen und
Essen bilden eine Grundkonstante menschlicher Erfahrung“ und dienen in der reichhaltigen
Sammlung philosophischer Metaphern „zur Veranschaulichung geistiger Operationen“ (Von der Lühe
2007, S. 340).
Anmerkung: Der Begriff „Gastrosophie“ geht u. a. auf die gleichnamige Schrift von Eugen van Vaerst
(1852) zurück, in der der Autor versucht, die Weltbezüge des Essens zu reflektieren, um daran das
Philosophische hervortreten zu lassen. Einen Ansatz, den Harald Lemke in seiner Ethik des Essens
aufgreift und weiter verfolgt. Zur weiteren frankophilen Vorgeschichte vgl. Kurt Röttgers, Kritik der
kulinarischen Vernunft. Ein Menü der Sinne nach Kant, Bielefeld 2009, S. 38ff.
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Tischgesellschaften im Unterricht: Lernen ist Nahrungsaufnahme (Aneignung) und Zubereitung
(Konstruktion) von Wissen
Möchte man sich umfänglich mit der Funktion von Metaphern in gastrosophisch-pädagogischen
Situationen beschäftigen, gilt es zunächst, die Pfade von Jean Paul zu verlassen und nicht die
selbstgesteuerte Zubereitung, sondern das konsumierende Einverleiben der Speisen zu untersuchen.
Die in Aussicht gestellten Betrachtungen über das Lernen mit Metaphern folgen also zunächst der
verbreiteten Alltagsauffassung von Lernen als Aneignung von Wissen.
Ist Lernen konzeptionalisiert als „Nahrungsaufnahme“ und „Verdauung“, kommt der Metapher hier
vornehmlich eine vermittelnde Instanz oder veranschaulichende Funktion zu. Die fertig angerichtete
Speise bedient sich didaktischer Metaphern, die erklären, weil es den Schülern (noch) an Begriffen
fehlt. Sprachbilder sind hier vorläufig, sie gelten so lange, bis sie begrifflich entschlüsselt, verdaut, die
lexikalischen Lücken geschlossen und Nährstoffe begrifflich fixiert werden.
Ein zweiter Zugang betrachtet das Bilden von Metaphern als Zubereitung einer Speise, als einen
schöpferischen Prozess, der Wissen schafft und die Begriffe überschreitet. Hier ist die Metapher nicht
mehr ein Geländer, an dem sich das Verstehen festhalten kann, sondern sprachlicher Reflex einer
inneren Vorstellung: In diesem kreativen Akt gründet sich in der Metapher ein Wissen, das sich nicht
mehr begrifflich einholen lässt.
Das Konzept „Lernen ist Nahrungszubereitung“ läuft dem Prinzip der Nahrungsaufnahme in gewisser
Weise zuwider. Die Metapher ist hier mehr als ein Saft zur Verdauung, ein „didaktisch rhetorisches
Mäntelchen“ (Voß 2005, S. 9), das an- oder abgelegt werden kann. Sie birgt vielmehr ein
Sinnpotential, das die ursprünglichen Intentionen der Erzeuger weit übersteigen: „Die Metaphern
bergen den wahren Reichtum des armen Wesens, das der Mensch von Natur aus ist“ (Konersmann
2007, S. 8). Von Lichtenberg wird dies aphoristisch auf den Punkt gebracht: „Die Metapher ist viel
klüger als ihr Verfasser“ (Lichtenberg 1968, F. 369).
1. Lernen ist Nahrungsaufnahme (Lernen als Aneignung von Wissen)
In der Speisemetaphorik, die in der Philosophie schon früh belegt ist, wird der Intellekt als Leib
aufgefasst, der nach Speise verlangt. Wir sprechen von „Wissensdurst“, „Erkenntnishunger“, manch
einer hat gar die „Weisheit mit Löffeln gegessen“. Über das Kosten im Munde führt der Weg zum
Schlucken, den Verdauungsprozessen in Magen und Darm: „Alles geistige Genießen kann daher mit
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Essen ausgedrückt werden“ (Von der Lühe 2007, S. 341), hält bereits Novalis fest. Äußerlich
Gegebenes wird aufgenommen, um es in einem inneren Erkenntnisprozess zu Eigen zu machen. Als
eine solche Parallelisierung von Essen und Erkennen, und Ernähren und Wissen, lässt sich auch das
Einverleiben von Wissen im Rahmen pädagogischer Speise- und Verdauungsprozesse fassen. Im
Unterricht wird dann die Kost mit Metaphern mundgerecht serviert, um besser aufgenommen und
verdaut werden zu können.
Wie jede Fachsprache, ist auch die Sprache der Pädagogik auf metaphorische Konzepte angewiesen,
um Lernprozesse und Erziehungsziele in Worte zu fassen: „Die Sprache der Pädagogik basiert auf
einem begrenzten Set epochenunspezifischer metaphorischer Konzepte“ (Guski 2007, S. 473), stellt
Alexandra Guski fest; sie verfolgt diese historisch konstanten metaphorischen Konzepte von
schulischem Lernen in pädagogischen Texten. Diese zeigen sich etwa der Konzeptionalisierung
„Lernen ist Wachsen“, die den Lehrer als „Gärtner“ betrachtet, der seine „Sprösslinge“ wachsen lässt,
diese aber auch „gießen“ und seine „Pflanzen“ gegebenenfalls auch „beschneiden“ muss. Die
Speisemetaphorik gehört hier ebenfalls zu einem etablierten Feld: Bereits Johann Amos Comenius
empfiehlt im Sinne einer möglichst widerstandslosen Stoffweitergabe, die „Schulspeise“ möglichst
„süß anzutun“ (Guski 2007, S. 259). Diese Metapher suggeriert, dass mit kindgerechten Speisen die
Unterrichtsinhalte leichter aufzunehmen und schmackhafter seien.
Betrachtet man nun die Literatur zur Bedeutung der Metapher in der Pädagogik etwas genauer, so
scheinen auch hier die Metaphern als Lockspeise: Sie sind dienlich, um als ein temporäres
Medikament die Verdauung zu unterstützen, eingesetzt als Geschmacksverstärker und
Appetitanreger, die immer dann ihren Dienst erfüllen, wenn es sich im Unterricht um schwere Kost
handelt. Metaphern kommen dort ins Spiel, wo unsere begrifflichen Kompetenzen versagen: Im
Bereich des Mangels, des Geahnten aber Noch-nicht-Verfügbaren. Das Weltwissen der Schüler wird
so angebunden an das, über das man noch nichts weiß. Ernährungskundliche Kenntnisse der etwas
kritischeren Art besaß hier jedoch Johann Gottfried Herder, der betonte, dass „gründliche
Wißenschaft, zumal im Anfange und in der Jugend, […] mit Schweiß, mit Uebung gewürzt werden“
(Herder 1877–1913, Bd. XXX, S. 47) müsse und auf die Gefahr überzuckerter Süßspeisen hinwies. Eine
derartige Aufbereitung des Lernstoffs bezeichnete er als bloße Lockspeise für den, der „sich an
diesen überzuckerten Wißenschaften, oder vielmehr an solchem falschen Zucker, womit seine
Wißenschaft überzogen war, sattgenascht hat, [hingegen] nachher nie die Anfangs bittre, aber
nachher gesunde und stärkende Wurzel zu kauen mehr Lust hat.“ (Herder 1877–1913, Bd. XXX, S.
55f) Und Friedrich Wilhelm Niethammer spottete 120 Jahre später in ähnlicher Weise über die
„Albernheit, das Alphabet in Zucker zu backen“ (Niethammer 1968, S. 325).
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Betrachte ich metaphorisches Sprechen als eine solch süße Lockspeise, die dann in die stärkende,
begriffliche Wurzel überführt werden muss, folge ich einer Substitutionstheorie der Metapher,
vollziehe einen Etikettentausch bei der Benennung von musikalischen Sachverhalten. Ganz gleich, ob
eine Metapher nun aus dichterisch ornamentalen Gründen oder aus veranschaulichend
pädagogischen Gründen den Platz eines Begriffes zunächst eingenommen hat.
Diese Substitutionsprozesse haben auch im Musikunterricht ihren Platz und natürlich gibt es auch
immer wieder jene Momente, die diese sinnvoll erscheinen lassen. Und auch im Rahmen dieser
Substitutionstheorie kann der Metapher ein gewisser kognitiver Innovationsschub nicht
abgesprochen werden. Auch das Verdauen von Nahrung ist wie das Bilden und Verstehen von
Metaphern ein aktiver Prozess! Gerade wenn es im Verlauf des Unterrichts darum geht, das Reden
vom metaphorischen Zuckerguss zu befreien, um sich dann mit der bitteren aber stärkenden Wurzel
allein zu beschäftigen. Auch hier wird zumindest das analogisierende Denken angeregt, auf
assoziative Ähnlichkeiten aufmerksam gemacht.
Im Unterricht wird hier jedoch der musikalische Gegenstand häufig in einem mehrgängigen Menü mit
einer festgelegten Speisefolge serviert:
Aufgabe 1: Beschreibe, wie die Musik auf dich wirkt!
Aufgabe 2: Wo beginnt das zweite Thema?
Für jeden Schüler wird dann schnell klar, was hier als süße Vorspeise und was als eigentliches
Hauptgericht aufgetischt wird. Sein ursprünglicher, sinnlicher Zugang ist abgeschnitten, wenn für das
analytische Studium erst das Besteck gewechselt werden muss.
2. Lernen ist Nahrungszubereitung (Lernen als Konstruktion von Wissen)
Die Metapherntheoretiker haben jedoch erkannt, dass auch ein süßer Zuckerguss die geschmackliche
Konsistenz des Gegenstandes färbt und verändert. Dieser Einsicht sucht die auf Max Black
zurückgehende Interaktionstheorie (Black 1996, S. 55-79) der Metapher Rechnung zu tragen. Es gibt
hier keine geordnete Speisefolge, sondern semantische Felder, die sich durch eine Wechselwirkung
gegenseitig beeinflussen und miteinander vermischt werden. Wir erleben das bereits bei einfachen
Beispielen: Ein „getupfter“ Ton wird eben nicht einfach begrifflich staccato gespielt, in diesem Tupfen
steckt mehr als in der fachbegrifflichen Spielanleitung aufgehen kann. Eine springende, hüpfende,
huschende Melodie lässt sich nicht in Fachbegriffliches einkleiden, ohne dass Wesentliches der
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ursprünglichen Assoziation verloren geht. Werner Ingendahl hebt dies in Opposition zur
substitutionstheoretischen Sichtweise hervor: „Die Metapher ist durch nichts zu ersetzen und ersetzt
nichts“ (Ingendahl 1971, S. 305).
Für Jean Paul sind die Begriffe „willkürliche, nichts malende Schnupftuchsknoten der Besinnung“ die
„nicht einmal fünf Punkte von einem Objekte“ (Jean Paul 1959, Bd. 3, S. 1025) seien. Angesprochen
wird hier, dass sich in jeder Metapher ein analoges Vorstellungsbild konstituiert, mit all seinen feinen
Schattierungen und fließenden Übergängen, ein Bild, das sich nicht in das endliche Kategoriensystem
der Begriffe fassen lässt.
Durch jede metaphorische Interaktion entsteht also ein süß-saurer Geschmack: Der literarische
Gourmet mag diesen Gout schätzen, für den Musikwissenschaftler hat dies einen für ihn
unangenehmen Bei- oder Nachgeschmack.
„Brotverwandlungen des Geistes“
Pädagogik beschäftigt sich damit, das Lernen steuern und lenken zu wollen. Wege werden
vorgezeichnet oder geebnet, das Verstehen soll angebahnt und sorgsam vorbereitet werden.
Dabei ist die pädagogische Rezepteküche vielfältig, einschließlich eines konstruktivistisch mundenden
Unterrichts, in dem die Speisen nicht vom Lehrer, sondern von den Schülern selbst zubereitet
werden. Friedrich Nietzsche liefert hierfür das passende Bild: „Wer aber mit essen will, muss auch
mit Hand anlegen, auch die Könige. Bei Zarathustra nämlich darf auch ein König Koch sein“
(Nietzsche 1993, Bd. 4, S. 354).
Dies führt zurück zur Signal gebenden Metapher der „Brotverwandlung“ (Jean Paul 1990 [1804], S.
184). Kein Verdauungsprozess wird hier beschrieben, sondern die Zubereitung einer Speise, ein
Prozess des Gebärens. Was wir bereits ästhetisch erfahren und damit uns einverleibt haben, wird
nun in Brot verwandelt: Eine Verwandlung inmitten des Unterrichts. Es sind verheißungsvolle,
paradiesische Aussichten, diesen „Sprung des Denkens“ (Sailer-Wlasits bezieht sich auf Heideggers
›Satz vom Grund‹, auch wenn Heidegger hier nicht von der Metapher sondern von den
verschiedenen Modi des Satzes ‚nihil est sine ratione‘ spricht: „Der Sprung bringt das Denken ohne
Brüche, d. h. ohne die Stetigkeit eines Fortschreitens in einen anderen Bereich und in eine andere
Weise des Sagens“. Zit. nach: Sailer-Wlasits 2003, S. 161) – wie Heidegger es formuliert hat – durch
die Metapher einfach geschehen zu lassen. Ein Glöckchen erklingt, die Verwandlung geschieht – und
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eine wie aus dem Nichts geborene Metapher verwandelt Geist in sprachliche Materie. Nur bleibt bei
Jean Paul leider unausgesprochen, wie dies zu geschehen hat.
Für diese Verheißung lohnt es sich jedoch, der Verwandlung im ursprünglichen, religiösen Kontext
etwas näher auf den Grund zu gehen: Brot ist eine materielle Verkörperung nicht nur des Leibes, des
Leibes Christi, sondern gleichzeitig die des Geistes, einer Religion, einer Lehre. Brot ist nicht nur ein
reales Backwerk, sondern steht für das Ganze, für Leben und Wirken. Das Mahl gewährt hier Zugang
zum Göttlichen, zum Höchsten und Guten. Dies alles versucht Jean Paul in seiner Metapher der
„Brotverwandlung“ zu fassen. Die Metapher hat in diesem Kontext nicht den Status einer süßen
Vorspeise oder eines pädagogischen Vermittlungsmanövers, dieses Brot umfasst das Ganze, es ist
mehr als ein Appetitanreger, es ist ein Brot, das sättigt, das am Leben erhält und das ein wohliges
Erfülltsein verspricht.
Wesentlich ist hier, dass zwischen Resultat und Vorgang nicht getrennt werden muss, dies drückt der
religiöse Begriff der Verwandlung aus: „In dieser Situation sind Weltbezug, poetische Aufbauleistung
und Reflexion verbunden“ (Kaiser 1995, S. 213).
Die entscheidende Leistung einer Metapher besteht für Jean Paul darin, „das Ich in seiner Welt zu
konstituieren. Die Metapher ist Seelen- oder Phantasietätigkeit (als Übertragen, Beseelen oder
Verkörpern), das sprachliche Produkt dieser Tätigkeit (im weitesten Sinn: der Roman) und das
anthropologische Produkt (das wiedergeborene poetische Ich).“ (Kaiser 1995, S. 212) Die poetische
Erkenntnis findet, was sie erfindet, legt offen, was sie selbst produziert: „In diesem Erkennen: der
Erkenntnis der Phantasie, wird das Auge zur Lichtquelle und nimmt wahr, was es selbst erst sichtbar
macht“ (Kaiser 1995, S. 213).
Eine gottgleiche Potenz liegt also in der menschlichen Fähigkeit zur Metaphernbildung. Diesen
göttlichen Status, den sich die Metapher in ihrer zweitausendjährigen Geschichte mühsam erkämpft
hat, gründet sich auf Kant, der zwischen göttlicher und menschlicher Anschauung unterscheidet: „Die
göttliche Anschauung erzeugt die Gegenstände in ihrer Existenz, die menschliche Anschauung
hingegen setzt die Existenz der Gegenstände als gegeben voraus.“ (Briefliche Mitteilung an Marcus
Herz vom 21. Feb. 1772, hier zit. nach Mohr 1998, S. 127) In einem konstruktivistischen
Gegenstandsverständnis, das davon ausgeht, dass die Wirklichkeit durch Anschauung selbst
geschaffen wird, gibt es also die Einschränkungen nicht mehr, die für den Sterblichen kennzeichnend
sind.
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Das metaphorische Konzept der „Brotverwandlung“ ist also ein weitreichendes – umso
ernüchternder erfolgt nun die Einschränkung, dass auch Metaphern nicht das Ganze in den Blick
nehmen, sondern sich – wie jede konstruktivistische Gegenstandserfahrung – nur perspektivisch
einem Gegenstand nähern können. Es sind Brotverwandlungen des Geistes, also jenes wird
verwandelt, das sich das irdische Wesen mit seinen begrenzten Mitteln zuvor einverleibt hat. „Bilder,
die uns gefangen halten, wird es immer geben, denn nie werden wir der Sprache oder den
Metaphern entrinnen: Nie wird es uns gelingen, Gott oder das anseiende Wesen der Wirklichkeit von
Angesicht zu Angesicht zu erblicken“ (Rorty 2000, S. 13). Und doch lassen uns Metaphern ein wenig
von jenem göttlichen Funken spüren: „Die Metapher ist die größte Macht, die der Mensch besitzt. Sie
grenzt an Zauberei und ist wie ein Schöpfungsgerät, das Gott im Inneren seiner Geschöpfe vergaß,
wie der zerstreute Chirurg ein Instrument im Leib des Operierten liegen lässt.“ (Y Gasset, zit. nach
Friedrich 1956, S. 207)
Bilder produktiv werden lassen: Rachmaninoff, Klavierkonzert Nr. 3 op. 30
Diesem göttlichen Funkenflug gilt es nun mit Blick auf Unterricht nachzugehen, nicht immer
funktioniert hier diese Brotverwandlung. Es sind intuitive, einmalige, individuelle Verstehensvollzüge:
Prozesse, die einem Verlangen entgegenstehen, das Lernen steuern und lenken zu wollen.
„Manchmal trifft, was wir sagen, ins Schwarze, manchmal geht es daneben. Wir knüpfen
Kontaktfäden und verstricken uns dabei, und wenn wir auf andere zugehen, kommt es zu
Berührungen – oder nicht. Und manchmal funkt es dabei“ (Lakoff, Johnson 2004, S. 7).
Zunächst gilt es jedoch, den geneigten Leser einzuladen, bei seiner Begegnung mit dem ersten Satz
aus Rachmaninoffs dritten Klavierkonzert eigene Kontaktfäden zu knüpfen und innere Bilder
zuzulassen, lesend (vgl. etwa dazu: <http://cantorionnoten.de/music/1451/Piano-Concerto-No.-3Full-Score/downloaded>)
oder
hörend
(vgl
etwa
dazu:
URL:
<http://www.youtube.com/watch?v=lusMu2LGIUM>) angeregt werden kann.
Dieses „subjektive Erleben von Musik“ (Oberhoff 2007, S. 37), das vom klanglichen Musikerlebnis
ausgeht, ist auch Ausgangspunkt für einen Zugang Bernd Oberhoffs, der als Musikpsychoanalytiker
seine ureigene Perspektive zu diesem Konzertbeginn vorstellt: „Es tauchten Vorstellungen und
Empfindungen auf, die einer frühkindlichen Erlebniswelt angehören könnten. Diese Eindrücke waren
sicher nicht ganz unbeeinflusst davon, dass ich mich zu dieser Zeit intensiv mit der
Säuglingsforschung auseinander setzte“ (Oberhoff 2007, S. 43). Ereignisse der frühkindlichen MutterKind-Matrix konzeptionalisieren seinen Blick, er teilt den Konzertsatz in 16 Episoden ein,
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„frühkindliche innere Erlebnisse“ und „keine objektivierbare Hörgestalten“ , lediglich Anregungen,
um das Entstehen eigener Bilder zu befördern: „Hören Sie also mit gleichschwebender
Aufmerksamkeit und achten Sie auf ihre inneren Resonanzgefühle oder Phantasien“ (Oberhoff 2007,
S. 49).
Episode 1
Das Orchester beginnt wahrhaft mütterlich mit einer weichen wiegenden
Streicherbewegung, die den harmonischen Hintergrund bildet, aus dem
heraus sich die schlichte und kindliche Melodie des Klaviers entwickelt. Eine
angenehme Harmonie des Miteinanders entfaltet sich vor dem Hörer, die
eine ausgesprochen beruhigende Wirkung ausübt. Vor allem das Orchester
scheint sensibel zu erspüren, wie es sich harmonisch, klanglich und
rhythmisch zu verhalten hat, um optimal den Bedürfnissen eines Säuglings
nach einem sicheren und vertrauensvollen Gehaltensein zu entsprechen.
Nicht das einzelne ‚Ich‘, sondern das ‚Wir‘, also die Erfahrung des
Zusammenseins und der harmonischen interaktiven Passung zwischen
Säugling und Mutter (synchroner sozialer Modus) stehen in dieser Episode
im Vordergrund.
Episode 2
Säuglinge lieben die Wiederholung: Ein bestimmtes Spiel muss immer und
immer wieder gespielt werden, es kann nicht oft genug sein. Aber noch
aufregender ist es, wenn ein Spiel vom Spielpartner jedes Mal leicht variiert
wird: Sei es etwas schneller, oder etwas langsamer, lauter oder leiser etc. Es
ist ein großes Glück für den Säugling, wenn er Eltern hat, die bei der
Abwandlung von Spielsequenzen viel Phantasie besitzen und natürlich auch
die entsprechende Ausdauer aufbringen. Das erleben wir in Episode 2. Das
musikalische Spiel aus Episode 1 wird wiederholt jedoch in einer Variation:
Das Tempo ist beschleunigt, der beiderseitige Pulsschlag und die
Erregungskurve erhöht sich, es kommt zu einem lustvollen Aufschaukeln der
Gefühle.
Im weiteren Verlauf der Analyse wird das Konzept der Mutter-Kind-Matrix weiter ausgebreitet, dabei
werden auch kleinste Ausdrucksnuancen auf dieses metaphorische Eigenkonzept bezogen:
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Und allem Anschein nach ist die Mutter in dieser Funktion nicht ‚genügend
gut‘ gewesen und die Musik in den Episoden 9–12 drückt das Misslingen
eines Containments durch die Mutter aus (Oberhoff 2007, S. 55).
Diese Ängste sind in der Musik der Episode 11 hörbar ausgedrückt. Ich
denke dabei besonders an die fahlen schneidenden Klänge bei den Geigen,
die sehr außergewöhnlich sind, aber gleichzeitig eine eindrückliche
Versinnbildlichung von kindlichen Ängsten vor dem Zusammenbrechen und
dem Zerfall des Selbst darstelle. (Oberhoff 2007, S. 56).
Der gesamte Konzertsatz wird auf diese Weise dechiffriert und die Ergebnisse biographisch belegt.
Zitiert wird hierzu ein Ausschnitt aus der Biographie Maria Biesolds:
Rachmaninoffs
willensstarke,
übermächtige
Mutter
war
nicht
unproblematisch für die seelische Entwicklung des kleinen Sergej und wirkte
oft bedrückend auf ihn. […] Prägend für seine spätere Zerrissenheit ist unter
Umständen eine Art der Bestrafung, die seine Mutter ihm für Ungehorsam
angedeihen ließ: Der kleine Sergej muß unter dem Klavier sitzen! Die erste
Bekanntschaft mit dem Instrument ist eine bedrohliche (Oberhoff 2007, S.
53).
Statt die Metapher als lokales, temporäres Ereignis (Ricœur spricht ausdrücklich von einer
Bedeutung, die nur in diesem augenblicklichen Kontext existiert. Vgl. Ricœur 1996, S. 361ff) im Text
zu betrachten, entstehen hier scheinbar objektivierbare Sinnzuschreibungen, die allzu zudringlich
werden, weil die Metapher hier ihren beweglichen Status als Metapher verliert. Dichter lügen – und
sie wissen, dass sie lügen. Die Perspektive von Bernd Oberhoff ist nachvollziehbar, sinnig, schlüssig.
Er versucht eine psychoanalytische Deutung und trägt dabei diesen ihm eigenen Verstehenskontext
an das Werk heran. Ein Zugang, der aber genau dann problematisch wird, wenn er zu einer
totalitären Deutung der Musik führt, wenn Dichter vergessen, dass sie lügen und die Metapher
vergisst, eine Metapher zu sein.
Hat Oberhoff nicht genügend Vorkehrungen getroffen, sein Reden über Musik in dem vagen Raum
seines eigenen, konstruktivistischen Konzeptes zu belassen? Oder trifft uns, die wir belastet und
gezeichnet sind vom schweren Gepäck einer Analyse in der Tradition des Bezeichnens und
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Benennens, gar eine Teilschuld? Weil wir uns nicht lösen können von den eingespielten Routinen und
durch neue Vorstellungen allzu leicht in Turbulenzen geraten?
Dem Text von Oberhoff sei nun der Klausurtext einer Schülerin der 11. Klasse an die Seite gestellt. Ein
Text von Kim, die es bereits aus anderen Unterrichtszusammenhängen gewohnt ist, in Bildern zu
denken und mit Bildern zu sprechen, um auf diese Weise ihren eigenen Verstehenskontext und ihre
eigenen Konzepte in ihr Hören einzubringen:
Mit dem ersten Teil verbinde ich einen abendlichen Strandspaziergang. Es ist
ein warmer, ruhiger Sommerabend und ich bin allein am Strand. Während
ich langsam barfuß durch den Sand laufe, geht am Horizont die Sonne unter.
Ihr schummriges Licht spiegelt sich auf der Wasseroberfläche und ich höre
das gleichmäßige Rauschen der Wellen.
Nun ändert sich die Szenerie. Unterhalb der Wasseroberfläche schwimmt ein
Fischschwarm. Viele kleine Fische „wuseln“ durcheinander. Im Vergleich zur
Ruhe des Ozeans bewegen sie sich sehr schnell, beinah hektisch. Jeder
einzelne Fisch sucht sich seinen Weg inmitten der anderen.
Ich muss an Meer und Wellen denken, da die ersten Takte abwechselnd aus
zwei Tönen bestehen (Takt 1-3). Wie ein Auf und Ab der Wellen wechseln
sie. Die Geigen und die Bratsche verwenden eine ähnliche Melodie. Auch
hier ein Auf und Ab an Tönen (Takt 1-9).
Das Klavier spielt zudem sehr ruhig und gebunden, dies bewirkt eine sehr
gemütliche, stille Atmosphäre, was mich an einen einsamen Abend bei
Sonnenuntergang denken lässt.
Ab Takt 27 verstummt das Wellenmotiv. Das Klavier beginnt nun sehr
hektisch und schnell zu spielen. Diese Hektik finde ich in einem
Fischschwarm wieder. Wie die Melodie des Solisten aus vielen einzelnen
Noten besteht, besteht ein Schwarm aus vielen kleinen Fischen. Die Melodie
weitet sich über sehr hohe und sehr tiefe Töne aus. Sie steigt und sinkt
stetig, wie ein Fisch, der innerhalb seines Schwarms seinen Weg durch das
Getümmel sucht. Die beiden Teile des Stücks weisen viele Ähnlichkeiten auf,
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obwohl ein sehr starker Wechsel stattfindet. Dies sehe ich in meiner
Vorstellung ebenfalls. Einmal spielt sich jedoch alles oberhalb, einmal
unterhalb der Wasseroberfläche ab.
Für die Schülerin ist nicht die schlichte Gestaltung der einstimmigen Melodie zu Beginn signalgebend.
Sie trägt noch kein virtuoses Klavierkonzert von Schumann oder Tschaikowsky im Gepäck ihrer
ästhetischen Erfahrungen, der Rachmaninoffs schüchternen Konzertbeginn als etwas Besonderes
erscheinen ließe. Für Kim ist die virtuose Entfaltung der späteren Begleitung das Faszinierende, der
Eckstein ihrer initialen Metapher. An dieser unbändigen Bewegung, bei gleichzeitig gespürter
Ordnung, entzündet sich die Metapher „Fischschwarm“ (Vgl. dazu: Sergej Rachmaninoff,
Klavierkonzert Nr. 3 op. 30, T. 27–38).
Dieser Schülertext zeigt auch, wie ein intuitiv geformtes, in die Welt gesendetes Bild in einem
metaphorischen Prozess (in Anlehnung an Jain 2002, hierzu Oberschmidt 2010, S. 131-154) reflexiv
an den musikalischen Gegenstand angebunden werden kann: Die initiale Metapher „Fischschwarm“
bietet hier lediglich einen Anstoß, der in eine Suchbewegung übergeht und sich zunächst in einem
zweiten Schritt zu einem Bedeutungsnetz verdichtet. Bevor nämlich die Metapher auf den
Gegenstand bezogen werden kann und der Interaktionsprozess zwischen Bildspender und Empfänger
in
Gang
gesetzt
wird,
soll
daher
die
Metapher
selbst
ausgeleuchtet
werden,
um
Übergriffsmöglichkeiten, Kontaktfäden bereitzustellen. Eine vorschnelle Übertragung würde
womöglich das Potential der Metapher, das zu bergende Wissen, nicht zum Vorschein bringen. In
unserem Fall gilt es also zunächst, die Eigenschaften des Fischschwarms näher zu beschreiben:
Viele kleine Fische ‚wuseln‘ durcheinander
bewegen […] sich sehr schnell, beinah hektisch.
Jeder einzelne Fisch sucht sich seinen Weg inmitten der anderen.
Erst dann werden Bildspender und Bildempfänger in Beziehung gesetzt, wird versucht, die reiche
Metaphorik an transparente Begriffe anzubinden:
Das Klavier beginnt nun sehr hektisch und schnell zu spielen. Diese Hektik
finde ich in einem Fischschwarm wieder. Wie die Melodie des Solisten aus
vielen einzelnen Noten besteht, besteht ein Schwarm aus vielen kleinen
Fischen. Die Melodie weitet sich über sehr hohe und sehr tiefe Töne aus. Sie
25
steigt und sinkt stetig, wie ein Fisch, der innerhalb seines Schwarms seinen
Weg durch das Getümmel sucht.
Angestrebt ist also ein Interpretieren der Metapher, das sich in drei Schritten vollzieht: Eine initiale
Metapher wird gebildet (1), verdichtet (2) und reflexiv an den zugrunde liegenden Gegenstand
angebunden (3). Es ist also kein Übersetzungsvorgang, kein Substitutionsprozess, der die vorläufige
Metapher durch einen endgültigen Begriff ersetzt, sondern sie bleibt als ursprünglicher sprachlicher
Reflex bestehen und umstellt weiterhin den musikalischen Gegenstand.
Auch, wenn wir es hier mit einem abgeschlossenen, schriftlich hinterlegten Text zu tun haben, lässt
sich skizzieren, wie jene metaphorische Beschreibung in anderen, mündlich-beweglichen Kontexten
weiter verfolgt werden könnte:
1. Wie reagieren Einzeltöne in Erfüllung ihrer Aufgaben in diesem akkordischen System des
Fischschwarms aufeinander?
2. Wie zeigt sich Schwarmintelligenz, werden Harmonie- und Richtungswechsel von den
benachbarten Fischen aufgegriffen?
3. Wie werden die einzelnen Fische vom Musiker oder auch vom Hörer isoliert bzw. in ihrer
fließenden Gesamtheit wahrgenommen und erfasst?
4. Wie zeigt sich Virtuosität im Instrumentalkonzert? Wie äußert sie sich im Geschehen, das sich
oberhalb oder unterhalb der Wasseroberfläche abspielt?
Auf diese Weise entsteht ein unabschließbarer Prozess, mit Übergängen in neue Kontexte, geeignet,
um mit all seinen Ein- und Ausblicken das Potential einer Metapher, das vorgreifende Wissen der
Schüler freizulegen.
Zu viele Köche verderben den Brei?
Das Wiegen eines Säuglings, ein Fischschwarm, der bei einem Strandspaziergang beobachtet wird,
zwei unterschiedliche Konzepte, sich dem Klavierkonzert von Rachmaninoff zu nähern. Was aber
nun, wenn im Unterricht dreißig Schüler mit ihren Bildern Netze auf den Gegenstand werfen? Die
dabei entstehenden Bilder sind verschieden und doch haben sie eine gemeinsame Mitte, kreisen sie
um die Thematik: Kindheit, Melancholie, Einsamkeit, Rückblick. „Die Metaphern aller Völker (diese
Sprachmenschwerdung der Natur) gleichen sich, und keines nennt den Irrtum Licht und die Wahrheit
Finsternis“ (Jean Paul 1990 [1804], S. 182).
26
Das Einwohnen in die Bilder der Mitschüler umstellt den Konzertsatz mit wechselnden und sich
ergänzenden Konzeptionalisierungen: „Durch die Verwendung alternativer Metaphern im gleichen
Bezugsfeld wird die dominante Metaphorik wieder in den ‚Als ob‘-Status zurückversetzt und – sofern
die neue Metaphorik bessere Erklärungsleistungen liefert – in ihrem Geltungsbereich eingeschränkt“
(Debatin 1996, S. 99). Ist ein Bild in die Welt gesetzt, lässt es sich zwar nicht mehr auf eine
Theoriesprache reduzieren, doch offenbaren gerade die im metaphorischen Prozess reflexiv
angebundenen Begriffe jene Kreuzungspunkte, die den individuellen Blick zu einen gemeinsam
erworbenen Besitz werden lassen: „Metaphern haben deshalb das vorletzte Wort in einer
unbegreifbaren, aber deutbaren Welt, die kein letztes Wort kennt“ (Hörisch 2010, S. 228f).
Fertiggerichte im Unterricht
Auch für Schüler gilt das Wahrheitsgebot, im täglichen Leben wie im Reden über Musik. Der
Musikunterricht hält ihnen hierfür ein reichhaltiges außermusikalisches Imaginationsangebot bereit.
Es ist der Duft von diesem frisch gebackenen Brot, der dem musikalischen Genuss flüchtig vorauseilt,
ihn allenfalls dabei begleitet und sich allzu häufig vor den zu erfahrenen Gegenstand stellt. Auch
dieses Brot, das sich nicht aus dem eigenen Geist gründet, ist unverzichtbarer Bestandteil des vollen
Geschmackserlebnisses
und
weckt
sicher
auch
beim
Leser
verborgen
geglaubte
Kindheitserinnerungen: Hier ist die Speisung fertig vom Lehrer angerichtet und es sind immer die
gleichen Fertiggerichte, die für den Unterricht zubereitet werden: Futter für das Volk – eine
Brotverwandlung des Geistes findet dabei nicht statt. So durften bereits in der Grundschule ganze
Schülergenerationen Symphonische Dichtungen von der Quelle bis zur Mündung verfolgen und sich
auf eine orchestrale Wolfsjagd begeben. Schüler sind aufgewachsen mit diesen fremden, von außen
herangetragenen Bildern in einem Unterricht der eindeutigen Konnotationen, wenn es darum geht,
die angebotenen Pfade äußerer Eindrücke in der Musik zu verfolgen. Manchmal tragen sie die Spuren
dieser verlässlich geglaubten Bilder als einen bereits voller Stolz erworbenen inneren Besitz auch an
ihnen fremde Musik heran, der sie nach dem Hören dann konstatieren lässt: „Das Fagott ist immer
der Großvater.“
Schüler sind auch in anderen Fächern in dieser Landschaft des Benennens aufgewachsen und auf der
Suche nach solch objektivierbaren Sinnzuschreibungen. Sie dürfen sich zwar zeitweise wie ein Dichter
bewegen: Eigene Assoziationen ausfalten, angebotene Fäden aufnehmen, weiterspinnen. Doch
vornehmlich werden im Unterricht Imaginationsangebote an die Schüler herangetragen, die eine
bestimmte Antwort erfordern, der Musik ein Sagen abpressen. Wolfgang Rihm wendet sich gegen
diese „eindimensionale[n] Bilder“, die die Musik enteignen: „Musik wird enteignet. Wem gehört sie?
27
Zuletzt eigentlich dem Hörer. Dieser enteignet also sich selbst, wenn er die Musik mit Bildern flutet“
(Rihm 2002, S. 178).
Musik wird enteignet, wenn es eben diese vorgeformten Fremdbilder der Fertiggerichte sind, die
eine Musik fluten – Musik kann aber zu eigen werden, wenn Schüler ihren eigenen Bildern
nachspüren und sie dabei gleichzeitig in ihrer Begrenztheit – in der Begrenztheit des perspektivischen
Sehens überhaupt – erfahren dürfen.
Reden über Musik: Unser täglich Brot gib uns heute?
Robert Schumann sagt, dass Bach sein „täglich Brot“ sei, „an dem er sich erlabe“ (Schumann 1885, S.
279), dass er selbst „täglich vor Bach beichte, sich reinige und stärke“ (Schumann 1886, S. 151). Das
tägliche Brot ist Metapher für das Leben schlechthin: Es bildet die Voraussetzung für die
Aufrechterhaltung der körperlichen Existenz und wird damit Symbol für alles, was das Leben der
Menschen ausmacht. Auch in der Brotbitte des christlichen „Vater unser“ ist dieser doppelte Aspekt
mit enthalten. „Sein Brot verdienen“, heißt der säkularisierte und heute griffige Ausdruck dafür.
Doch wird Musik nicht auch brotlos verstanden? Vollzieht sich Verstehen auch sprachlos, als
„begriffslose Mitteilung“ (Eggebrecht 1995, S. 23) einer begriffslosen Kunst? Haben wir es nicht
gerade Hans Heinrich Eggebrechts Zugang zu verdanken, dass dieses ästhetische Verstehen aus dem
Schonraum bloßer Wahrnehmung in den Status des Verstehens gehoben wurde und so einen hohen
Rang einnimmt? Müssen wir das, was sich in unserem Inneren konstituiert überhaupt noch in Brot
verwandeln? Nicht nur Schüler erleben Musik, ohne dass jenes, was sich in ihrem Geist konstituiert,
diesen Transformationsprozess durchschreiten müsste. Das gilt im Übrigen auch für die, die sich als
ausübende Musiker professionell der brotlosen Kunst widmen und eine regelrechte Allergie gegen
die begrifflichen Zudringlichkeiten der harten Letterseele musikalischer Analysen entwickelt haben.
Das gilt für sprachlose Interpreten, aber auch für Komponisten, die sich über Musik ausschwiegen.
Etwa für Arvo Pärt, dem Worte über Musik zu zudringlich erscheinen (Arvo Pärt in einer brieflichen
Mitteilung an Wolfgang Gratzer: „Ich muß in mir Raum frei lassen für Musik, und wenn dieser mit
Worten besetzt wird, bleibt mir kein Bedürfnis, mich mit Musik auszudrücken – und umgekehrt:
wenn ich ein Musikwerk geschrieben habe, bleibt nichts mehr mit Worten übrig zu sagen.“ Vgl.
Gratzer 2003, S. 335) oder Felix Mendelssohn Bartholdy, für den Musik stets ohne Worte auftritt und
der – im Gegensatz zu Robert Schumann – „niemals ein Wort über Musik drucken ließ“ (Überliefert
in: Dahlhaus 1988, S. 141).
28
Es scheint also genügend Anlass zu geben, sich derart fundamentalistisch auf den
Unsagbarkeitstopos zu berufen und Musik in dieser Schweigezone zu belassen:
Sich im Geheimnis zu wähnen, ohne zu fragen, in welchem, ist ein fauler Trick, von dem die Musik viel
zu leiden gehabt hat und der, die bequeme Selbstverständlichkeit des Besitzens bestätigend, ihrer
Neutralisierung viel Vorschub geleistet hat. Wer die Theoriefeindlichkeit sogenannter Praktiker
kennengelernt hat, die in der Musik mehr als bei anderen Künsten sich mit einem abschottenden
Professionalismus verbindet, kann ein Lied davon singen (Gülke 2001, S. 4).
Dem Gerede über Musik wird im Musikunterricht längst das Musikmachen nicht nur an die Seite
gestellt. Und dies gerade in Situationen der Aneignung und Vermittlung, in denen es um mehr gehen
sollte, als einen mitgebrachten Besitz bequem zu bestätigen. Nachgedacht werden muss daher
darüber, ob das Reden überhaupt noch täglich Brot des Musikunterrichts sein will – auch Robert
Schumann schöpft sein täglich Brot nicht aus der Analyse einer Bachfuge, sondern aus dem eigenen
Spiel, also aus seiner sinnlichen Begegnung mit Bach.
Drei Äußerungen aus „Perspektiven zu einem brauchbaren Musikunterricht“ von Volker Schütz sollen
zeigen, wie die Musikpädagogik – bei aller eingestandenen Notwendigkeit der sprachlichen Reflexion
– mehr und mehr dazu übergeht, der Musik wortlos zu begegnen:
Es gilt, Abschied zu nehmen von der unbefragten didaktischen Maxime, dass das Reden über Musik
Wesentliches zur Erfahrung von Musik beitragen könne. Das Reden über Musik als wesentlichste
Vermittlungsform eines (gymnasialen und gymnasial-orientierten) Musikunterrichts hat seine
Wurzeln in der Methodik der historischen Musikwissenschaft (Schütz 1996, S. 3).
Andererseits werden sich bei den musikbezogenen Interaktionsprozessen gewiss Fragen nach
bestimmten handwerklichen Voraussetzungen stellen. […] Die Formen der Vermittlung wären zu
diskutieren. Vielleicht bieten sich eingeschobene Phasen an, in denen man in kompakter Form und mit
effektivsten Lernmethoden Wissensbestände aufbaut. Wichtig dabei ist, sich darüber im klaren zu
sein, dass das so gespeicherte Wissen, nämlich vorrangig Wissen über musikalische Parameter,
Formen, Kompositionsverfahren, geschichtliche Daten usw., nicht unabdingbare Voraussetzung für
ästhetisch-musikalische Erfahrungen ist, sondern zunächst mal der besseren intersubjektiven
Verständigung im Musikunterricht dienen soll (Schütz 1996, S. 5).
29
Die Stoßrichtung erscheint klar. Das Musikmachen soll vom Reden darüber separiert werden und
manchmal bleibt dieses Reden auch gänzlich aus. Brot wird hier allenfalls als Beilage serviert, das
Reden über Musik wird hier reduziert auf das, was dem unmittelbaren Musizieren dienlich ist, auf
das Entwickeln einer sprachlichen Kompetenz, die eine Kommunikation in Probensituationen
ermöglicht:
Was
die
Möglichkeiten
wissenschaftlicher
Durchdringung
angeht,
ist
etwa
in
der
Literaturwissenschaft ein wesentlich genaueres Methodenbewusstsein zu erfahren. Es mag damit zu
tun haben, dass Musik so sehr ans ‚Machen‘ gebunden ist, dass auch das Denken und Verstehen von
Musik stärker ans ‚Handwerkliche‘ gebunden ist als in anderen Künsten. […] Die Schwierigkeit stellt
sich allerdings dann ein, wenn vor lauter Handwerkswissen der Blick auf das spezifische ‚Mehr‘ der
Emergenz verstellt wird (Noltze 2010, S. 256f).
Die Gründe für eine derartig allergische Reaktion liegen auf der Hand: Praktisches Musizieren prallt
gegen eine störende, theoretisierende Begrifflichkeit, die aus dem Weg geräumt werden möchte.
Doch welche Potentiale gehen hier verloren, wenn Musik ohne Einsprüche der Worte austrocknet,
wenn nicht ins Bewusstsein gehoben wird, was an ihr berührt oder vielleicht auch einmal im Wege
steht?
Natürlich ließe sich in diesem Zusammenhang auch einwenden, dass sich das „täglich Brot“ nicht
ausschließlich wortsprachlich konstituieren muss. Jean Paul bezieht sich in seiner Vorschule der
Ästhetik auf das Reservat der Dichtkunst, Lakoff und Johnson haben diese Brotverwandlungen in der
Alltagssprache gesucht und gefunden. Brotverwandlungen des Geistes können sich auch in einem
anderen Medium abspielen: Eine nonverbale Metaphorik über Musik zeigt sich in Bewegungsstudien,
im Tanz oder in einer bildnerischen Gestaltung zur Musik. Es bedarf nicht einmal der Transposition in
ein anderes Medium. Musik kann metaphorisch auch auf sich selbst Bezug nehmen, etwa als
unmittelbarer parakompositorischer oder improvisatorischer Reflex auf eine musikalische
Primärerfahrung. Musikalische Formung selbst lässt sich als ein metaphorischer Prozess beschreiben
(Thorau, S. 109–124). Kunst ist eine Möglichkeit, die Welt – und auch andere Musik – metaphorisch
in den Blick zu nehmen: „Vielleicht liegt der Wert der Musik darin: eine gute Metapher zu sein“
(Barthes 1990, S. 285).
30
Zum Abschluss: „Ich lebe von einer Speise, die ihr nicht kennt“ (Joh. 4, 31)
Zunächst scheint hier ein Lehrer seine geheimen Metiergeheimnisse zu rühmen. Sie sind Ausdruck
einer Distanz, die den Wissenden im Musikunterricht vielleicht in besonderem Maße von seinen
Schülern trennt. Dies ist allzu häufig auch im alltäglichen Geschehen spürbar, wenn ein Lehrer in
wichtigtuerischer Weise diese in einer distanzierenden Sprache zur Schau stellt und so letztlich die
kulinarischen Offenbarungen doch für sich behält: Der Schüler staunt dann über den vermuteten,
ihm unzulänglichen begrifflichen Code, der nötig erscheint, um ein Werk zu entschlüsseln.
Die zu verkündigende Botschaft soll jedoch allen zugänglich gemacht werden, schmecken und
angenommen werden: „Denn dies ist das Brot Gottes, das vom Himmel kommt und gibt der Welt das
Leben“ (Joh 6,33).
Metaphern sind mehr als nur Futter fürs Volk, weil die sprachliche Kost der Begriffe schwer
verdaulich ist. Es sind vielmehr Worte, die durch ihre reflexive Anbindung glaubwürdig erscheinen:
Sie bieten hier einen Schlüssel für eine Speise, die sich jenseits dieser Begriffe verortet, nähern sich
der geheimnisvollen Speise des Unsagbaren, ohne dies anzurühren, auszusprechen und ermöglichen
einen Ausblick auf das, was ohnehin nur vermutet werden kann.
Und welchen Rat darf man nun den Unterrichtenden mit auf den Weg geben? Es geht nicht mehr
primär darum, den Gegenstand nach seinen Vermittlungsqualitäten zu befragen oder im Vorfeld des
Unterrichtes Horizonte für ein gemeinsames Lernen auszumachen.
Die Schüler selbst sind es, die ihre Speise zubereiten: „Wer aber essen will, muss auch mit Hand
anlegen“ (Nietzsche 1993, Bd. 4, S. 354). Derart konstruktivistische Zugänge fallen im
Musikunterricht besonders schwer. Hier wird der Lehrende nicht nur mit einer allgemeinen
Pädagogik und einer Fachdidaktik konfrontiert. Sein Unterrichten ist von viel tiefer liegenden Spuren
geprägt. Von dem, wie er selbst Musiklernen in seinem Instrumentalunterricht als ausübender
Musiker „im Sinne von ‚wer handelt, denkt nicht‘“ (Gülke 2001, S. 5) erfahren hat. Als Instrumentalist
oder Sänger im Chor hat er sich führen und lenken lassen (müssen), um dann später als
praktizierender Ensembleleiter das Lernen ebenso anzuleiten. Demokratische, selbstbestimmte
Prinzipien sucht man hier vergebens. Vielleicht fällt es deshalb Musiklehrern besonders schwer, hier
loszulassen und den Schülern ihre eigenen Wege beschreiten zu lassen.
31
Die große Kunst des Unterrichtens liegt nun darin, flexibel auf das schöpferische Potential der
Lernenden und ihrer Metaphern zu reagieren. Allzu häufig schauen wir als Lehrer an dem
verborgenen Wissen unserer Schüler vorbei und versäumen es, uns auf die Speise der Schüler
einzulassen, um auf diese Weise die Klugheit, die in einer Metapher wurzelt, zum Vorschein zu
bringen. Eine reichhaltige Sprache wird häufig reduziert auf das, was an begrifflicher Substanz vom
Lehrer herausgelesen wird. Für den, der nur einen Hammer kennt, sieht jedes Problem wie ein Nagel
aus. Ein anspruchsvolles Unterfangen, das gerade beim Lehrer eine umfangreiche Ausrüstung und ein
breit angelegtes Wissen erfordert, wenn Sprache nicht als konventionelles Bezeichnungsinstrument
genutzt wird, sondern als Werkzeug erst zugerichtet werden soll, wenn Unterricht nicht bei der
intuitiven, initialen Metapher stehen bleiben möchte: „Metaphern repräsentieren die Erfahrung,
dass man in bestimmten Situationen nicht durch eine Tür kommt, wenn man die konventionalisierte
Sprache starr wie einen Stock quer vor sich her trägt, sondern nur dann, wenn man diesen Stock auch
mal zu drehen weiß“ (Köller 2004, S. 609).
Die lebensweltlichen Bezüge müssen in diesem Unterricht nicht gesucht werden, sie kommen einem
in den Metaphern der Schülerinnen und Schüler entgegen, wenn es gelingt, offene
Unterrichtssituationen zu gestalten, in denen sprachliche Bilder nicht nur zugelassen, sondern
ausdrücklich erwünscht sind. Dann verschmelzen – ganz im Sinne Jean Pauls – Geist und Materie, Ich
und Welt, im Sinne einer weitgreifenden Synästhesie, die den „materielle[n] Geschmack und […]
geistige[n] Geruch“ (Jean Paul 1990 [1804], S. 183) in der Metapher verbunden weiß. Hierzu bedarf
es eines Unterrichts, in dem den Lernenden die Ernsthaftigkeit ihrer Bilder deutlich wird und sie sich
nicht lediglich an die Kinderstube ihrer ästhetischen Bildung erinnert fühlen.
Womöglich ist dieses Potential nicht an einem einzigen Beispiel erkennbar, einer reflektierten und
vielleicht schriftlich gefilterten Metapher einer gereiften Schülerin in der klinischen Klausursituation.
Vielleicht verdeutlichen dies eher Metaphern, die in spontanen, mündlichen Beiträgen geboren
werden, in denen das Erleben der gehörten Musik mitschwingt. Hier sind es oft sehr eindrückliche
Begegnungen, gerade dann, wenn man die Lebenskontexte der Schülerinnen und Schüler genauer
kennt und diesen mitgebrachten Erfahrungen nun in ihren individuellen Zugängen, in ihrem ganz
persönlichen Reden über Musik, nachspürt und auf diese Weise in der Metapher Spuren und
Strukturen ihrer Lebenswelt erkennen darf.
32
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