Manuskript radioWissen SENDUNG: 10.04.2017 9.05 Uhr

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Manuskript
radioWissen
SENDUNG: 10.04.2017
9.05 Uhr
AUFNAHME:
STUDIO:
GESCHICHTE
Ab 8. Schuljahr
TITEL:
Leben im Biedermeier
Das unruhige Idyll
AUTOR/IN:
Susanne Merkle
REDAKTION:
Thomas Morawetz
REGIE:
Sabine Kienhöfer
PERSONEN:
Erzählerin
Erzähler
Zitator 1
Zitator 2
Musik
Zuspielungen
Atmo
Besondere Anmerkungen:
ED 22.03.2017
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Dramatische Musik kurz stehen lassen, dann drüber
Erzählerin:
23. März 1819: Gegen 17 Uhr klingelt der 23jährige Student Karl Sand an der Tür des
Dichters August von Kotzebue in Mannheim. Ein Diener öffnet und bittet Sand ins
Wohnzimmer. Wenig später erscheint der Hausherr. Er wechselt mit seinem Gast ein
paar Worte, dann zieht Karl Sand ein Messer und sticht auf den Schriftsteller ein.
Musik kurz hoch
Erzählerin
August von Kotzebue hat keine Chance, er stirbt an seinen schweren Verletzungen.
Dramatische Musik kurz hoch und Schluss
Erzähler:
Es ist eines der berühmtesten politischen Attentate der deutschen Geschichte.
Erzählerin:
August von Kotzebue, ist zu diesem Zeitpunkt einer der bekanntesten Schriftsteller
Deutschlands, populärer als Goethe oder Schiller. Seine über 200 Theaterstücke sind
Bestseller.
Erzähler:
National gesinnte Studenten und Bürger halten den Dichter allerdings für einen Verräter,
einen Spitzel, denn er verfasst für den russischen Zaren Berichte über die Lage in
Deutschland.
Musik (Attentatsmotiv von oben, kurz hoch, dann drüber
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Erzählerin:
Der Attentäter wird gefasst, doch vor dem Mannheimer Gefängnis lassen die Menschen
ihn immer wieder hochleben, klatschen Beifall. Viele schicken ihm Obst und Blumen.
Brave Bürgerstöchter hängen sich Portraits von Sand ins Schlafzimmer, so wie heutige
Teenager Poster von Popstars.
Erzähler:
Für sie ist Karl Sand kein Mörder, sondern ein Held.
Musik kurz hoch, dann drüber und weg
Erzähler:
Der Mord an August von Kotzebue - ein spektakuläres Ereignis für eine Zeit, die heute
vor allem als Idylle interpretiert wird. Dabei ist die Welt des Biedermeier alles andere als
gemütlich:
Erzählerin:
In den Jahren zwischen 1815 und 1848 befindet sich Deutschland mitten im Umbruch:
Politisch gärt es, gesellschaftlich verliert der Adel an Bedeutung und wirtschaftlich
kündigt sich bereits die Industrielle Revolution an.
Erzähler:
Eine Zeit der Veränderung und Beschleunigung. Von Idylle hätte damals wohl kaum
jemand gesprochen und schon gar nicht von Biedermeier.
Erzählerin:
Der Begriff entsteht erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Da erfinden der Schriftsteller
Ludwig Eichrodt und der Arzt Adolf Kussmaul die Figur Gottlieb Biedermeier: einen
dichtenden Dorfschullehrer, der einfältig und unpolitisch ein selbstzufriedenes Leben in
der schwäbischen Provinz führt.
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Über ihn machen sie sich in zahlreichen Gedichten in den Münchner Fliegenden Blättern
lustig. Erst um 1900 wird sein Name einem ganzen Zeitalter übergestülpt.
Musik, dann drüber
Erzählerin:
Am Anfang dieser Zeit steht der Sieg über Napoleon. Nach 22 Jahren Krieg in Europa
lädt der österreichische Außenminister Clemens Wenzel Fürst von Metternich im
September 1814 nach Wien, um die politische Landkarte Europas neu zu ordnen.
Erzähler:
Monatelang wird in der österreichischen Hauptstadt mindestens ebenso viel gefeiert wie
verhandelt.
Erzählerin:
Auch für das in Kleinstaaten zerrissene Deutschland wird eine Lösung gefunden. Am 8.
Juni 1815 schließen sich die „Souveränen Fürsten und Freien Städte Deutschlands“
zum sogenannten Deutschen Bund zusammen.
Erzähler:
Für politisch interessierte Bürger ist das eine Enttäuschung, denn mit dem geeinten
Deutschland, das sich viele erträumt haben, hat der Deutsche Bund wenig zu tun.
Erzählerin:
Er ist eher ein loser politischer Zusammenschluss von 34 souveränen Fürstentümern
und vier freien Städten. Es gibt kein gemeinsames Staatsoberhaupt, nicht einmal ein
gemeinsames Wirtschafts- und Zollgebiet. Die Bundesversammlung in Frankfurt am
Main steht unter der Leitung Österreichs und hat keine klaren Kompetenzen. Die
Gesandten, die sich dort tummeln, sind nicht vom Volk gewählt, sondern einzig und
allein von den Weisungen ihrer Herrscher abhängig.
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Erzähler:
Ein Pseudoparlament, von dem jeder weiß, dass es wenig zu sagen hat. Im Dezember
1815 schreibt der preußische Gesandte Wilhelm von Humboldt aus Frankfurt an seine
Frau Caroline:
Zitator 1:
„Ordentlich lächerlich ist es zu sehen, wie hier nun die Bundesgesandten versammelt
sind und alle auf eine große Tätigkeit hoffen, da man voraussehen kann, dass sie nur
ziemlich unbedeutend werden sein können.“
Erzähler:
Und diese unbedeutende Rolle gefällt nicht nur vielen Bürgern nicht. Vor allem die
Studenten gehen in die Opposition, das treibt die Unruhe in Deutschland weiter an.
Erzählerin:
Überall in den Universitätsstädten entstehen Burschenschaften, die sich die Forderung
nach einem Nationalstaat auf die Fahnen schreiben. Der Burschenschaftler Heinrich von
Gagern aus Jena schreibt im Juni 1818 an seinen Vater:
Zitator 2:
„Wir wünschen unter den einzelnen Staaten Deutschlands größeren Gemeinsinn,
größere Einheit in ihrer Politik und in ihren Staatsmaximen; keine eigene Politik der
einzelnen Staaten, sondern das engste Bundesverhältnis; überhaupt wir wünschen,
dass Deutschland als ein Land und das deutsche Volk als ein Volk angesehen werden
können. (So wie wir dies so sehr als möglich in der Wirklichkeit wünschen, so zeigen wir
dies in der Form unseres Burschenlebens. Landsmannschaftliche Parteien sind
verbannt und wir leben in einer deutschen Burschenschaft im Geiste als ein Volk, wie
wir es in ganz Deutschland gerne täten.)
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Erzählerin
Am 18. Oktober 1817 – zwei Jahre nach der Gründung des Deutschen Bundes versammeln sich knapp 500 Studenten und Professoren auf der Wartburg bei Eisenach.
Offiziell wollen sie den 300sten Jahrestag der Reformation feiern und den vierten
Jahrestag der Leipziger Völkerschlacht. Doch schnell wird an diesem Tag auch der Ruf
nach nationaler Einheit laut.
Erzähler:
Das Wartburgfest ist die erste große politische Versammlung in Deutschland, die nicht
von Monarchen, sondern von Bürgern organisiert wird. Die Regierenden reagieren
entsetzt.
Erzählerin:
In Preußen werden die Burschenschaften umgehend verboten. Und dann wird im März
1819 in Mannheim der Dichter August von Kotzebue ermordet.
Musik vom Anfang kurz hoch dann drüber
Erzählerin:
Fürst Metternich, der österreichische Außenminister nutzt die Gunst der Stunde: Er
nimmt den Mord an Kotzebue zum Anlass, im September 1819 die Karlsbader
Beschlüsse durchzudrücken:
Erzähler:
Die Meinungsfreiheit wird eingeschränkt, Universitäten werden künftig streng überwacht,
alle Burschenschaften endgültig verboten. Professoren, die mit den Studenten
sympathisieren, müssen nun fürchten, entlassen zu werden. In Mainz wird eine
Untersuchungskommission eingerichtet, die jede Verschwörung gegen die fürstlichen
Regierungen aufdecken soll. Druckerzeugnisse mit weniger als 20 Seiten werden von
da an einer strengen Zensur unterworfen.
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Erzählerin:
Die Karlsbader Beschlüsse werden für die politische Entwicklung in der Biedermeierzeit
zum Wendepunkt, sagt der Historiker Professor Wolfgang Hardtwig von der HumboldtUniversität Berlin
Zuspielung 2: 12:50
(„Man kann ohne weiteres sagen, es waren verheerende Folgen, zwar sind diese
Zensurmaßnahmen und Unterdrückungsmaßnahmen in keiner Weise vergleichbar mit
denen, die ein totalitärer Staat des 20. Jahrhunderts zu Gebote hat, aber) die
Einführung der Vorzensur war für die Literaten und Publizisten, für die entstehende
bürgerliche Intelligenz eine schwere Bedrohung. Und es ist auch nicht so, dass
Verstöße nicht sanktioniert worden wären, mancher von denen, die damals unter den
Vorzeichen der Karlsbader Beschlüsse als Demagogen bezeichnet worden sind,
wanderten für fünf, zehn oder 15 Jahre hinter Gitter. (Der bekannte Turnvater Jahn, also
Friedrich Ludwig Jahn, dem wir unsere deutsche Turntradition im Wesentlichen
verdanken, saß 20 Jahre lang in der Festung Spandau ein.) Und alles das hat die freie
Entwicklung eines demokratischen Lebens in Deutschland stark verhindert.“
Erzählerin:
Nicht nur Journalisten, auch junge, liberal gesinnte Schriftsteller bekommen die
staatliche Gängelung in den Jahren zwischen 1815 und 1848 zu spüren, so zum
Beispiel die Vertreter des Jungen Deutschland. Heinrich Heine, Karl Gutzkow oder
Heinrich Laube gehören dazu. Ihre Texte werden nur gekürzt gedruckt, manche sogar
verboten.
Erzähler:
Viele lassen sich dennoch nicht so leicht beeindrucken. Sie haben schon bald Ideen,
wie sie die Zensur umgehen können, sagt Professor Wolfgang Hardtwig:
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Zuspielung 3: 16:55
„Mancher Verleger war kühn genug, in gewisser Weise sogar auf den Skandal zu
spekulieren, also haarscharf an den Grenzen der Zensur entlang sich zu bewegen, um
dadurch die Öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Und im Übrigen gibt es die
bekannten Praktiken des Lächerlichmachens der Zensur, zum Beispiel, indem man die
gestrichenen Worte oder Zeilen kenntlich macht im doch noch veröffentlichten Text, wie
das Heinrich Heine gerne getan hat. So dass der Leser dann vor dem Puzzle stand, was
hat hier eigentlich gestanden, bevor der Autor seine Worte durch die Zensur geschwärzt
bekam.“
Musik
Erzählerin:
Weil sie politisch nichts zu sagen haben, ziehen sich viele Bürger ins eigene Heim
zurück, sprechen über Politik nur im eigenen Wohnzimmer und nicht öffentlich. Dafür
finden viele ein anderes Betätigungsfeld: die Wirtschaft.
Erzähler:
Verglichen mit England, wo die Industrialisierung längst in vollem Gange ist, ist
Deutschland um diese Zeit noch unterentwickelt.
Erzählerin:
Doch um 1830 nimmt die Wirtschaft Fahrt auf. Elf Jahre nach den Karlsbader
Beschlüssen mitten in der Epoche des Biedermeier. Vor allem dort, wo es
Bodenschätze gibt, entwickeln sich wirtschaftliche Zentren, so zum Beispiel im
Ruhrgebiet. Später einmal wird Deutschland berühmt sein für seine Stahl und
Eisenindustrie. Aber auch in den Hauptstädten vieler Fürstentümer beginnt die
Wirtschaft zu brummen.
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Erzähler:
Schuld daran ist auch die Eisenbahn.
Erzählerin:
1835 fährt der erste Zug von Nürnberg nach Fürth. Die ersten großen
Fernverbindungen, zum Beispiel zwischen Dresden und Leipzig oder zwischen Wien
und Brünn werden 1839 fertig. Noch bevor die Epoche des Biedermeier 1848 zu Ende
geht, gibt es eine regelmäßige Zugverbindung zwischen Berlin und Köln. Die Eisenbahn
wird, so der Historiker Wolfgang Hardtwig, zum Entwicklungsmotor:
Zuspielung 4: 43:36
„Im Übrigen macht die Eisenbahn eben auch etwas möglich, was vorher nicht möglich
war, sie verbindet abgelegene Regionen mit Zentren, sie ermöglicht, die Rohstoffe von
den Fundstellen an Orte der Verarbeitung zu transportieren, sie bringt die Menschen zu
einer ganz neuen Mobilität und schiebt den Nationalisierungsprozess weiter voran,
einfach indem mehr Menschen innerhalb der deutschen Staatenwelt miteinander in
Verbindung getreten sind und mehr Waren an mehr Käufer kamen und eben auch an
entlegene Stellen und damit auch Nachrichten überall hingelangten, alles Faktoren, die
den Prozess der Nationwerdung auch fördern.“
Erzähler:
Die Eisenbahn beschleunigt das Leben um ein Vielfaches.
Erzählerin:
40 bis 50 Kilometer pro Stunde fuhren Züge damals, weit schneller als die bis dahin
übliche Postkutsche.
Erzähler:
Die meisten Zeitgenossen beschreiben das als einen Geschwindigkeitsrausch. Heinrich
Heine 1843 in der Augsburger Allgemeinen Zeitung:
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Zitator 2:
„Wir merken bloß, dass unsre ganze Existenz in neue Gleise fortgerissen,
fortgeschleudert wird, dass neue Verhältnisse, Freuden und Drangsale uns erwarten,
und das Unbekannte übt seinen schauerlichen Reiz, verlockend und zugleich
beängstigend. [...] Welche Veränderungen müssen jetzt eintreten in unsrer
Anschauungsweise und in unsern Vorstellungen! Sogar die Elementarbegriffe von Raum
und Zeit sind schwankend geworden. Durch die Eisenbahnen wird der Raum getötet,
und es bleibt uns nur noch die Zeit übrig.“
Musik
Erzählerin:
Die wirtschaftliche Entwicklung bringt Geld in die Taschen der Bürger. Die
Biedermeiermöbel, die heute als Antiquitäten gefragt sind, entstehen für die
wohlhabenderen Haushalte. Im gemütlichen Wohnzimmer wird philosophiert, gedichtet,
musiziert. Wer vermögend genug ist, lässt sich von Malern in Szene setzen.
Erzähler:
Bürger sind nun auch Auftraggeber der Kunst. Es entstehen Bilder und Portraits, die
unsere Vorstellung vom bürgerlichen Idyll im Biedermeier bis heute mitprägen. Bilder
von glücklichen Familien und beschaulichen Wohnstuben.
Erzählerin:
Wohnstuben in denen meist auch ein Klavier steht. Im Jahr 1820 berichtet der englische
Gesandte Charles Sealsfield aus Wien:
Zitator 1:
„Sonntags, von drei Uhr nachmittags bis elf Uhr nachts befindet sich die ganze Stadt in
einem förmlichen Taumel von Musik und Vergnügungen. Straßauf, straßab hört man nur
Musik. In jedem Bürgerhaus ist denn auch ein Klavier das erste, was man erblickt.
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Kaum hat der Gast Platz genommen und sich an gewässertem Wein und Preßburger
Zwieback erquickt, so wird das Fräulein Karoline, oder wie sie sonst heißen mag, von
den Eltern aufgefordert, dem Gast etwas vorzuspielen. Die Musik ist der Stolz der
Wiener und so ziemlich der wichtigste Teil ihrer Bildung.“
Erzählerin:
Nicht nur in Wien. Musiker können es sich nun leisten, für ein breites Publikum zu
arbeiten, statt ein Leben als Hofkomponist zu fristen.
Erzähler :
Einige Musiker werden regelrecht zum Superstar. Im Zeitalter des Biedermeier wird
Paganini bewundert und Franz Liszt umschwärmt. In Wien steigt Johann Strauß Vater
zum Walzerkönig auf.
Musik, Walzer, kurz stehen lassen
Erzählerin:
Bis 1830 haben sich viele in diesem gemütlichen Lebensgefühl eingerichtet: Doch dann
bricht im Juli in Frankreich erneut eine Revolution aus, und damit rollt auch eine neue
politische Unruhewelle über Deutschland. Professor Wolfgang Hardtwig hält diesen
Moment für eine bis heute unterschätzte Zäsur in der deutschen Geschichte:
Zuspielung 5
„Es ist im Grunde eine gesamteuropäische Revolutionsbewegung, aber es ist eine
steckengebliebene Revolution, sie ist nicht wie 1789 durch alle Stadien einer solchen
revolutionären Entwicklung hindurch gegangen, sondern die Regierungen haben es
verstanden, sie rechtzeitig zu unterdrücken. Aufgrund der Erfahrungen mit der ersten
großen französischen Revolution waren die Regierungen teilweise durchaus bereit, ein
Stück weit nachzugeben und es ist ihnen damit gelungen, das Bürgertum damit
zunächst einmal auch wieder zu befrieden.“
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Erzählerin:
In einigen Staaten des Deutschen Bundes entstehen nun Verfassungen, zum Beispiel
im Königreich Sachsen oder in Kurhessen.
Erzähler:
Das stärkt das bürgerliche Selbstbewusstsein und diese neue Stärke führt 1837 zu
einem politischen Skandal, der in ganz Deutschland Aufsehen erregt.
Erzählerin:
Auch das Königreich Hannover hat 1833 eine Verfassung eingeführt, doch als vier Jahre
später der eher konservative Ernst August I König von Hannover wird, sollen die
liberaleren Gesetze, die sein Bruder, der englische König, zuvor erlassen hat, nicht
mehr gelten. Dagegen protestieren sieben Göttinger Professoren, unter Ihnen auch die
Gebrüder Grimm.
Erzähler:
Die sieben berufen sich darauf, dass sie ihren Amtseid auf die Verfassung geleistet
haben. Würden sie die Abschaffung nun akzeptieren, dann müssten sie ihren eigenen
Eid brechen, argumentieren sie.
Zuspielung 6:
„Das ist ein durchaus subtiler Vorgang und eine subtile Argumentation, die aber
ungeheure Wirkung entfaltet hat, Professoren waren damals große Autoritäten und die
sieben besonders, jeder von ihnen war in seiner Disziplin eine große Koryphäe. Dass so
anerkannte, wissenschaftlich seriöse Männer die Loyalität gegenüber dem Staat
aufkündigen und sagen, wir folgen anderen Prinzipien, das war eine Ungeheuerlichkeit
und hat Furore gemacht, (zumal sich dann die Studenten damit auch solidarisierten.
Also, es war konzipiert als eine Art Fanal, das die Öffentlichkeit mobilisieren sollte und
dieses Ziel hat die Aktion in erstaunlichem Umfang erreicht.“
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Erzähler:
Es ist neu, dass nicht nur Abgeordnete oder Studenten, sondern hochangesehene
Bürger den absolutistischen Staat herausfordern und dafür sogar ihre Anstellung aufs
Spiel setzen.)
Erzählerin:
Die sieben Professoren werden entlassen und des Landes verwiesen. Doch überall in
Deutschland reagieren Bürger mit großer Solidarität. Es werden schließlich sogar
Spenden gesammelt, um den Professoren weiter den Lebensunterhalt zu sichern. Erst
in den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts stehen alle sieben Professoren wieder in Lohn
und Brot, sie sind auf Lehrstühle anderer Universitäten außerhalb Hannovers berufen
worden.
Musik
Erzähler:
Ab 1830 sind es allerdings längst nicht mehr nur die bürgerlichen Schichten, die sich
gegen das bestehende System auflehnen. Die Unruhe entsteht vor allem durch die
wachsende Armut vieler Menschen.
Erzähler:
Die deutsche Bevölkerung wächst seit 1770 kontinuierlich, vor allem weil die
Kindersterblichkeit sinkt und die Zahl der Epidemien abnimmt. Die Zahl der Arbeitsplätze
hält mit dieser Entwicklung nicht Schritt und aus dem industrialisierten England drängen
maschinell gefertigte, billigere Produkte auf den deutschen Markt.
Erzähler:
Für viele Menschen ist der Alltag geprägt von Hunger und schlechten
Arbeitsbedingungen.
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Erzählerin:
Verstärkt werden die Probleme noch durch die Agrarreformen, die zu Beginn des 19.
Jahrhunderts vor allem in Preußen die Strukturen verändern. Die nun befreiten Bauern
sind oft stark verschuldet, weil sie ihr Land von den Gutsherren auslösen mussten.
Erzähler:
Kein Wunder also, dass sich viele auf den Weg in die Städte machen.
Erzählerin:
Kurz vor von 1848 leben in vielen Metropolen des Deutschen Bundes 50 bis 60 Prozent
der Menschen unter dem Existenzminimum. Die Revolution von 1848 wird deshalb
längst nicht mehr nur von den bürgerlichen Schichten getragen.
Erzähler:
Doch spätestens da ist auch klar, dass die politischen Fronten nicht nur zwischen Adel
und Bürgertum, sondern auch zwischen Bürgertum und unteren Schichten verlaufen.
Doch das ist eine andere Geschichte, die nicht mehr ins Biedermeier gehört.
Erzählerin:
Die Revolution von 1848 markiert für die Historiker das Ende der Epoche. Sie scheitert
nicht zuletzt deshalb, weil es Bürgern und ärmeren Schichten nicht gelingt, ihre
Interessen aufeinander abzustimmen.
Musik vom Anfang
Erzähler:
Bleibt die Frage, was eigentlich aus Karl Sand geworden ist. Der Student, der zu Beginn
der Biedermeierzeit durch den Mord an August von Kotzebue große Popularität
erlangte?
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Erzählerin
Karl Sand wird am 20. Mai 1820 in Mannheim hingerichtet, ein Jahr, nachdem er August
von Kotzebue ermordet hat. Den größten Teil der Biedermeierzeit hat er gar nicht erlebt.
Aber er bleibt ein Idol für seine Zeitgenossen.
Erzähler:
Und die legen in der Biedermeierzeit die Grundlagen für die Gegenwart – wirtschaftlich
und vor allem politisch. Professor Wolfgang Hardtwig von der Humboldt Universität in
Berlin:
Zuspielung 7: 10:46
„Wir haben natürlich auch schon früher Aufbrüche in die Moderne, die Aufklärung würde
man unbedingt nennen müssen (…) Aber bei der politischen Programmatik ist ganz klar,
es steht jetzt die Agenda an, aus der unsere heutigen politischen normativen
Vorstellungen entstanden sind. Die politische Programmatik – ich will das jetzt mal
zugespitzt sagen – der Verfassungsfeinde von 1830 bis 1848 ist die Basis für unsere
heutige politische Ordnung.“
Musik hoch und bis Ende
- Stopp –
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