Christian Gaedt Aspekte eines psyhoanalytisch orientierten Konzeptes….. Aspekte eines psychoanalytisch orientierten Konzeptes zur Diagnostik und Therapie von von psychischen Störungen bei Menschen mit einer geistigen Behinderung1 Humanisierung der Lebens- und Arbeitsbedingungen Mein Anliegen ist es, die Möglichkeiten eines psychoanalytisch orientierten Ansatzes im Umgang mit psychisch kranken geistig behinderten Menschen aufzuzeigen. Ich beziehe mich dabei auf das Konzept des therapeutischen Dienstes in Neuerkerode. Es wäre üblich und auch reizvoll, die psychoanalytisch orientierte Praxis anhand von Schlüsselsituationen im Verlauf von ausgewählten Einzel- oder Gruppentherapien darzustellen. Solche Darstellungen sind wichtig und sind, was das Neuerkeröder Konzept betrifft, auch schon erfolgt (Gärtner-Peterhoff et al. 1987; Sand et al. 1990; Kischkel et al. 1990). Ich glaube aber, mit der Darstellung eindrucksvoller Therapieverläufe würde man der Bedeutung dieses Ansatzes nicht ganz gerecht. Mir geht es deshalb mehr um einen generellen Effekt. Ich will versuchen den Einfluß aufzuzeigen, den gerade dieses therapeutische Konzept auf die Lebensumstände der Betroffenen haben kann, auch wenn sie nicht in einer Einzel- oder Gruppentherapie sind. Wichtig sind mir dabei insbesondere die Auswirkungen auf die Einstellung und Haltung von Mitarbeitern, die durch die Konfrontation mit der geistigen Behinderung in ihrer Verflechtung mit schweren, oft dramatischen psychischen Störungen in extremer Weise belastet sind. Meine These ist, daß die psychoanalytisch orientierte Denkweise einen bedeutenden Beitrag zur Humanisierung der Lebensbedingungen psychisch kranker Menschen mit einer geistigen Behinderung und der Arbeitssituation ihrer Betreuer leisten kann. Ich lege den Schwerpunkt meines Beitrages deshalb auf Aspekte des diagnostischen Prozesses. Dabei wird allerdings deutlich werden, daß bei einem psychoanalytisch orientierten Vorgehen Diagnostik gleichzeitig Therapie ist. Sie ist deshalb auch Therapie, weil durch die im diagnostischen Prozeß bewirkten Einstellungsänderungen bei den Bezugspersonen bisher verschlossen gebliebenene Türen für weitere Entwicklung geöffnet werden. Der diagnostische Prozeß Der diagnostische Prozeß vollzieht sich nach einem orientierendem Schema, das in Neuerkerode angewandt wird, in vier Schritten (Abb. 1). Ausgangspunkt ist immer die Definition eines auffälligen Verhaltens (1.Schritt). Dieses soll auf dem Hintergrund theoretischer Vorstellungen über die Entstehung gestörten Verhaltens verständlich gemacht werden (2.Schritt). Schließlich wird gefragt, in welcher Weise hierdurch die Persönlichkeit eines Klienten beeinflußt oder geprägt wird. Ziel des diagnostischen Prozesses ist es, einen Fokus zu finden, also ein therapierelevantes Interaktionsmuster. Die zur Therapie überleitenden Fragen wären dann etwa: Welche Bedeutung hat ein auffälliges Verhalten für die Lebensbewältigung des betreffenden Klienten? Was wird mit dem auffälligen Verhalten reinszeniert? Auf dieser Grundlage beginnt die fallbezogene Beratung, die durch Einzel- oder Gruppentherapie ergänzt werden kann. Vortrag anlässlich der Freiburger Tagung „Psychotherapie mit geistig behinderten Menschen“ 26.-28. März 1992. Erschienen in : Lotz W, Koch U, Stahl B (Hrsg.) Psychotherapeutische Behandlung geistig behinderter Menschen. Bedarf, Rahmenbedingungen, Konzepte . Bern, Göttingen, Toronto, Seatle: Hans Huber. 1994, S.124-140 1 1 Christian Gaedt Aspekte eines psyhoanalytisch orientierten Konzeptes….. Abb.1: Neuerkeröde Diagnoseschema Medizinische u. psycholog. Befunde aktuelle Situation Gegenübertragung Erfahrungen mit dem Klienten (Krise, Alltag) Erklärungsmuster Lebensgeschichte Diagnostische Bewertung Frühkonfliktgelerntes Hirnorganisch Gestörte störungen bedingte Verhalten bedingte LebensbeStörungen Störungen dingungen Persönlichkeitsbild “Identität” Therapeutische Strategien Eine besondere Rolle bei der diagnostischen Einordnung spielt das sogenannte "Erstgespräch". An diesem nehmen mindestens zwei Therapeuten und möglichst viele pädagogische Betreuer teil. Hinzugezogen werden meist auch der behandelnde Arzt, die Arbeitsanleiter bzw. die Lehrer und manchmal auch die Angehörigen. Es ist wichtig, daß diagnostische Entscheidungen nicht von vereinzelten Therapeuten an ihren Schreibtischen vollzogen werden, sondern in einer lebendigen Gruppensituation. Was dabei herauskommen soll, ist alles andere als ein objektiver, überprüfbarer Befund, sondern eher eine Ahnung von Zusammenhängen, eine Einstimmung auf ein menschliches Schicksal. Vielleicht, und das ist ein wichtiges Ziel, ergibt sich daraus eine neuer Beginn in der Beziehung zu dem Betroffenen, eine Beziehung, gegründet auf Respekt, Wohlwollen und Hoffnung. Der Therapeut wird die in dem Gespräch entstehenden gemeinsamen Phantasien zur diagnostischen Bewertung nutzen können. Sie sind auch die Grundlage für die späteren Beratungen der Mitarbeitergruppe. Allein schon der systematische Austausch über Erfahrungen mit dem Klienten und die Würdigung seiner Lebensgeschichte führt in der Regel zu einer neugierigen und aufgeschlossenen 2 Christian Gaedt Aspekte eines psyhoanalytisch orientierten Konzeptes….. Haltung und erleichtert eine Einstellungsveränderung auf seiten der Gesprächsteilnehmer. Dadurch wird insbesondere die Gefahr chronischer negativer Gegenübertragungsreaktionen gemindert, die vor allem bei schweren aggressiven oder autoaggressiven Störungen die Atmosphäre einer Wohngruppe durch unterschwellige aggressive Ablehnung vergiften können. Diese chronischen negativen Übertragungsreaktionen können sich zum Beispiel darin zeigen, daß man den Betroffenen ständig unterkühlt, aber freundlich "abblitzen" läßt, wann immer er seine Bedürfnisse andeutet. Oder es kommt zu gehäuften Medikamentenverwechslungen oder Unfällen. Oder der Haß der anderen Mitbewohner wird nicht mehr gedämpft und entlädt sich. Oder der Arzt wird durch überzeichnete Darstellungen zu Höchstdosierungen verführt. Oder die Mitarbeiter verlieren im Umgang mit dem Betroffenen einfach ihre Phantasie. Ohne Phantasie aber gibt es keine Perspektive; und ohne Perspektive kann es keinen Therapieerfolg geben. Was heißt "psychoanalytisch orientiert"? Wie zeigt sich nun der spezielle psychoanalytisch orientierte Ansatz in dieser Gesprächsführung? Er ergibt sich aus den theoretischen Grundannahmen, auf die sich der Therapeut bezieht. Die theoretischen Annahmen sind der Bezugsrahmen, der die verschiedenen Einzelaspekte in einen Zusammenhang bringt. Die theoretischen Annahmen zwingen zu Differenzierungen der einzelnen Fragen und bestimmen die Bewertung der Antworten. So kann es zum Beispiel erst aufgrund von theoretischen Vorstellungen über die Entstehung von Empfindlichkeiten verständlich werden, warum alltägliche Situationen, etwa der Besuch von Angehörigen eines Mitbewohners, bei einem Klienten eine Krise auslöst. Oder warum für einen anderen Geschenke immer so problematisch sind, daß er sie sofort zerstören muß und tagelang gereizt bleibt. Man wird zum Beispiel beim Erheben der Vorgeschichte Trennungserlebnisse in der Kindheit stärker beachten, wenn man weiß, daß dadurch Verletzlichkeiten gesetzt werden, die noch im Erwachsenenalter bestimmend für das Verhalten sein können. Die Vielfältigkeit psychischer Störungen erfordert vielfältige Methoden. Ein Konzept zur Therapie von psychischen Störungen bei Menschen mit geistiger Behinderung muß zwangsläufig integrativ sein. Das schließt jedoch nicht aus, daß sich in den einzelnen Einrichtungen verschiedene Schwerpunkte herausbilden. In Neuerkerode orientiert sich die diagnostisch-therapeutische Praxis vor allem an Theorien, die einem psychoanalytischen Denkansatz folgen. Insofern ist die Bezeichnung "psychoanalytisch orientiert" zutreffend. Das bedeutet nicht, daß im Rahmen dieses Ansatzes Therapien mit dem klassischen psychoanalytischen Setting durchgeführt werden. Psychoanalytische Neurosenlehre Zu den theoretischen Grundlagen gehört zunächst die psychoanalytische Neurosentheorie. Es gibt keinen Grund anzunehmen, daß es neurotische Störungen bei Menschen mit einer geistigen Behinderung nicht geben könnte. Ich verweise hier auch auf das Referat von Görres (1993). Das Problem ist nur, daß neurotisch bedingte Störungen bei der Fülle von Auffälligkeiten oft untergehen, zumal die Betroffenen nicht über ihr Leid reden und man gar keine realistischen Chancen für eine Behandlung sieht. Man hat sich daran gewöhnt, bei geistig Behinderten abweichende Einstellungen und Verhaltensweisen zu finden, die man bei Nicht-Behinderten psychopathologisch definieren würde. Wer kommt schon auf den Gedanken, einen geistig behinderten jungen Mann zu einem Therapeuten zu schicken, weil er offensichtlich keinerlei sexuelles Interesse zeigt? Oder weil er sich nicht wehren kann und er sich sein Geld wegnehmen läßt. Wen stört die oft zu beobachtende Fügsamkeit und Unterwürfigkeit bei Menschen 3 Christian Gaedt Aspekte eines psyhoanalytisch orientierten Konzeptes….. mit geistiger Behinderung? Wer macht sich Gedanken, warum Fettleibigkeit so verbreitet ist oder warum auch organisch gesunde und erwachsene geistig behinderte Menschen nachts einnässen? Wer einen neurosenpsychologisch geschulten Blick hat, wird bei vielen Auffälligkeiten mit Recht den Verdacht auf einen neurotischen Konflikt haben. Auch wenn die Diagnose in den meisten Fällen nicht zu einer speziellen Therapie führen wird, wären neurosenpsychologische Grundkenntnisse bei den pädagogischen Betreuern sehr hilfreich. Sie würden sonst viele Situationen nicht verstehen können und müßten sie fehlinterpretieren. Für jeden, der mit Menschen mit geistiger Behinderung umgehen muß, wäre es nützlich, mit dem Konzept von unbewußten Konflikten und ihren psychischen Auswirkungen vertraut zu sein. Die Bedeutung der Lerntheorie Zu den notwendigen theoretischen Grundlagen gehört auch die Lerntheorie. Es kann keinen Zweifel daran geben, daß ein sehr großer Teil der Verhaltensauffälligkeiten, die man bei geistig behinderten Menschen findet, gelernt sind. Häufig kann man sie als Anpassungs- oder Durchsetzungsstrategien begreifen. Sie wären dann eigentlich gesunde Reaktionen. Wenn sie störend oder befremdend wirken, dann eben aus dem Grunde, daß die Bedingungen, unter denen sich die Betroffenen entwickeln mußten, befremdend waren. Sie mußten diese Verhaltensweisen lernen, um sich zu schützen oder sich durchzusetzen. Selbstverständlich kann auch jedes Symptom, das sich in Zusammenhang mit einer psychischen Erkrankung entwickelt hat, zu einem Durchsetzungsinstrument werden. Die Betroffenen lernen sehr schnell, wie sie mit ihren "Symptomen" ihre Betreuer beeindrucken und "konditionieren" können. Die Symptome erfahren also oft einen Bedeutungswandel. Meist besteht die ursprüngliche Störung nebenher noch weiter, so daß das gleiche Symptom in verschiedenen Bedeutungen auftritt. Dieser Bedeutungswandel ist ein schwieriges diagnostisches Problem, das sich oft nicht in befriedigender klarer Weise lösen läßt. Mit der Bewertung der Gegenübertragungsreaktionen hat gerade das psychoanalytisch orientierte diagnostische Vorgehen eine Möglichkeit zur Unterscheidung scheinbar gleicher "Symptome", die von anderen therapeutischen Konzepten nicht in gleicher Weise genutzt wird. Bewertung der Gegenübertragungsreaktionen Man wird diese Differenzierung nie mit wissenschaftlicher Objektivität vollziehen können, denn Gegenübertragungsreaktionen sind nicht objektivierbar. Es sind eben subjektive Anmutungen als Folge einer "affektiven Ansteckung". Allerdings kann dieses Instrument durch ein theoriegeleitetes Training verfeinert werden und ist dann hilfreich bei dem Versuch, instrumentalisierte Symptomatik, neurotische Störungen oder sogenannte Frühstörungen aufgrund verschiedener typischer affektiver Reaktionsmuster zu unterscheiden. Bei Hans G. standen die pädagogischen Betreuer zum Beispiel vor dem Problem, wie sie das in verschiedenen Situationen auftretende selbstverletzende Verhalten interpretieren sollten. Hans schlug sich mit großer Gewalt mit den Fäusten auf die Augen. Aufgrund der Beobachtungen des jahrelangen Verlaufes, auf die ich jetzt nicht näher eingehen kann, hatte man bei ihm eine depressive Störung diagnostiziert und ihn der Gruppe der "Selbst-Zerstörer" zugeordnet (vgl. Gaedt 1991). Entsprechend interpretierte man die Selbstverletzung als Ausdruck eines inneren Konfliktes zwischen einem internalisierten sadistischen Objekt und einem völlig entwerteten Selbst. Die Betreuer hatten keine Schwierigkeiten im Umgang mit den schweren Autoaggressionen, wenn Hans G. tief in 4 Christian Gaedt Aspekte eines psyhoanalytisch orientierten Konzeptes….. seiner Selbst-Krise war. Sie hinderten ihn entschieden an seinen selbstbeschädigenden Handlungen und blieben dabei zugewandt und wohlwollend. Im Ausklingen der Krise kam es jedoch immer wieder vor, daß die Betreuer bei dem Auftreten von autoaggressiven Verhalten nicht eingriffen und eher mit NichtBeachtung oder mit "Wenn....dann"-Konsequenzen versuchten, Einfluß zu nehmen. In den Besprechungen wurde deutlich, daß sich die Bedeutung der autoaggressiven Handlungen verändert hatte. Sie traten jetzt in den Dienst von mehr oder weniger bewußten Durchsetzungsstrategien. Problematisch war daran nur, daß es durchaus Rückfälle in die ursprüngliche Form autoaggressiven Handlungen gab, wobei die Gefahr bestand, daß weniger gut eingearbeitete Betreuer ihre Interventionen der veränderten inneren Situation bei Hans G. nicht anpassen konnten. In den Teambesprechungen gaben die Gegenübertragungsreaktionen eine gute Orientierung für die Beratung der Mitarbeiter. Übereinstimmend schilderten auch die unerfahrenen Mitarbeiter im Falle der Durchsetzungstrategien ihre Gefühle mit Sätzen wie "Das macht er mit mir nicht" oder "Ich lasse mich nicht erpressen". Im anderen Fall wurden dagegen Gefühle unbestimmbarer Angst oder Entsetzen, von Hilflosigkeit, aber auch von Mitleid genannt. Vorzüge und Grenzen der Verhaltenstherapie Diese Unterscheidung ist, wie gesagt, für den therapeutischen Umgang mit dem Betroffenen wichtig. Aus verständlichen Gründen neigen die pädagogischen Betreuer dazu, verhaltenstherapeutisch orientierte Denkweisen und Strategien vorzuziehen. Die Theorie ist plausibel und reduziert die verwirrende Realität ihres Alltages auf durchschaubare Zusammenhänge. Das schafft das Gefühl der Handlungskompetenz und verdrängt das lähmende Gefühl der Ratlosigkeit. Ein zusätzlicher Vorteil des verhaltenstherapeutischen Ansatzes aus der Sicht der Betreuer ist, daß der Beziehungsaspekt in den Hintergrund tritt. Die Beziehung wird mit Hilfe von klaren Regeln normiert, und die dabei gewonnene Distanz führt zweifellos zu einer Entlastung der Betreuer. Dieser Vorteil kann im Umgang mit geistig behinderten psychisch kranken Menschen sehr schnell zu einem Nachteil werden. Der Beziehungsaspekt ist hier ein unverzichtbares Element jeglicher Therapie (vgl. Dosen 1990). Wenn es sich um Klienten mit gelernten Verhaltensstörungen bei einer sonst ausgereiften psychischen Struktur handelt, wäre das verhaltenstherapeutische Vorgehen angemessen. Man setzt dann mit Recht eine Persönlichkeit voraus, die sich gut abgrenzen kann und außerdem imstande ist, das Verhalten nach einer mit den Betreuern gemeinsamen, nicht unbedingt bewußt erlebten Rationalität zu steuern. Bei vielen geistig behinderten Menschen mit psychischen Störungen ist das jedoch nicht der Fall. Für Hans G. in seiner depressiven Krise, verwickelt in einen existenzbedrohenden inneren Konflikt, wäre eine von den Betreuern forcierte äußere Norm völlig gleichgültig. Bei ihm käme es in diesen Situationen vielmehr darauf an, den letzten Rest seiner Beziehungsfähigkeit zu retten. Und das ist eben nur möglich, wenn die Betreuer sich empathisch auf seine innere Situation einlassen. Hans G. muß spüren können, daß es neben seiner chaotischen und bedrohlichen Innenwelt etwas unerschütterlich Wohlwollendes und Starkes gibt, dem er sich zuwenden kann. Rigorose Konsequenzen könnten ihm nicht helfen, sie würden nur sein verzerrtes Weltbild bestätigen. Es geht hier nicht um Lernen oder Verlernen, sondern um den Neubeginn oder die Festigung einer entwicklungsfreundlichen Beziehung. Vorbild wäre die erfahrene Mutter, die in ihrem Umgang mit ihrem Kind auch Konsequenz anstrebt, sich aber dabei von ihrer empathisch gewonnenen Einschätzung der Zumutbarkeit leiten läßt. Auf diesem Wege wird sie im Sinne einer entwicklungsfreundlichen Beziehung Verweigerung und Nachgiebigkeit flexibel handhaben können. 5 Christian Gaedt Aspekte eines psyhoanalytisch orientierten Konzeptes….. Theorie der Frühstörungen Ich habe in dem Beispiel Hans G. eine Symptomatik angedeutet, die sich weder mit dem neurosenpsychologischen noch mit dem lerntheoretischen Raster befriedigend erfassen läßt. Bei Hans G. wurde eine Störung des Selbst und eine pathologische Form der Selbstwertregulation diagnostiziert, was auf eine frühe Entwicklungsstörung hinweist. Die Theorie dieser "Frühstörungen", wie sie vor allem von Kernberg (1981), Kohut (1979), Jacobson (1964), Blanck und Blanck (1980, 1981) und Mahler et al. (1980) erarbeitet bzw. beschrieben wurde, hat sich zur Erklärung von psychopathologischen Auffälligkeiten bei Menschen mit einer geistigen Behinderung bewährt. Sie stützt sich auf Erkenntnisse der Ich-Psychologie und der psychoanalytischen Entwicklungspsychologie. Dabei spielt das Entwicklungsschema von Mahler und Mitarbeitern eine besonders wichtige Rolle. Die neueren Ergebnisse der Säuglingsforschung haben zwar zu wichtigen Modifikationen geführt, sie haben aber die Bedeutung dieses Entwicklungsschemas für die Diagnostik und Therapie von Frühstörungen nicht mindern können. Ich verweise in diesen Zusammenhang auf Lang (1988) und Baumgart (1991). Das diagnostisch-therapeutische Konzept in Neuerkerode orientiert sich unverändert an diesen theoretischen Grundlagen und vor allen an den Prinzipien der interaktionellen Therapie, wie sie von Heigl-Evers und Heigl (1983) beschrieben wurden. Bei der Entstehung von Frühstörungen geht es nicht um Hemmung von Antriebserlebnissen, die bei der Entstehung von neurotischen Konflikten eine so bedeutsame Rolle spielen. Es geht vielmehr um grundlegende Voraussetzungen einer gesunden menschlichen Entwicklung. Es geht um die gescheiterte Entwicklung einer sozial eingebundenen Autonomie. Dieser Kampf um Autonomie in sozialen Beziehungen beginnt mit dem ersten Atemzug. Mit der Geburt übernimmt der Säugling die Initiative und beginnt, über die Interaktion mit den primären Bezugspersonen für sich eine entwicklungsfreundliche Umwelt zu organisieren. Ich kann auf die faszinierenden Befunde nicht im einzelnen eingehen und verweise auf zusammenfassende Darstellungen von Trad (1986) und von Lang (1988). Ich beschränke mich auf einzelne Aspekte, die für die Psychopathologie bei Menschen mit einer geistigen Behinderung besonders wichtig sind. Exkurs: Das "Sekundäre psychosoziale Defizit" Ich will den psychoanalytisch orientierten und entwicklungsbezogenen Denkansatz bei der Diagnostik und Therapie am Beispiel des "sekundären psychosozialen Defizits" nach Levitas und Gilson (1988) verdeutlichen. Dabei geht es nicht um ein psychopathologisches Phänomen im engeren Sinn, also nicht um eine psychische Krankheit. Ich will vielmehr auf ein kulturspezifische Muster der Sozialisation aufmerksam machen, das im Zusammenwirken mit vorgegebenen organischen Schwächen in charakteristischer Weise psychische Strukturen und Funktionen bei geistig behinderten Menschen prägt. Levitas und Gilson haben mit dem von ihnen so benannten "psychosozialen Defizits" in erster Linie eine atypische Selbst-Formation beschrieben, die sie für die Persönlichkeitsentwicklung bei geistig behinderten Menschen von grundlegender Bedeutung halten. Zu diesem sekundären psychosozialen Defizit gehören:1.Ein "vermittelndes Selbst" ("mediated self"), 2.ein primitives Über-Ich und ein omnipotentes Ich-Ideal, 3.eine eingeschränkte Selbst-Steuerung, 4. die Gleichsetzung von Verboten mit Hemmungen, und 5.ein Enttwicklungsstillstand in der Mitte der Adoleszenz (charakterisiert durch eine primär autoerotische Sexualität und eine ausgeprägte Ambivalenz bezüglich der Autonomie) Zur Erklärung des psychosozialen Defizits greifen die Autoren auf die psychoanalytische Entwicklungstheorie und auf die Säuglingsforschung zurück. Der frühe Interaktionsprozeß ist, wie bereits 6 Christian Gaedt Aspekte eines psyhoanalytisch orientierten Konzeptes….. gesagt, auf die Initiative des Säuglings angewiesen. Es ist leicht vorstellbar, daß diese Initiative und auch die Feinabstimmung des Austausches mit der Mutter aufgrund von motorischen oder kognitiven Einschränkungen von geistig behinderten Säuglingen nicht optimal geleistet werden kann. Die Schwierigkeiten entstehen insbesondere in der Loslösungs- und Individuationsphase, in der die Mütter in Anpassung an die Bedürftigkeit der behinderten Kinder eine viel aktivere Rolle in der Interaktion übernehmen, als sie es bei nicht geistig behinderten Kindern tun würden. Sie haben die Tendenz, die Interaktion zu erzwingen und zu dominieren. Ich möchte an dieser Stelle noch einmal auf das Referat von Görres (1993) hinweisen, in dem diese Aussagen bestätigt werden. Die Kinder lernen die Welt von vornherein über eine dominante Mutter kennen. Hinzu kommt, daß bei diesen Kindern die motorische Entwicklung verzögert ist, was während der Übungsphase (Mahler et al. 1980) auf die Entwicklung des Selbst eine einschneidende Wirkung haben muß. Normalerweise baut sich das Kind in dieser Phase durch das Erleben der eigenen, wachsenden Kompetenz im Umgang mit der Welt seine narzißtischen Reserven auf. Das Kind ist berauscht von seinen eigenen Erfolgen und kann außerdem noch die Bewunderung der Eltern genießen. Das ist die Grundlage für eine wachsende Selbstachtung und ermöglicht dem Kind eine zunehmende Autonomie. Da bei einem behinderten Kind die Aktivitäten vorwiegend von den Eltern initiiert und geleitet werden, fällt zumindest die erste Quelle für die notwendige Selbstachtung weg. Die Entwicklung zur Autonomie wird dadurch zusätzlich erschwert, daß gerade in dieser Phase Therapie- und Förderprogramme beginnen, die nach dem gleichen unerbittlichen direktiven Interaktionsmuster verlaufen. So bleibt die Autonomieentwicklung zurück, während die Kompetenzentwicklung Fortschritte macht. Anstatt ein narzißtisch besetztes Selbst zu entwickeln, muß sich das Kind als ein reparationsbedürftiger Gegenstand erleben, von dem ein besseres Funktionieren gefordert wird (Levitas & Gilson 1988). Der Loslösungsprozeß, also die Entwicklung von stabilen Selbst- und Objektrepräsentanzen, schreitet trotzdem voran, die praktischen Erfahrungen in der Nutzung dieser Strukturen werden aber wegen der geringen Eigeninitiative und des dominanten Elternverhaltens ausbleiben. Die Wiederannäherungsphase, in der durch Internalisierungsprozesse die Autonomie weiter ausgebaut wird, wird unter diesen Bedingungen keinen markanten Entwicklungsschub bewirken können. Diese Phase verlängert sich bis ins Schulalter hinein. Das Selbst ist zwar abgegrenzt, die Grenzen sind jedoch nicht stabil. Es bleibt eine Selbst-Lücke, in die der Lehrer und andere Bezugspersonen eingefügt werden wie eine Plombe. Die entstehenden Selbst-Repräsentanzen schließen die betreuenden Personen zur Stützung der eigenen IchFunktionen mit ein. In einem viel stärkeren Maße als bei gesunden Kindern bleiben die betreuenden Personen die Vermittler zwischen dem behinderten Kind und der Umwelt. Sie werden als Hilfs-Ich gebraucht und gesucht. Atypische Selbst-Formation als Grundlage für die Psychopathologie bei Menschen mit geistiger Behinderung Levitas und Gilson (1988) weisen darauf hin, daß die beschriebene Störung des Selbst eine Schwachstelle während des ganzen Lebens bleibt. Damit sind nicht nur die ineffektive Selbstwertregulation und die Tendenz zur Abhängigkeit von dominanten Bezugspersonen erklärt. Die atypische Selbst-Formation erschwert auch die Entwicklung anderer psychischer Strukturen. So bleibt insbesondere das Über-Ich unreif, was die Selbstwertproblematik und die Schwierigkeiten mit einer autonomen Handlungskompetenz noch verschärft. Insgesamt bleibt die psychische Struktur labil und die soziale Integration tendenziell außengeleitet. Wie groß die "Selbst-Lücke" ist, hängt von den Anforderungen ab. Die Autonomie wird dann am größten und das "Selbst-Erleben" am intensivsten sein, wenn die soziale Anforderungsstruktur keine kognitiven oder emotionalen Überforderungen enthält. 7 Christian Gaedt Aspekte eines psyhoanalytisch orientierten Konzeptes….. Die beschriebene atypische Selbst-Formation ist nicht als ein angeborenes oder konstitutionelles Defizit zu verstehen, sondern als Ergebnis von Wechselwirkungen zwischen vorgegebenen Schwächen auf Seiten des behinderten Kindes, der emotionalen Befindlichkeit der Eltern, der defektorientierten Pflege- und Förderkultur mit der Überbetonung kognitiver Fähigkeiten und den kulturellen Anforderung z.B. über die Schule mit den unter diesen Bedingungen sich entwickelnden psychischen Strukturen. Diagnostik von Frühstörungen Ich betone noch einmal, das die beschriebenen Schwächen in der psychischen Struktur das Ergebnis einer durchschnittlichen, also unter den gegebenen Bedingungen gelungenen Sozialisation sind. Man kann sich vorstellen, wie die Entwicklung verlaufen wird, wenn die Eltern nicht nur depressiv zurückhaltend, sondern abweisend sind, wenn es zu Vernachlässigung oder Mißhandlungen kommt, wenn die Förderung ausbleibt und wenn das Kind unter isolierenden Bedingungen aufwachsen muß. Hier werden dann die Grundlagen für die schweren psychischen Fehlentwicklungen gelegt, die Psychopathologie bei geistig behinderten Menschen prägen. In der Diagnostik dieser Frühstörungen spielt das Aufspüren von persistierenden unreifen Objektbeziehungen eine große Rolle. Sie entsprechen frühen, affektiv besetzten Interaktionsmustern und dienen der emotionalen Orientierung. Als affektive Reaktionsbereitschaften regulieren sie das Verhalten. Wird ein Patient von einer unreifen Objektbeziehung beherrscht, so wird er seine soziale Umgebung entsprechend dem damit vorgegebenen affektiven Muster erleben und der vorherrschende Affekt wird auch sein Verhalten bestimmen. Unter Verkennung aller realen Eigenschaften wird dann der Betreuer etwa zu dem "vernichtend strafenden Vater", der panikartige Angst oder verzweifelte Wut auslöst. Formulierungsversuche, wie "vernichtend strafender Vater" oder "verschlingende Mutter", mögen etwas konstruiert und angesichts der methodischen Schwierigkeiten naiv klingen, sie haben sich aber bei dem Versuch, die Reaktualisierung früher Objektbeziehung sprachlich zu erfassen, bewährt. Es handelt sich hier um übertragungsähnliche Phänomene, die von Blanck und Blanck (1981) als Objektwiederholungen bezeichnet werden. Ihre Bedeutung für den Betreuungsalltag erhalten sie dadurch, daß sie von den Betroffenen immer und immer wieder reaktualisiert werden. Das führt zu den oft sehr dramatischen Inszenierungen in den Wohngruppen. Ich werde später noch darauf eingehen. Die Psychopathologie der Frühstörungen wird des weiteren durch mangelhaft ausgebildete IchFunktionen, durch unreife Abwehrmechanismen, durch frühe Formen der Angst und durch unreife ÜberIch-Strukturen geprägt. Entsprechende Fragen stehen daher im Zentrum des diagnostischen Prozesses. Auf den praktischen Umgang mit diesen diagnostischen Fragen kann ich hier nicht näher eingehen und verweise auf Blanck und Blanck (1981), die Methode der deskriptiven Entwicklungsdiagnose ausführlich darstellen. Betonen möchte ich lediglich, daß alle benannten psychopathologischen Elemente, von den unreifen Objektbeziehungen bis zu den unreifen Über-Ich-Strukturen, auf die Ausgestaltung der klinischen Bilder einen gleichsinnigen Effekt haben. Sie bewirken alle eine Tendenz des Individuums, die soziale Gruppe in starkem Maße miteinzubeziehen. Geistig Behinderte mit Frühstörungen gestalten ihre Konflikte vorwiegend in der sozialen Interaktion und verarbeiten sie weniger in internalisierten Strukturen. Welche Wechselwirkungen sich daraus mit institutionellen Bedingungen ergeben, haben Michels et al. (1990) beschrieben. Die Betreuer werden fast unvermeidbar in diese pathologischen Interaktionen verstrickt. Dies geschieht um so leichter, als dabei eigene frühe Problemfelder aktualisiert werden, die normalerweise völlig ihrer 8 Christian Gaedt Aspekte eines psyhoanalytisch orientierten Konzeptes….. Kontrolle entzogen sind. Um souverän bleiben zu können, müssen sie wenigstens eine ahnungsvolle Vorstellung von der inneren Welt der Betroffenen gewinnen. Hierfür ist die gemeinsame Ausformulierung gemeinsamer Phantasien etwa im Rahmen des Erstgespräches oder während der Supervision vielleicht der einzige Zugang. Görres (1992, vgl. Beitrag in diesem Buch) hat die Dechiffrierung als das wesentliche Element in der Neurosentherapie bezeichnet. Diese Dechiffrierkunst brauchen auch die Mitarbeiter im Umgang mit frühgestörten Patienten. Pathologische Identität Ich kehre nun zurück zu dem Diagnose-Schema. Der diagnostische Prozeß hat nicht das Ziel, abgrenzbare Krankheitsbilder oder Syndrome aufzuspüren. Es soll vielmehr ein Verständnis dafür geschaffen werden, wie der Betroffene sich sieht und wie er mit seinen gesunden und kranken Anteilen sein Leben organisiert. Es geht also um das Erfassen seiner Identität. Ich will in diesem Zusammenhang nur einen Aspekt aufgreifen, der bereits angeklungen ist. Ich habe erwähnt, daß sich über frühe Interaktionen globale Beurteilungsschablonen und emotionale Reaktionsbereitschaften ausbilden. Sie werden, an das Motivationssystem gekoppelt, zu Instrumenten, mit denen sich das Individuum seine soziale Umwelt erschließt. Im Laufe der normalen Entwicklung haben diese archaischen affektiven Reaktionsmuster nur eine flüchtige Bedeutung. Sie sind aber die Basis für das, was wir Identität nennen. Identität in diesem Sinne ist ein überdauerndes Schema des Selbsterlebens und des Selbsterkennens (Berman 1979; Erikson 1956). Das Erleben der eigenen Identität hat, so muß man annehmen, einen motivationalen Charakter. Das heißt, das Individuum will seinen speziellen Interaktionsstil mit den affektiven Begleiteffekten immer wieder erleben. Entsprechend dieses Bedürfnisses - man könnte von einem Bedürfnis nach Identitätserleben sprechen - wird es versuchen, das soziale Umfeld so zu beeinflussen, daß ein Wiedererleben möglich wird. Psychisch gestörte geistig behinderte Menschen können ihre Identität nur in einem sehr groben Muster ausdrücken. Oft stehen ihnen nur früherworbene Interaktionsmuster zur Verfügung. Ihre Inszenierungen sind daher entsprechend einfach, sie verletzen aber mit ihren Themen und mit ihrer Dramatik die gültigen Normen. Man könnte deshalb von abweichenden oder von pathologischen Identitätsformen sprechen. So kann man zum Beispiel immer wieder beobachten, wie die Betreuer durch stereotyp ablaufende Verhaltenssequenzen zu Interventionen gezwungen werden, die sie eigentlich aufgrund pädagogischer Einsichten vermeiden wollten. Oft enden die Auseinandersetzungen in gewalttätiger Unterwerfung oder sind mit anderen extrem ungünstigen Konsequenzen für die Betroffenen verbunden. Trotzdem werden diese Inszenierungen immer und immer wieder durchgeführt, gerade als ob die Betroffenen ein suchthaftes Verlangen danach hätten. Einen Sinn bekommt dieses Verhalten erst dann, wenn man es als Ergebnis einer verzerrten Anpassung begreift, wenn man als steuerndes Prinzip hinter dem absurd erscheinenden Verhalten eine pathologische Identität erkennt. Beim Vorliegen solcher Störungen wird besonders deutlich, und deshalb bin ich auf diese Problematik wenigstens kurz eingegangen, wie wichtig ein entwicklungsbezogener diagnostischer und therapeutischer Ansatz ist. Ein Versuch, diese Störungen mit Hilfe der klassischen psychiatrischen Diagnosen einzuordnen, würde keine Bedeutung für das therapeutische Vorgehen haben. Eine Störung, die als Kampf um das Erleben des eigenen Identitätsgefühles und seine Anerkennung begriffen werden muß, kann von den Betroffenen nicht einfach aufgegeben werden. Therapien müßten scheitern, wenn sie nicht neue Identitätserlebnisse eröffnen würden. Dafür aber muß erst einmal Verständnis für die speziellen 9 Christian Gaedt Aspekte eines psyhoanalytisch orientierten Konzeptes….. Entwicklungsbedürfnisse und die bestehenden Widerstände geschaffen werden. Eine psychoanalytisch orientierte, entwicklungsbezogene Denkweise kann hierzu einen wichtigen Beitrag leisten. Schlußbemerkungen Ich habe einige Aspekte des diagnostischen Prozesses bei psychisch gestörten geistig behinderten Menschen herausgearbeitet und dabei versucht zu zeigen, wie hilfreich eine psychodynamische Denkweise bei der Suche nach therapeutischen Wegen sein kann. Eine grundlegende Annahme ist dabei, daß aufgrund vieler ungünstiger Faktoren geistig behinderte Kinder schon in ihren frühen Interaktionen eine Vulnerabilität für psychische Störungen entwickeln. Diese früh erworbenen Schwächen wirken weiter und erschweren die Entwicklung einer in soziale Beziehungen eingebundenen Autonomie. Konsequenterweise konzentriert sich deshalb der psychodynamische Ansatz auf die Beziehungen der Betroffenen zu ihrer sozialen Umwelt, in der sie die Muster ihrer frühen Beziehungen reaktualisieren. Für den institutionell betreuten Klienten stehen also ihre Beziehungen zu ihren pädagogischen Betreuern im Zentrum der diagnostischen, aber auch der therapeutischen Aufmerksamkeit. Mehr als andere Konzepte betont dieser Ansatz die Bedeutung der emotionalen Atmosphäre für notwendige Entwicklungsschritte zur Überwindung psychischer Störungen oder zur Stabilisierung erreichter Erfolge. Mit Unterstützung der Therapeuten können die Betreuer die Störungen ihrer Klienten als stehengebliebene oder fehlgeleitete Entwicklung begreifen. Sie können Verständnis für ihre Eigenarten finden und Respekt entwickeln für die Art und Weise, wie sie mit ihren Beschränkungen versuchen, ihr Leben zu organisieren. Sie werden ihre eigenen Verstrickungen erahnen können und sich möglicherweise besser empathisch auf die deutlich werdenden entwicklungsnotwendigen Konflikte einstellen können. Sie werden schließlich auch lernen, einen Ausweg aus dem Teufelskreis der pathologischen Inszenierungen zu finden. Sie werden auch lernen, die spezifischen Vulnerabilitäten zu erkennen und aufgrund dieser Kenntnisse einen weniger belastenden Alltag für ihre Klienten organisieren können. Zum Schluß möchte ich noch ein Wort zu den Voraussetzungen eines psychodynamischen Ansatzes in einer Einrichtung sagen. Es ist kein Zufall, daß ein psychoanalytisch orientierter Ansatz erst in den letzten Jahren auf zunehmendes Interesse stößt. Die theoretischen Kenntnisse wären, wie zahlreiche Publikationen zu diesem Thema beweisen, schon vor Jahrzehnten verfügbar gewesen. Das hat sicherlich viele Gründe. Der Wichtigste ist, daß die Lebensbedingungen für geistig behinderte Menschen Psychotherapie als unsinnig erscheinen lassen mußten. Ich verstehe Psychotherapie als eine Methode, die Entwicklung ermöglicht. Sie hat daher entwicklungsfreundliche Lebensbedingungen zur Voraussetzung. Diese sind für Menschen mit einer geistigen Behinderung auch heute noch bei weitem nicht überall in der Bundesrepublik erreicht. Auf dem Kongreß "Psychisch krank und geistig behindert" vor drei Wochen in Königslutter wurden von einer Referentin (Rose 1993) in sehr drastischer Weise die Betreuungsverhältnisse für geistig Behinderte in einem norddeutschen Landeskrankenhaus geschildert. Es wäre eine Verspottung der Leiden dieser Menschen, wollte man ihren Zustand mit einem psychoanalytischen Vokabular beschreiben oder unter diesen Umständen über Psychotherapie eine Entwicklung ihrer Persönlichkeit anstreben. Hier gibt es für eine differenzierte Diagnostik keine Fragen und für eine psychotherapeutisch orientierte Therapie keine Ziele. Wo immer solche Mißstände vorherrschen, hat die Normalisierung der Lebensbedingungen Vorrang vor Diagnostik und Therapie. Für viele psychisch gestörte Menschen mit einer geistigen Behinderung hat sich die Situation jedoch soweit verändert, daß Psychotherapie eine berechtigte und sinnvolle Forderung ist. Dann stößt man auf eine weitere Schwierigkeit. Man wird die pädagogischen Mitarbeiter nicht für die psychoanalytische 10 Christian Gaedt Aspekte eines psyhoanalytisch orientierten Konzeptes….. Theorie gewinnen können, wenn sie ihnen in ihrer Ausbildung nicht oder nur sehr oberflächlich nahegebracht wurde. Ohne eine positive Einstellung auf Seiten der Mitarbeiter zu diesem Konzept und ohne Vorkenntnisse wird eine psychotherapeutische Kultur in einer Einrichtung nicht verwirklicht werden können. Und ohne diese Kultur bleibt der Therapeut ein interessanter, aber wirkungsloser Einzelkämpfer. Es ist also die Frage, wie man psychoanalytisch orientierte Theorien in die pädagogische Ausbildung integrieren kann und wie man, mit oder ohne die traditionellen Ausbildungsinstitute, Weiterbildungsmöglichkeiten entwickeln kann. Das sind schwierige, aber lösbare Aufgaben. Der damit erreichbare Beitrag zur Humanisierung der Bedingungen, unter denen psychisch kranke geistig Behinderte leben und ihre Betreuer arbeiten müssen, läßt alle Anstrengungen gerechtfertigt erscheinen. 11 Christian Gaedt Aspekte eines psyhoanalytisch orientierten Konzeptes….. Literatur Baumgart, M. (1991). Psychoanalyse und Säuglingsforschung: Versuch einer Integration unter Berücksichtigung methodischer Unterschiede. Psyche 9 (45), 780-809 Berman, S. (1979). The psychodynamic aspects of behavior. In: J.D.Noshpitz (Ed.), Basic Handbook of Child Psychiatry, Vol.II. New York: Basic Books Blanck, G. & Blanck, R. (1980). Ich-Psychologie II. Psychoanalytische Entwicklungspsychologie. Stuttgart: Klett-Cotta Blanck, G. & Blanck, R. (1981). Angewandte Ich-Psychologie. 2.Auflage. Stuttgart: Klett-Cotta Dosen, A. (1990) Developmental-Dynamic Relationship Therapy. In: A.Dosen, A.van Gennep & G.J.Zwanikken (Eds.), Treatment of Mental Illness and Behavioral Disorder in the Mentally Retarded. 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