Christian Gaedt Psychisch krank und geistig behindert…. Psychisch kranke geistig Behinderte Das Problem der "dual diagnosis“1 Einleitung Noch immer leben Menschen mit einer geistigen Behinderung in psychiatrischen Krankenhäusern, noch immer finden sich in den Lehrbüchern Kapitel über Oligophrene und noch immer dient der Grad der Intelligenzminderung als psychiatrisches Klassifikationskriterium. Und ohne sich dabei viel zu denken, spricht man auch bei geistig Behinderten von stationärer und teilstationärer Betreuung. Die Psychiatrisierung von Menschen mit einer geistigen Behinderung ist also noch lange nicht überwunden. Als Psychiater kann man sich unter diesen Bedingungen nicht unbefangen psychischen Störungen bei geistig Behinderten zuwenden. Man muß mit Mißverständnissen rechnen. Auf der anderen Seite drängt dieses Problem. Psychische Störungen überfordern pädagogische Betreuungskonzepte und verschärfen in dramatischer Weise den bestehenden Personalnotstand. Die Psychiatrie fühlt sich nicht richtig zuständig und kann meist keine wirksame Hilfe anbieten. In den USA, wo man schnell einprägsam Etiketten findet, spricht man von "dual diagnosis". Ein problematischer Begriff (Szymanski u. Grossmann, 1984), der sich aber durchgesetzt hat, weil er das Problem prägnant kennzeichnet. Die "zweifache Diagnose" macht eine klare Zuordnung unmöglich und führt zwangsläufig zu einem hilflosen Hin- und Herschieben von schwierigen Klienten bzw. Patienten. In Deutschland wurde dieses Problem lange Zeit nicht beachtet; es lag in einer Tabuzone. Seit wenigen Jahren beginnt man vorsichtig, sich diesem Problem zu nähern. Ich denke hier an ein nicht veröffentlichtes Expertengespräch der Lebenshilfe (1987), auch an die Neuerkeröder Foren (Gaedt, 1986, 1988 und 1990) und an die DGSP-Tagung in Viersen im September 1990. Vor wenigen Tagen hat auch ein erstes Gespräch zu diesem Thema im Landessozialamt Niedersachsen stattgefunden. Es ist also etwas in Bewegung; man sucht nach neuen Wegen. Hierzu will ich in meinem Referat einen Beitrag leisten. Dabei geht es mir vor allem, um eine Relativierung der Überbetonung hirnorganischer Störungen, um eine Würdigung der psychonalytischen Entwicklungstheorie (Blanck u. Blanck, 1979 u. 1981; Mahler, 1983) und um die Forderung nach einem neuen Schwerpunkt in der Psychiatrie. Die vielfältigen psychischen Störungen bei geistig Behinderten und die Bedeutung frühkindlicher Entwicklungsstörungen Es kann heute kein Zweifel mehr daran bestehen, daß psychische Störungen bei geistig behinderten 1 Erschienen in: MAUTHE J.J, KRUKENBERG-BATEMAN, I. (Hrsg.) (1990) Psychiatrie in Deutschland. Tagungsband zu den 8. Psychiatrie-Tagen Königslutter 1990. 2. Auflage. 1992, Vereinsverlag Königslutter. 1 Christian Gaedt Psychisch krank und geistig behindert…. Menschen häufiger als in der Normalbevölkerung sind. An dieser größeren Häufigkeit ändert sich auch dann nichts, wenn geistig behinderte Menschen in den von den pädagogischen Konzepten her angestrebten normalen Lebensbedingung aufwachsen bzw. leben (Stark, Menolascino, Albarelli u. Gray, 1988). Es wäre schwer zu verstehen, wenn es anders wäre. Denn Etikettierungsprozesse und isolierende Betreuung sind nicht die einzigen Risiken, denen ein geistig behinderter Mensch ausgesetzt ist. Wir wissen heute besser als zu Freuds Zeiten, welche Bedeutung die frühe Kindheitsentwicklung für die psychische Gesundheit hat. Es geht nicht nur um Hemmung und Verdrängung von Triebmpulsen als Ursprung von neurotischen Konflikten. Selbstverständlich spielen auch diese Störungen bei geistig Behinderten eine bedeutsame Rolle. Ich möchte darauf nicht näher eingehen. Es handelt sich hier um eher reifere Störungen, die nicht so charakteristisch für psychische Auffälligkeiten bei geistig Behinderten sind. Diese Störungen entstehen noch früher. Man muß hier auf die frühesten Interaktionen zwischen den primären Bezugspersonen, in der Regel ist es die Mutter und dem Säugling zurückgehen. Mit der Geburt übernimmt der Säugling die Initiative, und beginnt über sein Verhalten, die Interaktion zu steuern. Er organisiert sich damit eine entwicklungsfreundliche Umwelt (Trad, 1986; Stork, 1986; Lang, 1988). Über die Erfahrungen mit den früheren Interaktionen, also über die Erfahrungen mit den ersten Objektbeziehungen, entwickeln sich die psychischen Funktionen und Strukturen, die ein menschliches Leben, d.h. ein Leben in sozialen Beziehungen, möglich machen. Diese frühen Beziehungen entscheiden mit über die Qualität und Stabilität der "Ichfunktionen". Sie dienen der Anpassung an die Realität. Der Säugling muß lernen, seine Impulse zu kontrollieren, Frustrationen zu ertragen, Bedürfnisse aufzuschieben, innen und außen zu unterscheiden, sich als eigenständige, abgegrenzte Person zu erleben und vieles andere mehr. Die Reifung dieser Ichfunktionen ist eingebettet in die Differenzierung der Objektbeziehungen, die am nach langwierigen Integrationsund Identifikationsprozessen dazu führt, daß das Kind sich und andere als eigene, einheitliche Personen mit unterschiedlichen, z.T. widersprüchlichen Eigenschaften sehen und ertragen kann. Mit den Objektbeziehungen differenzieren sich auch die untrennbar mit ihnen verbundenen globalen Beurteilungsschablonen. Sie dienen der emotionalen Orientierung, sind also affektive Reaktionsbereitschaften. Objektbeziehungen mit ihren effektiven Reaktionsbereitschaften blieben bei gestörten Entwicklungen auch im späteren Leben leicht aktivierbar und führen zu schwer beeinflußbaren Reinszenierungen, die wir dann als Verhaltensstörungen wahrnehmen. Verwoben mit der Reifung der Ich-Funktionen und der Differenzierung der Objektbeziehungen vollzieht sich die Ausbildung des Selbst. Eine gesunde Selbst-Entwicklung hat zwei Voraussetzungen. Zum einen vermitteln die sich entwickelnden Ich-Funktionen dem Kind das Gefühl einer wachsenden Handlungsmacht und damit ein Gefühl der Größe. Zum anderen ist es die liebevolle Bewunderung der Eltern, mit der sie das Kind in seiner Größe wahrnehmen und akzeptieren. Können diese beiden Quellen nicht ausreichend genutzt werden, entstehen lebenslange Störungen; sie zeigen sich etwa in unrealistischen Größenvorstellungen oder, was häufiger ist, in den vielfältigen Formen der Selbstentwertung. Unter den Bedingungen einer eingeschränkten Funktionsfähigkeit des Zentralnervensystems kann der Säugling über die von ihm geforderten regulativen Einflüsse auf seine frühen Interaktionen nicht effektiv verfügen. Er wird also auch unter sonst optimalen Bedingungen die für seine Entwicklung entscheidende Eltern-Kind-Beziehung nicht ausreichend nutzen können. Die Entwicklung der Objektivbeziehungen bleiben ganz oder teilweise auf einer frühen Stufe stehen; entsprechend unreif bleiben die Ich-Funktionen und die aktivierbaren effektiven 2 Christian Gaedt Psychisch krank und geistig behindert…. Reaktionsbereitschaften. Das Selbsterleben bleibt unentwickelt und labil. Hirnorganische Störungen wirken also als negative Katalysatoren. Sie verlangsamen und, weil nicht alle Prozesse in gleicher Weise betroffen sind, verzerren die Entwicklung. Sie werden zu einem Webfehler, der von Entwicklungsstufe zu Entwicklungsstufe weitergegeben wird. Der organische Defekt wird so in eine psychische Störung transformiert, die sich im späteren Leben als Verhaltensauffälligkeiten manifestiert. Es kommt hinzu. daß eine frühkindliche Hirnschädigung nicht nur den betroffenen Säugling in seinem Austausch mit den Eltern behindert. In der Regel schafft er auch Behinderungen auf Seiten der Eltern. Ihre Bereitschaft, sich auf die Interaktion mit einem behinderten Kind einzulassen ist erschwert, weil die Eltern selbst, insbesondere in der ersten Zeit nach der Geburt, oft monatelang, manchmal sogar jahrelang in einem psychischen Ausnahmezustand sind. Enttäuschung, Scham und Schuldgefühle beherrschen ihr Erleben und machen einen unbefangenen Umgang mit dem Säugling unmöglich. Sie sind überfordert, wenn sie sich auf den verlangsamten und oft auch verzerrten Austausch mit ihrem Kind einlassen sollen; ihnen fehlt dann die Fähigkeit zur einfühlenden Steuerung; so können sie weder besänftigen, noch Grenzen setzten; sie können nicht im richtigen Maße zu gewagten Aktionen ermuntern, aber auch nicht zum richtigen Zeitpunkt Angstsignale verstärken. Ihre Unterstützung für das sich entwickelnde Ich, also ihre Hilfs-Ich-Funktion, wird von ihnen nur unzureichend wahrgenommen werden können. Dieses doppelte Risiko führt zu einer Verzögerung und Verzerrung der Entwicklung. Im späteren Leben sehen wir dann als Manifestation dieser Entwicklungsstörungen eine Vielfalt von psychischen Auffälligkeiten. Wenn zum Beispiel ein Mitarbeiter das Gefühl hat, daß er nur der verlängerte Arm eines Betreuten ist, und dieser erbarmungslos seine Bedürfnisse über ihn erfüllt sehen will, kann man annehmen, daß hier die Ich/Du Grenze nicht scharf gezogen ist, daß der Betreute andere Personen mit eigenen Bedürfnissen gar nicht wahrnehmen kann. Man kann davon ausgehen, daß sein Erleben noch weitgehend, sicherlich nicht vollständig, von symbiotischen Erwartungen geprägt ist, daß er, auf einen Nenner gebracht, sich als Teil einer verwöhnenden und ausbeutbaren Mutter erlebt, seine Rolle, die in der Wiederholung dieser frühen Objektbeziehung die Betreuer übernehmen müssen. Wenn der Betreffende dann bei kleinsten Enttäuschungen in maßlose zerstörerische Wut gerät, zeigt das einen Wechsel der dominierenden Objektbeziehung mit der entsprechenden effektiven Reaktionsbereitschaft an ("Wut auf die böse, versagende Mutter"). Gleichzeitig wird hier ein Defizit an Frustrationstoleranz und Impulskontrolle deutlich. Entsprechend seiner mangelhaften Ich/Du- Differenzierung wird er seine Wut an dem enttäuschenden Mitarbeiter, aber auch bei sich selbst auslassen. Bei seinem Entwicklungsstand wird man erwarten, daß er den betreffenden Mitarbeiter mit Haß und Aggression besetzt und daß er versuchen wird, mit anderen Mitarbeitern seine Objektbeziehung neu zu reaktualisieren. Er kann also noch nicht gute und schlechte Erfahrung an ein und derselben Person erleben und muß, wenn er nicht beziehungslos werden will, auf den unreifen Abwehrmechanismus der Spaltung zurückgreifen. Alle positiven Erwartungen werden auf die einen, alle Angst und Wut erregenden Vorstellungen auf die anderen übertragen. Weil damit latente Konkurrenzkonflikte aktiviert werden, ist es verständlich, daß diese Spaltungstendenzen, wenn sie nicht erkannt werden, in die Mitarbeitergruppe sehr schnell eine zerstörerische Dynamik bringen kann. Ich fasse noch einmal die Charakteristika zusammen, wie sie für viele psychische Auffälligkeiten bei geistig Behinderten typisch sind. Sie sollten mit diesem Beispiel veranschaulicht werden. In diesen Störungen manifestieren sich Entwicklungsdefizite, etwa mangelhaft ausgebildete IchFunktionen oder unreife Objektbeziehungen. Die Dynamik der Inszenierungen hat viel Ähnlichkeit mit den oft auch in der normalen Entwicklung dramatischen 3 Christian Gaedt Psychisch krank und geistig behindert…. Kämpfen des sich entwickelnden Kindes um Loslösung und Autonomie. Weil es sich um Entwicklungsschäden handelt, sind diese Störungen immer chronisch und schwer zu behandeln; oft muß man sich mit stabilisierenden Maßnahmen begnügen. Die Mitarbeiter spielen dabei immer eine entscheidende Rolle, weil sie in die Inszenierungen mit einbezogen werden. Ich bin bisher nicht auf die Bedeutung von Lernprozessen zur Erklärung von psychischen Auffälligkeiten bei geistig Behinderten eingegangen. Natürlich stehen am Anfang des diagnostischen Prozesses beobachtbare, störende Verhaltensauffälligkeiten. Selbstverständlich spielen dabei gelernte Verhaltenstendenzen eine große Rolle. Viele haben keinen Krankheitswert und sind als Anpassungs- und Durchsetzungsstrategien aufzufassen. Wenn sie störend oder bizarr wirken, dann weil die Betroffenen unter den Bedingungen, unter denen sie sich entwickeln mußten, keine anderen Möglichkeiten sahen, sich zu schützen oder sich durchzusetzen. Ich brauche, so glaube ich, hierfür keine Beispiele anführen. Und es ist natürlich so, daß jede andere Störung, also auch Symptome von Krankheiten, in der alltäglichen Lebensbewältigung eine neue Bedeutung bekommen kann. Sie können zu einem Instrument werden, mit denen sonst nicht durchsetzbare Bedürfnisse realisiert werden können. Wenn also ein Heimbewohner erlebt, welche Angst er durch seine aggressiven Durchbrüche bei Betreuern und anderen Heimbewohnern erzeugen kann, wird er sie früher oder später gezielt einsetzen, auch wenn seine mangelhafte Impulskontrolle. Überhaupt nicht überfordert ist. Oft ist es so, daß die ursprüngliche Störung weiter besteht, so daß das gleiche Verhalten mit einer jeweils unterschiedlichen Bedeutung auftreten kann. Die Verhaltenstherapie hat also auch bei geistig Behinderten keinen universellen Gültigkeitsbereich; sie braucht oft eine Ergänzung und, weil keine Therapie ohne Risiko ist, gelegentlich auch ein Korrektiv. Verhaltenstherapeutische Strategien verführen die betreuenden Mitarbeiter dazu, sich mit einem vereinfachten Konsequenzendenken zufrieden zu geben und den Beziehungsaspekt auszublenden. Das ist deswegen so verführerisch, weil es Distanz schafft, also entlastet, und das Gefühl der Kompetenz gibt. Soweit es sich um gelernte störende Verhaltensweisen handelt, würde die damit vermittelte Einstellung nichts schaden. Man geht ja hier von Menschen aus, die sich gut abgrenzen können und ihr Verhalten nach einer zumindest unbewußten Rationalität anpassen wollen. Das ist jedoch bei psychisch gestörten geistig Behinderten oft nicht der Fall. Hier geht es häufig um Abgrenzungs- und Loslösungsprozesse, um die Entwicklung von Identität oder aber um das Erleben erreichter Eigenständigkeit. Die Anpassung an eine Wohngruppennorm ist für jemanden, der um seine Identität kämpft und in den Betreuern die Wiederholung seiner feindlichen frühkindlichen Objekte sieht, unwichtig. Weder Belohnungen noch Strafen haben für ihn eine ausschlaggebende Bedeutung. Nehmen wir z.B. ein geistig behindertes Kind, das in der Aktualisierung einer frühen Entwicklungsphase seine Selbständigkeit betonen und gleichzeitig die sichernde Beziehung testen will und die Betreuer mit dem ständigen Hin und Her mit dem "Ich will/ich will nicht" zur Verzweiflung bringt. Die erfahrene Mutter kennt dieses Verhalten. Es ist auch für sie schwer auszuhalten. Sie wird sicherlich ein konsequentes Verhalten anstreben, sie wird aber auch, geleitet von ihrer empathisch gewonnenen Einschätzung der Zumutbarkeit, Verweigerung und Nachgiebigkeit flexibel handhaben; sie wird so eine entwicklungsfreundliche Beziehung zu ihrem Kind absichern. Denn es geht hier um Entwicklung und nicht um Lernen und Verlernen. In einem verhaltenstherapeutisch orientierten Wohngruppenmilieu - man bedenke, daß es sich hier nicht um kurze Zeiträume handelt, sondern um viele Monate oder Jahre - besteht die Gefahr, daß das Kind von den aufeinander eingeschworenen Betreuern nichts anderes lernt als seine Hilflosigkeit und 4 Christian Gaedt Psychisch krank und geistig behindert…. nichts anderes erfährt als seine Einsamkeit. Es bleiben ihm zwei Möglichkeiten. Einmal die resignative und oberflächliche Übernahme der geforderten Anpassung, der Weg also in die "stille Depression", oder ein nicht endender haßerfüllter Machtkampf. Die Besonderheiten diagnostisch-therapeutischer Dienste zur Betreuung psychisch kranker geistig Behinderter Ich kann im folgenden nur kurz auf die Frage eingehen, wie psychiatrische Dienste für geistig Behinderte organisiert werden sollten. Ich bin der Meinung, daß eine einfache Ausdehnung der Psychiatrie nicht ausreicht. Die Besonderheiten der geistig Behinderten legen es vielmehr nahe, innerhalb der Psychiatrie einen eigenständigen Schwerpunkt zu bilden. Zu den Besonderheiten, die der Patient mit sich bringt, habe ich bereits bei meinen Ausführungen über die Entwicklungsdefizite etwas gesagt. Die Verflechtung dieser psychischen Entwicklungsstörungen mit einer jeweils unterschiedlichen Einschränkung der Intelligenz und den Anpassungsleistungen an besondere Lebensbedingungen ergeben oft Störungsbilder, die die traditionelle psychiatrische Diagnostik überfordern. Auch die üblichen Therapiestrategien können nicht einfach übertragen werden. Zielsetzungen und Realisierungsmöglichkeiten sind bei geistig Behinderten anders. Auch die Frage der Auswirkungen hirnorganischer Störungen wird in diesem Zusammenhang wieder interessant, z.B. bei der Behandlung der Psychopharmakawirkungen. Die meisten Fragen sind ungeklärt. Hier eröffnet sich ein neues Praxisfeld, für das das notwendige Wissen erst noch erarbeitet werden muß. Aber ein psychiatrisch kranker geistig Behinderter bringt noch andere Besonderheiten mit sich, die Diagnostik und Therapie beeinflussen, und die beachtet werden müssen, wenn man sie zu seinem Nutzen betreiben will. Ich meine hier seine besondere gesellschaftliche Situation, die ich kurz charkaterisieren will: Sie benötigen zur Bewältigung ihres Alltages pädagogische Hilfen; sie leben in Institutionen oder als Betreute in der Familie, auf jeden Fall trägt ein anderer die Verantwortung für sie; sie haben keine strafrechtliche Verantwortung, Strafen sind verpönt, bzw. verboten; auf der anderen Seite sind ihre bürgerlichen Rechte eingeschränkt, bzw. werden weniger beachtet; Zwangsmaßnahmen und Psychopharmaka werden leicht zum Ersatz für Strafen; sie haben keine ernstgenommene gesellschaftliche Lebensperspektive; gemessen an den Möglichkeiten eines Normalbürgers, bleibt es relativ belanglos, wie sehr sie sich anstrengen, und ob sie psychisch gesund oder krank sind; sie sind nach wie vor Opfer von Entwertungstendenzen. Auch heute noch gelten sie als "geburtsunwürdig"; sie haben kaum Einfluß auf ihre Lebensbedingungen; sie müssen in der Regel in Gruppen leben oder als erwachsen gewordene Kinder bei ihren Eltern; nur selten haben sie eine Wahlmöglichkeit und können sich aussuchen, mit wem sie leben und von wem sie betreut werden wollen; die Anforderungen der "Normalgesellschaft" sind für sie oft auch dann eine Überforderung, wenn sie pädagogisch gut betreut werden. Die herkömmliche Heimunterbringung bedeutet für sie andererseits eine "Entvergesellschaftung" und eine entwürdigende Unterforderung. Diese Besonderheiten haben oft einen entscheidenden Einfluß auf die, die als Diagnostiker oder Therapeuten gerufen werden. Oft ist es schwierig, zu durchschauen, ob hier Therapie oder aber Anpassung erhofft wird. Oft wird es unvermeidbar, daß mit dem Etikett Therapie die Disziplinierung über Zwangsmaßnahmen oder hochdosierte Psychopharmake verbrämt wird. Es ist also die Frage, wie man einen psychiatrischen Dienst so organisieren kann, daß die diagnostischtherapeutischen Mitarbeiter diese Besonderheiten im Auge behalten und ihre Arbeit im Interesse der Betroffenen durchführen können. 5 Christian Gaedt Psychisch krank und geistig behindert…. Ein wichtiger Beeinflussungsfaktor diagnostisch-therapeutischer Prozesse sind die pädagogischen Betreuer oder besser gesagt die Betreuergruppen. Als weiterer Faktor kommen in vielen Fällen noch die Eltern hinzu. Ihre Bedeutung ergibt sich vor allen auch daraus, daß sie in die Gruppenpathologie auf für sie schwer durchschaubare Weise mit einbezogen werden. Das ist bei der Art der Störungen, wie sie bei psychisch kranken Menschen mit einer geistigen Behinderung vorliegen, nicht zu vermeiden. Sie neigen zur Externalisierung, sie leben mehr in der Situation, als in ihren inneren Strukturen; sie inszenieren ihr Innenleben in der Außenwelt. Die Betreuer werden zu Komplizen, zu Tätern oder zu Opfern in den von den Betroffenen inszenierten Dramen. Die schleichende Entwicklung unbewußter ablehnender oder aggressiver Affekte auf Seiten der Betreuer ist fast unvermeidbar. Sie manifestieren sich in Form von zähen Unterwerfungskämpfen oder in pädagogisch verbrämten übermäßigen Erziehungsmaßnahmen. Häufiger ist jedoch der innere Rückzug der Betreuer. Dies kann dem Therapeuten nicht gleichgültig sein. Es ist völlig ausgeschlossen, ohne die engagierte Unterstützung der Betreuergruppen eine ausreichend gute Diagnostik oder eine einigermaßen hilfreiche Therapie oder auch nur gruppenstabilisierende Maßnahmen durchzuführen. Die Betreuergruppen haben den Therapeuten praktisch in der Hand. Besteht kein kooperatives Verhältnis zum Therapeuten, bestimmen sie auf vielfältige indirekte und direkte Weise, was geschieht bzw. welchen Effekt es hat. Ein Therapeut braucht Zeit und Gelegenheit, sich mit der Situation der Betreuer immer wieder neu vertraut machen zu können. Nur dann wird er den notwendigen Einfluß haben, um zum Beispiel die geschilderten schleichenden Gegenübertragungsprozesse eindämmen zu können und eine gleichberechtigte Kooperation mit der Betreuergruppe aufzubauen. Gleichberechtigt muß die Zusammenarbeit schon aus dem Grunde sein, weil Therapie bei geistig Behinderten immer in die pädagogische Arbeit eingebettet ist und hier sowohl ihre Zielsetzung als auch ihre Grenzen findet. Ein diagnostisch-therapeutischer Dienst, der aufgrund seiner Organisationsform nur punktuell Kontakte mit den Betreuergruppen haben kann, wird wenig effektiv sein. Zusammenfassung Die Vielfalt der psychischen Störungsbilder bei Menschen mit geistiger Behinderung läßt sich nicht mit dem Hinweis auf organische Hirnschädigungen begreifen. Die Bedeutung von Lernprozessen kann nicht bestritten werden, wird aber überschätzt. In der Dynamik vieler Störungsbilder erkennt man, wenn auch in verzerrter und modifizierter Form, die verschiedenen Stadien der frühkindlichen Entwicklung wieder. Mangelhaft ausgebildete Ichfunktionen, Re-Aktualisierung früher Objektbeziehungen und pathologische Selbstwertregulationen spielen dabei eine große Rolle. Weil es sich um Entwicklungsstörungen handelt, sind die betreffenden Störungen chronisch und schwer zu behandeln. Entsprechend bedeutsam für diagnostische und therapeutische Überlegungen sind neben den Konzepten der Verhaltenstherapie Kenntnisse der ichpsychologischen Entwicklungstheorie und der Neurosenlehre. Wegen der bei Frühstörungen unvermeidlichen Einbeziehung der Betreuergruppen bzw. der Angehörigen hat die Aufdeckung pathologischer Inszenierungen und unreifer Abwehrprozesse in der Beratung einen hohen Stellenwert. Wegen der Häufigkeit schwerer psychischer Störungen ist der Ausbau diagnostisch-therapeutischer Dienste und stationärer Behandlungsmöglichkeiten notwendig. Eine einfache Ausdehnung der 6 Christian Gaedt Psychisch krank und geistig behindert…. Psychiatrie ist nicht ausreichend. Innerhalb einer sich differenzierenden Psychiatrie muß die Betreuung von psychisch kranken geistig Behinderten ein eigener Schwerpunkt werden. Nur so kann der bestehende Wissensrückstand aufgeholt werden. Im Hinblick auf die Bedeutung der Mitarbeitergruppen für den diagnostisch-therapeutischen Prozeß und die Verschränkung von pädagogischer Arbeit und Therapie ist eine enge Verzahnung mit den pädagogischen Einrichtungen unverzichtbar. Da es sich meist um chronische Störungen handelt, muß die Therapie in den gewohnten Lebensräumen stattfinden. 7 Christian Gaedt Psychisch krank und geistig behindert…. Literatur BLANCK, G. u. BLANCK, R. . Ich-Psychologie II. 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