Interview Der aktuelle Entwurf der neuen EU-Tierversuchsrichtlinie Ein Interview mit Regina Binder und Heidemarie Ratsch ALTEXethik: Nach fast einem viertel Jahrhundert wurde nun endlich die Direktive 86/609/EEC zum Schutz von Versuchstieren überarbeitet. Viele Tierschutzorganisationen hoffen mit dieser Neufassung auf eine grundlegende Verbesserung des Status von Versuchstieren. Wie ist die derzeitige Fassung zu bewerten? Binder: Der Tierschutz hat große Hoffnungen in die Neufassung der Tierversuchs-Richtlinie gesetzt, zumal das erklärte Ziel der EU darin bestand, nicht nur die Wettbewerbsbedingungen zwischen den Forschungseinrichtungen zu harmonisieren, sondern auch den Schutz der Versuchstiere durch eine Verschärfung der gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften zu verbessern. Nach mehrjährigen Vorarbeiten, in deren Verlauf auch eine umfangreiche Bürger- und Expertenbefragung durchgeführt worden war, legte die Europäische Kommission am 5. November 2008 den Entwurf einer neuen TierversuchsRichtlinie vor. Dieser Entwurf war vor allem deshalb zu begrüßen, weil er eine generelle Genehmigungspflicht für alle Versuchsvorhaben und verschiedene Maßnahmen zur Erhöhung der Transparenz im Bereich der tierexperimentellen Forschung vorsah. Im Rahmen der parlamentarischen Beratungen am 5. Mai 2009 wurde der Kommissionsentwurf in einigen Bereichen allerdings abgeschwächt, was ganz und gar ungewöhnlich ist, da gerade das Europäische Parlament in der Regel eher tierschutzorientiert agiert. Trotzdem enthält auch der aktuelle Entwurf eine Reihe von Neuerungen, die aus der Sicht des Tierschutzes zu begrüßen sind. So sollen die Mitgliedsstaaten insbesondere dazu verpflichtet werden, im Rahmen des Genehmigungsverfahren ein „ethical review“ durchzuführen, was eine obligatorische Belastungsbeurteilung nach standardisierten Kriterien sowie die Einrichtung entsprechender Gremien voraussetzt. Der Geltungsbereich der Richtlinie soll auf tierexperimentelle Vorhaben in der Grundlagenforschung ausgedehnt werden und künftig nicht nur (selbständig lebensfähige) Wirbeltiere, sondern auch Föten und bestimmte Gruppen wirbelloser Tiere umfassen. Schließlich ist vorgesehen, dass alle Zucht-, Liefer- und Tierversuchseinrichtungen mindestens zwei Mal jährlich zu kontrollieren sind. Insgesamt weist der nun vorliegende Text aber zahlreiche Unklarheiten auf, was bei der Umsetzung in nationales Recht große Schwierigkeiten bereiten wird. Ratsch: Die Neufassung der Tierversuchs-Richtlinie wird von den in Deutschland zuständigen Genehmigungsbehörden für Tierversuche trotz zahlreicher Unklarheiten in den Formulierungen, die es spätestens bei der Umsetzung in nationales 28 028-030-AltexethikInti.indd 28 Recht zu bereinigen gilt, grundsätzlich begrüßt. Ich beurteile insbesondere den Paradigmenwechsel von der Einteilung der Tierversuche in anzeige- und genehmigungspflichtige Versuche aufgrund von Rechtsvorschriften hin zu einer Einstufung nach dem Grad der Belastung positiv. Zum einen besteht zurzeit bei anzeigepflichtigen Tierversuchen das Problem, dass für eine Prüfung der Anzeigen nur ein Zeitraum von 14 Tagen zur Verfügung steht, der aufgrund unzureichender personeller Ausstattung der zuständigen Behörden nicht ausreichend für eine detaillierte Prüfung ist. Zum anderen sind gerade die anzeigepflichtigen Versuche im Rahmen von Substanzprüfungen oft höchst belastend. In den heute geltenden europäischen Rechtsvorschriften, auf deren Grundlage Tierversuche vorgeschrieben sind, sind kaum noch konkrete Versuche genannt. Bewusst wird in diesen Vorschriften darauf verwiesen, dass Alternativmethoden einzusetzen sind, wenn diese zur Verfügung stehen. Es fällt insofern zunehmend schwerer zu entscheiden, ob ein Tierversuch wirklich in der angezeigten Form unerlässlich ist. Eine vertiefte Prüfung ist hier unbedingt notwendig. Die Einteilung der Tierversuche nach Schweregraden fördert nach meiner Meinung die Möglichkeit der gezielten Entwicklung von 3RMethoden im Bereich von als „schwer“ und „mittel“ belastend eingestuften Verfahren. Durch Antragserleichterungen für „gering“ belastende Versuche kann außerdem darauf hingewirkt werden, dass Versuche gezielter und bewusster bereits vor der Antragstellung daraufhin überprüft werden, durch welche Maßnahmen die Belastungen für die Tiere reduziert werden können. Es muss aber sichergestellt sein, dass die Einstufung des Belastungsgrades nicht ausschließlich dem Antragsteller überlassen ist, sondern eine Gegenprüfung durch die zuständige Behörde für alle Tierversuche erfolgt. Dr.iur. Dr.phil. Regina Binder ist seit 2002 am Fachbereich „Tierschutz- und Veterinärrecht“ an der Veterinärmedizinischen Universität in Wien tätig. Sie publiziert regelmäßig in den Bereichen Tierschutz- und Tierversuchsrecht. E-Mail: [email protected] Altexethik 2009 13.12.2009 15:43:35 Uhr Interview Von besonderer Bedeutung ist auch die rückwirkende Bewertung, wobei im Kommissionsvorschlag die Versuche, die als „gering“ eingestuft wurden, von einer rückwirkenden Bewertung grundsätzlich ausgenommen sein sollen. Hier sind sich die Genehmigungsbehörden in Deutschland einig, dass diese Entscheidung der zuständigen Behörde in jedem Fall überlassen sein sollte, da gerade im Zweifelsfall die gegebenenfalls notwendige Einstufung in eine höhere Belastungsstufe sonst nicht erfolgen könnte. Grundsätzlich ist auch die Anforderung, die nichttechnische Projektzusammenfassung öffentlich zur Verfügung zu stellen eine gute Sache, jedoch ist es bedauerlich, dass die Möglichkeit einer EU-weiten Datenbank zur Vermeidung einer unnötigen doppelten Durchführung von Versuchen verworfen wurde. Für die Verbesserung der Haltungsbedingungen der Versuchstiere sollte im Anhang IV der vollständige Anhang A (ETS 123) als Leitlinie aufgenommen werden und nicht nur eine Kurzfassung. In dieser Leitlinie sind Mindeststandards für die Unterbringung aufgenommen worden, die nur im begründeten Einzelfall unterschritten werden dürfen. Zu begrüßen ist auch die Festlegung von Inspektionsintervallen durch die nationale Behörde inklusive Risikobewertung und Dokumentation der Inspektionen, die abgerundet wird durch die Forderung der Sicherstellung einer angemessenen Infrastruktur und einer ausreichenden Anzahl geschulter Inspektoren. Nur auf dieser konkreten Grundlage kann die Umsetzung im nationalen Bereich auch eingefordert werden. Mehr Gewicht sollte noch auf die Qualifikation aller beteiligten Personen gelegt werden. Hier muss besonders Wert auf die Veröffentlichung der Mindestanforderungen im Hinblick auf die Aus- und Fortbildung gelegt werden. Der Anhang VI ist hier wenig bestimmt. Es sollte eine darüber hinaus gehende internationale Einigung erzielt werden, um der Forderung nach gegenseitiger Anerkennung gerecht werden zu können. Was mir ganz und gar nicht gefällt ist der Absatz 3 in Artikel 13. Hier heißt es, dass der Tod als Endpunkt eines Verfahrens möglichst zu vermeiden sei. Dies widerspricht dem im Deutschen Tierschutzgesetz verankerten Sachverhalt, dass Tiere zu töten sind, wenn absehbar ist, dass sie infolge des verabreichten Stoffes zu sterben drohen. Den Tod (das Versterben) als Endpunkt eines Verfahrens darf es nicht mehr geben. Dr. Heidemarie Ratsch ist Fachtierärztin für Versuchstierkunde. Seit 1992 ist sie zuständig für die Genehmigung und Überwachung von Tierversuchen und Versuchstierhaltungen beim Landesamt für Gesundheit und Soziales (LAGeSo) in Berlin. Seit 2009 ist sie Präsidentin der Tierärztekammer Berlin. E-Mail: [email protected] Altexethik 2009 028-030-AltexethikInti.indd 29 Die Entscheidungsfrist von 30 Tagen für die Erteilung einer Genehmigung ist zu kurz. In dieser Zeit können die verlangten Bewertungen mit Einbeziehung der geforderten Sachverständigen nicht durchgeführt werden. Begrüßenswert ist die Festschreibung nationaler Referenzlaboratorien für alternative Methoden und die Tätigkeitsbeschreibung inkl. der Aufgabe der Fortbildung von Personen, die an Tierversuchen beteiligt sind. ALTEXethik: In welchen, für den Versuchstierschutz zentralen Bereichen fällt der vom Europäischen Parlament angenommene Vorschlag unbefriedigend aus? Binder: Die größte Schwachstelle liegt wohl darin, dass künftig alle leicht belastenden Tierversuche nicht mehr der Genehmigungspflicht unterliegen sollen. Wie ich bereits erwähnt habe, bestand der bedeutendste Fortschritt des Kommissionsentwurfs darin, dass die Mitgliedsstaaten verpflichtet werden sollten, eine generelle – also für sämtliche Versuchsvorhaben – geltende Genehmigungspflicht vorzusehen. Nach der aktuellen Fassung des Entwurfs sollen aber alle Versuchsvorhaben, die dem Belastungsgrad 1 der im Anhang festgelegten Schweregradskala zugeordnet sind, nur noch einer Meldepflicht unterliegen. Es wäre zwar, wie ursprünglich angedacht, durchaus einzusehen, dass für routinemäßig durchgeführte Tierversuche aus verwaltungsökonomischen Gründen Dauerbewilligungen erteilt werden, doch entsteht durch die Ausnahme leicht belastender Versuchsvorhaben aus der Genehmigungspflicht geradezu ein Anreiz für die Antragsteller, die Belastungen möglichst niedrig einzustufen, um das aufwändigere Genehmigungsverfahren zu umgehen. Schon in der Vergangenheit haben Untersuchungen gezeigt, dass der vermeintliche Nutzen von Versuchsvorhaben durch die Antragsteller in vielen Fällen zu hoch, die Belastungen der Versuchstiere hingegen häufig zu niedrig eingestuft werden. Ein weiteres schwerwiegendes Defizit sehe ich in der Zusammensetzung der für die ethische Beurteilung der Versuchsvorhaben zuständigen Gremien. Solche Gremien müssen zwar auf institutioneller Ebene, d.h. bei jeder Zucht-, Liefer- und Tierversuchseinrichtung („Ständiges Gremium für die ethische Überprüfung“, Art. 25) und auf nationaler Ebene („Nationaler Ausschuss für Tierschutz und -ethik“, Art. 47) eingerichtet werden, doch sind weder Anforderungen an die fachliche Zusammensetzung noch an den Beschickungsmodus festgelegt. Lediglich dem Sachverständigengremium, das gem. Art. 37 Abs.3 von der Genehmigungsbehörde zur Durchführung des „ethical review“ einzusetzen ist, muss ein Fachvertreter aus dem Bereich der angewandten Ethik angehören. Ratsch: Hinsichtlich des vom Europäischen Parlament ange- nommenen Vorschlags kann ich mich nur den Ausführungen von Frau Binder anschließen. Nicht nur, dass eine Genehmigung nur für „mittel“ und „schwer“ belastende Verfahren vorgesehen sein soll, die retrospektive Bewertung soll außerdem nur für „schwer“ belastende Verfahren durchgeführt werden. Da der Schweregrad der Belastung nur ein Kriterium ist, um 29 13.12.2009 15:43:35 Uhr Interview zu entscheiden, ob ein Tierversuch unerlässlich ist, müssen auch „gering“ belastende Versuche und insbesondere Versuche „unter Vollnarkose ohne Erholung“, die in dem Parlamentsvorschlag nicht mehr gesondert aufgeführt werden, einer standardisierten wissenschaftlichen Überprüfung hinsichtlich des aktuellen Forschungsstandes und der ethischen Vertretbarkeit unterzogen werden. Das ständige Gremium für die ethische Überprüfung (Artikel 25) wird zwar im Zusammenhang mit den nur meldepflichtigen Versuchsvorhaben hinsichtlich der Personenzahl erweitert, um den Anforderungen der vorherigen Bewertung der Vorhaben gerecht werden zu können. Es bleibt aber fraglich, ob das Gremium der eigenen Einrichtung wirklich unabhängige Bewertungen vornehmen kann. ALTEXethik: Es ist zwar einleuchtend, dass Antragsteller von Tierversuchen den Nutzen ihres geplanten Versuchs in ihrem Antrag herausstellen sollen. Aus psychologischer Sicht erscheint es jedoch höchst widersprüchlich, dass die Antragsteller selbst auch die Beurteilung der Belastungen für die Tiere vornehmen sollen? Binder: Grundsätzlich ist gegen die Einstufung der Belastung durch den Antragsteller aus meiner Sicht dann nichts einzuwenden, wenn diese Beurteilung im nachfolgenden Verfahren von der Genehmigungsbehörde überprüft und wenn erforderlich berichtigt wird. Ein Forscher, der weiß, dass er im Antrag den Belastungsgrad der Versuchtiere deklarieren muss, dass diese Angabe von der Behörde überprüft wird und maßgeblichen Einfluss auf die Beurteilung der ethischen Vertretbarkeit und damit auf die Erteilung einer Genehmigung hat, wird sich im Rahmen der Erarbeitung des Versuchsdesigns im eigenen Interesse damit auseinandersetzen, durch welche Maßnahmen die Belastung der Tiere reduziert werden kann. Zwar sind grundsätzlich auch meldepflichtige Versuche von der Behörde zu überprüfen; geht man aber davon aus, dass die Behörden ohnehin überlastet sind und ihnen für die Erledigung von Tierversuchsanträgen künftig nur noch 30 Tage zur Verfügung stehen sollen, so darf bezweifelt werden, dass meldepflichtige Versuchsvorhaben mit derselben Intensität überprüft werden können wie solche, die einer Genehmigungspflicht unterliegen. Allerdings – und auch das muss deutlich gesagt werden – steht es den Mitgliedsstaaten sehr wohl frei, auch für leicht belastende Tierversuche eine Genehmigungspflicht vorzusehen. Ratsch: Auch die nur meldepflichtigen Versuchsvorhaben unterliegen nach dem Parlamentsvorschlag weiterhin der Überprüfung der Behörde. Zwar in einem vereinfachten Verfahren, aber zur Feststellung der Richtigkeit der Belastungsbewertung sollte es ausreichen. Der Parlamentsentwurf sieht in Artikel 35 eine vorherige Meldung an die zuständige Behörde vor, nachdem das ständige Gremium seine ethische Überprüfung 30 028-030-AltexethikInti.indd 30 dazu durchgeführt hat. Diese Überprüfung soll ja dokumentiert und der zuständigen Behörde auf Anfrage vorgelegt werden und könnte insofern gleich Bestandteil der Meldung sein. Auf der Grundlage der zu entwickelnden europaweit einheitlichen Belastungskataloge sollte es dem Antragsteller mit Hilfe des ständigen Gremiums möglich sein, eine angemessene Bewertung vorzunehmen. ALTEXethik: Wenn leicht belastende Tierversuche keinem Genehmigungsverfahren mehr unterliegen, wie muss man sich hier die Praxis vorstellen? Gibt es eine Art Positivliste auf der vermerkt ist, welche Tierversuche unter diese Kategorie fallen? Binder: Anhang VIIa zum Richtlinienentwurf enthält eine rudimentäre Belastungsskala, wonach Versuchsvorhaben, die keine oder geringe Schmerzen verursachen, dem Schweregrad 1 zuzuordnen sind; als Beispiele für solche Vorhaben werden u.a. Fütterungsversuche und Blutabnahmen oder Injektionen von Arzneimitteln, oberflächliche Gewebebiopsien, aber auch solche Versuche angeführt, in deren Verlauf die Tiere noch in Vollnarkose sterben bzw. getötet werden (sog. Terminal- bzw. Finalversuche). In der Praxis ist die Beurteilung des Belastungsgrades ein komplexer Vorgang, bei dem eine Vielzahl von Parametern zu berücksichtigen ist. Aus der Sicht des Versuchstierschutzes ist es unzureichend, ausschließlich auf den Zeitraum der experimentellen Verwendung der Tiere abzustellen, da Versuchstiere auch in der prä- und postexperimentellen Phase verschiedensten Belastungsfaktoren ausgesetzt sind, die in kausalem Zusammenhang mit dem eigentlichen Tierversuch stehen und daher zu einer „Lebensbelastungsbilanz“ addiert werden müssten. Ratsch: Ich bin bereits bei der Antwort zur vorherigen Frage kurz auf mögliche Verfahrenswege eingegangen. Auf jeden Fall müsste auch für die Bearbeitung der gemeldeten Versuche eine Frist aufgenommen werden, innerhalb der die Meldung vor Versuchsbeginn an die zuständige Behörde erfolgen muss. Bisher sind dies in Deutschland 14 Tage, was eindeutig zu kurz ist. Die 30 Tage Frist wäre hier angemessen. Ein europaweit anerkannter Belastungskatalog, der allerdings umfassender sein sollte, als der jetzt vorgeschlagene Anhang VIIa, wird für die Einteilung in Belastungskategorien unerlässlich sein. Das erste Treffen einer „expert working group“ zum Thema Schweregradeinteilung hat im Juli 2009 in Brüssel stattgefunden. Betont wird in diesem Zusammenhang, dass es einen abschließenden Katalog nicht geben kann. Es sind immer Einzelfallentscheidungen zu treffen, die den gesamten Versuchsablauf und alle in diesem Zusammenhang am Einzeltier vorgenommenen Eingriffe und Behandlungen und deren Auswirkungen, sowie die Dauer der Belastung berücksichtigen. Eine Positivliste zum ankreuzen wird es deshalb nicht geben können, sondern nur eine Orientierungshilfe. Altexethik 2009 13.12.2009 15:43:36 Uhr