1 Kippfiguren / Figures réversibles Einleitung Hans-Georg von Arburg, Marie Theres Stauffer Das französische Wort für „Ja“ ist quer durch den Raum deutlich zu lesen: die drei Buchstaben „O“, „U“ und „I“ balancieren in lakonischer Selbstverständlichkeit auf einem dunkel gefärbten Brett über einer Kartonröhre. Nach ein paar Schritten gegen die Skulptur verliert das klare „Ja“ jedoch an Deutlichkeit, es verwandelt sich in eine amorphe Masse nicht zuordenbarer Zeichen, die sich nach weiteren Schritten um das Objekt herum als blankes „Nein“ abzeichnen: „NON“. Diese von der Affirmation in die Negation umschlagende Figuration ist ein Werk des Schweizer Künstlers Markus Raetz, der bekannt ist für seine Kippfiguren, die sich dem Betrachter in der Bewegung erschließen.1 Dabei wendet sich nicht nur „TOUT“ in „RIEN“ oder „TOI“ über „TOM“ in „MOT“, sondern auch die Silhouette Joseph Beuys’ in jene eines Hasen oder die Umrissform einer Weinflasche in jene eines Stielglases. Im Sommer 2011 hat Markus Raetz solche Werke, die je nach Betrachterposition ihre Bedeutung wechseln, im Genfer Musée d’Art Moderne et Contemporain (MAMCO) anlässlich einer großen Ausstellung gezeigt. Die Schau belegt nicht zuletzt die Aktualität der ästhetischen Kippfigur. Was hier beispielhaft an Raetz’ Experimenten mit einzelnen Worten oder in der Einzelfigur dargelegt wird, begegnet uns in unzähligen Artikulationsformen, in unterschiedlichen Medien und vielerlei Materialien. Dementsprechend findet die Reflexion über Kippfiguren in verschiedenen Disziplinen statt. Am aktuellen Diskurs sind zunächst vor allem Akteure aus der Literaturwissenschaft und der Philosophie beteiligt, die sich mit der Uneindeutigkeit des Phänomens befassen, mit dessen Mehrfachcodierung und hieraus erwachsenden Fragen der Lektüre und Interpretation. Auch in den Medienwissenschaften intensivieren sich in den letzten Jahren die Untersuchungen zur medialen und materiellen bzw. materialästhetischen Verfasstheit von Kippfiguren. Und nicht zuletzt hat die Wirkung visueller Kippfiguren auf Wahrnehmungs- und Kognitionsprozesse eine eigene Geschichte und gegenwärtige Bedeutsamkeit in der Kunstwissenschaft, der Gestalt- oder der Wahrnehmungspsychologie. Die vorliegende Ausgabe der figurationen ist aus den Diskussionen an einer fachübergreifenden Tagung an der Universität Lausanne hervorgegangen. 2 Das Heft versammelt Beiträge aus Film- und Literaturwissenschaft, Kunstgeschichte und Philosophie. 2 Die Auswahl geschah im Bewusstsein, dass eine Eingrenzung der Aspekte, Fragestellungen und Materialien unumgänglich ist. Daher möchten wir das Thema anhand einer begrenzten Reihe von Themen zur Diskussion stellen, die an verschiedenen Typen von Kippfiguren exemplarische Perspektiven auf das Phänomen eröffnen. Eine erste Kategorie bilden Kippfiguren im engeren Sinn. Diese sind so dargestellt, dass sie durch optische Inversion verschieden gesehen werden können und je nach augenblicklicher Einstellung abwechselnd als Darstellung zweier unterschiedlicher Figuren wahrgenommen werden. Eines der bekanntesten Beispiele dieses Typus ist die ‚Hasenente‘, von der eine ihrer unzähligen Varianten auf dem Titelbild dieses Heftes abgebildet ist. Sie wurde zu so etwas wie dem Prototypen einer Kippfigur, seitdem Ludwig Wittgenstein über die instabile Bedeutung dieses von William James bekannt gemachten Doppeltiers wiederholt und intensiv nachgedacht hat.3 Die Frage, ob wir in ihr einen Hasen oder eine Ente sehen, ist nach Wittgenstein grundsätzlich offen und hängt einzig von unserem Weltwissen und unserem sprachlichen Ausdrucksvermögen ab. Ästhetisch gesehen rebelliert die Kippfigur allerdings gegen die Doktrin der Deutungsoffenheit. Denn entweder sehen wir in der Zeichnung einen Hasen oder eine Ente: tertium non datur – hin und her, aber nicht darüber hinaus! Die Alternative ist eindeutig und schlägt uns gerade durch ihre Eindeutigkeit in ihren Bann. Obwohl Kippfiguren im engeren Sinn also momenthaft immer nur eine Interpretation privilegieren, provozieren sie durch das jähe Zusammenspiel mit alternativen Interpretationen trotzdem eine Pluralität von Deutungen. Eben das macht sie zur Herausforderung für das ästhetische Denken. Zwei unserer Beiträge knüpfen an die Überlegungen des österreichischen Philosophen an. Christine Abbt macht die grundlegende Bedeutung des Kippens für unsere Aufmerksamkeit auf Perspektiven Anderer kenntlich und bezieht diese Fähigkeit auf Fragen nach einer Kultur der Erinnerung. Wittgenstein folgend interessiert sie sich dabei für jenes Kunstschaffen, durch welches das traditionelle Denkmal seit den 1980er Jahren als „Counter-Monument“ neu definiert wird.4 Dabei handelt es sich um eine Kunst, in der die kollektive Erfahrung des Aspektwechsels im Zentrum steht: In diesem Moment wird – so Wittgenstein – bei einer Mehrheit von Individuen Aufmerksamkeit generiert und gleichzeitig die zeitliche Struktur in sich divergierender Aufmerksamkeitsprozesse vergegenwärtigt. Die aufeinander bezogene philosophische bzw. künstlerische Reflexion auf das Erlebnis des Kippens legt nahe, dass eine Theorie bzw. Kultur kollektiver Erinnerung zu kurz greift, solange darin dem konkreten individuellen Erinnern kaum Gewicht beigemessen wird. 3 Auch Thomas Fries befasst sich mit Wittgensteins Verständnis der Kippfigur und diskutiert diese im Sinne eines Aspekte-Sehens, bei dem das Entscheidende in einem Umschnappen zwischen zwei kopräsenten, aber nicht gleichzeitig wahrnehmbaren Figuren liegt. Auf dieser Grundlage fragt er nach der Möglichkeit, diesen Begriff für die literarisch-rhetorische Analyse fruchtbar zu machen. Mit besonderem Interesse für den Zusammenhang von Bedeutung und Zeitlichkeit beim Lesen literarischer Texte wird an Erich Auerbachs FiguraAufsatz der Begriff der literarischen Kippfigur entwickelt, bei der im Widerspiel handelnder Figuren, poetischer Akteure (‚Dichter‘) oder ästhetischer Konzepte Vergangenheit in Gegenwart ‚umschnappt‘ und umgekehrt. Fries’ Ausführungen zu Baudelaire, Nietzsche und Keller machen plausibel, weshalb ein Modellfall einer solchen Kippfigur für die Literatur der Moderne die Allegorie sein kann. Die Überlegungen von Abbt und Fries führen in ihren Konsequenzen von der Kippfigur im engeren Sinne zu Kippfiguren im weiteren Sinn. In den „Counter-Monuments“ wie auch in der Narration manifestiert sich der Aspektwechsel nämlich nicht einfach als ausschließliches Entweder-Oder, das jeweils nur eine Aktualisierung zulässt. Vielmehr vollzieht sich das Umschlagen so, dass durch das Kippen ein bestimmter Aspekt in den Fokus gerät, der sich für Momente vom Tableau der Gesamtstruktur abhebt, um bei einer erneuten Wendung wieder zurückzutreten. Diese fortschreitende Reversibilität ist dem Vorgang der Lektüre – von Literatur wie auch von visueller Kunst – geschuldet, ein Vorgang, der eine graduelle Erschließung und Interpretation der Gehalte zur Folge hat. Der Kippvorgang manifestiert sich in diesem Fall also nicht als ein Hin und Her an ein und derselben Stelle, nicht als alternative Aktualisierung ein und desselben Bildes, sondern er vollzieht sich vielmehr konsekutiv. In Ulrich Stadlers Interpretation von Karl Philipp Moritz’ nachgelassenem Romanfragment Die neue Cecilia wird deutlich, dass dabei das Gesamt-Tableau keineswegs homogen sein muss, sondern seinerseits eine gebrochene Struktur aufweisen kann, die wiederum mit der Dynamik des Umschlagens in Zusammenhang steht. Das wahrnehmungspsychologische Phänomen des Kippens einer Gestaltwahrnehmung von einer Aktualisierung in eine andere verunsichert die Wahrnehmung und lässt so das Wahrnehmen selbst zum Problem werden. Dies wird von Stadler auf die Irritation übertragen, die sich beim Leser von Moritz’ mehrstimmigem Briefroman einstellt. So abrupt wie dieselben Szenerien und Szenen von Moritz’ Erzähler-Figuren (den vier verschiedenen und emotional miteinander verstrickten Briefschreibern) aus ihren subjektiven Blickwinkeln diametral entgegengesetzt perspektiviert werden, so ruckartig verschiebt sich auch die Meinung des Lesers über das Gesehene und Geschehene. Der Versuch, lesend zu einer Erkenntnis über das Gelesene zu gelangen, bleibt 4 dieser hermeneutischen Kippfigur unterworfen. Der Leser muss eine einmal gemachte Annahme stets durch eine ihr widersprechende ergänzen und kann so niemals zu einer endgültigen und beruhigenden Einsicht in den Textinhalt kommen. Er wird selbst zum subjectum, zu einem dem autonomen Widerspiel von Formen Unterworfenen. Ein weiterer Typus der Kippfigur geht von der Reversibilität von Figur und Grund aus, dem wiederum ein Vexierspiel zwischen Form und Inhalt entspricht. Eine Variante davon ist das Filmbild, welches man in dem Sinne als Kippfigur verstehen kann, als es gleichermaßen einen Rahmen und ein Fenster bildet. Margrit Tröhler schlägt darüber hinausgehend die Scheibe (vitre) als dritten Begriff vor, der die genannten Pole impliziert. Damit wird nicht nur das Umschlagen von der materiellen Ebene der Scheibe in die performative des „Unter-GlasSetzens“5 konzeptualisiert, sondern auch die Umkehrbarkeit des Blicks zwischen Künstler und Betrachter respektive Autor und Publikum. Zwischen Opazität und Transparenz oszillierend, funktioniert das filmische Bild der Landschaft wie das objet ambigu Paul Valérys: als Hin und Her zwischen Ding und Artefakt, das Denken und Empfinden gleichermaßen affiziert.6 Das Oszillieren zwischen mehreren Modi und Bedeutungen ist auch Gegenstand des französischsprachigen Beitrags von Jan Blanc. Blanc verwendet für das Phänomen der kontinuierlichen Reversibilität allerdings nicht den Begriff der Kippfigur, sondern den der Ambiguität. Dies steht einerseits in Zusammenhang mit der Unübersetzbarkeit des deutschen Begriffs ,Kippfigur‘, der im Französischen mit figure réversible – in Anlehnung an das englische reversible figure – nur annähernd umschrieben ist, ohne jedoch als geprägter und somit operativer Begriff in Gebrauch gekommen zu sein. Andererseits zeigt sich daran, dass die unentscheidbare Mehrdeutigkeit eines Werks eine interpretative Dynamik auslöst, die ein Kontinuum von Aspektwechseln befördert. Ambige Momente eines Werkes können daher als ein spezifischer Typus der Kippfigur angesehen werden. Vor diesem Hintergrund beleuchtet Blanc das Thema der Ambiguität am Beispiel des englischen Malers Sir Joshua Reynolds, der Mehrdeutigkeit nicht nur zu einem privilegierten Gegenstand seiner Bilder und seiner Malweise machte, sondern auch zunehmend zu einem wesentlichen Werkzeug seiner Praxis ausbildete, um sich von der Historienmalerei der Zeit abzugrenzen, welche auf traditionelle Kompositionen, strikte Mimesis und klare Linienführung setzte. Fragen der Übersetzung, die im Kontext des fehlenden französischen Äquivalents für den Begriff Kippfigur bereits angesprochen wurden, stehen schließlich im Zentrum der Überlegungen Arno Renkens. Am Beispiel von Rilkes Gedicht Gong und dessen Übersetzungen durch Philippe Jaccottet und Jean-Yves Masson stellt Renken das Übersetzen 5 auf den Prüfstand von (kultureller) Semantik, Grammatik und Phonetik. Dabei erweist sich das Gedicht, ja das Dichten überhaupt als eine Arbeit in Versionen: in Um-Wendungen oder Um-Kehrungen an Extrempunkten der Lektüre, sei es in den verschiedenen Übersetzungen eines Textes oder – geschult an der Aufgabe des Übersetzens – in den verschiedenen einsprachigen Lesarten eines Textes. Aus einem einzigen und einmaligen Opus wird so eine in sich differente und notwendigerweise wiederholbare Operation, deren reflexive ‚Natur‘ in der Schlusswendung des „Gong“ zwischen „ô“ und „āng“ unabschließbar ineinander umkippend widerhallt. Allen Beiträgerinnen und Beiträgern dieses Heftes sei hiermit noch einmal ein großer Dank dafür ausgesprochen, dass sie uns an ihren Überlegungen zum ebenso faszinierenden wie verfänglichen Phänomen ästhetischer Kippfiguren teilhaben ließen und uns wie die Leserinnen und Leser der figurationen zum weiterführenden Nachdenken darüber anregen. Ebenso danken wir der Redaktion der figurationen, mit deren freundlicher und kompetenter Unterstützung dieses Heft inhaltlich und materiell Form angenommen hat. Und schließlich haben wir an diesem Punkt auch allen Anlass zu unterstreichen, wie sehr wir letztlich den Autoren und Künstlern selbst verpflichtet sind, über die hier nachgedacht und geschrieben wurde: Ohne ihre Sensibilität und Findigkeit wäre es kaum möglich, dass unsere eingefahrenen Sprachwendungen und Denkreflexe vor Kippfiguren so irritierend und zugleich so heilsam umschnappen. Bibliographie Musil, Robert (1925): „Ansätze zur neuen Ästhetik. Bemerkungen über eine Dramaturgie des Films“. In: ders.: Gesammelte Werke. Hg. v. Adolf Frisé. Bd. 1. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1978, 1137-1154. Valéry, Paul (1924): Eupalinos ou L’architecte (précédé de: L’âme et la danse). Paris: Gallimard. Young, James E. (1992): „The Counter-Monument: Memory against itself in Germany Today“. In: Chicago Journals. Critical Inquiry, 18.2, 267-296. 1 Markus Raetz, Oui-Non, 2001. 2 Statuts ambigus: figures réversibles dans les arts | Zwischen Zuständen: ästhetische Kippfiguren. Universität Lausanne, 15.–16. April 2011. 6 3 Vgl. die Textnachweise in den Beiträgen von Christine Abbt und Thomas Fries. 4 Vgl. Young (1992). 5 Vgl. Musil (1925), 1148. 6 Vgl. Valéry (1924), 153.