APÜ aus Strafrecht Dr. Stephanie Öner/ Dr. Lisa Pühringer WS 2011/2012 Fall 3 M leidet an paranoider Schizophrenie. Eines Tages wird sie wieder von Wahnvorstellungen geplagt. Eine innere Stimme befiehlt ihr, sich gemeinsam mit ihrem 6 Monate alten Kind aus dem Fenster im 3. Stockwerk zu stürzen und zu sterben. Von diesem Wahn bestimmt, nimmt sie ihr schlafendes Kind aus dem Bett und springt mit ihm in die Tiefe. Das Kind stirbt beim Aufprall auf dem Boden. M hingegen landet auf weichem Boden und überlebt mit mehreren Knochenbrüchen und einer schweren Gehirnerschütterung. Der Sachverständige stellt später fest, dass M in einem akuten schizophrenen Schub gehandelt hat. Variante 1 Als kurze Zeit nach dem Vorfall der Lebensgefährte L beim Betreten der Wohnung M mit dem anderen Kind beim offenen Fenster stehen sieht, glaubt er, den Ernst der Lage zu erkennen: Um das Leben der beiden zu retten, stürzt sich L mit voller Wucht auf die M und das Kind, wodurch die M eine Platzwunde am Kopf erleidet. Das Kind bleibt wie durch ein Wunder unverletzt. In Wirklichkeit wollte M nur nach den Blumen schauen. Variante 2 Da sich Ms Gesundheitszustand weiter verschlechtert, kann sie keiner regelmäßigen Arbeit mehr nachgehen. Der Lebensgefährte L, der als Kassier in einem Supermarkt tätig ist, gerät daher immer weiter in finanzielle Bedrängnis. Als der Arzt von M auch noch meint, nur ein sehr teures Medikament könne Ms Leiden verbessern, entschließt sich L kurzerhand eines Abends nach Ladenschluss, das Geld dafür (€ 1.000,-) aus der Kasse des Supermarkts zu nehmen. Variante 2a Der Besitzer des Supermarktes ist Ls Vater V. Prüfen Sie die Strafbarkeit der M und des L! 28.11.2011 Strafbarkeit der M Anfängerpflichtübung aus Strafrecht - Fall 3 WS 2011/2012 Dr. Stephanie Öner Dr. Lisa Pühringer Welches Delikt kommt in Betracht? Mord - § 75 StGB Tatbestandsmäßigkeit: M tötet ihr Kind. Der Erfolg ist eingetreten und zurechenbar. Tötungsvorsatz: M will ihr Kind töten. Rechtswidrigkeit: Tatbestandsmäßigkeit indiziert Rechtswidrigkeit. 1 Schuld Prüfung der Strafbarkeit der M Fallprüfung I. Tatbestand II. Rechtswidrigkeit III. Schuld 2 § 4: „Strafbar ist nur, wer schuldhaft handelt.“ Schuld = sozialethisches Unwerturteil Schuld = persönliche Vorwerfbarkeit der Tat (normativer Schuldbegriff). 3 Maßstab der Schuld 4 Schuldfähigkeit ~ Zurechnungsfähigkeit Komponenten: Wie hätte sich ein maßgerechter Mensch in der Situation des Täters verhalten? Fähigkeit, das Unrecht der Tat einzusehen (= Einsichts- oder Diskretionsfähigkeit); Fähigkeit, nach dieser Einsicht zu handeln (= Steuerungs- oder Dispositionsfähigkeit). Vergleich mit einem mit den rechtlich geschützten Werten verbundenen Menschen. Abweichung von diesem Verhalten → schuldhaftes Verhalten des Täters. Merke: Beide Elemente müssen im Zeitpunkt der Tat vorhanden sein! 5 6 1 28.11.2011 Ausschluss der Schuldfähigkeit Ausschluss der Schuldfähigkeit 1. wegen mangelnder Reife (§ 4 JGG): 2. wegen seelischer Störung (§ 11 StGB), wenn zum Zeitpunkt der Tat Dispositionsund/oder Diskretionsfähigkeit tatsächlich ausgeschlossen: Unmündige (bis 14 Jahre): keine Schuldfähigkeit. Jugendliche (14-18 Jahre): nur bei entwicklungsbedingt verzögerter Reife keine Schuldfähigkeit. Merke: Keine Prüfung, ob sich diese Umstände bei der Tat tatsächlich ausgewirkt haben! Geisteskrankheit geistige Behinderung tiefgreifende Bewusstseinsstörung gleichwertige seelische Störung 7 8 Ausschluss des Schuldfähigkeit (§ 11 StGB) Fall 3 (Subsumtion) Merke: Bei Ausschluss der Schuldfähigkeit nach § 11 StGB immer auch zu prüfen, ob im Zeitpunkt der Tat aus einem der in § 11 aufgezählten Gründe Dispositionsund/oder Diskretionsfähigkeit tatsächlich ausgeschlossen war! → Vorliegen eines der Umstände des § 11 StGB für sich allein nicht ausreichend! M leidet an einer Geisteskrankheit (§ 11 StGB) zum Zeitpunkt der Tat akuter Schub der Geisteskrankheit. M zum Zeitpunkt der Tat unfähig, das Unrecht ihrer Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln. M handelt nicht schuldhaft. keine Strafbarkeit nach § 75 StGB. 9 Variante 1 10 Rechtswidrigkeit Strafbarkeit des L wegen der Verletzung der M Welches Delikt kommt in Betracht? → Körperverletzung gem § 83 Abs 1 StGB. objektiver TB: Erfolg(= Verletzung = Platzwunde) eingetreten; Zurechnung des Erfolgs subjektiver TB: Verletzungsvorsatz gem § 83 Abs 1 StGB (arg „stürzt sich mit voller Wucht auf die M“) Liegt ein Rechtfertigungsgrund vor? Nothilfe (§ 3 Abs 1 StGB)? Grundstruktur der Rechtfertigungsgründe: Rechtfertigungssituation Rechtfertigungshandlung subjektives Rechtfertigungselement A handelt tatbestandsmäßig gemäß § 83 Abs 1 StGB. 11 12 2 28.11.2011 Nothilfesituation (Subsumtion) Nothilfesituation hier: kein Angriff auf ein notwehrfähiges Rechtsgut → keine Nothilfesituation → keine Rechtfertigung durch Nothilfe L irrt über das Vorliegen einer Nothilfesituation Ist der Irrtum des L strafrechtlich relevant? = gegenwärtiger oder unmittelbar drohender rechtswidriger Angriff auf ein notwehrfähiges Rechtsgut eines anderen (§ 3 Abs 1 StGB) 13 Irrtum über einen rechtfertigenden Sachverhalt (§ 8 StGB) Täter irrt über das Vorliegen eines rechtfertigenden Sachverhalts (→ tatsächlicher Bereich!) hier: Annahme, dass sich M mit dem Kind aus dem Fenster stürzen will Vorstellungen des Täters werden der Prüfung des RF-Grundes zu Grunde gelegt → hypothetische Prüfung des RF-Grundes 14 Irrtum über einen rechtfertigenden Sachverhalt (§ 8 StGB) Wäre bei dieser Vorstellung ein RF-Grund denkbar? Nothilfe (§ 3 Abs 1 StGB): Nothilfesituation: rechtswidriger, gegenwärtiger bzw unmittelbar drohender Angriff auf die körperliche Unversehrtheit/das Leben des Kindes Nothilfehandlung: notwendige Handlung zur Verteidigung des bedrohten Rechtsguts subjektives Rechtfertigungselement: L glaubt an Vorliegen der RF-Situation 15 Lösung Variante 1 Rechtsfolgen des § 8-Irrtums Gibt es ein entsprechendes Fahrlässigkeitsdelikt? ja, § 88 Abs 1 StGB keine Strafbarkeit für das Vorsatzdelikt (hier: keine Strafbarkeit nach § 83 Abs 1 StGB) doppelt bedingte Fahrlässigkeitshaftung: Täter ist wegen fahrlässiger Tat zu bestrafen, wenn es ein entsprechendes Fahrlässigkeitsdelikt gibt und sein Irrtum auf Fahrlässigkeit beruht. 16 Beruht der Irrtum des L auf Fahrlässigkeit? Wäre auch die Maßfigur in einer derartigen Situation einem solchen Irrtum unterlegen? ja, da der erste Vorfall erst kurze Zeit zurück liegt; → keine Fahrlässigkeit des L erkennbar. Ergebnis: L ist nicht nach § 88 Abs 1 StGB zu bestrafen. 17 18 3 28.11.2011 Variante 2 Einordnung des § 8-Irrtums Burgstaller, Fuchs: auf Ebene der Rechtswidrigkeit: spezifisches Vorsatzunrecht (nicht der Vorsatz!) des Täters entfällt; Kienapfel, Triffterer, Leukauf/Steininger, Höpfel: auf Ebene der Schuld: Entschuldigungsgrund, denn dem Täter fehlt das Unrechtsbewusstsein; Vorsatz bleibt unberührt und Unrecht bleibt bestehen; § 133 Abs 1 StGB (Veruntreuung) obj. TB: Zueignung eines anvertrauten Guts Gut = Kasse samt Inhalt anvertraut (alleinige Verfügungsmacht + Rückstellungs-oder Verwendungsverpflichtung) Zueignung durch Einstecken des Geldes 19 § 133 Abs 1 StGB (subj. TB) 20 Variante 3 subj. TB § 166 Abs 1 StGB (Privilegierung) Begehung eines der aufgezählten Delikte zum Nachteil eines Angehörigen („Familienkreis“) hier: Tatvorsatz erweiterter Vorsatz auf unrechtmäßige Bereicherung (hier: „finanzielle Bedrängnis“) Veruntreuung in § 166 Abs 1 StGB aufgezählt Begehung ausschließlich zum Nachteil des Vaters des L Ergebnis: Strafbarkeit des L nach § 133 Abs 1 StGB. 21 22 Ergebnis zu Variante 3 L ist nach § 133 Abs 1 iVm § 166 Abs 1 StGB zu bestrafen. 23 4