Editorial: Psychoanalytisch

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Editorial
Psychoanalytisch-interaktionelle Therapie
D
ie psychoanalytisch-interaktionelle Arbeitsweise wurde – beginnend in den 1970erJahren – vor dem Hintergrund der Probleme entwickelt, vor die sich Psychoanalytiker und Psychotherapeuten gestellt sahen, die mit der therapeutischen Versorgung erheblich beeinträchtigter Patienten betraut waren. Um psychoanalytische Erfahrungen und Konzepte für die psychotherapeutische Behandlung von Patienten mit
sogenannten strukturellen Störungen und
schweren Persönlichkeitsstörungen nutzen zu
können, war es erforderlich, verschiedene Modifikationen vorzunehmen, die vor allem die
psychoanalytische Behandlungstechnik betrafen. Ursprünglich als Gruppentherapie entwickelt (Heigl-Evers, Heigl 1983) wurde die psychoanalytisch-interaktionelle Methode kontinuierlich weiterentwickelt und hat sich in dem lange Zeit vernachlässigten Versorgungsbereich
schwer gestörter Patienten seit vielen Jahren als
effektive Behandlungsmethode bewährt.
Strukturelle Störungen bzw. Persönlichkeitsstörungen zeigen sich vor allem im Zusammensein mit Anderen. Darum wurden Persönlichkeitsstörungen auch „Störungen des Sozialen“
genannt (z.B. Möller et al. 1996). Ähnlich haben
Heigl-Evers et al. (1993) die Beeinträchtigungen
von Patienten mit strukturellen Störungen treffend als „Beziehungspathologie“ bezeichnet.
Die Beziehungserfahrungen der Patienten sind
zu körperlichem, implizitem Wissen geronnen
und finden in den sprachlichen Äußerungen oftmals keinen Ausdruck (Boston Change Process
Study Group 2007). Dagegen zeigen sie sich im
Zusammensein mit Anderen, in interpersonellem Geschehen. Darum liegt es nahe, Interpersonalität ins Zentrum der psychotherapeutischen Arbeit mit Patienten mit strukturellen und
Persönlichkeitsstörungen zu rücken und die therapeutische Situation in einer Weise zu gestalten, die es erlaubt, dieses interpersonelle Ge-
schehen zu untersuchen und therapeutisch zu
handhaben.
Psychotherapie fokussiert zumeist ganz überwiegend auf die mentale Welt des Patienten.
Das ist auch dann der Fall, wenn die Beeinträchtigungen des Patienten in erster Linie seine Beziehungen mit Anderen betreffen. Gegenstand
der Therapie ist dann nicht interpersonelles oder
intersubjektives Geschehen, nicht das Geschehen zwischen Akteuren, sondern das Erleben
des Patienten von interpersonellem Geschehen.1 Als „intersubjektiv“ oder „interpersonell“
wird dann meist nicht mehr als der triviale Umstand ausgedrückt, dass sich Patient und Therapeut gegenseitig beeinflussen. Die Therapie
bleibt auf den individuellen Patienten bezogen,
der in seiner mentalen Welt lebt und befangen
ist, zu der nur mit Einschränkungen und mit Hilfe besonderer therapeutischer Mittel wie freien
Einfällen und Deutungen Zugang zu erlangen
ist.
Die psychoanalytisch-interaktionelle Arbeitsweise fokussiert demgegenüber auf die interpersonelle Welt des Patienten und auf implizites
Beziehungswissen. Interpersonelle Verhältnisse
trägt der Patient aber nicht in seiner psychischen
Binnenwelt mit sich herum; soziale Lebenswelten kann eine Person nicht alleine hervorbringen. Interpersonelles Verhalten ist immer Verhalten im Kontext des Verhaltens von Anderen, ob
diese Anderen real anwesend sind oder nicht.
Das Verhalten des Patienten ist zumindest an ei1
Auch in der Psychotherapieforschung wird nur selten Interpersonalität untersucht. Vielmehr wird dort als Untersuchung von interpersonellen Beziehungen ausgegeben,
was in Wirklichkeit – meist mittels Fragebogen erhobene
– Feststellungen des Patienten über Erfahrungen mit interpersonellen Beziehungen sind. Auf diesem Weg kann
aber allenfalls explizites Wissen von Beziehungserfahrungen erfasst werden, nicht jedoch das implizite Beziehungswissen, das in sozialen Situationen aktualisiert wird
und immer wieder zu den Problemen des Patienten im
Zusammensein mit Anderen führt.
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ne andere Person adressiert, die sich ihrerseits
zuvor im Verhältnis zu ihm, dem Patienten, geäußert hat und im Weiteren sich wiederum auf
das vorangegangene Verhalten des Patienten beziehen wird, explizit oder implizit, in jedem Fall
unvermeidlich. Ebenso ist das implizite Beziehungswissen so nicht „in dem Patienten“ auffindbar vorhanden, sondern kommt erst in der
interaktiven Gestaltung interpersonellen Geschehens zur Geltung. „Interpersonelle Verhältnisse“ aber heißt wiederum: im Kontext bestimmten Verhaltens von Anderen.
Der Schwerpunkt der therapeutischen Arbeit
liegt deshalb auf dem „Wie“ der Gestaltung interpersoneller Beziehungen und auf den Mitteln
und Prozeduren, mit denen Patient und Therapeut ihre gemeinsame interpersonelle Situation
fortlaufend gestalten und weiterentwickeln.
Wie die psychoanalytisch-interaktionelle Arbeitsweise auf Interpersonalität bezogen ist,
zeigt sich besonders deutlich an der Art und
Weise, wie der Psychotherapeut das Geschehen
im Behandlungszimmer mitgestaltet. Anders als
üblich, gibt sich der Psychotherapeut als Teilnehmer zu erkennen, als Person im Gegenüber
des Patienten, die mit Gefühlen und Handlungsbereitschaften auf das Verhalten des Patienten
antwortet und auf das der Patient seinerseits in
bestimmter Weise antwortet. Der Therapeut
zeigt sich hier somit als Teilnehmer und Beteiligter, als Reagierender und Mitgestalter an dem interpersonellen Geschehen, das sich zwischen
dem Patienten und ihm bzw. zwischen den Anwesenden in der Gruppe entfaltet. Die fortlaufenden und sich fortlaufend verändernden interpersonellen Situationen sind so präsent – nicht
sprachlich-symbolisch repräsentiert, sondern in
der Situation gegenwärtig – und ihre interaktive
Gestaltung kann in den Mittelpunkt der gemeinsamen Aufmerksamkeit rücken. Der Psychotherapeut äußert sich nicht zu dem oder über den
Patienten und dessen Erleben, sondern gibt dem
Patienten soweit Einblick in jene Aspekte seines
eigenen Erlebens und seiner Handlungsbereitschaften, die der Patient induziert hat. Das zu erkennen, ermöglicht es dem Patienten, für sich
selbst im Zusammensein mit Anderen und An-
derer mit ihm aufmerksam zu sein und besser zu
verstehen, wie es immer wieder zu den schwierigen und belasteten interpersonellen Situationen kommt, die ihn in seinem sozialen Alltag
belasten (Streeck, Leichsenring 2015).
Beiträge dieser Ausgabe
In ihrem einleitenden Beitrag stellen Ole Falck
und Ulrich Streeck vor dem Hintergrund langjähriger Erfahrungen mit der Behandlung von
schwer gestörten Patienten mit sogenannten
strukturellen Störungen und Persönlichkeitsstörungen grundlegende Aspekte der psychoanalytisch-interaktionellen Methode dar und erläutern, wie die Praxis der therapeutischen Arbeit
gestaltet werden kann. Andreas Dally zeigt, dass
die Vielfalt interpersoneller Situationen, in denen die Patienten in stationärer psychotherapeutischer und psychiatrischer Behandlung sich bewegen, besondere Chancen bietet, um die Störungen der Patienten mit der psychoanalytischinteraktionellen Vorgehensweise zu behandeln.
Anke Valkyser stellt die Ergebnisse einer naturalistischen Studie vor, mit der die gute Wirksamkeit insbesondere hinsichtlich der Verbesserung
interpersoneller Probleme der Patienten von
psychoanalytisch-interaktioneller Gruppentherapie in einer allgemeinpsychiatrischen Klinik
untersucht und mit einer Kontrollgruppe verglichen wurde, die mit Dialektisch-Behavioraler
Therapie stationär psychiatrisch behandelt wurde. In einer randomisierten kontrollierten Studie
bei jugendlichen Patienten mit einer kombinierten Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen, die sich vor dem Hintergrund schwerwiegender negativer Beziehungserfahrungen
entwickelt hatten, konnten Simone Salzer,
Carola Cropp und Annette Streeck-Fischer die
Wirksamkeit der psychoanalytisch-interaktionellen Methode im stationären Behandlungsrahmen belegen. Ursula Fennen stellt in ihrem
Beitrag ihre Erfahrungen mit der psychoanalytisch-interaktionellen Therapie in der Behandlung von suchtkranken Patienten dar, wo die
Methode seit Langem eingesetzt wird. Abschlie-
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ßend berichten Falk Leichsenring und Christiane
Steinert in einer Übersichtsarbeit über die Evidenz verschiedener Methoden, die für die Behandlung struktureller Störungen eingesetzt werden.
Vielleicht kann das vorliegende Heft der PDP
zur psychoanalytisch-interaktionellen Methode
dazu beitragen, die Leserinnen und Leser zu
ermuntern, dass sie sich der psychotherapeutischen Behandlung von Patienten mit schweren
entwicklungsbedingten Störungen stellen. Die
vorliegenden weit über vierzigjährigen und umfangreichen Erfahrungen mit der psychoanalytisch-interaktionell ausgerichteten psychotherapeutischen Versorgung von Patienten in verschiedenen psychotherapeutischen Sektoren
sprechen nicht nur dafür, dass es sich um eine
dankbare Tätigkeit handeln, sondern dass die
interaktionell ausgerichtete Arbeitsweise auch
höchst befriedigend sein und Freude machen
kann.
Ulrich Streeck, Göttingen
Fall- und Teamsupervision, Gruppensupervision Fortbildung
in Gruppenanalyse und Gruppentherapie. Ein- bis zweitägige
Fortbildungen zur psychoanalytisch-interaktionellen Methode
für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in psychotherapeutischen und psychosomatischen Abteilungen und Kliniken werden sowohl vor Ort durchgeführt wie regelmäßig in Göttingen angeboten (www.streeck.net)
Literatur
Heigl-Evers A, Heigl F (1983). Das interaktionelle Prinzip in
der Einzel- und Gruppenpsychotherapie. Zeitschrift für
Psychosomatische Medizin und Psychotherapie 29, 1–14.
Heigl-Evers A, Heigl F, Ott J (1993). Lehrbuch der Psychotherapie. Stuttgart, Jena: Gustav Fischer.
Möller H-J, Laux G, Kapfhammer H-P (Hrsg) (1996). Psychiatrie. Stuttgart: Hippokrates.
Boston Change Process Study Group (2007). The foundational
level of psycho-dynamic meaning: Implicit process in relation to conflict, defense, and the dynamic unconscious.
International Journal of Psychoanalysis 88, 843–860.
Streeck U, Leichsenring F (2015). Handbuch psychoanalytisch-interaktionelle Therapie. Behandlung von strukturellen Störungen und schweren Persönlichkeitsstörungen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
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