Psychiatrie-Experten aus Erfahrung

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Wissen
Sonntag, 3. November 2013 / Nr. 44 Zentralschweiz am Sonntag
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Psychiatrie-Experten aus Erfahrung
Gesundheit Was in den
USA vor 25 Jahren begann,
fasst auch in der Schweiz Fuss:
Ehemalige Betroffene unterstützen Ärzte und Fachpersonal bei der therapeutischen
Arbeit mit aktuellen Patienten.
mals einen Suizidversuch unternommen
hat, ist heute psychisch stabil. Wie
Martin Reinert erzählt auch sie von
einem positiven Effekt der Peer-Ausbildung auf die eigene Gesundheit. Filomena Russo strahlt im Gespräch ein
grosses Einfühlungsvermögen aus: «Ich
versuche, allen Patienten gerecht zu
werden, was nicht immer einfach ist.»
Mittlerweile gebe es eine Patientin, die
sich nur bei ihr öffne. Das Verhältnis zu
ihr sei sehr vertrauensvoll – die Hemmschwelle im Gespräch sei ihr gegenüber
weniger hoch. Womöglich wird das
Pensum von Russo an der ZugerseeKlinik in Oberwil bald auf 20 Prozent
und um eine weitere Station erhöht.
SUSAnnE Holz
[email protected]
Martin Reinert (37) erkrankte mit
22 Jahren erstmals an einer Psychose:
«Davor und in den folgenden Jahren
gab es Zeiten mit viel Leid und Hoffnungslosigkeit.» Insgesamt verbrachte
er dreimal je drei Monate in einer Klinik.
Er konnte seine Matura nicht machen
und hatte einen schwierigen Einstieg
ins Berufsleben. Der Wahlzürcher ging
insgesamt sieben Jahre regelmässig in
eine Psychotherapie, er wollte gesund
werden, «blieb immer dran», wie er es
formuliert. Und er hat es geschafft: «Seit
vier Jahren fühle ich mich sehr gut, zufrieden und gesund», sagt Reinert.
tiefe Gespräche
eigene stabilität festigen
Seit dreieinhalb Jahren hat er einen
50-Prozent-Job als kaufmännischer Angestellter. «Ganz wichtig ist, nie aufzugeben, immer was zu machen, ein Ziel
zu haben.» Und: «Genauso wichtig ist
es, Leute um sich zu haben, die einem
Hoffnung machen. Mein Umfeld hat an
mich geglaubt.»
Martin Reinert entwickelte ein Bewusstsein dafür, was ihm guttut und was
nicht. Er lernte, «auf sich zu schauen».
2010 begann er bei der Pro Mente Sana
(siehe Hinweis am Schluss) eine Ausbildung zum «Experten aus Erfahrung»
– zum Peer. Diese Ausbildung dauerte
anderthalb Jahre, sie beinhaltet unter
anderem theoretisches Wissen zu psychischen Krankheiten, eine Ausbildung
in Gesprächsführung, Selbstreflexion
und Gruppenreflexion. Das Studium
AnzEigE
Angewandte
Traumatherapie
Neue Ausbildung/Infoveranstaltung
«Ganz gleich, in welchem Setting Menschen mit Traumafolgestörungen behandelt werden, sie brauchen in jedem Fall
eine traumaadaptierte, traumaspezifische
Psychotherapie und/oder Beratung.»
(Flatten 2004)
Im Dezember 2013 starten wir mit einer
neuen Ausbildung, welche die angewandte
Traumatherapie ins Zentrum rückt. Wir
wollen mit dieser Ausbildung Menschen
ansprechen, die mit Traumata in Berührung
kommen und Hilfsmittel/Techniken brauchen, um in akuten Situationen Traumata
zu begleiten und sich selber zu schützen.
Das Erkennen, sowie die therapeutische Behandlung von PatientInnen mit komplexen
Traumafolgestörungen benötigt ein spezifisches Fachwissen im Bereich der Psychotraumatologie, der Neurobiologie sowie der
Bindungstheorie. Darüber hinaus erfordert
diese therapeutische Begleitung ein hohes
Mass an menschlichem Engagement.
Haben wir Ihr Interesse geweckt? Besu­
chen Sie unsere Infoveranstaltung und
erfahren Sie mehr darüber.
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Sie weiss, wovon sie spricht: Filomena Russo als Peer im Gespräch mit einer Patientin
der Psychiatrischen Klinik Zugersee in Oberwil (gestellte Szene).
Bild Stefan Kaiser
hatte ausserdem einen Nebeneffekt.
Martin Reinert: «Die Ausbildung festigte meine psychische Stabilität zusätzlich
– ich konnte noch einmal mit meiner
Krankheit abschliessen.»
Genesung im Vordergrund
An dieser Stelle kommt der 37-Jährige auf den Begriff Recovery (Genesung)
zu sprechen. Recovery und Peer-Arbeit
sind in der modernen Psychiatrie eng
miteinander verbunden: Die Genesung
steht im Vordergrund, und «die Genesungserfahrung von psychisch erschütterten Menschen wird zunehmend anerkannt, in die Behandlung einbezogen
und so für andere nutzbar gemacht»,
wie es in der Zeitschrift «Pro Mente
Sana aktuell» (2/2013) heisst.
«Recovery bedeutet für mich: Es ist
möglich, gesund zu werden», erklärt
Martin Reinert. Er sitzt seit Dezember
2012 als erster Betroffener im Stiftungsrat von Pro Mente Sana und begann
nach dem Abschluss seiner Ausbildung
mit der Peer-Arbeit: So leitet er Recovery-Workshops, nimmt an Podiumsdiskussionen und Tagungen teil, verfasst
Artikel und vernetzt andere Peers. Gemeinsam mit drei anderen organisierte
er im letzten Sommer ein nationales
Treffen in Luzern. Derzeit gibt es in der
Schweiz 30 Peers mit einer Ausbildung.
Man traf sich zum Erfahrungsaustausch.
Und was ergab dieser? Beispielsweise,
dass man inzwischen bei den Kliniken
auf offene Türen stosse – man sei erwünscht.
Peers in der Psychiatrie setzten den
Schwerpunkt auf Beziehungsarbeit, die
Patienten redeten offener, wenn sie
wüssten, dass der Gesprächspartner ein
Experte aus eigener Erfahrung ist. Ein
bisschen Zeit brauche mancherorts noch
«ich versuche, allen
Patienten gerecht zu
werden, was nicht
immer einfach ist.»
F i lo m E n A R U S S o , P E E R A n
dER KliniK zUgERSEE
das Pflegepersonal, um sich an die Peers
zu gewöhnen. Auch seien die Kompetenzen der Peers noch nicht klar
geregelt.
Was aber womöglich nicht mehr lange zu beklagen sein wird: Die Institutionalisierung der Peers schreitet voran.
Gestern Samstag haben sich 17 Peers
aus der Deutschschweiz in Zürich zur
Gründungsversammlung ihres Vereins
«Peer+ – Fachverband der ExpertInnen
aus Erfahrung» getroffen. Der Verein will
für die ganze Schweiz offen sein.
Vom Pflegepersonal geschätzt
Beim Verein dabei ist auch Filomena
Russo (53), die seit November 2012 als
Peer auf einer Akutstation der Psychiatrischen Klinik Zugersee in Oberwil
arbeitet. Für sie läuft die Zusammenarbeit mit dem Pflegepersonal nach
anfänglichen Kommunikationsschwierigkeiten «sehr gut». Nur ganz zu Beginn
habe sie das Gefühl gehabt, man wisse
gar nicht, «warum ich da bin». Inzwischen sei das Personal froh um sie und
die Zeit, die sie für Patienten aufbringe.
Filomena Russo ist jeden Freitagnachmittag im Einsatz. Vor Arbeitsbeginn
sowie am Abend gibt es einen Austausch
mit dem Pflegepersonal: über die Patienten und auch darüber, wie es ihr
selbst mit ihrer Arbeit ergeht.
Die Altdorferin, die eine schwere
Kindheit hatte und als Jugendliche erst-
Gut 20 Jahre Psychiatrie-Erfahrung hat
Momo Christen (43). Als sie 1990 zum
ersten Mal in psychiatrische Behandlung
kam, lautete ihre Diagnose auf Depression und dissoziative Störung sowie auf
eine posttraumatische Belastungsstörung. Auch die Bernerin hat eine sehr
schwere Kindheit hinter sich. Ab 2010
absolvierte die gelernte Pflegeassistentin
und Kindergärtnerin den ersten Ex-InStudiengang (siehe Box) an der Fachhochschule für Gesundheit in Bern. Seit
2012 arbeitet sie in einem Fünf-ProzentPensum an der Psychotherapie-Tagesklinik der Universitären Psychiatrischen
Dienste Bern – als Peer.
Alle zwei Wochen nimmt Christen
montags an der Morgenrunde teil, danach ist sie frei verfügbar für Patienten.
Auf neue und schüchterne Patienten
gehe sie zu, viele kämen aber von selbst
zu ihr. «Es gibt tiefe Gespräche», sagt
die Bernerin. Häufig würden die Patienten denken, dass kein gutes Leben mehr
möglich sei. Wenn sie als ehemalige
Betroffene den psychisch Erschütterten
Hoffnung mache, sei das für diese vermutlich glaubwürdiger, als wenn der
Therapeut das sage. «Wir sprechen die
gleiche Sprache – und überwiegend
sagen die Patienten zu mir: Toll, dass
es dich gibt.» Einen Nutzen für sich
selbst sieht Momo Christen auch: «Ich
trage Verantwortung – meine Geschichte hat einen Sinn bekommen.»
nicht alle findens gut
Doch es gibt auch kritische Stimmen
zur Peer-Arbeit in der Psychiatrie. In der
«Pro Mente Sana aktuell»-Ausgabe vom
Juni schreibt Marta T., Fachfrau und
Psychiatrie-Erfahrene: «In der RecoveryBewegung heisst es nun: Du bist krank,
und ich bin an dir interessiert. Du sollst
es so machen, wie ich es dir empfehle ...
und weil mir deine Gesundung ein
Erfolgserlebnis verschafft.»
Zwingen die Peers ihre eigenen Erfahrungen und Heilungswege womöglich den Patienten auf? Thomas IhdeScholl, Chefarzt der psychiatrischen
Dienste Interlaken, sieht das nicht so:
«Gerade hier liegt ja einer der Schwerpunkte der Ex-In-Ausbildung – nämlich
vom Ich-Wissen zum Wir-Wissen zu
gelangen, im gemeinsamen Gespräch
auf gleicher Augenhöhe.»
HinWeis
Die schweizerische stiftung Pro Mente sana setzt
sich für die Anliegen von Menschen mit einer
psychischen erkrankung sowie gegen Vorurteile
und Benachteiligung ein. Die Organisation wurde
1978 von der stiftung «forum psychosociale» und
der schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft
gegründet. Mehr infos: www.promentesana.ch
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13.11.2013
18.00 bis 20.00 Uhr
Kosten: CHF 25.00
Anmeldung:
Paramed Akademie AG,
Bildungszentrum für Ganzheitsmedizin,
Haldenstrasse 1,
6340 Baar,
041 768 20 70, [email protected]
www.paramed.ch
Bildungszentrum und
Ambulatorium in Baar
www.paramed.ch
«Peers sind niederschwellige Brückenbauer»
Die psychiatrischen Dienste der Spitäler Frutigen Meiringen Interlaken beschäftigen zwei festangestellte PeerFachfrauen und drei Peers. Chefarzt
Thomas Ihde-Scholl (Bild) bezeichnet
die bisherigen Erfahrungen als «insgesamt sehr erfreulich».
Welche Vorteile bringt die PeerArbeit mit sich?
Thomas Ihde-Scholl: Peers sind Brückenbauer zwischen dem traditionellen Behandlungsteam und
den Betroffenen. Sie
werden vom Patienten als niederschwellig erlebt, als
nicht wertend und
als lösungsorientiert. Gerade auch
Angehörige schätzen das Peer-Ange-
bot sehr. Erfahrungen zeigen zudem,
dass die Peer-Arbeit auch der eigenen
Gesundung der Peers zugutekommt.
Peers als sehr demütig gegenüber psychischer Erkrankung, viel mehr, als Fachpersonen dies sind.
Können Peers auch emotional überfordert sein oder ihre eigenen Erfahrungen unbewusst den Patienten
aufzwingen?
Ihde-Scholl: Peer-Arbeit ist emotional
sehr belastend. Oft sind die Erwartungen
aller Beteiligten an die Peers sehr hoch,
und oft werden gerade auch die schwierigsten Patienten, bei denen traditionelle Therapien wenig wirksam sind, an
Peers vermittelt. Die Gefahr, dass Peers
ihre eigenen Erfahrungen und Heilungswege unbewusst dem Patienten aufzwingen, sehe ich aber nicht. Einer der
Schwerpunkte der Ex-In-Ausbildung
liegt ja darin, vom Ich-Wissen zum WirWissen zu gelangen im gemeinsamen
Gespräch auf Augenhöhe. Ich erlebe
Wo steht die Peer-Arbeit in der
Schweiz im Moment?
Ihde-Scholl: Bei den Institutionen entdecken viele die Peer-Arbeit, und auch
die Betroffenen sind sehr interessiert –
für die 20 Ausbildungsplätze im letzten
Kurs gab es 130 Bewerbungen. Aktuell
gibt es viele alltagspragmatische Fragen
zu klären: Wie werden Peers entlöhnt
und eingestuft, wer bezahlt sie, wie verhält es sich mit der Schweigepflicht? Bei
allen offenen Fragen: Peers und Recovery sind wichtige Schritte hin zu einer
nachhaltigen und menschlichen Psychiatrie. Es ist ein Abkehren von der reinen
Fokussierung auf Symptome und Defizite hin zu einer ressourcenaktivierenden
Behandlung.
das Ex-in-diplom
AusbildunG sh. Ex-In steht für
Experienced Involvement, den Einbezug Erfahrener: Menschen, die
Erfahrung mit psychischer Krankheit
und psychiatrischer Behandlung haben, reflektieren diese Erfahrungen
und setzen sie dann zur Unterstützung anderer Erkrankter ein, sei es
als Peer-Mitarbeiter in der Psychiatrie, sei es in der Antistigma-Arbeit
oder in Gremien.
Von 2010 bis 2012 wurde an der
Berner Fachhochschule für Gesundheit die erste Ex-In-Weiterbildung
angeboten, in Form des Diploma of
Advanced Studies (DAS) Experienced Involvement (Studiengang für
Psychiatrie-Erfahrene). Der zweite
Studiengang begann im September
2012 und dauert bis August 2014 – in
Kooperation mit der Stiftung Pro
Mente Sana. 20 Studierende absolvieren ihn (www.ex-in-bern.ch).
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