Diagnostik und Differentialdiagnostik von Autismus-Spektrum-Störungen Prof. Dr. Michele Noterdaeme Top 1: Einführung, diagnostischen Kriterein, Klassifikation Top 2: ADOS Praktische Beispiele Top 3: Differentialdiagnosen/Komorbidität Fallvignetten Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie Irsee2013 Noterdaeme, Diagnostik und Differenzialdiagnostik, 2013 Überblick 1943-1944 1911 Autismus-Spektrum-Störungen 1979 1966 1965-1980 1975 2013 1990-1994 • Qualitative Beeinträchtigungen in der wechselseitigen sozialen Interaktion • Qualitative Beeinträchtigungen in der Sprache und Kommunikation • Eingeschränktes, sich wiederholendes Verhaltensrepertoire Noterdaeme, Diagnostik und Differenzialdiagnostik, 2013 Noterdaeme, Diagnostik und Differenzialdiagnostik, 2013 Joint attention Unter joint attention wird die Lenkung der Aufmerksamkeit auf ein Objekt des Interesses oder auch gerade stattfindende Ereignisse oder Handlungen verstanden. Die Lenkung kann durch Gesten, Mimik, Körpersprache oder Vokalisationen geschehen. Mundy et al. 1998, 2003, Paparella 2004 Noterdaeme, Diagnostik und Differenzialdiagnostik, 2013 Turntaking Turn-takings bezeichnen spielerische soziale Interaktionssituationen. Es ist ein wechselseitiger Prozess, in dem das Kind nicht auf Angebote reagiert, sondern zielgerichtet Interaktionen initiiert. Sowohl „Erwartungserhaltung des Kindes und das „Motivieren des Erwachsenen können nonverbal durch Reaktionen in der Körperhaltung, Mimik und Stimmgebung des Kindes als auch durch den Erwachsenen signalisiert und aufrechterhalten werden. Noterdaeme, Diagnostik und Differenzialdiagnostik, 2013 Entwicklungsstörungen • Beginn in der frühen Kindheit • Störungen von Funktionen, die eng an die biologische Reifung des ZNS gebunden sind Klassifikation von ASS • F 84.0 Frühkindlicher Autismus • F 84.5 Asperger-Syndrom • F 84.1 Atypischer Autismus • F84.9 Nicht näher bezeichnete TE (PDD-NOS) • Stetiger, chronischer Verlauf, ohne Rezidiven oder Remissionen Noterdaeme, Diagnostik und Differenzialdiagnostik, 2013 Noterdaeme, Diagnostik und Differenzialdiagnostik, 2013 Epidemiologie Epidemiologie Fombonne 2005 Journal of Clinical Psychiatry Noterdaeme, Diagnostik und Differenzialdiagnostik, 2013 ASS Fombonne 2005 Journal of Clinical Psychiatry Noterdaeme, Diagnostik und Differenzialdiagnostik, 2013 Soziale Kommunikation ASS 1. stereotype und repetitive motorische/sprachliche Manierismen (Hand- und Fingerschlagen, Echolalie, Floskelsprache) 2. offensichtlich zwanghafte Anhänglichkeit an spezifische, nicht funktionale Handlungen und Rituale, inklusive verbale oder nonverbale Rituale (immer die gleichen Fragen stellen) 3. umfassende Beschäftigung mit gewöhnlich mehreren stereotypen und begrenzten Interessen, die in Inhalt und Schwerpunkt abnorm sind 4. Hyper- oder Hyporeaktivität für sensorische Reize vorherrschende Beschäftigung mit nicht funktionalen Elementen des Spielmaterials (z. B. ihr Geruch, die Oberflächenbeschaffenheit oder das von ihnen hervorgebrachte Geräusch oder ihre Vibration) 1. Mangel an sozio-emotionaler Gegenseitigkeit Qualitative Beeinträchtigungen bis zum völligen Ausbleiben der sozialen Annäherungsversuche Keine wechselseitige Kommunikation, Mangel spontan Freude, Interessen oder Tätigkeiten mit anderen zu teilen 2. Defizite in der nonverbalen Kommunikation Unfähigkeit, Blickkontakt, Mimik, Körperhaltung und Gestik zur Regulation sozialer Interaktionen zu verwenden 3. Unfähigkeit, Beziehungen zu Gleichaltrigen aufzunehmen, mit gemeinsamen Interessen, Aktivitäten und Gefühlen Noterdaeme, Diagnostik und Differenzialdiagnostik, 2013 Repetitives Verhalten Noterdaeme, Diagnostik und Differenzialdiagnostik, 2013 Von der DSM-IV zu DSM 5 Qualitative Beeinträchtigungen in der wechselseitigen sozialen Interaktion (4) Auflösung der Subkategorien Autismus-SpektrumStörung Frühkindlicher Autismus Asperger-Syndrom Qualitative Beeinträchtigungen in der sozialen Kommunikation (3) Qualitative Beeinträchtigungen in der Sprache und Kommunikation (4) Eingeschränktes, sich wiederholendes Verhaltensrepertoire (4) Atypischer Autismus Nicht näher bezeichnete TE Social communication disorder Eingeschränktes, sich wiederholendes Verhaltensrepertoire (4) Noterdaeme, Diagnostik und Differenzialdiagnostik, 2013 Noterdaeme, Diagnostik und Differenzialdiagnostik, 2013 Autismus DSM IV and DSM 5 A. Vor dem 3. LJ A. In der frühen Kindheit B. mindestens 6/12 B. mindestens 5/7 • • Früherkennung Kanner-Asperger 80 12 • • Mindestens 2 Symptome von 1. (soz. Interaktion) Mindestens eins von 2. (Kommunikation) Mindestens eins von 3. (RRV) • Obligat alle Kriterien der sozialen Kommunikation Mindestens zwei Kriterien aus dem 3. Bereich von 3. (RRV) 10 60 8 40 6 4 20 C. Ausschluss • • Noterdaeme, Diagnostik und Differenzialdiagnostik, 2013 2 Std.abw. = 3,28 Mittel = 9,1 Mittel = 6,2 N = 356,00 0 ,0 24 ,0 22 ,0 20 ,0 18 ,0 16 ,0 14 ,0 12 ,0 10 0 8, 0 6, 0 4, 0 • Std.abw. = 3,61 2, • C. Schweregradeinschätzung eine spezifische Entwicklungsstörung der rezeptiven Sprache D. Zusatzkodierungen eine reaktive Bindungsstörung • Sprachstörungen, (F94.1) • Intelligenzminderung eine Intelligenzminderung (F70F72) eine Schizophrenie (F20) Alter bei Diagnose Autismus N = 42,00 0 4,0 5,0 6,0 8,0 7,0 10,0 12,0 14,0 16,0 9,0 11,0 13,0 15,0 17,0 Alter bei Diagnose Asperger Syndrom Noterdaeme et al. Autism 2010 Noterdaeme, Diagnostik und Differenzialdiagnostik, 2013 Diagnostik von ASS ,,,,,,,,,,,, BindungG störung, (Soziale), Phobíen, Depression, Mu)smus, Keine validen Biomarker ADHS, Schizoide/, Störung, Soziale, Beeinträch)gung, Umschriebene, Sprachstörung, Verhaltensbasiert ZwangsG, störung, Au)smusG, SpektrumG, Störung, Psychische Störung/ Konstrukt (latent) Begrenzte,Interessen,&, repe))ve,,stereotype, Verhaltensmuster, Kommunika)ve, Beeinträch)gung, IntelligenzG, minderung, Beobachtbares (manifestes) Verhalten Hörstörung, Gene)sche,, Syndrome, Epilepsie, Noterdaeme, Diagnostik und Differenzialdiagnostik, 2013 Multidimensionale Diagnostik Medizinische Diagnostik KU Neurologie Genetik Hören/ Sehen Mindestanforderung Screening Fragebogen NeuroPsychologische Diagnostik Intelligenz Psychiatrische Diagnostik Autismus spezifisch Psychosoziale Diagnostik Noterdaeme, Diagnostik und Differenzialdiagnostik, 2013 Sprache TOM Diagnose/Klinik ADOS plus Anamnese Komorbidität Verlauf Schule, Freundschaften, Wohnen, Beruf Fragebogen ADOS (mit längerem Abstand) Noterdaeme, Diagnostik und Differenzialdiagnostik, 2013 Ticstörung, Screening und Diagnose ADI-R Diagnostik Elterninterview ab 24 Mo Diagnostik Beobachtung ab 24 Mo Screening Fragebogen ab 36 Mo Screening Fragen, Beobachtung 24 Mo Dimensionale Diagnostik Fragebogen 4-18 LJ Social Responsiveness Scale (SRS) MBAS Screening Fragen 72 Mo ADI-R Autism Diagnostic Interview ADOS-G Autism Diagnostic Observation Schedule FSK Fragebogen zur Sozialen Kommunikation M-CHAT Modified Checklist for Autism in Toddlers SRS • Originalversion LeCouteur 1989 • Revidierte Fassung Lord &LeCouteur 1994 • Abgrenzung zuverlässig – Geistige Behinderung (Lord 1997, Le Couteur 1998) – Sprachstörung (Fombonne 2001, Noterdaeme 2002, Bishop 2003) – Störung des Sozialverhaltens (Gilchrist 2001) Die Marburger Beurteilungsskala zum Asperger Syndrom Noterdaeme, Diagnostik und Differenzialdiagnostik, 2013 ADI-R Noterdaeme, Diagnostik und Differenzialdiagnostik, 2013 Autism Diagnostic Interview-Revised • Hintergrundinformationen Kind/Familie • Frühe Entwicklungsgeschichte/Meilensteine • Spracherwerb und Verlust von Fähigkeiten • Kommunikation und Sprache • Soziale Entwicklung und Spielverhalten • Interessen und repetitives Verhalten ADOS-G • Halbstandardisierte Beobachtung • Sozial-kommunikative Fähigkeiten • Vier Module ! Modul I Vorsprachlich ! Modul IIDreiwortsätze, keine flüssige Sprache ! Modul III Fließend sprechend (Kind) ! Modul IV Fließend sprechend (Erwachsener) • Komorbidität und isolierte Fertigkeiten Noterdaeme, Diagnostik und Differenzialdiagnostik, 2013 Autism Diagnostic Observation Schedule Noterdaeme, Diagnostik und Differenzialdiagnostik, 2013 ADOS-G ADOS-G Autism Diagnostic Observation Schedule • Untersucher erzeugt gezielt soziale Situationen, in denen kritische Verhaltensweisen mit hoher Wahrscheinlichkeit auftreten (Autism Diagnostic Observation Schedule) • Sprache • Soziale Interaktion - Ausmaß der sozialen Annäherungsversuche - Qualität der Kontaktaufnahme/soziale Reaktionen - Blickkontakt - Mimik - Kommunikation eigener Gefühle - Einfühlungsvermögen - Verständlichkeit - Konversation - Sprache und nonverbale Kommunikation - Berichte von Ereignissen außerhalb des unmittelbaren Zusammenhangs - Pronominalumkehr - Echolalie - pedantische Sprache • Untersucher hält sich zurück, um Kind Gelegenheit zu geben Interaktion zu initiieren • Je Modul Bewertung von 28 bis 31 kritischen Verhaltensweisen • ADOS (Algorithmus) schließt abnorme Entwicklung und repetitives Verhalten nicht ein Noterdaeme, Diagnostik und Differenzialdiagnostik, 2013 Noterdaeme, Diagnostik und Differenzialdiagnostik, 2013 Auswahl des Moduls Modul 3 Modul 1 Modul 2 Modul 3 Modul 4 Vorsprachlich Kleine Kinder Sprechen Sätze Kinder Fließend Kinder/Jug. Interview Erwachsene Alter Kind Erwachsenen Expressives Sprachniveau Stumm fließend Aktivitäten/Aufgaben Spiel Noterdaeme, Diagnostik und Differenzialdiagnostik, 2013 • • • • Konstruktionsaufgabe „So-tun-als-ob Spiel Gemeinsames Spiel Demonstrationsaufga be • Bildbeschreibung • Erzählen aus einem Bilderbuch • Cartoons Interview Noterdaeme, Diagnostik und Differenzialdiagnostik, 2013 (14 Aufgaben/30 Kodierungen) • • • • • • Konversation, Bericht Gefühle soziale Probleme Freundschaft und Ehe Einsamkeit Erfinden einer Geschichte • Pause Kodierung • 0 = das Verhalten bietet keinen Anhaltspunkt für eine Auffälligkeit im beschriebenen Sinn • 1 = das Verhalten ist etwas auffällig oder merkwürdig, aber nicht unbedingt eindeutig abnorm • 2 = das Verhalten ist gemäß der Definition eindeutig abnorm Kodierung • 7 = es tritt ein abnormes Verhalten auf, das nicht durch andere Kodierungen abgedeckt wird • 8 = wenn das Item logisch nich beurteilbar ist (z.B. können Sprachauffälligkeiten nicht beurteilt werden, wenn das Kind nicht sprechen kann) • 3 = das Verhalten ist eindeutig abnorm und stört die Untersuchung Noterdaeme, Diagnostik und Differenzialdiagnostik, 2013 Modul 1 Noterdaeme, Diagnostik und Differenzialdiagnostik, 2013 Differentialdiagnose (10 Aufgaben/29 Kodierungen (Bezugsperson) • Freies Spiel • Reaktion auf den Namen • Reaktion auf gemeinsame Aufmerksamkeit • Seifenblasenspiel • Reaktives soziales Lächeln Noterdaeme, Diagnostik und Differenzialdiagnostik, 2013 • Antizipation einer Handlungsfolge mit Gegenständen • Antizipation einer sozialen Handlungsfolge • Funktionale und symbolische Imitation • Geburtstagsfeier • Snack Vorschulalter Sprachentwicklungsverzögerung Soziale Probleme Abbau Sprachfertigkeiten Schulalter Verhaltensprobleme i.S. sozialer Probleme Unruhe, Rückzug Jugendalter Soziale Probleme Noterdaeme, Diagnostik und Differenzialdiagnostik, 2013 Normal Sprachentwicklungsstörung Hörstörung Autistische Störung Intelligenzminderung Bindungsstörung Rett Landau-Kleffner-Syndrom Desintegrative Störung Hyperkinetische Störung Soziale Phobien/Trennungsangst Mutismus Zwangsstörung, Depression Persönlichkeitsstörungen Psychotische Erkrankungen