Somatische Belastungsstörung: eine "Revolution" erfasst die

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Dienstagmittag-Fortbildung
Psychosomatik Basel
21. Februar 2017
Somatische Belastungsstörung: eine
"Revolution" erfasst die Psychosomatik
Prof. Dr. med. Roland von Känel
Chefarzt Psychosomatische Medizin, Psychiatrie und Psychotherapie
Psychosomatische Medizin Klink Barmelweid
Wie es zu diesem Vortrag kam
Primary and Hospital Care 2016;16(10):192-195
Somatische Belastungsstörung (SBS) / Prof. R. von Känel
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Psychosomatische Medizin Klink Barmelweid
DSM-5 300.82: «Somatic Symptom Disorder» bzw.
«Somatische Belastungsstörung»
Kriterien A, B (mind. 1) und C müssen erfüllt sein
A. Somatische(s) Symptom(e):
- belastend oder zu Störungen des Alltagslebens führend
B. Psychologische Kriterien bezogen auf körperliche(s) Symptom(e)
- Übertriebene und anhaltende Gedanken über die Ernsthaftigkeit des
Symptoms (kognitiv)
- Anhaltend hohes Angstniveau bezogen auf Gesundheit oder
Symptome (emotional)
- Exzessiver Zeit- und Energieaufwand bezüglich der Symptome oder
Gesundheitssorgen (Verhalten)
C. Symptombelastung ist persistierend (meist > 6 Monate)
DSM-5, American Psychiatric Association, 2013 (Deutsch: 2015)
Somatische Belastungsstörung (SBS) / Prof. R. von Känel
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Die "Revolution" in
der Psychosomatik I:
Die neue Diagnose Somatische
Belastungsstörung macht "Tabula Rasa"
mit bzw. ersetzt die somatoformen
Störungen, Hypochondrie und
Schmerzstörungen
Psychosomatische Medizin Klink Barmelweid
SBS: Zusammenfügen und differenzieren zugleich
80%
20%
Dimsdale et al, J Psychosom Res 2013
Somatische Belastungsstörung (SBS) / Prof. R. von Känel
IAD: Illness Anxiety Disorder
(Krankheitsangststörung)
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Die "Revolution" in
der Psychosomatik II:
Es spielt dezidiert keine Rolle
(mehr), ob somatische
Symptome medizinisch
erklärbar sind oder nicht!
Psychosomatische Medizin Klink Barmelweid
Einteilung der SBS nach aktuellem Schweregrad
•  Leicht: nur 1 Symptom aus Kriterium B
•  Mittel: mindestens 2 Symptome aus Kriterium B
•  Schwer: mindestens 2 Symptome aus Kriterium B plus multiple
somatische Beschwerden (oder ein sehr ausgeprägtes
somatisches Symptom)
Spezifizierung / Ergänzung
•  Mit überwiegendem Schmerz (vormalig "Schmerzstörung")
•  Andauernd: schwergradige Symptome, deutliche
Beeinträchtigung, lange Dauer (>6 Monate)
DSM-5, American Psychiatric Association, 2013 (Deutsch: 2015)
Somatische Belastungsstörung (SBS) / Prof. R. von Känel
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Psychosomatische Medizin Klink Barmelweid
Prävalenz der SBS mit verschiedenen Definitionskriterien
7%
1%
13%
17%
Creed et al, J Psychosom Res 2012
Creed et al, Int J Behav Med 2013
Somatische Belastungsstörung (SBS) / Prof. R. von Känel
8
Psychosomatische Medizin Klink Barmelweid
Interrater Reliabilität: DSM-5 Feldversuch
Somatische Belastungsstörung (SBS) / Prof. R. von Känel
Freedman et al, Am J Psychiatry 2013
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Psychosomatische Medizin Klink Barmelweid
Die Somatische Belastungsstörung bezieht sich auf
körperliche Symptome: wie erfassen? "Erbsen zählen"!
•  PHQ-15: Subskala Gesundheitsfragebogen für Patienten.
•  Erfasst 15 somatische Symptome
- häufigste körperliche Beschwerden ambulanter Patienten
- wichtigste DSM-IV-Kriterien für die Somatisierungsstörung
- Schmerz, Müdigkeit, Schwindel etc.
•  Punktescore (0-30): misst Anzahl und Schweregrad
körperlicher Symptome („somatic/bodily distress“)
Mittelgradig ausgeprägte Symptomstärke: Cut-off 10+
Kroenke et al, Psychosom Med 2002; Gräfe et al, Diagnostica 2004
Somatische Belastungsstörung (SBS) / Prof. R. von Känel
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Somatische
Symptomskala-8
Gierk et al, J Psychosom Res 2015
Verteilung des Symptom Schweregrads in der Grundversorgung
und Gynäkologie (n=6‘000):
≈ 30% mit klinisch relevantem körperlichen Distress (cut-off 10+)!
Kroenke et al, Psychosom Med 2002
Psychosomatische Medizin Klink Barmelweid
12-Item Skala zur Erfassung der B Kriterien
(psychologischen Merkmale)
der Somatischen Belastungsstörung
Somatic Symptom Disorder – B Criteria Scale
(SSD-12)
Touissant et al, Psychosom Med, 2016
Somatische Belastungsstörung (SBS) / Prof. R. von Känel
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Psychosomatische Medizin Klink Barmelweid
Psychologisches Kriterium B: Kognitive Aspekte
(exzessive Gedanken bezogen auf Beschwerden)
①  Ich denke, dass meine körperlichen Beschwerden
Anzeichen einer ernsthaften Erkrankung sind
②  Ich bin von der Ernsthaftigkeit meiner körperlichen
Beschwerden überzeugt.
③  Andere sagen mir, dass meine körperlichen
Beschwerden nicht schlimm sind.
④  Ich denke, dass die Ärzte meine körperlichen
Beschwerden nicht ernst nehmen.
Nie, selten, manchmal, oft, sehr oft
2x Innenperspektive, 2x Aussenperspektive
Somatische Belastungsstörung (SBS) / Prof. R. von Känel
Toussaint et al,
Psychosom Med 2016
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Psychologisches Kriterium B: Emotionale Aspekte
(exzessive Ängste bezogen auf Beschwerden)
①  Ich mache mir grosse Sorgen um meine Gesundheit.
②  Meine körperlichen Beschwerden machen mir Angst.
③  Ich mache mir Sorgen, dass meine körperlichen
Beschwerden niemals aufhören werden.
④  Ich mache mir Sorgen, auch in Zukunft durch meine
körperlichen Beschwerden beeinträchtigt zu bleiben.
Nie, selten, manchmal, oft, sehr oft
Toussaint et al,
Psychosom Med 2016
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Psychologisches Kriterium B: Verhaltens-Aspekte
(exzessiver Aufwand bezogen auf Beschwerden)
①  Meine gesundheitlichen Sorgen behindern mich im
Alltag.
②  Meine körperlichen Beschwerden beschäftigen mich
den grössten Teil des Tages.
③  Die Sorgen um meine Gesundheit rauben mir Energie.
④  Durch meine körperlichen Beschwerden kann ich mich
schlecht auf andere Dinge konzentrieren.
Nie, selten, manchmal, oft, sehr oft
Toussaint et al,
Psychosom Med 2016
Somatische Belastungsstörung (SBS) / Prof. R. von Känel
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Prävalenz der SBS und Überlappung der 3 B-Kriterien (ABC)
bei n=399 Patienten einer neurologischen Schwindelambulanz
Struktureller Schwindel: 64%
Funktioneller Schwindel: 36%
•  Kriterium A (PHQ-15): 82%
•  Kriterium B: 77%
•  Kriterium C: 79%
•  Somatische
Belastungsstörung: 53%!
(Kriterien A + B + C)
•  SBS doppelt so häufig
diagnostiziert wie eine
somatoforme Störung
•  Jeder 2. Patient mit SBS hat auch
eine psych. Komorbidität (SCID-I)
Limburg et al, J Psychosom Res 2016
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Heftigste Kritik!
Somatische Belastungsstörung (SBS) / Prof. R. von Känel
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«Ban the use of the new somatic symptom disorder in the
DSM-5 before it devastates millions of people»
•  „…reflects a consistent bias throughout DSM-5 to expand
boundaries of psychiatric diagnosis“
•  „Millions of patients could be mislabelled.“
•  „…the mistake of causally mislabelling physically ill as also
mentally disordered.“
•  „A false positive diagnosis of SSD harms patients because it
may result in any underlying medical causes being missed.“
•  „...subjects patients to stigma, inappropriate drugs, and
psychotherapy…“
•  „Clinicians are best advised to ignore this new category.“
Frances, BMJ 2013
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WARUM MUSSTE ES SOWEIT KOMMEN?
Diskussionspunkte
1.  Dilemmata der bisherigen psychosomatischen
Diagnosen
2.  Klinische Erfahrung und wissenschaftliche Erkenntnisse
als Grundlagen für die neu geschaffene Diagnose
Somatische Belastungsstörung (Somatic Symptom
Disorder DSM-5)
3.  Chancen dieser «neuen» Diagnose
4.  Ausblick: Mögliche Einflüsse auf die Identität der
Psychosomatik und das Versorgungssystem
Somatische Belastungsstörung (SBS) / Prof. R. von Känel
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Psychosomatische Medizin Klink Barmelweid
Das Dilemma psychosomatischer
Diagnostik - oder:
Warum schafft die
Psychosomatik neue
Diagnosen…
…und schafft alte ab?
Somatische Belastungsstörung (SBS) / Prof. R. von Känel
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Psychosomatische Medizin Klink Barmelweid
Körperbeschwerden sind häufig und präsentieren sich v.a.
in der Grundversorgung und bei somatischen Fachärzten
•  In der Allgemeinbevölkerung berichten mindestens 80% der
Personen über selbstlimitierende, d.h. nicht krankhafte bzw.
„normale“ Körperbeschwerden in der vergangenen Woche.
•  Diese können im Zusammenhang stehen mit einem psychischen
Faktor (z.B. Kopfschmerzen bei Ärger), einem körperlichen
Faktor (z.B. Rückenschmerzen nach langer Autofahrt) oder der
Zusammenhang bleibt unklar.
•  In der allgemeinmedizinischen Grundversorgung präsentieren
20-40% der Patienten körperliche Beschwerden, für welche sich
keine organische Ursache finden lässt.
•  Bei Fachärzten sind es 5-50%.
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«Alte» Psychosomatische Störungen ICD-10
•  F44 Dissoziative Störungen („Konversion“)
•  F45 Somatoforme Störungen
F45.0 Somatisierungsstörung
F45.1 Undifferenzierte Somatisierungsstörung
F45.2 Hypochondrische Störung
F45.3 Somatoforme autonome Funktionsstörung
F45.4 Anhaltende somatoforme Schmerzstörung
F45.8 Sonstige somatoforme Störungen
F45.9 Somatoforme Störung, nicht näher bezeichnet
•  F48.0 Neurasthenie
•  F54: psychologische Faktoren und Verhaltensfaktoren bei andernorts
klassifizierten Krankheiten
•  Körperliche Symptome bei affektiven Störungen (F3), Angststörungen,
Reaktionen auf schwere Belastungen (PTBS) und Anpassungsstörungen (F4)
•  Essstörungen, nicht-organische Schlafstörungen (F5)
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Fallvignette: «Der chronisch müde Patient» – Herr M., Jg. 1954
Bis zum 40. Lebensjahr «top gesund», begeisterter Tennisspieler auf
beachtlichem Wettkampfniveau. Immer «gesund und seriös» gelebt, sich
gut ernährt, regelmässig um 22:00 zu Bett, um 6:00 aufgestanden, kein
«Festbruder». Am Morgen «Juchzen», nach Tennis voller Elan zur Arbeit.
Ab 1995 zunehmend nach dem Erwachen wie gerädert, «nur noch
zwischen Bett und Arbeit gependelt». Körperlich immer schlechter, zuletzt
(2000) nicht mehr fähig, den Aargauerstalden zu Fuss zu bewältigen
(Schwitzen, Atemnot, schwere Beine, Ohrensausen), Muskelschmerzen,
Konzentrationsstörungen, Kopfgefühl wie «zerschlagene Scheibe».
Vom Hausarzt 2001 ins Schlaflabor geschickt, Diagnose OSAS (AHI = 18;
ESS = 11 Punkte). Trotz 18-monatiger Therapie mit CPAP unverändert
anhaltende Müdigkeit (AHI = 4; ESS = 0 Punkte). Alle anderen
Untersuchungen ohne Ergebnis. Seit Mitte 2002 AUF zu 100%.
Status idem 11/ 2016: 100% IV-Rente, Tagesstruktur, Sport, «Achtsamkeit», keine
Medikamente (mehr), stützende Ehefrau, soziale «Abschirmung», ambulanter Termin 2x/J
Psychosomatische Medizin Klink Barmelweid
«Alte» Psychosomatische Störungen ICD-10
•  F44 Dissoziative Störungen („Konversion“)
•  F45 Somatoforme Störungen
F45.0 Somatisierungsstörung
F45.1 Undifferenzierte Somatisierungsstörung
F45.2 Hypochondrische Störung
F45.3 Somatoforme autonome Funktionsstörung
F45.4 Anhaltende somatoforme Schmerzstörung
F45.8 Sonstige somatoforme Störungen
F45.9 Somatoforme Störung, nicht näher bezeichnet
•  F48.0 Neurasthenie → oder hat Herr M. etwa ein CFS G93.3 ???
•  F54: psychologische Faktoren und Verhaltensfaktoren bei andernorts
klassifizierten Krankheiten
•  Körperliche Symptome bei affektiven Störungen (F3), Angststörungen,
Reaktionen auf schwere Belastungen (PTBS) und Anpassungsstörungen (F4)
•  Essstörungen, nicht-organische Schlafstörungen (F5)
Somatische Belastungsstörung (SBS) / Prof. R. von Känel
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Psychosomatische Medizin Klink Barmelweid
Chronic Fatigue Syndrom (CFS)
http://www.cdc.gov/cfs/
•  Schwere Müdigkeit für mind. 6 Monate, durch Ruhe nicht gebessert,
durch eine körperliche oder psychiatrische Ursache nicht erklärbar
•  Vier von acht zusätzlichen Beschwerden müssen gegeben sein (CDC):
– Störungen der Merkfähigkeit und der Konzentration
– Häufiges “Kratzen im Hals”
– Schmerzhafte Lymphknoten am Hals und in den Achseln
– Muskelschmerzen
– Gelenkschmerzen (ohne Rötung und Schwellung)
– Neuartige Kopfschmerzen
– Schlaf ist nicht erholsam
– Erschöpfungs- und Krankheitsgefühl nach körperlicher und
mentaler Anstrengung (oft mit Verzögerung auftretend, über 24
Stunden anhaltend)
Fukuda et al, Ann Intern Med 1994
Somatische Belastungsstörung (SBS) / Prof. R. von Känel
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Prävalenz Chronic Fatigue (> 6 Monate)
ohne medizinische oder psychiatrische Ursache
•  Populationsstudien:
•  Grundversorgung:
2%
9%
Buchwald et al, Ann Intern Med 1995
Bates et al, Arch intern Med 1993
Prävalenz Chronic Fatigue Syndrom (CFS)
•  Populationsstudien, Interview:
•  Populationsstudien, Selbstbericht:
•  Grundversorgung:
0.8% (95% CI: 0.2-1.3)
3.5% (95% CI: 2.4-4.6)
1.7% (95% CI: 0.4-1.4)
Johnston et al, Clin Epidemiol 2013 (Meta-Analyse)
Somatische Belastungsstörung (SBS) / Prof. R. von Känel
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Herr M. hat tatsächlich ein CFS!
•  Erschöpfung und Müdigkeit seit mehr als 6 Monaten
•  Nach dem Erwachen wie gerädert (nicht erholt)
•  Muskelschmerzen
•  Konzentrationsstörungen
•  Beschwerden nehmen nach Anstrengung zu
•  “Komisches Kopfgefühl”
•  Beeinträchtigung: 100% AUF
•  Eine andere somatische od. psychiatrische Ursache für die
Erschöpfung findet sich nicht.
•  Ursprüngliche Ursache für Erschöpfung (OSAS) wurde
offenbar erfolgreich therapiert. Ist das spanned?
Liebman et al, J Health Psychol 2009: Persistierende Fatigue trotz CPAP bei OSA Patienten.
Psychosomatische Medizin Klink Barmelweid
„Die Existenz spezifischer funktioneller somatischer Syndrome und
Symptome ist ein Artefakt der medizinischen Spezialisierung“
Psychiatry
Somatoform pain disorder, Neurasthenia
Wessely et al, Lancet 1999
Somatische Belastungsstörung (SBS) / Prof. R. von Känel
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Psychosomatische Medizin Klink Barmelweid
Chronische somatische Symptome: Labeling und pathogenetisches Verständnis: wie hilfreich für ÄrztInnen und PatientInnen?
•  Beschreibende Symptome = «wertfrei»
- Chronic Fatigue (Syndrom)
- Chronische Schmerzsyndrome (z.B. „chronic widespread pain“)
•  Funktionelle Symptome und Syndrome = gestörte Körper-/Organfunktion
- «Verspannungen» (z.B. Spannungskopfschmerz)
- «gereizte» Organe (z.B. Reizdarm)
•  Psychiatrische Symptome = Ausdruck einer psychiatrischen Störung
- «larvierte» Depression
- Somatoforme Störungen («Psychogenie»)
- verdrängte psychische Konflikte (Konversion)
•  Medizinisch erklärbare vs. nicht erklärbare Symptome
(medically unexplained physical symptoms, MUPS; per exclusionem)
- keine Organpathologie
- kein struktureller Gewebeschaden
- kein anerkannter physiologischer Prozess (z.B. Entzündung)
•  Einbildung, Aggravation, ….Simulation = etwas für die Juristen
Somatische Belastungsstörung (SBS) / Prof. R. von Känel
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Psychosomatische Medizin Klink Barmelweid
Was lief „falsch“ mit den somatoformen Störungen / MUPS?
•  „Somatoform“ von Patienten nicht akzeptiert und für viele NichtPsychiater ein schleierhaftes Konstrukt; letztere ziehen
Symptomdiagnosen vor (z.B. atypischer Thoraxschmerz)
•  „Depression“ wird mitunter unstatthaft als Substitut für somatoform
bzw. «nicht-erklärbare» körperliche Symptome verwendet.
•  „Medically unexplained physical symptoms“ perpetuiert Mind-BodyDualismus, ist Ausschlussdiagnose, schafft Unklarheit, was noch
„erklärbar“ ist.
Krankheit, die dadurch definiert ist, dass etwas fehlt (d.h. keine
medizinisch erklärbaren körperlichen Symptome)
! Es brauchte positive Diagnosekriterien unter Einbezug von
psychologischen und Verhaltenscharakteristika.
! Somatische Belastungsstörung und affektive Störungen sollen
separat codiert werden
Dimsdale & Creed, J Psychosom Res 2009, Dimsdale et al, J Psychosom Res 2013
Somatische Belastungsstörung (SBS) / Prof. R. von Känel
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Psychosomatische Medizin Klink Barmelweid
DSM-5 300.82: «Somatic Symptom Disorder» bzw.
«Somatische Belastungsstörung»
Ersetzt Somatisierungsstörung, undifferenzierte somatoforme Störung,
Hypochondrie, Schmerzstörung
Kriterien A, B (mind. 1) und C müssen erfüllt sein
A. Somatische(s) Symptom(e):
- belastend oder zu Störungen des Alltagslebens führend
B. Psychologische Kriterien bezogen auf körperliche(s) Symptom(e)
- Übertriebene und anhaltende Gedanken über die Ernsthaftigkeit des
Symptoms (kognitiv)
- Anhaltend hohes Angstniveau bezogen auf Gesundheit oder
Symptome (emotional)
- Exzessiver Zeit- und Energieaufwand bezüglich der Symptome oder
Gesundheitssorgen (Verhalten)
C. Symptombelastung ist persistierend (meist > 6 Monate)
DSM-5, American Psychiatric Association, 2013 (Deutsch: 2015)
Somatische Belastungsstörung (SBS) / Prof. R. von Känel
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Psychosomatische Medizin Klink Barmelweid
Chronische Körpersymptome – Stand Anfang 2017
(1)  Die meisten (chronischen) somatischen Symptome («was die
Patienten körperlich spüren») lassen sich weder medizinisch
noch psychiatrisch erklären.
(2)  Es herrscht unter Fachkräften keine Einigkeit, welche
Körperbeschwerden «medizinisch erklärbar» sind.
(3)  Patienten leiden wegen ihrer Körpersymptome unabhängig
von deren Pathogenese umfassend bio-psycho-sozial
(Somatische Belastungsstörung).
(4)  Mehr Symptome bedeutet schlechtere Lebensqualität, mehr
psychiatrische Komorbidität, mehr AUF und höhere Kosten
(5)  Das Konzept der zentralen Hypersensitivität
…liefert eine medizinische (bio-psycho-soziale) Erklärung für medizinisch nicht
erklärbare Symptome («forget about medically unexplained!»)
…intensiviert ebenfalls Symptome aufgrund einer körperlichen Erkrankung
Somatische Belastungsstörung (SBS) / Prof. R. von Känel
33
Psychosomatische Medizin Klink Barmelweid
Aktuelle Literatur zu
diesen Entwicklungen
Änderungen im DSM-5:
„Somatic Symptom
Disorders“ (SSD)
Änderungen für ICD-11:
„Bodily Distress
Disorder“ (BDD)
DSM-5, American Psychiatric Association 2013
Dimsdale & Creed, J Psychosom Res 2009
Fink & Schröder J Psychosom Res 2010
Ziel: Bessere klinische Versorgung!
Somatische Belastungsstörung (SBS) / Prof. R. von Känel
34
Psychosomatische Medizin Klink Barmelweid
"Bodily Distress Disorder" ICD-11 Beta Draft
(ICD-10: F45)
•  Is characterized by the presence of bodily symptoms that are distressing to the
individual and excessive attention directed toward the symptoms
•  which may be manifest by repeated contact with health care providers.
•  If a medical condition is causing or contributing to the symptoms, the degree of
attention is clearly excessive in relation to its nature and progression.
•  Excessive attention is not alleviated by appropriate clinical examination and
investigations and appropriate reassurance.
•  Bodily symptoms and associated distress are persistent, being present on
most days for at least several months, and are associated with significant
impairment in personal, family, social, educational, occupational or other
important areas of functioning.
•  Typically, bodily distress disorder involves multiple bodily symptoms that may
vary over time. Occasionally there is a single symptom—usually pain or fatigue
—that is associated with the other features of the disorder.
Gureje & Reed, World Psychiatry 2016
Somatische Belastungsstörung (SBS) / Prof. R. von Känel
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Fink & Schröder, J Psychosom Res 2010
Psychosomatische Medizin Klink Barmelweid
One single diagnosis, bodily distress syndrome, succeeded to
capture 10 diagnostic categories of functional somatic syndromes
and somatoform disorders.
•  978 consecutive patients from
neurological (n=120) and medical
(n=157) departments and from
primary care (n=701), only clinically
relevant cases, i.e., patients with
impairing illness.
•  Bodily distress syndrome included
100% of patients with FM (n=58);
CFS (n=54) and hyperventilation
syndrome (n=49); 98% of those
with IBS (n=43); and at least 90%
of patients with noncardiac chest
pain (n=129), pain syndrome
(n=130), or any somatoform
disorder (n=178).
•  Overall agreement of bodily
distress syndrome with any of
these diagnostic categories = 95%
(95% CI 93.1–96.0; P<.0001).
Fink & Schröder, J Psychosom Res 2010
Somatische Belastungsstörung (SBS) / Prof. R. von Känel
37
Psychosomatische Medizin Klink Barmelweid
Beobachtung über 3 Jahre der 14 häufigsten Symptome bei 1‘000
Patienten in einem Ambulatorium für Innere Medizin (Texas, USA)
567x neu aufgetreten bei 38%
der Patienten
1.  Thoraxschmerz
2.  Müdigkeit
3.  Schwindel
4.  Kopfschmerzen
5.  Ödeme
6.  Rückenschmerzen
7.  Atemnot
8.  Schlafstörungen
9.  Bauchschmerzen
10.  Taubheitsgefühl
11.  Impotenz
12.  Gewichtsverlust
13.  Husten
14.  Verstopfung
•  Diagnostische Testung erfolgte in mehr
als 2/3 der Fälle.
•  Eine organische Ursache konnte (im
Verlauf) in nur 16% gefunden werden
(10% psychologisch, 74% unklar)
•  Behandlung erfolgte in 2/3 der Fälle
•  Verbesserung in 50%...
…unabhängig davon, ob Symptome
behandelt wurden oder nicht!
•  Bessere Prognose:
- organische Ursache
- Dauer<4 Monate
- ≤2 Symptome
Kroenke et al, Am J Med 1989
Somatische Belastungsstörung (SBS) / Prof. R. von Känel
38
Psychosomatische Medizin Klink Barmelweid
Anzahl fachärztlicher Visiten unabhängig davon, ob
Symptome medizinisch erklärbar sind oder nicht!
295 kardiologische, gastroenterologische und neurologische ambulante Patienten mit
körperlichen Symptomen (39% MUPS, 61% medizinisch erklärbar)
Jackson et al, J Psychosom Res 2006
Somatische Belastungsstörung (SBS) / Prof. R. von Känel
39
Beziehung zw. Symptom Schweregrad und Status in verschiedenen
Funktionsbereichen im Vgl. zur Referenzgruppe (PHQ-15 score 0-4)
Statistisch kontrolliert für Alter, Geschlecht, Ausbildung, Anzahl körperliche Krankheiten
Kroenke et al, Psychosom Med 2002
Psychosomatische Medizin Klink Barmelweid
Chronic Fatigue als Ausdruck einer Wahrnehmungsstörung des
übersensiblen Hirns (Central Hypersensitivity)
•  Das Gehirn “produziert” ein übermässiges und langanhaltendes Müdigkeitsgefühl bei Tätigkeiten, die eine durchschnittliche Person normalerweise nicht
oder nur kurzzeitig ermüdend wahrnimmt (“Neuroinflammation”)
•  Funktionelle Bildgebung bei CFS: Erhöhte Aktivität in kortikalen und subkortikalen Regionen während kognitiver Aufgabe - assoziiert mit berichteter
Ermüdung. CFS Patienten erbringen für gleiche Performance wie Kontrollen
eine subjektiv grössere mentale Anstrengung, was sich objektivieren lässt.
•  Zentrale Hypersensivität: Übersensible Wahrnehmung durch Müdigkeitslupe
wegen Vulnerabilität. Woher? genetisch, frühere Erfahrungen (z.B. Stress,
Infekte, Entzündungen, Krebs/Chemo, Übertraining, allg. “Fatiguegedächtnis”).
•  Auslöser: vielfältige körperliche und psychische Stressoren.
•  Eigendynamik, durch aufrechterhaltende Faktoren: Dekonditionierung, sekundäre Stressoren (z.B. drohender Verlust der Arbeitsfähigkeit, übermässige
Anstrengungen bei “Durchbeissern”, entzündliche Krankheiten).
Morris et al, BMC Med 2015; Ursin, Psychoneuroendocrinology 2014; Tanaka et al, Rev Neurosci 2013;
Jackson & Bruck, J Clin Sleep Med 2012; Cook et al, Neuroimage 2007
Somatische Belastungsstörung (SBS) / Prof. R. von Känel
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Müdigkeitswahrnehmung im Hirn
schweres
Erschöpfungsgefühl
= Müdigkeitslupe
Körperliche und kognitive
Anstrengung
Dr. med. N. Egloff,
Schulungsclip
Psychosomatik
normale körperliche und
kognitive Ermüdung
Psychosomatische Medizin Klink Barmelweid
Central Sensitivity Syndromes (CSS)
Kardinalkriterium von
FSS und somatoformen
Störungen
(gemeinsame
Pathophysiologie)
=
Zentrale
Sensitivierung
+
Hypersensitivität
Yunus, Semin Arthritis Rheum 2008
Ursin, Psychoneuroendocrinology 2015
Somatische Belastungsstörung (SBS) / Prof. R. von Känel
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Psychosomatische Medizin Klink Barmelweid
Zusammenspiel von neurobiologischen, psycho-neuroinflammatorischen
und strukturellen/läsionalen Einflussfaktoren für die Perzeption von
Körpersymptomen und Stellenwert von Angst und Stimmung/Depressivität
von Känel,
im Druck
Somatische Belastungsstörung (SBS) / Prof. R. von Känel
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Psychosomatische Medizin Klink Barmelweid
Erfassung von klinisch relevanter psychiatrischer Komorbidität mit
dem Gesundheitsfragebogen für Patienten (PHQ-4)
Sensitivität und Spezifität bei ≥ 3 Punkten je ~ 80% für Depression
(Items 1+2) und Angststörung (Items 3+4)
Löwe et al, J Affect Disord 2010
Somatische Belastungsstörung (SBS) / Prof. R. von Känel
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Psychosomatische Medizin Klink Barmelweid
(Persönliche) Replik zur Somatischen
Belastungsstörung
„Stoff“ für Diskussionen…
Somatische Belastungsstörung (SBS) / Prof. R. von Känel
46
Psychosomatische Medizin Klink Barmelweid
(Persönliche) Replik zur neuen DSM-5 Diagnose SBS (I)
•  Trägt der klinischen Tatsache Rechnung, dass Patienten mit körperlichen
Symptomen - unabhängig von deren Ursachen - leiden können und zwar
vor allem an den Gedanken und Ängsten bezogen auf diese Symptome.
•  SBS basiert auf Stressmodell: Körperliches Symptom ist ein Stressor,
welcher je nach zur Verfügung stehenden Bewältigungsmöglichkeiten
(Coping) zu einer chronifizierten Stressreaktion (kognitiv, affektiv,
behavioral, physiologisch) mit Krankheitswert führen kann.
•  Rasche und relativ einfache Identifizierung von Patienten mit hoher
psychischer Belastung (Leiden) wegen ihrer körperlichen Beschwerden im
Setting der somatischen Medizin (dort, wo diese Patienten überwiegend
gesehen werden!). Häufig sind es gerade Gedanken und Ängste bezogen
auf Symptome, welche die Patienten zum Arzt bringen (z.B. IBS).
•  Präventives Potenzial: Mögliche Sekundärfolgen wie Depressivität,
Abnahme der Lebensqualität, Arbeitsunfähigkeit und hohe
Gesundheitskosten können so früher erkannt und angegangen werden.
Somatische Belastungsstörung (SBS) / Prof. R. von Känel
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Psychosomatische Medizin Klink Barmelweid
(Persönliche) Replik zur neuen DSM-5 Diagnose SBS (II)
•  Aufhebung des Mind-Body Dualismus bei der Suche nach Erklärungen für
«medizinisch nicht erklärbare» körperliche Symptome ist revolutionär und
wirkt potenziell entstigmatisierend.
•  Mind-Body Dualismus bei den Klassifikationssystemen für Krankheiten als
eine grundsätzliche Problematik der westlichen Medizin (DSM-5, F-Kapitel
ICD-10): Entstigmatisierung wird „torpediert“ durch die Tatsache, dass die
SBS immer noch in einem Manual für mentale Störungen aufgeführt ist.
•  Die Diagnostik einer SBS entbindet Mediziner aller Fachrichtungen nicht
davon, eine bio-psycho-soziale Diagnostik lege artis durchzuführen und
sowohl somatische als auch psychiatrische Krankheiten zu suchen, welche
die somatischen Symptome (mit)erklären könnten (Bsp. CF).
•  Gegen katastrophisierende Gedanken, exzessive Ängste und ungünstiges
Krankheitsverhalten kann und muss therapeutisch etwas unternommen
werden. Hierzu muss man deren klinische Bedeutung erst würdigen, was
mit der SBS erfolgt ist.
Kupfer, Kuhl, Wulsin. Psychiatry‘s Integration with Medicine: The Role of DSM-5. Annu Rev Med 2013
Somatische Belastungsstörung (SBS) / Prof. R. von Känel
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Psychosomatische Medizin Klink Barmelweid
Die SBS ist das "Kerngeschäft" der Psychosomatik
Psychosomatische Medizin ist die Spezialität für somatische
Belastungsstörungen; d.h. für jegliche körperlichen Symptome, die
dadurch Krankheitswert erhalten, dass Patienten wegen Symptombezogener dysfunktionaler Gedanken, Emotionen und Verhaltensweisen
übermässig medizinische Versorgung in Anspruch nehmen und leiden.
Versorgung mit abgestuftem Behandlungssetting je nach
Symptom-Schweregrad:
•  Population: edukative und präventive Bestrebungen
•  Grundversorgung: Fortbildungen zu SBS, insb. viele Symptome =
grosses Risiko für Leiden, funktionelle Einschränkungen im Alltag,
psychische Belastung, wiederholte Arztbesuche, Kosten, AUF etc.
•  Grundversorgung +: FA SAPPM
•  Spezialisten (Ambulanzen/Spitäler): schwere Fälle (z.B. komorbide
körperliche / psychiatrische Krankheiten, starke Ängste, ungünstige
Verhaltensweisen, drohende AUF); i.d.R. interdisziplinär, multimodal
Somatische Belastungsstörung (SBS) / Prof. R. von Känel
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Psychosomatische Medizin Klink Barmelweid
Mehrere empirisch getestet Therapien stehen zur Verfügung,
mit welchen sich Elemente der SBS behandeln lassen.
•  Kognitive Verhaltenstherapien
•  Entspannungsformen (einschl. Achtsamkeit)
•  Andere Formen der Psychotherapie
•  Psychopharmaka
•  Körperliche Aktivität
•  Edukation etc.
•  Team-basiert (Training und Unterstützung von Grundversorgern)
Dimsdale et al, J Psychosom Res 2013; Sharma & Manjula, Int Rev Psychiatry 2013
Das somatische Symptom – Fatigue, Schmerz – sollte in den
Fokus rücken, Zugang über das Körpererleben scheint hilfreich
Somatische Belastungsstörung (SBS) / Prof. R. von Känel
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Psychosomatische Medizin Klink Barmelweid
Zusammenfassung
•  Revolutionäre Änderung in der Terminologie psychosomatischer Störungen ist Realität (SBS; BDD am Horizont).
•  Obsoleter Dualismus: körperliche Beschwerden mit/ohne
organischen Befund hinsichtlich des assoziierten biopsycho-sozialen Leidens.
•  Im besten Falle bewirkt Einführung der SBS:
- Frühere Identifikation von Patienten mit potenziell schlechtem Verlauf
von körperlichen Beschwerden (Prävention)
- Adäquatere Patientenbetreuung (braucht Weiterbildung,
„revolutionäre“ Versorgungssysteme, z.B. Team-basiert)
- Mehr Zufriedenheit bei Patienten und Ärzten
- Kosteneinsparungen
Somatische Belastungsstörung (SBS) / Prof. R. von Känel
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