Nora Abdel-Maksoud: Sie nannten ihn Tico – Materialien zur Inszenierung Nora Abdel-Maksoud: Sie nannten ihn Tico in der Regie von Nora Abdel-Maksoud # I. zum Aufbau und zur Handlung II. zu den Themen und Motiven III. zu den Figuren IV. zur Inszenierung V. Anregungen für die Auseinandersetzung mit der Inszenierung und der Aufführung im Münchner Volkstheater VI. Fragen nach der Aufführung / zur Inszenierung VII. Literaturhinweise und Internetlinks Sie nannten ihn Tico eignet sich zur Thematisierung in den Fächern Deutsch (z.B. zur Beschäftigung mit zeitgenössischem Theater und Theaterformen; zur Aufführungs- und Inszenierungsanalyse; zur Auseinandersetzung mit Gegenwartsdramatik; zur Auseinandersetzung mit der literarischen und theatralen Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen und medialen Diskursen und Narrativen; zur Auseinandersetzung mit den Kennzeichen von Komödie und Satire; zur Auseinandersetzung mit literarischen Motiven und Topoi: Adoleszenz, Heldenreise), Psychologie / Ethik / Sozialkunde / Politik (z.B. zur Auseinandersetzung mit Ursprung, Einsatz und Funktion von Feindbildern), Kunst / Musik (z.B. zur Auseinandersetzung mit Bühnenbild und Bühnenraum, Requisite, Kostüm, Licht, Musik und Medien in der Inszenierung am Volkstheater) und Dramatisches Gestalten / Theater (z.B. zu Fragen der Regie und Dramaturgie in der Inszenierung; zur Auseinandersetzung mit Spielweisen und Erzählmöglichkeiten des Gegenwartstheaters; zur Auseinandersetzung mit dem Genre der Komödie; zum Vergleich von Inszenierungen mit ähnlichen Motiven, z.B. Die Odyssee nach Homer (Regie: Simon Solberg) am Münchner Volkstheater; zu Fragen der Rezeption im Theater) ab der 8./9. Jahrgangsstufe. Aufführungsdauer: ca. 90 Minuten, keine Pause – Anne Steiner: Materialien zur Inszenierung am Münchner Volkstheater – Nora Abdel-Maksoud: Sie nannten ihn Tico – Materialien zur Inszenierung Aufbau und Handlung Sie nannten ihn Tico, von Nora Abdel-Maksoud 2016 verfasst und von ihr auch am Münchner Volkstheater zur Uraufführung gebracht, ist ein Roadmovie fürs Theater, eine schwarze Utopie, die in einer sehr nahen Zukunft spielt. Das Stück gliedert sich in drei Akte mit insgesamt mehr als 25 rasch aufeinander folgende Szenen, in denen neben den Hauptfiguren Lefty, einem jugendlichen Sozialfall, und Pancho, einem arbeitslosen Sozialpädagogen, eine Vielzahl von Figuren auftritt, darunter Wutbürger, Wohnungssuchende und Quiz-Show-Kandidaten. Das Geschehen spielt sich an unzähligen, im Stücktext nur selten genau benannten Schauplätzen ab. Es nimmt seinen Ausgang in Moers, einer mittelgroßen bundesrepublikanischen Durchschnittsstadt, und zeigt dort Szenen auf dem „Marktplatz“ und in der „Ambulanz“, in einem „Gemischtwarenhandel“ und in einem Gitarrengeschäft, bevor es sich nach Köln und dann in bayerische Provinz verlagert, das die Protagonisten in einem „Bulli“ (d.h. einem alten VW-Bus) und mit dem Zug erreichen. Die Handlung wird auf zwei Ebenen erzählt: der individuellen, privaten, familiären und der gesellschaftlichen, die eng miteinander verknüpft sind und einander beeinflussen. In ihrem Mittelpunkt steht die tatsächliche und die nur verbal behauptete Suche – nach unbekannten Vätern, nach politischer Macht, nach wirtschaftlicher Potenz, nach Pfandflaschen, nach d e r Story, nach medialem Ruhm, nach der Droge, nach der Liebe, nach dem sozialen Aufstieg, ... Und die Flucht – vor dem beruflichen und gesellschaftlichen Absturz, vor der Polizei, vor der Entdeckung, vor dem eigenen Versagen, vor den eigenen begründeten und unbegründeten Ängsten, ... Oder, wie der Monatsspielplan zusammenfasst: Deutschland in unmittelbarer Zukunft. Das staatlich verordnete Große Fasten und eine allgegenwärtige Furcht vor schwarzhaarigen Männern haben das Land erkalten und einen süddeutschen Politiker namens Schorsch groß werden lassen. Die beiden Junkies Pancho und Lefty fristen in einem Kaff namens Moers gleichmütig ihr Dasein. Lefty sehnt sich nach seinem leiblichen Vater Tico, den er noch nicht kennengelernt hat. Er träumt ihn sich als Robin Hood der besseren Verhältnisse und macht sich gemeinsam mit Pancho auf die Suche nach ihm. Da finden die beiden in einer Mülltonne Pimpf – ein lustiges Baby unklarer Herkunft. Beim Versuch, es an einen sicheren Ort zu bringen, stolpern Pancho und Lefty durch die mediale Öffentlichkeit Deutschlands. Doch wohin sie auch kommen, löst Pimpf nur Angst und Schrecken aus – denn er hat tiefschwarzes Haar! (Volkstheater München (2016): Leporello April 2016) Nora Abdel-Maksoud: Sie nannten ihn Tico – Materialien zur Inszenierung Themen und Motive Väter und Söhne und Brüder Lefty erträumt sich in Tico den idealen Vater, der heldenhaft und uneigennützig die Welt rettet, der barmherzig und mildtätig ist und das Wohl der Armen und Bedürftigen über sein eigenes privates Glück stellt. Dieses Traumbild erlaubt es Lefty, die Abwesenheit seines Vaters für sich nicht als Defizit zu deuten: Ein Mann, der für globale Gerechtigkeit kämpft, muss natürlich das Opfer bringen, keine Zeit mit seinem Sohn verbringen zu dürfen. Besonders gerne schwärmt er Pancho von seinem Vater vor, der sich die Geschichten auch bereitwillig anhört, hat er sie doch einst selbst erfunden, um Lefty zu trösten, und der Leftys Traum, Tico zu suchen, unterstützt. Dass Pancho damit quasi die Vaterrolle übernimmt, gesteht sich Lefty nicht ein. Sein Verhalten spricht jedoch eine andere Sprache: Wie ein älteres Geschwisterkind konkurriert er mit dem Baby um Panchos Aufmerksamkeit, ist er eifersüchtig, fühlt sich zurückgesetzt und versucht verzweifelt, sich die Privilegien des Erstgeborenen zu erhalten. Eine weitere Vater-Sohn-Beziehung besteht zwischen dem Baby und Schorsch. Anders als Lefty findet das Baby seinen Vater ohne ihn gesucht zu haben, anders als Leftys Vater Tico ist sein Vater Schorsch real, wenngleich auch er sich um den Sohn nicht recht kümmern mag und ihn öffentlich nicht anerkennt, ist er doch Ergebnis einer außerehelichen Affäre und verkörpert er doch mit seinen schwarzen Haaren all das, wogegen der Politiker Schorsch ankämpft. Adoleszenz Das Stück erzählt mit der Figur des Lefty vom Heranwachsen und Hineinwachsen in die Gesellschaft, vom Erwachsenwerden und dem damit verbundenen Geben und Übernehmen von Verantwortung. Es zeigt die Widersprüchlichkeiten, in denen sich Lefty – darin anderen Jugendlichen auf dem Weg zum Erwachsenwerden nicht unähnlich – bewegt: So träumt er beispielsweise davon, als Quizshowmoderator mediale Berühmtheit zu erlangen, er liest sich sinnlos enzyklopädisches Wissen an und folgt darin unkritisch dem Versprechen von der Chance, die jedem unabhängig von Herkunft und Elternhaus gegeben werde, wenn er nur Nora Abdel-Maksoud: Sie nannten ihn Tico – Materialien zur Inszenierung leistungs- und anpassungswillig sei – und allzeit bereit, andere auszustechen. Gleichzeitig erträumt er sich jedoch einen idealen Vater, der für die Verlierer genau dieser Ellenbogenmentalität kämpft, und stilisiert so auf sozialen Werten basierendes Handeln zum utopischen Ideal, das durchaus auch auf Kosten privaten Glücks gelebt werden darf, wie sich an der diese Utopie verkörpernde Figur des Tico zeigt. Angstgesellschaft und Rassismus Die Gesellschaft, von der das Stück erzählt, ist eine der Angst, der sozialen Kälte und des egoistischen Kapitalismus. Zu sehen sind Menschen, die Angst vor dem sozialen Abstieg haben, Menschen, die den Abstieg bereits erleben, und Menschen, die mit dem Abstieg anderer Geschäfte machen und große Gewinne erzielen. Es herrscht das „Große Fasten“ – aber nur für die Bedürftigen: Der Sozialetat wurde erheblich gekürzt, um öffentliche Ausgaben zu sparen, gleichzeitig wurden großzügige Freihandelsabkommen mit dem Gemischtwarenhandel geschlossen, um die Konjunktur durch dessen Profite anzukurbeln. Einige wenige profitieren, während sich viele einschränken müssen. Wer noch nicht „fastet“, fürchtet den sozialen Abstieg und kämpft umso härter und egoistischer um seinen Verbleib auf der Erfolgsleiter. Solidarität und Verantwortungsbewusstsein bestimmen hier nur noch selten das Handeln, während Angst zum größten Motivator wird. Ihren materialisierten Ausdruck findet diese Angstgesellschaft in einem klaren Feindbild – den „Männern mit schwarzen Haaren“, die gesellschaftliche Werte aushöhlen, alles an sich reißen und die Herrschaft übernehmen wollen. Dass dieses Feindbild konstruiert ist, zeigt sich in der Reaktion auf das Baby, dessen schwarze Haare bei fast allen, völlig unabhängig von Geschlecht, Alter, politischer Einstellung, persönlichem Lebensweg, … irrationale Abwehr und Furcht vor dem vermeintlich Fremden, dem bedrohlichen Anderen hervorruft. Es ist nicht das Baby, das fremd und daher angsteinflößend ist, es ist der Blick der Gesellschaft, der es zum angstmachenden Fremden macht. Nora Abdel-Maksoud: Sie nannten ihn Tico – Materialien zur Inszenierung Klassische Heldenreise und skurriler Roadtrip Das Stück erzählt eine klassische Heldenreise, in der ein jugendlicher Held eine Aufgabe erhält, ein Rätsel lösen muss, und deshalb die Heimat verlässt, weil er nur draußen in der weiten Welt die Mittel finden kann, die ihm helfen, die Aufgabe zu lösen. Es beginnt eine (meist langwierige und gefahrenreiche) Suche, während der sich der noch junge und unerfahrene Held in verschiedensten Situationen bewähren muss, dabei zwangsläufig Gefährten und Freunde verliert, bevor er schließlich gereift nach Erfüllung des Auftrags und erfolgreicher Suche in die Heimat zurückkehren darf. Lefty ist dieser Held, der aus Moers aufbricht, um sich auf die Suche nach seinem zu Vater machen. Er ist der Held, der unterwegs lebensbedrohlichen Angriffen von gefährlichen, scheinbar übermächtigen Gegnern ausgesetzt ist, diese jedoch, auch dank verschiedener Helfer, allen voran Pancho, überwindet und erfolgreich aus dem Weg räumt, sodass er schließlich gereift und erfolgreich nach Moers zurückkehren kann. Lefty findet seinen Vater, wenn es auch nicht der ist, den er eigentlich gesucht hat, und wenn es auch einer ist, den er gleich wieder verlieren muss. Seine Heldenreise wird als satirischer Roadtrip mit gelegentlichem Drogenrausch erzählt, in dem Leftys Träume wahr zu werden scheinen und ihm ständig neue, äußerst skurrile Menschen begegnen. Er lernt in Lars-Ole Vetjenfall, seinem früheren Idol, den personifizierten Kapitalismus kennen, in Panchos großer Liebe Erika eine Frauenrechtlerin, die für ein Revolverblatt schreibt, in Schorsch einen populistischen Volksvertreter mit inhaltsleeren Parolen, denen er zwar äußerst naiv, immer aber auch mit Witz und List entgegentritt. Nora Abdel-Maksoud: Sie nannten ihn Tico – Materialien zur Inszenierung die Figuren (und ihre Besetzung) LEFTY (Mehmet Sözer) WOLFRAM HADSCHISJEVSKA genannt PANCHO (Eva Bay) BENTE (Luise Kinner) FERDL (Moritz Kienemann) GUSTL (Max Wagner) McFEARLESS (Moritz Kienemann) LARS-OLE VETJENFALL (Max Wagner) ERIKA (Moritz Kienemann) SCHORSCH (Max Wagner) SILKE (Gertrud Kuik) HILMAR (Luise Kinner) REVEREND REVERB (Enik) ROLLI (Fabian Füss) NUTTE (Lorenz Blaumer) jugendlicher Herumtreiber und Drogenabhängiger, träumt von einer Karriere als Gameshowmoderator, um damit sich und seinem unbekannten Vater zu beweisen, dass er kein Verlierer ist, obwohl er einst bei „Wer Wird Millionär“ an der 50-Euro-Frage gescheitert ist arbeitsloser, drogenabhängiger und totkranker Sozialarbeiter in der Jugendsuchtberatung, kümmert sich auch ohne Job weiterhin um Lefty, gestresste TV-Journalistin und -Moderatorin mit Abstiegsangst, immer auf der Suche nach d e r Story Polizisten mit Geheimauftrag und geheimen Wünschen und Sehnsüchten Gitarrenhändler, ein Bekannter Panchos aus früheren Zeiten Erbe einer Gemischtwarenhandels-Dynastie, früherer Quizshowmoderator, inzwischen Gentrifizierer und Freihandelsabkommens-Profiteur frühere Ikone der feministischen Bewegung, Autorin verschiedener Bücher zum Thema und Panchos große Liebe; arbeitet heute für eine sensationsgeile Boulevard-Zeitung Kandidat einer großen süddeutschen Volkspartei, der mit inhaltsarmen Floskeln die Angst der Wähler/innen schürt und um ihre Stimmen buhlt; einem Seitensprung nicht abgeneigt Schorschs Frau; Souffleuse aufstrebender Politiker der "Neuen Rechten" und Herausforderer von Schorsch Mitglieder der Band „Pillepalle und die Ötterpötter“ einer politisch links stehenden Band, in der Pancho vor Jahren gespielt hat; auf Tour, unterwegs nach Andalusien, wo sie jedoch nie ankommen, weil es unterwegs zuviele Rechtsradikale aufzumischen gilt unehelicher Sohn von Schorsch Ritter der Barmherzigkeit, Rächer der Ausgestoßenen Ein schwarzhaariges Baby (Ensemble) Tico Und außerdem: zwei Quizshowkandidaten (Luise Kinner, Max Wagner), ein Türsteher (Moritz Kienermann), eine Auto fahrende Omi (Max Wagner), eine Pfandflaschen sammelnde Omi (Max Wagner), der kleine Karli (Moritz Kienemann) Kulturpublikum (Luise Kinner, Max Wagner), Wohnungssuchende (Lorenz Blaumer, Enik, Fabian Füss, Luise Kinner), Arbeitssuchende (Lorenz Blaumer, Enik, Fabian Füss, Luise Kinner), Wutbürger (Lorenz Blaumer, Enik, Fabian Füss, Luise Kinner) Nora Abdel-Maksoud: Sie nannten ihn Tico – Materialien zur Inszenierung Was Lefty so sagt … – Zitate aus der Figurenrede Die Spielregeln von „Hütten und Paläste“: Jeder gegen jeden. Über Auf- oder Abstieg entscheidet einzig und allein ihre Leistung. Egal woher’s kommen, egal wer ihre Eltern waren, bei uns muss niemand auf die vier Kirschen in einer Reihe warten … (Lefty erklärt in seinem Moderatoren-Traum die Regeln seiner Quizshow.) --------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------Wer oder was ist das „Große Fasten“? […] Ein Gesetzespaket, das den kranken Mann Europas gesundhungern sollte. Kürzungen im Sozialwesen. Freihandelsabkommen mit dem internationalen Gemischtwarenhandel. (Lefty erklärt das Gesetzespaket, das zu weitreichenden Einschnitten im Sozialwesen geführt hat.) --------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------Wenn du frierst, zündet er sein Feuerchen für dich an. Wenn du hungerst, teilt er sein Brot. Und wenn du dich fürchtest, streicht er dir sanft über die Stirn. Er ist der Ritter der Barmherzigkeit. (Lefty beschreibt seinen Vater Tico.) --------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------Ich mag ihn nicht! Er gehört nicht zu uns. […] Er hat schwarze Haare. Mann! (Lefty hat Angst vor dem Baby.) --------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------Er soll nicht bei uns bleiben, Pancho! Hast du’n Knick in der Fichte? […] Der soll gucken, wie er klarkommt. (Lefty ist eifersüchtig auf das Baby.) --------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------Frage! Wer ist dieser schwarzhaarige Kackstöpsel? […] Niemand? Er ist der Sohn von Schorsch! […] Ich gebe zu, er is’n Schmarotzer. Spricht schlecht Deutsch, kann nich‘ ordentlich auf Toilette [….]. Und der Schorsch ist eben ’n viel beschäftigter Mann. Deswegen hatte er bis jetzt kaum Zeit sich um ihn zu kümmern. Aber ich weiß, dass er ihn liebt. Weil jeder Papa seinen Bengel liebt. […] Egal, ob er ’n Gewinner is‘ oder nich‘. (Lefty enthüllt die Herkunft des Babys und spricht über Väter.) --------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------Jungs, habt ihr mal ’n Euro für’n heimatlosen Gesellen? Warum sieht mich denn keiner? (Lefty versucht ohne Pancho zu überleben.) --------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------Fassen wir mal zusammen: Du bist’n aussätziger Kackstrampler mit schwarzen Haaren und ich bin ’n hochbegabter Provinzjunkie mit posttraumatischer Moderierphobie. Du bist’n Verlierer. Ich bin ’n Verlierer. Wir sollten uns zusammentun. (Lefty beschreibt sich und das Baby) --------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------Du hast gelogen, Pancho. Ich bin raus aus Moers wegen dir. […] Du hast gesagt, wir müssen nach Andalusien um Tico zu finden, aber es gibt gar keinen Tico. Ich hab nur dich. (Lefty erkennt die Realität.) --------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------- Nora Abdel-Maksoud: Sie nannten ihn Tico – Materialien zur Inszenierung Die Inszenierung … … ist werktreu. Der Text des Stücks entstand nach intensiven Recherchen innerhalb von einigen Monaten und lag zu Beginn der Proben mit dem Ensemble fertig vor. Die Inszenierung spielt den Text werktreu, d.h. Wortlaut und Szenenfolge halten sich an die Textvorlage. Dies ist nicht verwunderlich, da die Autorin auch Regisseurin der Inszenierung ist und sich ihre Interpretation nicht erst beim Lesen und Inszenieren entwickelt und äußert, sondern bereits das Schreiben mitbestimmt und im Text eingeschrieben ist. … besetzt genderunabhängig. Männer spielen Männer, Frauen spielen Frauen, Männer spielen Frauen, Frauen spielen Männer, Männer und Frauen spielen ein männliches Baby, ohne dass dies jedoch explizit thematisiert oder ausgestellt wird – es ist einfach so, spielt doch das Geschlecht der Spielenden für die erzählte Geschichte keine Rolle. … spielt in einem Bühnenbild, das statisch und mobil zugleich ist und sowohl Sehnsüchte und Hoffnungen als auch geplatzte Träume symbolisiert. In der Mitte der Bühne befindet sich eine Art Turm, gebaut aus Lautsprechern und Radios, der sich von allen Seiten betreten lässt und dessen Inneres begehbar ist, der zudem gedreht werden kann, sodass sich mit ihm unterschiedlichste Orte und Räume behaupten lassen. Sein Material steht symbolisch für die mediale Aufmerksamkeit und umfassende Öffentlichkeit, nach der die Menschen gieren, gleichzeitig aber auch für den geplatzten Traum – so wie die Radios und Lautsprecher ausrangiert werden, werden auch diejenigen Menschen ausrangiert und an den Rand der Gesellschaft gedrängt, für die der Traum von der medialen Bedeutung und dem sozialem Aufstieg nicht wahr wird. … zeigt die Rollenwechsel und zeigt sie doch nicht. Drei der Schauspieler/innen und auch die Musiker wechseln immer wieder die Rolle und spielen unterschiedlichste Figuren, Rollenidentität besteht nur bei Lefty und Pancho, die durchgängig von denselben Spieler/innen verkörpert werden (- wenngleich auch sie immer wieder auch das Baby spielen). Bis auf eine Figur sind alle an ihrem spezifischen Kostüm und zusätzlich oft auch an ihrer Plastikperücke erkennbar. Die Rollen werden auf der Bühne gewechselt, die Wechsel sind dabei jedoch für das Publikum nicht sichtbar, werden Kostümund Perückenwechsel doch meist im Inneren des Turms oder hinter ihm vorgenommen. Nora Abdel-Maksoud: Sie nannten ihn Tico – Materialien zur Inszenierung Anregungen zur Auseinandersetzung mit der Inszenierung und der Aufführung … ausgehend von der Handlung, den Themen und Motiven und den Figuren in Sie nannten ihn Tico → der Titel: Austausch über die Assoziationen, die er auslöst, und die sich daran anknüpfenden Erwartungen an Ort und Zeit des Geschehens und an die auftretenden Figuren: Woran erinnert der Titel? Wer ist Tico? Wer nennt ihn so? Wer sind seine Gegenspieler? Ist er die Hauptfigur? → Aufbau und Handlung: Entwickeln von Ideen zu weiteren Handlungsorten und Situationen → Aufbau und Handlung: Auseinandersetzung mit den Begriffen ‚Roadmovie‘ und ‚schwarze Utopie‘: Was bedeuten sie? Welche Erwartungen wecken sie an die Handlung, das Spieltempo und die Figurenzeichnung auf der Bühne? → Hinweise zu den Figuren und ihrer Besetzung: Entwickeln von kurzen Spielszenen, in denen eine Figur / mehrere Figuren vorkommen, und Erprobung von Gesten und Körperhaltungen, die für diese typisch sein könnten → Hinweise zu den Figuren und ihrer Besetzung: Verfassen von Rollenbiografien für Lefty und Pancho und Austausch von Ideen zu Ort und Zeit der Handlung → Hinweise zu den Figuren und ihrer Besetzung: Worin liegt die Besonderheit von Tico und worin die des Babys? Was sagt das über ihre Bedeutung für die Figuren und die Handlung aus? → Hinweise zu den Figuren und ihrer Besetzung: Austausch über die unterschiedlichen Namen und Figurenbezeichnungen: Welche der Figuren erscheinen sehr individuell, welche eher als Typen? Welche der Namen wirken ‚sprechend‘? → Was Lefty sagt: Austausch über die Zitate: Wie charakterisiert Lefty die Gesellschaft, in der er lebt? Was sagt er damit über sich selbst aus? Wen idealisiert er und vor wem hat er Angst? → Themen und Motive: Auseinandersetzung mit der Frage, was ein Held ist und was einen Helden ausmacht: Sammeln von heutigen Heldenbildern (Internet, Zeitschriften, TV, …), Sammeln individueller Vorstellungen, die mit dem Helden und dem Heldentum verbunden werden, und Austausch über die Frage, wer heute ein Held ist und wie jemand heute zum Helden wird Nora Abdel-Maksoud: Sie nannten ihn Tico – Materialien zur Inszenierung → Themen und Motive: Austausch über das berühmte Zitat des US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt: "The only thing we have to fear is fear itself." („Es gibt nur eine Sache, die wir fürchten müssen, die Furcht selbst“; in der Rede zu seiner ersten Amtseinführung, 1933): Gilt der Satz auch unabhängig von der historischen Situation, in der er geäußert wurde? Welche Ängste bestimmen derzeit das Denken und Handeln der Menschen in Deutschland? Wer hat wovor Angst und warum? Wer schürt die Angst? Sind die Ängste rational begründet oder irrational? Und schließlich: Wovor hat Lefty Angst? ... ausgehend von der Inszenierung am Volkstheater → Hinweise zur Handlung und zu den Figuren: Entwickeln von Vorschlägen für das Setting und die situative Einbettung der Handlung und die Sprech- und Spielweise der Figuren → Hinweise zur Inszenierung: Austausch von Erwartungen an die eingesetzten theatralen Mittel (Bühnenbild, Kostüm, Licht, usw.) zur satirischen Figurenzeichnung und zur Darstellung von Träumen und Ängsten → die Themen: Entwicklung von Ideen zur Abstraktion und Symbolisierung der Themen ‚Angstgesellschaft‘ und ‚Rassismus‘, z.B. anhand folgender Fragen: Wie könnten über das Kostüm, das Bühnenbild und die Requisiten Parallelen zur Gegenwart gezogen werden? Wie könnten unbewusste Ängste vor dem ‚Fremden‘ erzählt werden? Mit welchen theatralen Mitteln könnten soziale Aufsteiger und Absteiger kontrastiert werden? In welchen Formen und mit welchen theatralen Mitteln könnten verschiedene Formen von Ausgrenzung und Gewalt gezeigt werden? ... ausgehend von der besuchten Aufführung im Volkstheater → Bühne, Bühnenraum und Kostüm: Austausch von Erinnerungen an besondere visuelle und akustische Details (z.B. an die Farben und das Material der Kostüme und der Perücken, an die Farben und Färbung des Lichts, an die Spielebenen des Bühnenraums und die Wege der verschiedenen Figuren, an die am Turm angebrachten Plakate und Beschriftungen) → die Themen: Austausch über die Formen und die Intensität der Ausgrenzung und der Ablehnung, die wahrgenommen wurden, und Austausch über die theatralen Mittel, die zu ihrer Erzeugung eingesetzt wurden Nora Abdel-Maksoud: Sie nannten ihn Tico – Materialien zur Inszenierung → Spiel- und Sprechweisen: Austausch über wahrgenommene Auffälligkeiten in der Spielund Sprechweise einzelner Figuren, wiederkehrende Aktionen und Äußerungen von einzelnen Figuren und Figurengruppen, an chorische Elemente im Sprechen und im Spiel und deren Wirkung auf das Publikum → Satire: Austausch über die theatralen Mittel, die ironisch oder satirisch verstanden wurden → theatrale Erzählweise: Vergleich der Szenen, in denen in der Inszenierung Handlung gezeigt wurde und stattfand, und der Szenen, in denen Handlung erzählt wurde, und Erstellen einer Übersicht über die unterschiedlichen Arten des Erzählens in der Inszenierung und deren Wirkung (z.B. Erzählerfiguren, die sich ans Publikum wenden; Botenberichte, die sich an die anderen Figuren wenden; Requisiten, die weitere Geschichten erzählen; Erzählungen, die über die Spielweise erzählt werden; Erzählungen, die von der Musik und/oder dem Bühnenbild ausgehen; …) → die Medien: Austausch über die zitierten TV-Formate und die verschiedenen Arten des theatralen Zitierens → Programmheft: Auswahl der Szenen, die mit einem Szenenfoto im Heft erscheinen sollten und Sammeln / Verfassen von möglichen Zusatztexten (aller Art) zu den Figuren, zur Handlung und zur Thematik, um anderen einen Eindruck von der Inszenierung zu geben → die Figur des Lefty: Formulierung des Bildes, das von Lefty entstanden ist, z.B. durch Diskussion der folgenden Behauptungen: - Lefty ist ein Träumer, der die Realität ausblendet. - Lefty kommt alleine nicht zurecht. - Lefty wird erwachsen. - Lefty hat wie alle anderen irrationale Angst vor dem schwarzhaarigen Baby. - Lefty ist ein Entertainer. - Lefty ist ein Verlierer und Versager. - Lefty findet immer einen Ausweg. Nora Abdel-Maksoud: Sie nannten ihn Tico – Materialien zur Inszenierung Fragen nach der Aufführung / Fragen zur Inszenierung zur Bühne und zu den Requisiten - Aus welchen Elementen besteht die Konstruktion, die die Bühnenmitte dominiert? Welche Spielebenen bietet diese Konstruktion, welche Orte behauptet sie? - Wodurch lässt sie auch den Eindruck von Mobilität entstehen? Welche weiteren deutlichen Einteilungen erfährt der Bühnenraum? Wodurch entstehen sie? Welche der Figuren nutzen auch den Innenraum des Turms? Welche Wirkung erzeugt das, welche Assoziationen ruft das hervor? An welchem Ort und in welcher Zeit spielt sich das Geschehen ab? Wie wird diese Behauptung durch das Bühnenbild unterstützt? Welche Requisiten sind besonders auffällig? Wer benutzt sie jeweils? - zum Licht - Welcher Eindruck bleibt nach der Aufführung von der durch das Licht geschaffenen Atmosphäre in Erinnerung? - Welche Licht-Farben und -Stärken dominieren die Inszenierung? Welche Wirkung erzeugen sie? - In welchen Szenen fokussiert das Licht einzelne Figuren? Welche Wirkung erzeugt das? - Schafft das Licht in verschiedenen Szenen unterschiedliche Atmosphären? zu den Kostümen - In welcher Zeit verorten Kostüm und Perücke das Geschehen? - Welche Farben, Formen und Materialien dominieren die Kostüme und Perücken? - Erzeugen die Kostüme und Perücken den Eindruck von Realität oder von Fiktion? Wodurch entsteht der Eindruck? - Welche Wechsel sind in den Kostümen zu bemerken? Wann und wo finden diese statt? - Zu welcher Spielweise führen die Kostüme? Und die Perücken - Welche Ironiesignale enthalten die Kostüme, welche die Perücken? - Mit welchen Adjektiven lassen sich die Kostüme von Pancho und Lefty und die der anderen Figuren beschreiben? Nora Abdel-Maksoud: Sie nannten ihn Tico – Materialien zur Inszenierung zu den Figuren - In welche Gruppen lassen sich die einzelnen Figuren zusammenfassen? - Bestehen Ähnlichkeiten zwischen einzelnen Gruppierungen? Worin liegen diese? - Welche Gemeinsamkeiten weisen Spiel- und Sprechweise aller Figuren auf? - Welche Unterschiede in Spiel- und Sprechweise zeigen sich zwischen den „sozialen Absteigern“ und den „Gewinnern“? - Gibt es Figuren, die deutlich wahrnehmbar sind, obwohl sie nicht zu sehen sind? - Wie werden diese behauptet? - Wer spielt das Baby? - Welche der Figuren singen? Was singen sie jeweils? - Welche Wirkung hat der Gesang auf die anderen Figuren? Welche Wirkung hat er auf das Publikum? - Gibt es Figuren, über die das Publikum lacht? Was ruft diese Reaktion hervor? - Wie betreten die Figuren die Bühne, wie gehen sie ab? - Nutzen alle Figuren denselben Raum und gehen sie dieselben Wege oder sind Unterschiede erkennbar? - Welche Slapstick-Elemente finden sich in der Spielweise der Figuren? - Wie werden über die Spielweise schnelle Fortbewegung und Unterwegssein gezeigt? - Auf welche Arten tun sich die Figuren Gewalt an? Wie äußert sich sie ihre Aggression? - In welchen Szenen werden die Musiker ins Spiel einbezogen? Werden sie immer auf dieselbe Art und Weise einbezogen? - Welche der Figuren erzählen Handlung, welche Figuren zeigen Handlung? - Welche der Figuren hat das letzte Wort in der Inszenierung? Nora Abdel-Maksoud: Sie nannten ihn Tico – Materialien zur Inszenierung Weiterführendes Zeitschriften Theater der Zeit (Mai 2015): Die Apathie der Privilegierten. Die Autorin, Schauspielerin und Regisseurin Nora Abdel-Maksoud über eigene Rollenwechsel und falsche Künstlerbilder im Gespräch mit Theresa Schütz. S. 22-24. → Interview mit Nora Abdel-Maksoud, das Einblick in ihr Schaffen gibt Deutschunterricht 5/2013: Theater! Schultheater 10/2012: Zuschauen Schultheater 23/2015: Störungen → praxisorientierte Vorschläge zum Umgang mit zeitgenössischem Theater im Deutsch- und im Theaterunterricht Internet Jörg Bochov (2007): Das zeitgenössische Theater und seine Autoren (Verwandlungen des Theaters - Teil 5, 03.06.2007). http://www.deutschlandfunk.de/das-zeitgenoessischetheater-und-seine-autoren.1184.de.html?dram:article_id=185228 → Essay des Theaterrezensenten Jörg Bochov, der sich mit der Lage von Gegenwartsautor/innen, die für das Theater schreiben, beschäftigt, auf der Website des Deutschlandfunks Peter Stoltzenberg (2016): „Das Drama der Dramatiker. Warum das Theater keine Autoren mehr hat – und die Stücke immer kleiner werden“. Essay zum zeitgenössischen Theater. Der Tagesspiegel, 06.03.2016. http://www.tagesspiegel.de/kultur/essay-zumzeitgenoessischen-theater-das-drama-der-dramatiker/13058626.html → Essay des Dramaturgen Peter Stoltzenberg zur Gegenwartsdramatik und zum Autorentheater auf der Website von Der Tagespiegel http://www.br.de/telekolleg/faecher/deutsch/literatur/07-literatur-zusammen-100.htm → kurze Hintergrundinfos zur Entstehung des zeitgenössischen Dramas und Theaters auf der Website des Telekollegs des Bayerischen Rundfunks Wildemann, Patrick (2014): Feuer in den Köpfen. Nora Abdel-Maksoud im Portrait. Der Tagesspiegel, 01.05.2014. http://www.tagesspiegel.de/kultur/nora-abdel-maksoudim-portraet-nora-abdel-maksoud-schreibt-ironiebegabt-und-scharfsichtig/98170862.html → kurzes Portrait der Autorin und Regisseurin und Informationen zu ihrem Stück Kings auf der Website des Tagespiegels https://www.muenchner-volkstheater.de/ensemble/regisseure/nora-abdel-maksoud → Kurzbiographie der Autorin und Regisseurin Nora Abdel-Maksoud auf der Website des Münchner Volkstheaters https://www.muenchner-volkstheater.de/spielplan/trailer?page=3 → Trailer zur Inszenierung am Münchner Volkstheater