Foto: David C. Schneider

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Foto: David C. Schneider
Inhalt
Ronny Kraus
Was ist ein Philosoph? Eine steuerrechtliche Antwort......................... ................ 3
A
Sprachphilosophie
Pirmin Stekeler-Weithofer
Die Frage nach dem Sinn........................................................................................... 9
Stefan Tolksdorf
Reden ‚Als-ob’ – Sind Fiktionalisten die besseren Anti-Realisten? .................. 29
James Conant
A Development in Wittgenstein’s Conception of Philosophy:
From “The Method” to Methods…………………………………….. .......... 55
Geert Keil
„Die Wahrheit verträgt kein Mehr oder Minder“ .................................. ............. 81
Birgit Griesecke / Werner Kogge
Ein Arbeitsprogramm, kein Abgesang. Wittgensteins grammatische
Methode als Verfahren experimentellen Denkens.............................................101
Günter Abel
Epistemische Objekte als Zeichen- und Interpretationskonstrukte........ .......127
Christian Stetter
Freind oder feund? Einige sprachphilosophische Konsequenzen aus
Nelson Goodmans Analyse des Induktionsproblems........................................157
viii
Inhalt
B
Philosophie des Geistes
Joachim Schulte
Wie ist der Solipsist in der Fliegenglocke zur Ruhe zu bringen?................. ....177
Andrea Kern
Handeln ohne Überlegen............................................................... ........................193
Matthias Schloßberger
Diltheys ursprüngliche Einsicht. Verstehen ist Verstehen von
Ausdruck...................................................................................................................221
Christoph Demmerling
Kein Etwas, aber auch nicht ein Nichts. Nachdenken über
Empfindungen und Gefühle im Anschluss an Wittgenstein............................239
Heinke Deloch
Das Nicht-Sagbare als Quelle der Kreativität.
E.T. Gendlins Philosophie des Impliziten und die Methode
Thinking at the Edge..................................................................................................257
Ralf Stoecker
„Wir fühlen uns sozusagen für die Bewegung verantwortlich“
– Hilfreiche Anregungen Wittgensteins für die moderne
Handlungstheorie.....................................................................................................283
Richard Raatzsch
Logisches und Psychologisches, Subjektives und Objektives in
Bezug auf das Wesen der Zahl……………………………………………301
C
Religionsphilosophie
Holm Tetens
Nach dem „Misslingen aller philosophischen Versuche
in der Theodizee“...................................................................................................325
Thomas Rentsch
Was ist spezifisch religiöse Transzendenz? Kritische Bemerkungen zu
Hans Julius Schneider, Religion..............................................................................339
Inhalt
ix
Hans G. Ulrich
Tradition und Reflexion.........................................................................................347
Herta Nagl-Docekal
‚Many Forms of Nonpublic Reason’? Religious Diversity in
Liberal Democracies...............................................................................................363
Harald Wohlrapp
Eine pragmatische Definition der Religion........................................................379
Matthias Kroß
Doch noch einmal zurück zum frühen Wittgenstein!.......................................409
Kuno Lorenz
Der Buddhismus – Eine gottlose Religion des Friedens..................................429
Peter Ackermann
Ahnen in einer buddhistisch geprägten Kultur..................................................453
Gottfried Gabriel
Rudolf Carnaps Mitschrift der Fregeschen Vorlesung
„Logik in der Mathematik“...................................................................................467
D
Stellungnahmen
Hans Julius Schneider
Stellungnahmen…………………………………………………………..493
Literaturverzeichnis………………………………………………………561
Register…………………………………………………………………..571
Vorwort
In den meisten Fällen ist der Versuch zum Scheitern verurteilt, in den vielfältigen Schriften und Vorträgen eines Philosophen trotzdem einen durchgehenden Gedanken und ein gemeinsames Motiv des Philosophierens zu entdecken.
Im philosophischen Werk von Hans Julius Schneider jedoch glauben wir
Herausgeber der ihm zugedachten Festschrift einen solchen durchgehenden
Grundgedanken zu erkennen. Der Titel versucht ihn auf den Begriff zu bringen: „In Sprachspiele verstrickt – oder: wie man der Fliege den Ausweg zeigt“.
Die Zweiteilung des Titels verweist auf zwei Themen, die gleichwohl miteinander zusammenhängen. Im ersten Teil nimmt der Begriff des Sprachspiels eine Konzeption des späten Wittgenstein auf, die in beinahe allen
Schriften Schneiders entweder einen unübersehbaren impliziten Hintergrund
bildet oder aber sogar explizit thematisiert wird. Der Begriff des Sprachspiels
bringt die konstitutive Verflechtung von Wissen und Können, von sprachlichen
und nicht-sprachlichen Handlungsformen in ein Bild. Die Einsicht, dass
Sprechen Handeln ist und Wissen auf Können basiert, entfaltet bei Schneider
an unterschiedlichsten Stellen ihre Konsequenzen, etwa beim Zusammenspiel
von Phantasie und Kalkül, Handlung und Logik, beim Verstehen mentaler
und moralischer Sprachspiele, aber auch bei der Frage nach dem Sinn der
Rede von „Gott“ und dem Charakter religiöser Erfahrungen. Die angedeutete
Synthese von Können und Wissen setzt Schneider produktiv zu neuartigen
Antworten auf alte Fragestellungen der Philosophie um und verschmilzt auf
diese Weise höchst originell die Spätphilosophie Wittgensteins mit einigen Schlüsselideen des Erlanger Konstruktivismus. Gerade mit dieser Verschmelzung hört
die Sprachanalyse auf, nur eine „negative“ Therapie zu sein, die die philosophischen Probleme wie eine „Krankheit“ überwindet. Sie eröffnet vielmehr
jetzt auch positive systematische Einsichten bis hin zu einer existenztragenden Klarheit etwa im Falle der Schneiderschen Analyse religiösen Sprechens.
Damit sind wir beim zweiten Teil des Titels angekommen: der Fliege und
dem Fliegenglas. Bei Wittgenstein heißt es: „Was ist dein Ziel in der Philosophie? – Der Fliege den Ausweg aus dem Fliegenglas zeigen“. Wie immer dieser Aphorismus letztendlich auch zu deuten ist (vgl. dazu den Beitrag von
Joachim Schulte in diesem Band), in jedem Fall bezieht er sich auf den therapeutischen Weg des Philosophierens, Probleme durch übersichtliche Darstellung unserer sprachlichen und nicht-sprachlichen Handlungszusammenhänge
zu entwirren. Der Begriff des Sprachspiels hat bei Wittgenstein und Schneider
seinen systematisch Ort in der Beseitigung begrifflicher Verwirrungen. Dabei
zielt die Therapie in erster Linie auf die Klärung unserer Gedanken, um so die
vielfältigen Formen beispielsweise von moralischen, religiösen, wissenschaftlichen und lebensweltlichen Praxen besser zu verstehen. Bei Wittgenstein aller-
2
Vorwort
dings bleibt die Antwort auf eine nahe liegende Frage ambivalent bis undurchsichtig: Wohin entwischt die Fliege (der Philosoph) nach ihrer Befreiung, erhält sie die Chance zu einem neuartigen, einem besseren Philosophieren oder führt sie nun ein Leben frei von philosophischen Erwägungen?
Einige Beiträge und nicht zuletzt die Stellungnahmen Schneiders plädieren für
eine These, die Schneiders philosophisches Werk insgesamt so nachdrücklich
bekräftigt und durch die philosophische Tat illustriert: Es gibt ein substanzielles Philosophieren nach der Befreiung aus dem Fliegenglas.
Anlässlich seiner Emeritierung wurde Schneider im Sommer 2009 an der
Universität Potsdam mit einer Tagung unter dem Motto „Der Geist im Fliegenglas“ geehrt. Die vorliegende Festschrift greift den Geist dieser Veranstaltung auf. Dort ging es nicht zuletzt um den Gedanken, was am Ende einer
Klarstellung unserer Zeichenvollzüge steht. Für Wittgenstein endet jede Klarstellung (auch) mit der Einsicht: Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man
schweigen. In einem autobiografischen Abschnitt zu Beginn seiner Stellungnahmen zu den Beiträgen der anderen Autoren kommentiert Schneider dieses
berühmte Diktum Wittgensteins auf seine Weise: „Bevor ein Text das bei
seiner Veröffentlichung jeweils erreichte Maß an Klarheit hat, habe ich das
mir unerträgliche Gefühl, ihn selbst nicht wirklich zu verstehen.“ Es muss
dieses Gefühl sein, das Schneider beharrlich antreibt, an seinen Texten zu
arbeiten. Den Lohn dieses Ringens um seine Texte dürfen seine Leser dankbar ernten: Philosophische Texte, die sich außerordentlich gut lesen und verstehen lassen. Sie stehen damit gegen eine bis heute verbreitete Untugend in
der philosophischen Schriftstellerei, die Günther Patzig einmal so charakterisiert hat: Nur was dunkel gesagt ist, ist philosophisch tief gedacht.
Die Festschrift vereint Aufsätze zu den drei Schwerpunkten der Philosophie Schneiders: der Sprachphilosophie, der Philosophie des Geistes und der
Religionsphilosophie. Eingerahmt werden sie durch zwei Beiträge am Anfang
und am Ende, die sich der thematischen Dreigliederung entziehen. Ronny
Kraus eröffnet den Band. Auf pfiffige Weise und mit einem Augenzwinkern
berichtet er von der, Philosophen durchaus vertrauten, Erfahrung, sich als
Philosoph oder als Philosophin der Gesellschaft in der Öffentlichkeit andienen zu müssen. Am Ende steht Gottfried Gabriels Veröffentlichung der Mitschrift Carnaps einer Vorlesung Freges zur Logik in der Mathematik aus dem
Jahr 1914. Der hier erstmals abgedruckte Text der Mitschrift weicht gelegentlich vom Format der anderen Beiträge ab. Diese Abweichungen sind inhaltlich motiviert, sie ergeben sich aus der Verwendung mathematischer / logischer Formeln und Darstellungen.
Potsdam & Berlin, Frühjahr 2010
Stefan Tolksdorf & Holm Tetens
Was ist ein Philosoph? Eine steuerrechtliche Antwort
Ronny Kraus
Die Ausgangslage
In Deutschland gibt es ein Steuerprivileg für die sogenannten Freien Berufe.
Wer einen der Freien Berufe ausübt (und die entsprechende Qualifikation
nachweisen kann), ist von der Gewerbesteuer befreit. Wer die Qualifikation
nicht nachweisen kann, übt ein Gewerbe aus und muss für dieselbe Tätigkeit
Gewerbesteuer abführen. Für Steuerzahler mit einem Abschluss in Philosophie bedeutet das: Wenn man als Selbständiger z.B. als Unternehmensberater
arbeitet, übt man ein fachfremdes Gewerbe aus für das man nicht qualifiziert
ist und muss deshalb Gewerbesteuer zahlen. So ist die Rechtslage.
Ein Brief an das zuständige Finanzamt
Sehr geehrte Damen und Herren,
in Ihrem Schreiben vom 27.05.2009 legen Sie dar, dass ich nicht als beratender Betriebswirt arbeiten kann, weil der Nachweis über meine betriebswirtschaftliche Qualifikation fehlt. Sie bieten mir an, dass ich dies nachhole und
die in Selbststudium und praktischer Arbeit erworbenen Kenntnisse der Betriebswirtschaftslehre nachweise. Dieses Vorgehen möchte ich mir, da es Ihr
Vorschlag ist, ausdrücklich vorbehalten.
Bevor ich diesen Weg einschlage, möchte ich jedoch darlegen, was mein
Beruf ist (1), was die Tätigkeit in diesem Beruf ist (2), was meine Tätigkeit ist
(3) und dass es sich um einen der sonstigen Freien Berufe im Sinne des § 18
Abs. 1 EStG handelt (4). Ich hielt die Forderung nach einer Tätigkeitsbeschreibung und den Ausbildungsnachweisen für eine bloße Formalie und
habe nicht in der gebotenen Präzision geantwortet.
(1)
Was ist mein Beruf?
Nach meiner Ausbildung habe ich den seltenen Beruf eines Philosophen. Die
Kopien meiner Abschlüsse liegen Ihnen vor.
Ronny Kraus
4
(2)
Was ist die Tätigkeit eines Philosophen?
Die Tätigkeit eines Philosophen besteht wie bei allen anderen Berufen in der
Anwendung des in der Ausbildung Gelernten. Ich zitiere dazu die Studienordnung des Instituts für Philosophie der Universität Leipzig für Magister, die
die Grundlage meiner Ausbildung darstellt:
Im Unterschied zu den Fachwissenschaften ist die Philosophie nicht durch einen Gegenstandsbereich bestimmt, sondern durch eine bestimmte Vorgehensweise. Philosophie ist wesentlich Reflexion […]. Ein zweites wichtiges Merkmal der Philosophie ist
dasjenige der Kritik oder genauer: der Erhaltung der Kritikfähigkeit gegenüber dem
Bestehendem. Ob es sich beim Gegenstand philosophischer Reflexion um die Ergebnisse, Methoden und Grundlagen der Wissenschaften handelt […] oder um die Prinzipien menschlichen Handelns […]: stets geht es dabei auch darum, Bestehendes in
seinen Grenzen zu beschreiben, und das heißt letztlich: Kritik zu üben an allzu einfachen oder dogmatischen Erklärungs- und Begründungsmustern […]. Die Philosophie-Ausbildung ist darauf bedacht, kritisches Problembewusstsein zu wecken und zu
entfalten, mit dem Ziel, sowohl die Reflexion theoretischer und praktischer Probleme
als auch historisch-kritisches Verstehen zu ermöglichen […].1
Zusammenfassend kann man sagen, dass die Philosophie durch eine bestimmte Verfahrensweise gekennzeichnet ist, die auf (dann: nichtphilosophische) inhaltliche Gegenstandsbereiche angewendet wird.
(3)
Was ist meine Tätigkeit?
Ich berate Unternehmen in schwierigen Situationen in denen die herkömmlichen betriebswirtschaftlichen Instrumente
a) an Grenzen geraten,
b) zu einem angemessenen Einsatz gebracht werden sollen,
c) die schwierige Situation selbst erst herbeigeführt haben.
Dies betrifft insbesondere die Situation von Unternehmen bei der Fortführung nach einer Insolvenz oder die Situation von Unternehmen in einer Krise, die durch das Versagen des (in der Regel betriebswirtschaftlich geschulten)
Führungspersonals überhaupt erst entstanden sind. Grundlage dieser Arbeit
ist meine Ausbildung als Philosoph, indem ich die oben genannten kritischen
und analytischen Methoden anwende. D.h., der Gegenstand der Beratung ist
betriebswirtschaftlicher Art, die Mittel sind philosophischer Art. Ganz analog
berät ein (Arbeits-)Psychologe Unternehmen mit den Mitteln der Psychologie.
_____________
1
Die Studienordnung für den Magisterstudiengang am Institut für Philosophie der
Universität Leipzig (Stand April 2005) können Sie als PDF auf folgender Internetseite
einsehen: http://www.zv.uni-leipzig.de/studium/ angebot/ studienangebot/ auslaufende-studiengaenge/studiendetail-alt.html?ifab_id=40
Was ist ein Philosoph?
5
Auch hier würde man den Psychologen nicht als Betriebswirt mit inadäquater
Ausbildung einordnen.
Da Sie gar nicht in Betracht ziehen, dass ich als Philosoph arbeite, gebe
ich zwei Beispiele: Wenn ich ein Softwareeinführungsprojekt leite, lehne ich
die Benutzung einiger im BWL-Studium vermittelter Instrumente bewusst ab.
Es gibt z.B. keinen Projektplan, und es wird kein einziges Flussdiagramm
gezeichnet. Warum? Als Philosoph weiß ich, dass ein Projektplan nur dann
sinnvoll ist, wenn die Ressourcen bekannt sind, was bei einem dezidiert didaktischen Projekt wie einer Softwareeinführung eine petitio principii2 bedeutet. Als
Philosoph weiß ich, dass ein Flussdiagramm keine Darstellung eines realen
Vorgangs ist, sondern eine idealtypische, normative Modellierung, die, was
ihren Realitätsbezug betrifft, so beliebig ist wie die Sternenbilder. Wer nicht
sieht, dass ein Flussdiagramm nur darstellt, was die Mitarbeiter tun sollen und
nicht was sie tun, läuft in einen naturalistischen Fehlschluss3.
Bei meiner Tätigkeit versuche ich nicht, den Betriebswirten blind nachzueifern, sondern bringe vielmehr alternative Ansätze ein. Diese formuliere ich
nicht in der Sprache der akademischen Philosophie, sondern in der Sprache
meiner Kunden. Dass ich dies nicht ohne die in Selbststudium und durch
praktische Erfahrung erworbene Kenntnis der betriebswirtschaftlichen Instrumente machen kann, versteht sich von selbst. Daher biete ich Ihnen an,
zusätzlich, über die hier vorgetragene Argumentation hinaus, den Nachweis
über meine umfassenden Kenntnisse in der Betriebswirtschaft vorzulegen. Da
meine Arbeit und mein Rat bei Fragen der Bilanzierung, Kostenrechnung,
Softwareeinführung, Produktionssteuerung und Konzernkonsolidierung (um
einige der wichtigsten Arbeitsgebiete zu nennen) geschätzt werden bin ich
sehr zuversichtlich, hierzu Referenzen von Wirtschaftsprüfern, Kaufmännischen Leitern und Geschäftsführern von Unternehmen, mit denen ich gearbeitet habe, vorlegen zu können.
(4)
Ist der Beruf des Philosophen ein Freier Beruf?
Der Beruf des Philosophen ist nicht unter den Katalogberufen des § 18, Abs.
1 EStG aufgelistet. Nach seiner Art, der Form der Ausbildung an einer Universität und der Möglichkeit der Promotion, auf Grund der oben beschriebenen Tätigkeiten eines Philosophen sowie der Tatsache, dass die Philosophie
historisch und systematisch die erste aller Wissenschaften ist, vertrete ich die
Auffassung, dass der Beruf des Philosophen den sonstigen Freien Berufen
_____________
2
3
die Voraussetzung des Beizubringenden
der Schluss vom Sollen auf das Sein
6
Ronny Kraus
zuzurechnen ist. Dies deckt sich mit der in § 1 Abs. 2 PartGG gegeben Definition der Freien Berufe:
Die Freien Berufe haben im Allgemeinen auf der Grundlage besonderer beruflicher
Qualifikation oder schöpferischer Begabung die persönliche, eigenverantwortliche
und fachlich unabhängige Erbringung von Dienstleistungen höherer Art im Interesse
der Auftraggeber und der Allgemeinheit zum Inhalt.
Wer Philosoph ist und seinen Beruf durch schreibende oder mündliche Tätigkeit ausübt ist als Philosoph tätig. Es ist nicht plausibel, dass ein ausgebildeter Philosoph, der den ureigensten philosophischen Tätigkeiten, der kritischen
Reflexion und dem vernünftigen Argumentieren, nachgeht, ein fachfremdes
Gewerbe ausübt.
Ich bitte Sie daher, meine Einkünfte aus der Tätigkeit als Philosoph als
Einkünfte aus freiberuflicher Tätigkeit zu behandeln.
Ihrer Antwort sehe ich mit großem Interesse entgegen. Denn die Frage
Was ist ein Philosoph? hat vor über 2300 Jahren bereits Platon in seinem Dialog
Der Sophist behandelt. Platon lässt als Philosoph (wörtlich: Liebhaber der
Weisheit) im strengen Sinne nur gelten, wer die Wahrheit um ihrer selbst
willen anstrebt, so dass letztlich nur die private Beschäftigung als Philosophie
i.e.S. gilt. Wer Kunden einen Vorteil aus seiner Beratung verspricht ist nach
Platon ein bloßer Sophist (wörtlich: Ein Weiser). „Sophist“ nannte man in der
klassischen Antike wandernde Berater, die ihre Dienste gegen Geld bei
Rechtsstreitigkeiten, politischen Auseinandersetzungen und Festreden anboten. Die Sophisten sind damit die Vorläufer aller Berater und Anwälte bevor
sich im Laufe der Zeit die Tätigkeitsbereiche ausdifferenziert haben. Nach der
Ansicht Platons bin ich also nicht den Philosophen i.e.S. zuzurechnen, sondern den Sophisten, die ihre „Weisheit“ (heute: „Dienstleistungen höherer
Art“) gegen Geld (in freiberuflicher Tätigkeit?) anbieten.
Mit freundlichem Gruß …
Das Ergebnis
Das Finanzamt hat – wie zu erwarten – nie auf dieses Schreiben geantwortet.
Allerdings erging der betreffende Steuerbescheid ohne Gewerbesteuerforderungen, so dass das Finanzamt die Tätigkeit offenbar stillschweigend als philosophische Tätigkeit anerkennt.
A
Sprachphilosophie
Die Frage nach dem Sinn
Pirmin Stekeler-Weithofer
Wahrem Eifer genügt, dass das Vorhandne vollkommen
sei; der falsche will stets, dass das Vollkommene sei.
F. Schiller
1. Sinn in einer Redepraxis und Sinn einer Praxis
1.1 Die Sinnfrage in Philosophie und Religion
1. Die Frage nach dem Sinn ist die Frage der Philosophie. Dabei geht es um
Sinn und Bedeutung von Wörtern, Sätzen und Texten, bzw. von Aussagen im
allgemeinen Sinne von Sprechhandlungen (unter Einschluss von Versprechungen oder Fragen oder Aufforderungen) ebenso wie um die Frage nach
dem Sinn des menschlichen Lebens oder der Welt im ‚Ganzen’. Die Frage
nach dem Sinn führt damit zu dem, was traditionell unter dem Titel „Transzendenz“ steht, auch wenn zunächst unklar sein sollte, was das ist.
2. Bei Gregor von Nazianz wird am Anfang eines schönen religiösen Gedichts oder Gebets Gott unter dem (neu)platonischen Titel „Jenseits aller
Erscheinungen!“ angesprochen. Unmittelbar darauf folgt die bezeichnende
zweite Zeile: „Wer kann Dich nennen?“. Sie baut eine Art Ich-Du-Beziehung
zu dieser Transzendenz auf, wie sie dann auch Thema des berühmten Buches
„Ich und Du“ von Martin Buber sein wird.
Ob personal angesprochen oder nicht, in jeder Rede von einer Transzendenz geht es um eine Überschreitung eines allzu eingeschränkten Sinns, d.h.
eines allzu eng gefassten ‚Bereich des Normalen’. Man kann z.B. eine objektstufige Fokussierung auf endliche Dinge und empirische Phänomene überschreiten, indem man nicht auf Gegenstände der Rede und der empirischen
Untersuchungen achtet, sondern auf den Rahmen, in dem sie stehen, und wie
durch ihn die Konstitution oder Verfassung der Gegenstände (mit)bestimmt
ist. Martin Heidegger deckt im Dasein, unserer eigenen Seinsweise, eine Art
Gesamtrahmen für Sinn auf. Der Vollzug von Wissenschaft, ja alles Wissen,
steht immer schon im Zusammenhang zu anderen Vollzügen des Lebens.
10
Pirmin Stekeler-Weithofer
Diese immanente Transzendenz führt von begrenzten Gegenständen des
Wissens, etwa den empirischen Dingen, zum allgemeinen Rahmen, vom Seienden zum Sein. Ein solcher Übergang ist wie der von einem Tun zum
Nachdenkens über das Tun immer auch schwer zu artikulieren und schwer zu
verstehen, so wie ja auch der Schritt von der Erforschung der Natur (physike
techne) zum Nachdenken über das Wissen von der Natur (Metaphysik) als Eintritt in eine ‚höhere’ Sphäre erscheint. Entsprechendes gilt schon für den Weg
des Parmenides vom Denken zum Nachdenken über das Denken, zur Logik
und Methode. Schon hier handelt es sich aber ‚nur’ um eine ‚metastufige’
Explikation eines schon praktisch bekannten Könnens.
3. Auch in Kants Gegenüberstellung von „transzendent“ und „transzendental“ geht es darum, immanent sinnvolle Reden, die sich nicht unmittelbar auf
die empirische Welt der Erscheinungen beziehen, von sinnlosen, weil willkürlichen, Annahmen über ein unzugängliches Jenseits zu unterscheiden. Transzendentale Reden artikulieren Formmomente unserer condition humaine. Transzendentale Bedingungen eines auf Objekte bezogenen und insofern objektiven (Erfahrungs-)Wissens sind implizite oder besser empraktische (Karl
Bühler) Präsuppositionen im Vollzug des Wissens. Diese werden in der objektstufigen Fokussierung auf Erfahrung nicht bemerkt, eben weil wir sie als
selbstverständlich voraussetzen. Sie zu artikulieren oder explizit zu machen ist
die Aufgabe von Transzendentalphilosophie. Diese ist kritische Philosophie,
indem sie sich gegen ‚transzendente’ Deutungen des Übertritts von empirisch
Einzelnem zum begrifflich Allgemeinem bzw. von Erscheinungen zu einem
‚Jenseits’ der Erscheinungen richtet, und das durchaus auch in den theoretischen Erklärungen der Erscheinungen durch die Wissenschaften.
Gerade die Einbettung konkreter Wissensansprüche, auch der Ergebnisse
der Wissenschaft, in ihren praktischen Rahmen zeigt deren je begrenzte
Reichweite. Man denke z.B. an die Arbeitsteilung zwischen Physik, Chemie
und Biologie bzw. an Entsprechendes in den Humanwissenschaften, samt der
thematischen und methodischen Aspektdifferenz des jeweiligen Wissens.
4. Über deskriptive Explikationen der realen Formen unserer Praxis hinaus
geht die Artikulation so genannter regulativer Ideen, in denen wir kontrafaktisch so sprechen, als gäbe es ‚unendliche’ Erfüllungen idealer Bedingungen.
Der rechte Sinn einer solchen Betrachtung sub specie aeternitatis ist nun aber
selbst erst zu befragen. In dieser besonderen Form unseres Redens über uns
selbst und unsere Welt spielt ein fingierter Blickpunkt eines vorgestellten
Gottes eine besondere Rolle. Doch am Ende gibt es hier weniger zu ‚glauben’
als zu verstehen.
Die Frage nach dem Sinn
11
5. Charles Taylor sieht in seinem 2007 erschienen Buch A Secular Age1 den
‚Glauben an Gott’ als Überschreitung einer stabilen ‚mittleren Lage’ („stabilized middle condition“) in Richtung auf eine am Ende nie voll erreichbare Fülle
(„fullness“). Eine derartige Sinnorientierung verfehle ein moderner Ungläubiger
(„unbeliever“) allein schon deswegen, weil er, wie ich Taylors Gedanken kurz
zusammenfassen würde, die Beurteilung seiner mittleren, sozusagen ‚bürgerlichen’, Erfolge am Ende selbst in seinen Händen behalten möchte. Diese Art
von Streben nach Macht und durchgehender Selbstbeurteilung führt aber
gerade nicht zu Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung, sondern zu Selbstgerechtigkeit. Diese verhindert jeden Enthusiasmus und jede Erfahrung einer
widerfahrnisartigen ‚göttliche Gnade’, wie sie für ein gutes Leben nötig sind.
Problematisch wird dann aber Taylors These, die immanente Zielsetzung der
Verbesserung der menschlichen Lage („human flourishing“) vermöge die Frage
nach dem Sinn nie zu befriedigen. Taylor verwischt in ihr nämlich die zentrale
Differenz zwischen dem begrenzten Ziel der Verbesserung bloß meiner Lage
oder der Lage der Meinen, wer immer das auch sein mag, die Familie, der
Stamm, die Nation, und der Teilnahme an einem ‚unendlichen’ Projekt der
Entwicklung ‚der Menschheit’. Letzteres transzendiert jeden bloß ‚subjektiven’ Sinn, und zwar ohne ein ‚göttliches’ Jenseits. Wenn ‚der Mensch’ im
Mittelpunkt steht, heißt das also noch lange nicht, dass je ich oder je wir uns
zu wichtig nehmen. Wer ‚den Menschen’ im rechten Sinn in den Mittelpunkt
stellt, tut dies außerdem notwendigerweise schon unter Einschluss von Tieren, Pflanzen, der Erde und dem Leben auf ihr.
Außerdem ist es problematisch, dass Taylor seine Untersuchung des Verhältnisses von Säkularität und Religiosität mit der bloß subjektiven Empfindungsperspektive des Einzelnen anfängt. Damit werden die allgemeinen begrifflichen Analyse-Ansätze im Nachgang zu Kants Transzendentalphilosophie, von Hegel bis Heidegger, im Grunde unterschätzt. Denn um Erfüllungsgefühle geht es hier überhaupt nicht. Es geht eher um eine Kritik eines
bloß partialen Selbstbewusstseins sowohl der religiösen Traditionen, als auch
einer vermeintlich ‚wissenschaftlichen’ Aufklärung und szientistischen Säkularisation mit ihren Materialismen und Empirismen. Taylors Verdächtigung ‚der
Vernunft’ als bloß verstandesmäßige Haltung instrumentellen Denkens und eines
nietzscheanischen oder auch nur pragmatistischen Willens zur Macht verkennt,
dass es hier, sozusagen, dritte Wege gibt.
Die erwähnte Gefahr der Selbstgerechtigkeit einer bloß vermeintlichen
Aufklärung und Vernunft der Moderne wurde im 19. Jahrhundert, etwa auch
bei Heinrich Heine, bekanntlich unter dem Titel „Philistertum“ diskutiert. Die
Diskussion stand im Einflussbereich der so genannten Romantik und der
klassischen deutschen Philosophie. Zu ihr gehört auch die auf Rousseau zu_____________
1
Charles Taylor: A Secular Age, Harvard 2007, S. 7-9.
12
Pirmin Stekeler-Weithofer
rückgehende Gegenüberstellung von Citoyen und Bourgeois. Der Lebensentwurf
eines Citoyen reicht über sein eigenes Leben insofern hinaus, als er sein Tun
im Rahmen eines Menschheitsprojektes versteht, also nicht etwa nur, wie im
19. Jahrhundert leider zumeist, bloß im Dienste seiner Nation. Dem gegenüber kreist der Bourgeois in seinem Denken und Tun nur um sich selbst und ist
eben deswegen ein entsprechend eitler, also sinnentleerter, blasierter, Philister.
Damit sehen wir, dass und wie es auch auf der Seite einer philosophisch säkularisierten Moderne, welche jeden ,ontischen’ Glauben an Gott als begrifflich
verwirrt erkennt, ohne damit religiöse Reden in Bausch und Bogen abzulehnen, um eine Differenzierung zwischen Menschen geht, die sich mit einer
‚mittleren Lage’ im Sinne Taylors abfinden (möchten), und Personen, welche
nur im Streben nach immer größerer Fülle eine Sinngebung ihres Tuns und
Strebens erkennen. Die teils szientistische, teils philiströse Säkularität des 20.
und 21. Jahrhunderts scheint diesen Gegensatz freilich kaum mehr zu kennen
oder nicht mehr zu verstehen und damit in den Zustand zu verfallen, den
Johann Gottlieb Fichte mit dem etwas blumigen Titel eines „Standes der
vollkommenen Sündhaftigkeit“ bezeichnet hat. Es ist die Haltung der unbefragten Akzeptanz einer rein durch Macht und Geld gesteuerten gesellschaftlichen Ordnung, die keine weiteren Ziele der Verbesserung der allgemeinen
Situation der Menschen verfolgt.
6. Der Mensch ist kein Tier (bestia). Seine Seinsform ist der von Tieren existenzial entgegengesetzt. Heidegger hat in seiner wichtigen und schwierigen Unterscheidung zwischen existenzialen Momenten einer Vollzugsform (dem
Sein) und den kategorialen Aspekten einer Bezugsform (den Gegenständen
eines Wissens etwa) diesen neuen Ausdruck eingeführt. Entsprechend unterscheidet sich das Sein der Tiere existenzial von dem der Pflanzen und deren
Seinsweise von der der unbelebten Natur. In unseren kategorialen Unterscheidungen von Gegenstandsbereichen der Wissenschaften versuchen wir,
diese Differenzen so gut es geht widerzuspiegeln – und vergessen eben diese
Tatsache regelmäßig wieder, indem wir meinen, ‚eigentlich’ könnte die aus der
klassischen Mechanik der Bewegungsformen unbelebter Dinge entwickelte
mathematische Physik ‚alles’ erklären, ‚im Prinzip’ auch das Leben.
Der Mensch ist, wie das Tier, ein zoon, ein ‚animalisches Lebewesen’. Er
hat besondere ‚Eigenschaften’ und ‚Fähigkeiten’, die freilich ebenfalls genauer
als besondere Daseinsweise zu bestimmen sind. Unsere besondere Seinsform ist
ja in jeder Tätigkeit des Bestimmens längst schon vorausgesetzt. Ebenfalls
vorausgesetzt ist, dass rein physische, unbelebte, ‚Dinge’ in ihrem Sein zu
unterscheiden sind von dem Sein etwa eines Tieres; das animalische Leben
eines Tieres ist aber auch verschieden von dem Leben sprach- und handlungsfähiger Menschen. Es ist schon von daher ein ‚logischer’ Irrtum szientistischer Lebenswissenschaften, das ‚Leben’ unmittelbar ‚kategorial’ als ‚Eigenschaft’ eines ‚Systems’ bestimmen zu wollen.
Die Frage nach dem Sinn
13
7. Die Bedeutung von Seins- bzw. Lebensformen und dann auch von Institutionen und Praxisformen für die Frage nach dem Sinn wird insbesondere dadurch klar, dass nur im Rahmen konkreter menschlicher Praxisformen Wörter
und Sprechhandlungen eine konkrete Bedeutung erhalten. Sinn und Bedeutung von Wörtern, Sätzen und Sprechhandlungen müssen sogar selbst als Institutionen oder Praxisformen betrachtet werden. Der Unterschied zwischen
Institution und Praxisform besteht dabei im Grunde nur darin, dass Institutionen wenigstens in ihren Prinzipien auch durch explizite Regeln bestimmt
sind. Praxisformen können weitgehend durch implizite Normen des rechten
Handelns bestimmt sein, die per se noch keiner Artikulation durch sprachliche
Sätze oder Regeln bedürfen. Freilich sind die Übergänge fließend. Je formeller, ausdifferenzierter und schematischer die Regeln und Regelbefolgungskontrollen werden, desto selbstverständlicher sprechen wir von einer Institution,
wie z.B. der allgemeinen Institution des Rechtswesens oder der besonderen
des Universitätswesens. Je informeller die normativen Formen der rechten
Teilnahme an einer Praxisform sind, desto weniger neigen wir zum Gebrauch
des Wortes „Institution“, so dass etwa das moralische Urteilen gerade wegen
des (wohlbegründeten) Mangels an festen Regeln besser als Praxisform angesprochen wird.
1.2 Entwicklung des Besseren und der Begriff der Idee
1. Von zentraler Bedeutung für die Frage nach dem Sinn im Kontext eines
Strebens nach Vollkommenheit oder Fülle ist eine Einsicht, welche im Kern
schon bei Sokrates und Platon zu finden ist und welche für die Philosophie als
Institution oder bestimmte kulturelle Praxis geradezu fundamental ist: Institutionen und Praxisformen haben aufgrund ihrer Tradition eine Form (eidos). Sie
sind also schon geformte Praxen mit zunächst impliziten, besser: empraktischen, Normen des Richtigen und Falschen. Sie sind aber, zweitens, immer
auch schon auf Verbesserung angelegt und damit, wie besonders bei Augustinus klar wird, auf eine reale oder auf eine fiktive, ‚eschatologische’, Zukunft
hin ausgerichtet. Die tradierten Formen und Normen bestimmen unser Tun
und Leben, und zwar indem wir die richtige Teilnahme an ihnen lernen. Was
wir dabei lernen, wird seit alters am Schnellsten und Besten durch die Rede
von der Rolle in einem Spiel erläutert. Hierher gehört auch die Rede von einer
individuellen Person, welche, als Person, ein bestimmtes Set von Rollen gut bzw.
richtig spielen gelernt hat oder zu spielen lernen kann. Eine Person zu sein,
besteht daher gerade darin, verschiedene relevante Rollen spielen zu können.
2. Aufgabe von Philosophie ist es, diese Formen explizit zu machen. Ziel ist
es, durch Artikulation von impliziten Normen in der Form von Sätzen, Prinzipien oder Regeln die Aktualisierungen und Entwicklungen von Praxisfor-
14
Pirmin Stekeler-Weithofer
men und Normen selbstbewusst kontrollierbar zu halten. Doch das ist nicht
einfach. Schon die Auseinandersetzung des platonischen Sokrates mit seinen
eigenen Forderungen nach definitorischen und kriterialen Bestimmungen von
normativen Urteilen über Aspekte oder Dimensionen unseres (gemeinsamen)
Handelns zeigen dies. Das gilt für die Frage, was Wissen oder Wahrheit sind
und wie sie erkennbar sind, bis zur Frage nach einer gerechten Ordnung oder
Verfassung im Staat oder danach, welche Handlungen als fromm, tapfer,
besonnen oder einfach als gut und richtig zu beurteilen sind. Dabei erkennt
Platon, dass, wie im Fall des Wortes „groß“, die Grundform dieser Bewertungen relational ist, so dass eine Handlung schon dann als gut und richtig gilt,
wenn sie die relevanten Mindestanforderungen des Richtigen, also sozusagen die des
relativ Vollkommenen erfüllt, nicht erst dann, wenn sie absolut perfekt ist. Platon
drückt sich dabei so aus, dass die Handlung ausreichend Teil haben (metechein)
sollte an der Idee des Richtigen oder Guten. Die ideale Idee des Guten (idea
tou agathou) artikuliert damit gewissermaßen immer nur die Richtung einer
relationalen Ordnung, so wie eine geometrische Idee oder Form (eidos), z.B.
die des Geraden oder der Ebene, die Richtung einer Verbesserung der Geradheit von realen Linien oder der Ebenheit von realen Oberflächen artikuliert. Was realiter je hinreichend gerade oder eben ist, muss unter kompetentem Gebrauch der Idee des Guten immer in relevanter Anpassung des
Allgemeinen an den besonderen Fall beurteilt werden. Das gilt auch für die
Idee der Wahrheit und des Wissens.
Praxisformen oder Institutionen haben nun aber ebenfalls eine solche relationale Form. Es werden, erstens, einzelne Aktualisierungen als hinreichend
gut bewertet. Und wir urteilen, zweitens, über die Vernünftigkeit allgemeiner
Entwicklungen der Formen selbst. Die Formen sind als empraktische Ideen
im einzelnen Handeln wirksam, indem sie ihm Sinn und Orientierung geben.
Sie verweisen darüber hinaus auch auf die immer bestehende Möglichkeit der
Verbesserung der allgemeinen Idee im gemeinsamen Handeln. Sie sind, sozusagen, als Ideen auf eine solche Verbesserung angelegt. Als Ideen-im-Vollzug
leiten sie sowohl jede hinreichend gute Umsetzung im einzelnen Handeln, als
auch die Versuche einer ausdifferenzierenden Entwicklung der Praxisformen
im Ganzen. Wir können daher sagen: Der Sinn einer Handlung ist in der
Regel im Rahmen einer Praxisform bestimmt. Der Sinn der Praxisform aber
ist durch die Idee des guten Lebens bestimmt, die ihrerseits eine Art ‚ideale’
Richtungsbestimmung ist, nicht eine eindeutige Form.
3. Damit führt die Frage nach dem Sinn, wie schon Sokrates und Platon zu
sehen scheinen, immer auch gleich zur Frage nach dem Status von Ideen und
Idealen. Es könnte dabei schon ein tiefes Missverständnis sein, wenn die jüdisch-christlichen Traditionen nur in einem Gottesglauben ein die endlichen
und bürgerlichen ‚mittleren’ Verhältnisse transzendierenden Sinn zu erkennen
vermögen. Sicher, man kann die Rede von Göttern und Gott dazu gebrau-
Die Frage nach dem Sinn
15
chen, um die Ideen und Ideale metaphorisch in einem weiten Sinn des Wortes
darzustellen. Doch wer nur solche figurativen, etwa auch allegorischen, Formen der Darstellung der Ideen und Ideale kennt, der versteht sie noch nicht
in ihrer Funktion, jedenfalls nicht autonom und selbstbewusst. Er beantwortet die Sinnfrage am Ende bloß erst mythisch. Und das heißt, er liest Allegorien
als vermeintlich historische Erzählungen. Er sieht damit noch nicht, dass es um
eine Art appellative Vergegenwärtigung von Formmomenten einer immer offenen, also nie abgeschlossenen, Entwicklung unserer eigenen ‚Idee des Guten’ geht, und um nichts sonst. Als das gemeinsame Grundproblem jedes
üblichen religiösen Glaubens weltweit lässt sich damit eine verfehlte Reifizierung figurativer Redeformen ausmachen. Man geht, wie Hegel so schön sagt,
‚bewusstlos’, weil allzu ‚schematisch’, mit religiöser Sprache im Besonderen,
der Metaphorik existenzialer Reflexion im Allgemeinen um. Die Folge eines
solchen allzu ‚wörtlichen’ Verstehens ist eine uns von uns selbst entfremdende
‚Vergegenständlichung’ von Momenten unseres Seinsvollzugs. Selbstbewusstes Denken ist dagegen nur über eine entsprechende Aufhebung dieser ‚Ontisierungen’ religiöser Redegegenstände möglich. Das hatte vor Heidegger
schon Hegel für den Kenner sachlich deutlicher als der weit populäre Feuerbach herausgearbeitet. Gegen ‚theologische’ Vergegenwärtigungen der condition humaine ist also nur solange nichts einzuwenden, als nicht behauptet wird,
der mythische Glaube an einen Gott sei die beste oder gar einzige Antwort
auf ‚die Sinnfrage’. Dabei mag ein solcher Glaube als Haltung immer noch
besser sein als die Selbstgerechtigkeit des Philisters. In jedem Fall aber sehen
wir, in welchem Sinn die Frage nach dem Sinn immer zugleich auch eine
Frage nach der Religion – und ihrer Kritik ist.
4. Die Frage nach dem Sinn nicht in, sondern von unserem Leben und Sein ist
für manchen die Frage aller Fragen. Glücklich scheint, wer auf sie eine Antwort weiß. Doch mit dem Vorzug der Frage nach dem Sinn in unserem Tun
und Leben wird allererst explizit anerkannt, dass die Sinnfrage selbst immer
nur relativ zu einem schon implizit anerkannten Rahmen Sinn hat.
1.3 Rahmenbedingungen für Orientierungen und Bedeutungen von „Sinn“
1. Die Frage nach dem Sinn ist generell eine Frage nach einer als gut bewerteten Orientierung oder Richtungsbestimmung für unser weiteres Tun. Das gilt
durchaus auch für die Frage nach dem Sinn von etwas Gesagtem, seinem
rechten Verständnis auf Seiten des Hörers und seiner für das Verstehen oder
die Verständigung zureichenden Artikulation auf Seiten des Sprechers. Denn
das gute Sinnverstehen in der sprachlichen Kommunikation ist längst selbst
schon durch die gute Richtung des gemeinsamen Tuns bestimmt. Dabei ist
hervorzuheben, dass eine Richtung, wie in der räumlichen Orientierung auch,
16
Pirmin Stekeler-Weithofer
nur manchmal durch ein endlich erreichbares Ziel bestimmt ist. So sind z.B.
auf der Erde die Richtungen nach Norden und Süden durch zwei Orte, die
beiden Pole, bestimmt. Für die Richtungen Ost und West gilt das nicht. Es
gilt schon gar nicht für die Richtungen im Raum.
Entsprechend ist der Sinn eines Tuns nur manchmal, nicht immer, durch
den endlich zu erreichenden Zweck bestimmt. Wo der Sinn eines Tuns wie
z.B. im Streben nach einer besseren, vielleicht gerechteren, glücklicheren und
schöneren Welt durch die Richtung des Tuns selbst bestimmt ist, wie wir jetzt
metaphorisch sagen können, ist es kein Argument, wenn erklärt wird, dass das
Tun nie endgültig an ein ‚vollkommenes’ Ziel gelangt.
Es lohnt sich daher auch aus logisch-strukturellen Gründen, den begriffsgeschichtlichen Zusammenhang von (Dreh-)Sinn und Richtung zu beachten,
aber dann auch von (Wahrnehmungs-)Sinn und Orientierung im Verhalten
und Tun. Die (beim Menschen ‚fünf’) Sinne der Wahrnehmung geben der
Selbstbewegung von animalischen Lebewesen relativ unmittelbar Orientierung. Der Mensch orientiert sich im Handeln darüber hinaus an symbolischen
Vorwegnahmen von Zwecken, Zielen und Mitteln.
2. „Sinn“ bedeutet also im Deutschen sowohl „Wahrnehmung“, „Orientierung“ („Drehsinn“) als auch „Ziel“, „Zweck“, aber auch „Bedeutsamkeit“
und „Bedeutung“. Sinnfragen fragen daher möglicherweise immer auch nach
ganz Verschiedenerlei. Es wird darum gehen, auseinander zu halten, wonach
gerade gefragt ist, und dennoch auch Zusammenhänge bemerkbar zu machen.
Wir betrachten zunächst den Zusammenhang zwischen der Rede vom
Sinn einer symbolischen Handlung bzw. der in ihr gebrauchten Zeichen mit
der gemeinsamen Orientierung im kommunikativen und kooperativen Handeln. Dabei sind auch gleich terminologische Sonderverwendungen in philosophischen Spezialkontexten als solche zu beachten. Zunächst ist zwar Sinn
auch dort allgemeine Richtungsangabe, wo, wie bei Gottlob Frege, zwischen
dem Sinn eines benennungsartigen Ausdrucks, etwa einer Kennzeichnung,
und seiner Bedeutung, worauf er also deutet, nämlich den benannten Gegenstand, unterschieden wird. Die Bedeutung ist gemäß diesem terminologischen
Unterscheidungsvorschlag der konkrete oder abstrakte Gegenstand, den ein
namenartiger Ausdruck benennt. Der Sinn ist, sozusagen, die mit dem Ausdruck mitgegebene Form der Suche nach der Bedeutung, also nach dem benannten Gegenstand. Manchmal, aber nicht immer, korrespondiert dieser
Suche ein Verfahren des Findens. Namenartige Ausdrücke können demgemäß Sinn haben, ohne dass sie Bedeutung haben, etwa wenn es gar keinen
eindeutigen Gegenstand gibt, den der namenartige Ausdruck benennt. So hat
z.B. der Ausdruck „die größte Primzahl“ Sinn, aber keine Bedeutung. Das
heißt, wir wüssten, ‚wo’ zu suchen wäre, wenn es eine solche Zahl gäbe. Die
Die Frage nach dem Sinn
17
Richtung der Suche ist durch die kennzeichnende Eigenschaft bestimmt,
nicht aber ein Gegenstand, der die Eigenschaft erfüllte.
Daher ist auch, wie Frege offenbar noch besser wusste als die meisten
seiner Leser, für den Sinn zweier namenartiger Ausdrücke zunächst noch gar
keine Gleichheit oder Ungleichheit bestimmt, für die Bedeutung von zwei
namenartigen Ausdrücken aber sehr wohl. Der Ausdruck „der Sinn des Ausdrucks A“ klingt daher nur so, als sei er ein namenartiger Ausdruck mit einer
Bedeutung. Das aber ist er gerade nicht: Der Sinn des Ausdrucks A ist kein
Gegenstand, also auch nicht seine Bedeutung.
Da wir verbal oder formal jeden Ausdruck durch Nominalisierung in eine
Art Benennung verwandeln können – wir können ja sogar von ‚dem Sein’
oder ‚dem Werden’, ‚dem Begriff X’ oder ‚der Eigenschaft Y’ sprechen, als
wären Begriffe und Eigenschaften Gegenstände –, fragt sich, was wir tun
müssen, um solchen namenartigen Ausdrücken, die schon einen Sinn zu haben scheinen, eine Bedeutung zu geben. Das heißt, was müssen wir tun, um
solche namenartige Ausdrücke in bedeutungsvolle Namen zu verwandeln?
Das ist die Grundfrage jeder aufgeklärten Abstraktionstheorie. Sie wird regelmäßig unterschätzt, gerade auch von Abstraktionstheoretikern mit rein formalanalytischem Ansatz. Hier liegt die wahre Entwicklung der Gedanken
Freges eher bei Autoren wie Paul Lorenzen und Hans Julius Schneider. Aber
das wird leider noch nicht wahrgenommen, ist wohl noch zu schwer zu verstehen für den heutigen Bildungstand in der Philosophie.
Die Antwort auf die Frage lautet: Wir müssen allererst Gleichungen definieren und passende Eigenschaften festlegen, indem wir die Geltungs- oder Begründungsbedingungen für konkrete Sätze bzw. Aussagen ‚über’ die so zu
schaffenden neuen Redegegenstände allererst bestimmen. Diese Bestimmung
geschieht in praktischen Erläuterungen, welche kompetent zu verstehen sind,
nicht im Rahmen einer formalen Definitionslehre, welche schon Frege und
dann auch die formalanalytische Philosophie bis hin zu Tarski und Davidson
in die Irre führt. Denn nur manche Prädikate P(x) lassen sich durch logisch
komplexe Aussageformen A(x) in einem schon als definiert unterstellten Gegenstandsoder Redebereich definieren, also in der von Frege und im ‚Logizismus’ favorisierten Form „P(x) gilt dann und nur dann, wenn A(x) gilt“. Schon Zahlen
und ihre basalen (relationalen) Eigenschaften lassen sich so nicht zureichend
definieren, gerade auch nicht, wenn man, wie in Hilberts ‚Formalismus’, axiomatizistisch vorgeht. Denn die Rede- oder Gegenstandsbereiche als Bereiche
der Bedeutung etwa für Zahlkennzeichnungen und Zahlvariablen sind dann
gar nicht mehr vollständig definiert. Dasselbe gilt für die arithmetischen oder
geometrischen Wahrheitsbegriffe – womit der Axiomatizismus die philosophische Frage Freges nach dem Sinn mathematischer Wahrheit endgültig
nicht mehr beantwortet, sondern sozusagen ‚philiströs’ oder ‚bewusstlos’ zur
mathematischen Tagesordnung übergeht.
18
Pirmin Stekeler-Weithofer
Frege erkennt die logische Differenz zwischen bloß namenartigen Ausdrücken und bedeutungsvollen Namen unter anderem auch daran, dass der Ausdruck „der Begriff ‚Pferd’“ keinen Begriff ‚benennt’, es sei denn wir legen
fest, wie wir Begriffe zu identifizieren gedenken. Zunächst aber kommen
Ausdrücke für fregesche Begriffe nicht an Namen- oder Subjektstellen im
Satz vor, sondern an Prädikatstellen, haben also die ‚offene’ oder auch ‚funktionale’ Form ‚x ist P’. Entsprechend gilt dann auch, dass ‚der Sinn’ eines namenartigen Ausdrucks wie z.B. „der erste Konsul Frankreichs im Jahre 1799“
zwar auf Napoleon verweist, aber als Sinn kein Gegenstand ist. Der Ausdruck
„der Sinn des Ausdrucks „der erste Konsul Frankreichs im Jahre 1799““ hat
dann zwar einen Sinn, aber zunächst noch gar keine Bedeutung, da auch dazu
eine Relation der Sinngleichheit allererst festzulegen, zu definieren wäre.
3. Ein teils zu lernender, teils erst festzulegender oder als bekannt und anerkannt unterstellter Redekontext und Rahmen bestimmt allererst den Sinn der
Frage nach dem Sinn, also die Richtung dieser Frage. Damit ist grob bestimmt, welche Orientierung von einer Antwort erwartet wird bzw. was die
Bedingungen sind, deren Erfüllung eine Antwort zu einer befriedigenden
oder hinreichend guten machen würde. Wahrheit wird damit als eine Art des
Guten und Richtungsrichtigen begreifbar. Dabei sind sogar formale Wahrheiten wie in der Mathematik als Artikulationen verlässlicher Urteile und Schlüsse bzw. Schlussregeln zu deuten. Sie orientieren eben damit unser mathematisches Begründen und Rechnen. Wahre Informationen über die Welt orientieren entsprechend unser weltbezogenes Urteilen, Schließen und Handeln.
Erst dadurch erhält eine mögliche Wahrheit einen Sinn und Sitz im Leben,
wie mit der Bewegung des ‚Pragmatismus’ auch Ludwig Wittgenstein bemerkt
und Friedrich Kambartel durchgehend betont hat.
Mit der Relativität von Orientierungen im Bezug zu einem vorausgesetzten Orientierungsrahmen wird dann auch, wenigstens in erster Näherung,
klar, warum nicht alle Fragen nach dem Sinn in allen Kontexen einen guten
Sinn haben. Die Frage nach dem Sinn von Verkehrszeichen endet z.B. mit der
Angabe ihrer Funktion für einen reibungslosen und sicheren Verkehr. Die
Frage nach dem Sinn (der Berechtigung) des Verkehrs schließt sich dann
nicht etwa ‚logisch’ an, sondern wird schon als positiv beantwortet vorausgesetzt. Sie ist daher eine ganz andere Frage.
Wie wichtig diese Unterscheidung ist, sieht man z.B. an der Unterscheidung zwischen der ‚objektstufigen’ Frage, ob Diebstahl sittlich verwerflich ist
und der ‚metastufigen’ Frage, ob die Institution von Besitz und Eigentum,
welche den moralischen und rechtlichen Begriff des Diebstahls allererst möglich machen, eine erwünschte und entsprechend zu schützende Institution ist.
Die Existenz der Institution ist nicht etwa dadurch gerechtfertigt, dass wir sie
subjektiv wollen können, sondern sie ist objektiv gewollt, nämlich im Rahmen
einer unsere Lebensform ermöglichenden Kultur, die sich faktisch dadurch
Die Frage nach dem Sinn
19
ergeben hat, dass entsprechende Handlungsformen und Normen anerkannt
sind. In dieser ‚Normativität des Faktischen’ bzw. ‚faktischen Normativität’
tradierter Sittlichkeit (Hegel) ist Geltung definiert, und zwar zumindest zunächst unabhängig davon, wie wir als je einzelne zu dieser Tradition Stellung
zu nehmen belieben, etwa in verbaler Anerkennung oder Kritik. Der Satz,
dass Diebstahl sittlich verwerflich und rechtlich verboten ist, ist daher, wie
Hegel erklärt, schon ‚analytisch’ bzw. ‚begrifflich’ wahr, und hängt doch auch
von Fakten ab, nicht aber davon, ob ich subjektiv wollen könnte, dass die
Maxime, zu nehmen, was ich brauche, eine allgemeine Regeln werde oder
nicht. Kants allgemeiner kategorischer Imperativ ist daher nicht unmittelbar
geeignet, um die Frage zu beantworten, warum wir nicht stehlen sollen.
Der Satz, dass das Eigentumsregime und damit das ‚System’ des ökonomischen Handelns eine sinnvolle und gute Institution ist, ist dagegen nicht
analytisch wahr. Er gehört zu einer normativen Ideengeschichte der uns prägenden Institutionen. Deren ‚Rekonstruktion’ besteht aus einer Verbindung
von Gründe- und Wirkungsgeschichte. Sie ist nie losgelöst von präsentischen
Wertungen der Vernunft in der Geschichte, und zwar im Rückblick von heute
her. Änderungen von Institutionen kann man dann zwar vorschlagen. Aber
Vorschläge schaffen noch keine neuen Normen.
Was aber ist nun der Sinn der Institution des privaten Eigentums? Zur
Beantwortung dieser Frage kann es durchaus helfen, mit Kant zu bedenken,
was die Folgen wären, wenn jeder jedem Beliebiges wegnimmt, wann immer
es ihm beliebt. Doch es gibt keine unmittelbare Antwort. Denn wir können
das nur deswegen nicht wollen, weil es naiv wäre zu glauben, jeder würde sich
‚in moralischer Weise’ immer nur das nehmen, was der andere gerade nicht
braucht. Anders gesagt, wir brauchen ein Eigentumsregime samt der zugehörigen expliziten Ächtung des Diebstahls oder dann auch des Raubes und die
entsprechenden rechtlichen Strafandrohungen gerade deswegen, weil eine freie
Moralität keineswegs ausreicht, um eine gute ökonomische Koordination des
eigeninteressierten Handelns unter ansonsten freien Personen zu etablieren.
Hegel verteidigt mit derartigen, durchaus auch von Platon oder Hobbes belehrten, Überlegungen einen Liberalismus des Rechtsstaates gegen ein allzu unmittelbar ‚moralistisches’ Denken, das der Tendenz nach anarchisch ist und demgemäß auch die Marxsche Utopie des Kommunismus und naive sozialistische
Vorstellungen von ‚freien’ Gesellschaften prägt – mit der geradezu ironischen
Inkonsistenz, dass der Staat allmächtig und die zentrale Differenz zwischen
freier Moral und sanktionsbewehrtem Recht aufgehoben wird. Zugleich verteidigt Hegel die Bindung oder ‚religio’ an die ‚Sittlichkeit’ im Sinne unserer
kulturellen Traditionen samt ihren Normen des ethisch Richtigen als Bedingung von Freiheit.
4. Rechtliche Normen, Gesetze, setzen schon den Staat voraus. Fragt man
dann etwa nach dem Sinn der Unterscheidung zwischen Mord und Totschlag,
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Pirmin Stekeler-Weithofer
also nach dem Sinn der rechtlichen Unterscheidung zwischen verschiedenen
Arten des intentionalen Zustandekommens eines Homizids, ist der Weg nicht weit
zur allgemeineren Frage nach dem Sinn von Strafe überhaupt. Eine begangene
Tat kann doch ohnehin nicht ungeschehen gemacht werden. Lässt man hier
den Rahmen außer acht, nämlich die Rolle von Sanktionsandrohungen für die
Steuerung individuellen und kollektiven Verhaltens und Handelns, insbesondere auch zum Erhalt von Institutionen wie Eigentum und Besitz, versteht
man den Sinn von Strafe in der Tat nicht mehr. Der Sinn von Strafe liegt
eben nicht darin, die begangene einzelne Tat ‚zu sühnen’, wie mit Nietzsche
viele meinen. Sondern es geht darum, die Wahrscheinlichkeit, dass solche
Taten getan werden, durch Strafandrohungen zu beeinflussen. Diese aber
wirken nur, wenn sie durch wirkliche Strafen untersetzt werden. Erst mit der
Sanktionsmacht erhält, sozusagen, der Sprechakt der Drohung Einfluss auf unser
Handeln. Erst die res publica (der ‚Staat’ im Sinne Hegels) gibt entsprechend
den Gesetzen, und das sind am Ende Worte, Einfluss auf das Handeln in der
Öffentlichkeit der Gesellschaft. Dabei können Sanktionsdrohungen ganz offenbar nur ein ‚freies’ Handeln beeinflussen. Daraus ergibt sich ‚logisch’, dass
keine Widerfahrnisse zu bestrafen sind. Eben daher gilt auch das Prinzip: Nulla
poena sine lege: Es soll keine ‚Strafe’ geben ohne explizite Strafandrohung. Zumindest ein realer Zugang zum Wissen um das Unrechte muss vorausgesetzt
sein, auch wenn eigenverantwortetes Unwissen vor Strafe nicht schützt.
Das ‚freie’ Handeln ist gleichursprünglich mit der ‚Verantwortung’ für das
handelnd Getane. Dem ist so gerade im Blick auf die Sanktionsdrohungspraxis des Rechtsystems als zentrale Institution der Vergesellschaftung. Wer
daher leugnet, dass es einen signifikanten Realunterschied in der Welt zwischen Widerfahrnissen bzw. nicht steuerbarem Geschehen und freiem Handeln gibt, plädiert im Grunde für die Abschaffung einer kulturell zentralen
Institution – und mit ihr für die Abschaffung von Freiheit. Man meint etwa,
es ginge nur um die Unschädlichmachung von potentiellen Schädigern. Aber
es geht um eine freie Gesellschaft, welche ohne Rechtsordnung, staatliche
Strafandrohung und staatliche Sanktionsmacht, samt ihrer realen Ausübung,
nicht existieren kann. Die Alternative ist ein Rückfall in die archaische Praxis
einer barbarischen Menschheit, den ‚Verursacher’ eines Geschehens und nicht
den ‚Handelnden’ zu ‚strafen’ – wie man den Boten für Nachricht bestraft
haben mag, Meere ausgepeitscht hat oder auch den, der einem aus Versehen
auf die Zehen trat. Der Rückfall ist nicht zu vermeiden, wenn man – auf
noch so hohem szientistischem Niveau – den Sinn von Strafe und die Unterscheidung zwischen einem freien Handeln und einem widerfahrnisartigen
Verhalten nicht mehr versteht.
Die Frage nach dem Sinn
21
2. Sinn des Lebens, Sinn des Ganzen
2.1 Objektstufiges und metastufiges Fragen
1. Wie steht es nun aber mit der großen Frage nach dem Sinn ‚des Ganzen’?
Ist nicht diese Frage die eigentliche philosophische Frage? Im Buch von Oswald Hanfling2 wird die Frage nach dem Sinn von vornherein als Kurzform
für die Frage nach dem Sinn des Lebens im Ganzen verstanden. Ganz grob
lassen sich dabei schon jetzt die unterschiedlichen Weisen, auf diese Frage zu
reagieren, so charakterisieren: Religionen und Weltanschauungen unterstellen,
dass die Frage sinnvoll sei. Und sie bieten entweder positive oder negative
Antworten an. Besonders positiv scheinen Antworten zu sein, welche in der
Rede von Gott ein Sinnfundament behaupten. Die Philosophie dagegen befragt zunächst den Sinn der Frage. Und sie prüft die möglichen Antworten,
bevor sie selbst zu antworten versucht. Das philosophische Nachdenken ist
also metastufig. Das heißt, die Philosophie reflektiert immer auch auf den
Sinn der eigenen und fremden Sprach- und Urteilspraxis. Das wiederum
heißt, dass wir Philosophie so verstehen sollten, und zwar schon in unserer
Rekonstruktion dessen, was zu einer Geschichte der Idee der Philosophie als
Institution gehört.
2. Weltanschauliche Meinungsphilosophien meinen in der Regel, auf die Frage
nach dem Sinn selbst oder zusammen mit einer Theologie eine mehr oder
minder endgültige Antwort geben zu können. Dabei könnte diese Antwort
auch darin bestehen, dass das Leben und der Kosmos, insgesamt genommen,
sinnlos und, wie Nietzsche glaubt, am Ende alles Zufall sei. Doch in welchem
Sinn sollen das Leben und der Kosmos sinnlos sein? In dem Sinne etwa, dass
die Existenz von Leben im Allgemeinen, von humanem Leben im Besonderen gleichgültig wäre? Die Gegenfrage lautet natürlich: Wem soll sie gleichgültig
sein? Uns selbst? Dem Weltall? Unser Leben ist schon dem kleinsten Stein
und den meisten anderen Lebewesen völlig gleichgültig. Genauer: Es hat gar
keinen Sinn, von einer derartigen Gleichgültigkeit zu sprechen. Es wäre daher
offenbar erst einmal zu klären, wovon man und von wem man auf eine sinnoder gehaltvolle Weise überhaupt sagen kann, dass es ihm gleichgültig ist oder
nicht gleichgültig sein könnte oder sollte.
3. So wie etwas nur groß ist, wenn klar ist, in Bezug worauf es einen relevanten Standard der Minimalgröße überschreitet, was offenbar schon Platon bemerkt hat, so ist auch etwas gleichgültig oder sinnvoll nur unter Bezugnahme
auf einen solchen Standard. Das Grundwort ist daher im einen Fall „größer“,
im anderen „sinnloser“ bzw. „gleichgültiger“. Während aber dafür, dass etwas
_____________
2
Oswald Hanfling: The Quest for Meaning, Oxford 1987.
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Pirmin Stekeler-Weithofer
groß ist, nicht immer eine Bezugnahme auf uns selbst nötig ist, ist die Grammatik des „sinnvoll“ und „gleichgültig“ komplexer. Denn sinnvoll oder
gleichgültig ist etwas immer nur für Lebewesen, oft sogar nur für Personen,
also für uns. Dabei kann etwas sinnvoll oder gleichgültig für manche von uns
sein oder für jeden einzelnen von uns. Oder etwas kann für uns Menschen im
generischen Sinn, also für uns allgemein, sinnvoll oder gleichgültig sein, unabhängig davon, wie Einzelpersonen darüber urteilen. Denn ein zufälliges Einzelurteil kann sich täuschen. Ein Einzelner kann z.B. meinen, was seine Frau
von ihm denkt, sei ihm gleichgültig. Doch das ist selten bis nie der Fall. Es
könnten sogar viele meinen, das und das sei gleichgültig oder sinnlos, ohne
dass das ‚wirklich der Fall ist’. Was also manche oder viele für sinnvoll oder
sinnlos, für relevant oder gleichgültig halten, muss nicht schon sinnvoll oder
sinnlos sein. Das gilt, ohne dass wir beanspruchten, völlig ‚objektiv’ zu urteilen. Es heißt nur, dass wir zwischen den Urteilen „für sinnvoll halten“ und
„sinnvoll sein“ unterscheiden. Freilich ist es nicht leicht, zu sehen, dass mein
Urteil der Form „x ist sinnvoll“ nicht einfach gleichbedeutend ist mit „ich
halte x für sinnvoll“.
Was aber ist hier ‚wirklich der Fall’? Bedeutet der Gebrauch des emphatischen Ausdrucks „wirklich“ schon, dass ein metaphysisch-transzendenter
Sinn jenseits je unserer Sinnanerkennungen ‚ontisch’ unterstellt würde? Gibt
es ‚wirklich’ Urteile über den Sinn von etwas, der darüber hinaus geht, dass je
ich oder einige oder viele von uns etwas je für sich als sinnvoll anerkennen?
Was wäre das für eine ‚Objektivität’ des Sinns? Beruht also jeder Appell an
einen allgemeinen Sinn oder Unsinn schon auf einem metaphysisch-dogmatischen Urteil? Oder ist die umgekehrte Meinung schon ein dogmatischer
Glaube, etwas sei immer nur sinnvoll, soweit einzelne Wesen, etwa Personen,
es als sinnvoll für sich anerkennen? Könnte sich dieser ‚methodische Individualismus’ in Wertungsurteilen nicht gerade auch als Ausdruck einer bloßen
Weltanschauung unserer Zeit, einer im Grunde in ihrem Subjektivismus ‚nihilistischen’ Glaubensphilosophie, und am Ende noch dazu als ethisch problematisch herausstellen?
2.2 Letzte Antworten, tiefste Fundamente
1. Kritische Philosophie hebt hervor, dass alle angeblich letzten Antworten
und fundamentalste Prinzipien, praktisch gesehen, bloß eine ‚formale Allgemeinheit’ und ‚Wahrheit’ beanspruchen können. Von Seiten der Philosophie
ist es daher gerade in Bezug auf die Sinnfrage gar nicht verwunderlich, dass
sich immer nur einige, wenn auch oft viele, mit den je gegebenen religiösen
Antworten begnügen, und dass sich immer gerade die tiefsten ‚religiösen’ Denker oder Frager mit den konventionellen Antworten ihrer ‚alten’ Religion nicht
Die Frage nach dem Sinn
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mehr (ganz) zufrieden gegeben haben. Sie haben gemerkt, wie Worte schal
werden und wie Institutionen zur bloßen Äußerlichkeit geist- oder lebloser
Riten erstarren können. Auf der anderen Seite ist ebenfalls nicht verwunderlich, warum der Umgang der Philosophie mit der Frage nach dem Sinn nicht
die Verbreitung und Anhängerschaft finden kann wie die der Religionen.
Denn die Philosophie gibt keine schematisch lehr- und damit ‚bewusstlos’
anwendbare Antworten. Das aber wünschen sich die Menschen: letzte Antworten auf ihre tiefsten Fragen, Richtlinienkompetenz auf Orientierungsfragen, und schematisch ohne die Anstrengung eigenen Denkens begehbare
Wege oder Methoden, die dazu verhelfen sollen, ‚richtig zu leben’. Ein solcher Wunsch aber widerspricht sich selbst.
2. Mit dem Stellen von Fragen, genauer: mit der Artikulation von Fragesätzen,
ist außerdem noch gar nichts gefragt. Den Sinn der Frage, ja ob die Frage
überhaupt einen (guten, klaren, bestimmten) Sinn hat, sieht man ihrem Wortlaut nicht unmittelbar an. Entsprechendes gilt für die Antworten, aber auch
für Wünsche oder Absichten. Auch sie sind, sozusagen, schneller artikuliert
als dass schon ein kohärenter Sinn ausgedrückt wäre. Sogar schon dann, wenn
es keine realen Erfüllungen gibt, ‚verlieren’ verbale Wünsche ihren Sinn.
3. Der Glaube ‚an Gott’ bringt, so erläutert Kant, wenn man seinen Realsinn
betrachtet, nur eine bestimmte Haltung zum gemeinsamen Ethos und zur
Kultur der Menschheit auf mythische Weise zum Ausdruck. Das ist dann
längst schon eine säkularisierte, verweltlichte, rein immanente Form von
‚Faith’. Es ist diese Haltung der vertrauenden Hoffnung auf ‚das Gute’ in der
Menschenwelt, die wir nach Kant ‚a priori’ einnehmen dürfen, aber auch
sollen, wenn wir denn moralisch sein wollen; aber eben ohne jede subjektive
Planungssicherheit in Bezug darauf, wie die anderen Menschen handeln werden und was daher der ‚Erfolg’ unseres moralischen, also frei kooperativen,
Handelns sein wird. Kant mag diese Funktion der „regulativen Idee“ Gottes
für die Moral überbewerten. Die intendierte Transformation christlichen
Glaubens ist aber unverkennbar. Es ist allein diese Haltung hoffenden Glaubens, der Kants ‚endlicher’ Wissensbegriff Platz machen möchte. Kants Religion in den Grenzen der Vernunft und seine Christologie erweisen sich damit
am Ende als Verteidigung einer rein immanenten Bedeutsamkeit analogischer
Vergegenwärtigungen der ethischen condition humaine in religiösen Mythen.
2.3 Begriffliche Grenzen von Sinnfragen
1. Wozu aber leben wir? – Ist eine solche Frage überhaupt sinnvoll? Man kann
fragen, wozu ein Ding, ein Gerät taugt, oder wozu eine Handlung dient. Aber
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Pirmin Stekeler-Weithofer
man kann nicht fragen, wozu das Taugen taugt, oder das Leben, in dem es
zum Leben Taugliches gibt.
Warum müssen wir sterben? Mit dieser Frage mag man wissen wollen, was es
so alles an Todesursachen gibt. Es hat aber keinen Sinn zu fragen, warum das
Leben endlich ist. Es ist endlich. Punkt. Wen es beruhigt, der mag noch glauben, dass der Generationenwechsel für das Überleben einer Gattung von
Lebewesen ‚gut’ sei. Ansonsten müssen wir uns mit der Endlichkeit des Lebens abfinden. Dasselbe gilt für die Existenz von Unglück und Schmerz.
Auch hier wäre die Unterstellung falsch, es könne doch auch einen ‚Sinn’ im
Unglück und Schmerz geben. Unglück und Schmerz sind, andererseits, aber
auch nicht einfach ‚ohne Sinn’. Es hat nur keinen Sinn, nach einer positiven
Orientierung bei etwas zu suchen, was als Defekt zu verstehen ist. Es kann
zwar einen Sinn für eine gewisse Unordnung geben; aber per se ist Unordnung Abwesenheit einer sinnvollen Ordnung. Es gibt dabei viele Weisen der
Unordnung. Man kann eine gute Ordnung auf vielfältige Weise durcheinander
bringen (diaballein). Es gibt daher in gewissem Sinn immer viele Teufel (diaboloi), doch nur eine Idee der guten Ordnung (wobei Varianten möglich sind.)
Insbesondere aber gibt es keinen ‚idealen Defekt’. Es wäre schon ironisch,
wenn wir etwa sagen würden, Fouché sei ein Muster eines politischen Schurken gewesen. Ideale geben nämlich eine positive Orientierungsrichtung vor,
eben einen Sinn. Es verwirrt daher, wenn man Defekte in Gegenbildern als
‚teuflische’ oder ‚diabolische’ Gegenideale deuten wollte.
Es sollte uns dennoch nicht wundern, dass das Böse und Diabolische
oder Falsche oft ‚interessanter’ ist als die Ordnung des Guten und Wahren.
Das Wahre und die Ordnung sind am Ende immer langweilig, und zwar weil
sie zu Selbstverständlichkeiten werden sollen und wollen. Nicht langweilig ist
immer nur der Kampf um die Anerkennung des Wahren und Guten. Demgegenüber ist der Aufweis der vielfältigen ‚Mängel’ der realen Welt eine leichte
Übung, am Ende selbst eher langweilig. Denn es besteht realiter keine Gefahr, dass der Kampf um das Gute und Bessere je an ein Ende kommen
könnte. Alles andere ist bloße Fiktion.
2. Soll aber mit dem Tod, mit dem Ende unseres Lebens, wirklich ‚alles’ aus
und vorbei sein? Wird damit nicht das ganze Leben selbst, all die Mühe und
all das Leid sinnlos? Oder sollte man sogar, wie noch Locke vorschlägt, den
Unglauben an ein Weiterleben der Seele nach dem Tod staatlich verbieten,
weil sonst zu viele nach dem Motto ‚nach mir die Sintflut’ handelten? Und
könnte es nicht wirklich ein solches Weiterleben geben? Wäre es nicht wenigstens schöner und besser, wenn derartige Lehren wahr wären? Wird unser
Leben nicht glücklicher? Was sollte sonst der Sinn ‚des Ganzen’ sein, wenn
nicht nur die Menschen und Tiere, sondern sogar die Erde, das Sonnensystem, der Kosmos eine begrenzte ‚Lebensdauer’ haben, und alles, wie wir aus
der Physik wissen, dem großen Wärmetod entgegen geht? Welchen Nutzen
Die Frage nach dem Sinn
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sollte es, umgekehrt, haben, den Glauben an die Unsterblichkeit und an einen
Gott als falsch oder unbegründet widerlegen zu wollen – sofern sich einer,
der glaubt, überhaupt so widerlegen bzw. überzeugen lässt?
Es sind Fragen dieser Art, die als die großen Sinnfragen angesehen werden. Wir können sie als die kosmologischen Sinnfragen von handlungstheoretischen oder praktischen Sinnfragen unterscheiden. Es sind aber Fragen ohne
Sinn. Sie sind jedenfalls, zumal im Bezug auf das Verhältnis von ‚Nutzen’ und
‚Wahrheit’, noch viel zu vage formuliert, als dass eine Antwort auf sie schon
eine gute Orientierung darstellen könnte. Hier erst mal nur ein Punkt: Die
Endlichkeit von Leben oder Erde beeinträchtigt relative Urteile über Sinnvolles und Sinnloses in der Zeit des Lebens auf der Erde nicht. Und mit dem
Ende des Einzellebens ist nie ‚alles’ vorbei.
3. Eine Hauptschwierigkeit ist zu begreifen, dass auch jede allgemeine Frage
nach Sinn eng mit besonderen Fragen nach Bedeutsamkeit, Relevanz und der
durch entsprechende Reden mitgetragenen praktischen Orientierungen zusammenhängen. Die Frage nach dem Sinn einer Rede steht dabei als allgemeine Frage der besonderen Frage nach dem Sinn des Redens über den Sinn
des Lebens gegenüber. Was wollen wir durch diese Fragen und Reden erreichen? Wollen wir etwas ‚wissen’? Geht es um Haltungen zum Leben? Wie
sind diese als gut oder schlecht, empfehlenswert oder irreführend zu beurteilen? Soweit Sinnfragen Haltungsfragen sind, ist dann aber auch Gleichgültigkeit ihnen gegenüber eine zu bedenkende Haltung. Sinnfragen sind insbesondere auch keine von ethischen Urteilen über das Gute unabhängigen
‚Wissensfragen’. Wissen ist zwar – gerade so haben wir es verfasst – weitgehend invariant zu den bestimmten Zwecken, die wir im Handeln verfolgen
können, indem wir Wissen einsetzen. Das heißt aber nicht, das Wissen zweckfrei wäre. Wissen und Wahrheit sind immer auf Sinn hin orientiert, freilich
nicht bloß auf ‚subjektiven’ Sinn, auf einzelne, zufällige, Zwecke.
4. Wir haben schon gesehen: Wenn alles, was geschieht, auch wie wir uns
verhalten, durch die jeweilige Vorgeschichte ‚kausal’ vorausbestimmt wäre,
hätten Ermahnungen und Drohungen, Tadel und Strafe, auch Gewissenskontrolle und Reue keinen Sinn. Daraus folgt schon, dass die Prämisse falsch ist.
Dasselbe gilt für die Frage nach dem Sinn unseres Bemühens, wo doch alles
prädeterminiert sein könnte. Auch diese Frage geht von falschen Prämissen
aus. Das Wort „könnte“ hat hier nämlich keinen Sinn. Dabei meinen viele
sogar zu wissen, dass alles in Wirklichkeit kausal prädeterminiert sei. Es ist
freilich nicht einfach zu unterscheiden, wann die Annahme, dass etwas möglich oder wirklich ist oder etwas anderes bloßer Schein ist oder sein könnte,
selbst bloßer Schein ist, wann nicht. Das gilt für das freie Wollen und Handeln ebenso wie für die Kritik der ‚wissenschaftlichen’ Psychologie an einer
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Pirmin Stekeler-Weithofer
‚folk-psychology’, also unserem Gebrauch ‚mentaler’ und psychologischer
Ausdrucksweisen in der Normalsprache.
Es ist entsprechend schwer zu sehen, warum es einfach falsch, ja sinnlos,
ist zu sagen, wir redeten zwar von einer Freiheit des Willens, aber ‚in Wirklichkeit’ litten wir dabei doch nur an der Tatsache, dass unsere Wünsche in
der Regel nicht in Erfüllung gehen. Man fügt dann gern noch hinzu: Wenn
unsere Wünsche in Erfüllung gehen, schreiben wir dies, stolz wie wir sind,
uns selbst zu, wenn nicht, dann anderen oder anderem. Auf diese Weise belügen wir uns selbst. Die wahre Haltung sei dagegen, das meint z.B. Arthur
Schopenhauer, an dem Wollen und Wünschen möglichst nicht teilzunehmen,
sondern die Welt so unvoreingenommen und so uninteressiert zu betrachten,
wie es nur möglich sei. Das stehe besonders den Wissenschaften an.
Eine solche Haltung ist der Tendenz nach ‚buddhistisch’ oder auch ‚stoisch’. Sie korrespondiert dem Sufismus im Islam oder mystischen Traditionen
im Christentum. Aber macht nicht gerade eine derartige Beschränkung auf
eine vita contemplativa, auf eine reine theoria, auf die bloße Betrachtung oder
‚Beobachtung’ des unvermeidlichen und zugleich kontingenten Geschehens
alles Erschaute und am Ende das Schauen selbst sinnlos, wie Nietzsche gegen
Schopenhauer sagt? Sitzen wir dann nicht machtlos der Welt vis à vis, glotzen
sie, um mit William James zu sprechen, fatalistisch wie eine peruanische Mumie mit großen, leeren Augen bloß an?
5. Zunächst weniger dramatisch, aber nicht weniger bedeutsam erscheint die
Frage nach dem Sinn aus der Perspektive jedes einzelnen Menschen, der sich
in eine vorgeprägte soziale Welt einzufügen hat. Was, so fragt der Jugendliche, soll der Sinn der Schule sein, wenn es doch nur darum geht, nachher
entweder arbeitslos herumzuhängen oder tagein, tagaus die von anderen bestimmten Anforderungen eines Arbeitsplatzes zu erfüllen? Der Sinn der Arbeit ist doch oft kaum einzusehen, und dies nicht nur dann, wenn etwa Waffen oder unsinnige Konsumartikel produziert oder wenn überflüssige Akten
verwaltet werden. Selbst ein Lehrer oder Architekt oder Arzt und andere allgemein für nützlich erachtete Mitglieder der Gesellschaft könnten (oder sollten sich manchmal) fragen, worin denn der Sinn ihres Tuns besteht. Und sie
könnten dann sehen, wie wenig sie an den bestehenden Verhältnissen ändern
können. Zumindest ist jeder ersetzbar.
Und überhaupt: Was tun wir nicht alles Sinnloses für Geld? Das Geld ist
dabei am Ende selbst nur die Anrechtsbescheinigung dafür, ein langweiliges
Leben in Wohnblocks oder Reihenhäusern mit ihren Fernsehern und Küchen, Kakteen und Vorgartenzwergen führen zu können, soweit man die Zeit
nicht schon in Büros oder Fabriken, in Kneipen oder sonst wo hinter sich
gebracht hat! Ist das nicht insgesamt sinnlos? Sicher, denn es gibt bessere Alternativen, die nicht ergriffen wurden.
Die Frage nach dem Sinn
27
Sind wir aber nicht alle immer den Routinen ausgeliefert? Das Schematische, manchmal geradezu betonartig Festgefügte ist keineswegs beschränkt
auf abhängige Arbeit. Auch die scheinbar freieren akademischen Berufe oder
scheinbar selbständigere Arbeiten bleiben wesentlich geprägt von Routinen
und von einer bloß relativen Sinnhaftigkeit.
Vielleicht ist ein Leben, das weitgehend allgemeinen Routinen folgt und
durch Konventionen und Lebensablaufsmuster fest und sicher geprägt ist, die
‚große Errungenschaft der Moderne’ mit ihrer technischen Arbeitsteilung und
ihrer Ausrichtung auf ‚Wohlstand’ in einer bald die ganze Welt umspannenden Massengesellschaft. Dabei fallen uns das Uniformierte in Gesellschaften
wie der Nordkoreas oder der Volksrepublik China nur etwas deutlicher auf als
das Konventionelle unserer eigenen Zivilisation. Verständlicherweise bemerken gerade die jungen Leute, die den Betrieb noch von außen betrachten, die
Routinen und Konventionen und fragen angesichts einer so nicht schöner
werdenden Welt nach deren Sinn. Diese praktische Sinnfrage unterscheidet
sich von den ‚kosmologischen’ Frage nach dem ‚Sinne des Lebens überhaupt’
und dem Sinn allen ‚Wollens’ und ‚Sollens’. Es ist dies die Frage nach dem
Sinn des eigenen, authentischen, Lebens als je besonderem, zumindest partiell
jenseits des vorgeprägten Laufs des Riesenrades einer Menschenmasse.
6. Es gibt eine bekannte Haltung zu den Sinnfragen der geschilderten Art,
welche der Haltung des Pilatus zur Wahrheitsfrage ähnelt: man geht schulterzuckend zur Tagesordnung über. Und in der Tat, worin soll der Sinn bestehen, sich mit sinnlosen Fragen nach dem Sinn zu beschäftigen? Man kümmere sich doch lieber um die Probleme des Alltags, das Studium etwa oder den
Beruf, die Familie oder die Freunde, um die, welche unsere Hilfe brauchen,
und dann auch um uns selbst und um unsere absehbare Zukunft. Diese Haltung, für welche eine konservative philosophische ‚Skepsis’ wie die Odo Marquardts beredt eintrat, mag dort als vernünftig erscheinen, wo das Fragen zum
leeren Pathos oder Selbstzweck geworden ist oder uns von Wichtigerem abhält. Aber diese Art von Sinnskepsis könnte auch dazu führen, dass uns Sinnfragen unvorbereitet überfallen, gerade weil wir sie zuvor durch allerlei Aktivitäten verdrängt hatten. Es könnte z.B. weiser sein, um die Möglichkeit existentieller Sinnkrisen zu wissen, in die wir am Ende auch ohne besonderes
eigenes Zutun geraten können, etwa durch Krankheit oder im Scheitern eines
Lebensplanes oder einfach in gewissen Stimmungslagen. Freilich gibt es falsche und rechte Zeitpunkte für jedes Tun, auch für das Fragen nach dem
Sinn. Es kann aber auch zum Sinn einer philosophischen Beschäftigung mit
der Frage nach dem Sinn gehören, sich gegen einen allzu unvermittelten
Überfall durch Sinnfragen partiell zu immunisieren und sich auf die aktuelle
Auseinandersetzung mit ihnen vorzubereiten. Vielleicht meinte (Platons?)
Sokrates eben dies in seinem tiefen Orakelspruch, Philosophieren hieße: Sterben lernen. Es ist dabei nicht anzunehmen, jeder geriete in die gleichen Frag-
28
Pirmin Stekeler-Weithofer
lichkeiten. Je nach Person bleibt Unterschiedliches fragwürdig. Es ist schon
gar nicht notwendig, diejenigen für die tieferen Menschen zu halten, die sich
intensiver mit Sinnkrisen und Sinnfragen herumschlagen. Es reicht, sich die
mögliche Bedeutung derartiger Fragen und Krisen zu vergegenwärtigen.
7. Andererseits gibt es dann doch auch die erstaunliche Erfahrung, dass viele
Menschen im Rückblick auch ihr Unglück, ihr Leid oder ihre (praktischen)
Sinnkrisen nicht missen wollen. Manche sprechen, fast religiös, von einer
zweiten Wiedergeburt, wie dies etwa William James tut. Andererseits gilt auch
das Hölderlin-Wort, an das auch Heidegger erinnert: „Wer das Tiefste gedacht, liebt das Lebendigste.“ Die Rückkehr aus dem Fraglichen zum ‚einfachen’, d.h., wenn man es unbedingt so ausdrücken will, zum ‚oberflächlichen’
Leben, zum selbstverständlichen Vollzug einer durch Tradition schon weitgehend vorgeprägten Form, kann eine adäquate Antwort sein. Und doch bleibt
oft ein Unterschied, wie wir mit James wissen, zwischen einem vielleicht sogar
robusten ‚einfachen Leben’ im Rahmen einer unmittelbar eingeübten Praxis
und einer reflektierten Anerkennung von Tradition und Kontingenz, samt der
grundsätzlichen Fragilität und Endlichkeit des Lebens. Jedes Verstehenwollen
ist dabei selbst schon eine sinnkritische Bemühung. Indem dabei ein Teil
einer zunächst nur im Vollzug des Lebens, also bloß empraktisch und insofern ‚bewusstlos’ bekannten Praxis eingeklammert wird, tritt sie uns fremd
gegenüber, als verstünden wir ihren Sinn nicht (mehr). Diese Art der Entfremdung ist eine explikationslogisch notwendige Bedingung von Selbstbewusstsein, wie uns Hegel gelehrt hat. Entsprechend stellt auch Wittgenstein in
seinen Sprach- und Bedeutungsanalysen die Frage nach dem Sinn eines üblichen Gebrauchs, ohne dass damit das Selbstverständliche als fragwürdig behauptet würde. Mit der Antwort, der Lösung oder Auflösung der Frage, bleibt
dann oft alles, wie es ist; und ist doch zugleich ganz anders.
Reden ‚Als-ob‘ – Sind Fiktionalisten die besseren
Anti-Realisten?1
Stefan Tolksdorf
1. Debatten zwischen Realisten und Anti-Realisten
Ich möchte zu Beginn der Arbeit einige meiner Karten offen auf den Tisch
legen und Annahmen bzw. Thesen formulieren, die den Rahmen abstecken,
in dem sich die folgenden Überlegungen bewegen werden. Dieser vorausgesetzte Rahmen skizziert gleichzeitig das, was als unreine und vollblütige Sprachphilosophie angesehen werden kann. Unrein und damit gegen Rortys Reinheitsgebot gerichtet, weil der epistemische Anspruch dieser Art von
Sprachphilosophie zu ihrem Wesen gehört; vollblütig und damit gegen McDowells Beschränkung auf Bescheidenheit in der Philosophie gerichtet, weil
zwar Sprache nicht durch Sprache erklärt werden kann, weil man aber sehr
wohl an einer erklärenden, nicht-behavioristischen Stufenfolge sinnvoller
Übergänge innerhalb der Sprache, aber auch vom Nicht-Sprachlichen zum
Sprachlichen festhalten kann und sollte.2
Zu den Annahmen: Erstens gehe ich, entgegen weit verbreiteten quietistischen und deflationistischen Tendenzen in der gegenwärtigen Philosophie
(Rorty, McDowell, der späte Putnam), davon aus, dass Diskurse zwischen
Realisten und Anti-Realisten gehaltvoll sind. Darüberhinaus will ich mich auf
die stärkere These festlegen, dass solche Diskurse einen Nutzen haben, da wir
aus ihnen eine Menge über das Funktionieren unserer Lebens- und Handlungswelt lernen können. Darauf komme ich gleich zurück. Zweitens bin ich
der Überzeugung, dass die Motivation anti-realistischer Erklärungsstrategien
in dem zu suchen sei, was ich ‚Asymmetrie-Erfahrung‘ nennen möchte. Gemeint ist damit eine Asymmetrie bezüglich der Erklärung und Verständlich_____________
1
2
Ich danke Ute Feldmann, David Löwenstein, Claudio Roller und Jan Kromminga für
hilfreiche Besprechungen des Manuskripts.
Vgl. Rorty: Der Spiegel der Natur, Frankfurt a. M. 1981; Dummett: Reply to John McDowell, in: Auxier / Hahn (eds.): The Philosophy of Michael Dummett. The Library of Living
Philosophers, Vol. XXXI, Chicago 2007, S. 367-381; McDowell: Dummett on Truth
Conditions and Meaning, in: Auxier / Hahn (eds.): The Philosophy of Michael Dummett,
a.a.O., S. 351-363.
Stefan Tolksdorf
30
machung alltagsweltlicher Sprachspiele, eine Differenz beispielsweise zwischen modalen, mentalen, moralischen, mathematischen und religiösen Diskursen auf der einen und der Rede über Personen, Tiere und „mittelgroße
Trockengüter“ auf der anderen Seite. Anti-Realisten entsprechender Art versuchen Züge der erwähnten Sprachspiele (man denke etwa an folgende Sätze:
„2+2=4“, „Gott hält seine schützende Hand über den Demütigen“, „Das
Töten von Menschen ist moralisch verwerflich“, „Sprechende Bäume sind
unmöglich“) auf eine andere Weise zu erklären als beispielsweise den Satz „Die
Katze sitzt auf der Matte“, wobei die angedeutete Differenz durch Blackburns
Frage auf den Punkt gebracht werden kann, ob Werte, Götter, Modalitäten und
Zahlen die Eltern der Erklärung sind oder aber besser als die Kinder einer
solchen angesehen werden sollten. Auf das moralische Sprachspiel bezogen
schreibt Blackburn:
Moral ‚states of affairs‘, above all, play no role in causing or explaining our attitudes,
their convergences, their importance to us. They are constructs from our procedures,
not their originators, their children, not their parents.3
Auf einen anderen Fall übertragen: Erklären wir das modale Sprachspiel dadurch, dass wir auf mögliche Welten verweisen, die als Objekte der Bezugnahme die Funktion modaler Sätze erhellen, indem wir also eine Strategie in
Anschlag bringen, die uns bezüglich der Rede über Katzen und Matten
durchaus einleuchtend zu sein scheint? Anti-Realisten beantworten diese
Frage negativ. In dem Sinne, in dem Katzen dem Sprachspiel voraus gehen,
demnach Eltern sind, sind es Modalitäten nicht. Vielmehr stellen sie das Ergebnis (die Kinder) modaler Praktiken dar.
Die Differenz zwischen Entitäten als Eltern oder als Kinder des Sprachspiels läuft auf die Frage hinaus, ob wir das wahrheitskonditionale Paradigma
<„x ist F“ ist wahr genau dann, wenn x F ist> in allen Fällen als die beste
Erklärung unserer sprachlichen Züge ansehen wollen. Anti-Realisten beantworten auch diese Frage mit Nein. Gerade unter der Voraussetzung der
Wahrheit des Deflationismus, wonach „ist wahr“ lediglich minimal zu denken
ist, bleibt die Frage akut, ob die wahrheitskonditionale Oberfläche immer
auch der explanatorische Wegweiser zur semantischen Tiefenstruktur ist. Das
heißt: Wahrheitsminimalismus und Referenzdeflationismus gegenwärtiger
Sprachphilosophie heben die Asymmetrie-Erfahrung nicht auf. Das Gegenteil
ist der Fall. Aus diesem Grunde sind Anti-Realismus (und Realismus) und
Minimalismus vereinbar, verstanden als Antworten auf unterschiedliche Fragen.
Ich bin mir durchaus im Klaren darüber, dass die Erfahrung der Asymmetrie an eine Bifurkations-These gebunden ist, welche uns dazu führt, abs_____________
3
Blackburn: Rule-Following and Moral Realism, in: Holtzmann / Leich (eds.): Wittgenstein –
To Follow a Rule, London-New York 1981, S. 163-187, S. 185f.
Reden ‚Als-ob‘
31
trakten Entitäten wie mögliche Welten, Zahlen und Götter kritischer gegenüber zu stehen als Katzen und Matten.4 Aber diese (ontologische?) Festlegung
scheint mir weniger das Ergebnis einer philosophischen Theorie (Metaphysik) zu
sein, als vielmehr Ausdruck des alltagsweltlichen Datenbestands, vor dem
Philosophie aller erst ins Rollen kommt. Die Bifurkation ist eine solche des
vor-theoretischen Handelns.5
Drittens legen die ersten beiden Punkte eine Skizze nahe, wie Diskurse
zwischen Realisten und Anti-Realisten geführt werden können – und zwar
nicht primär als ontologische Auseinandersetzungen über die Existenz mehr
oder weniger fraglicher Entitäten. Vielleicht sind Rorty und McDowell auf
jeweils ihre Weise im Recht, dass wir unsere Haut nicht verlassen können,
dass wir Sprache und Welt nicht ungefärbt miteinander vergleichen können,
es keinen Zugang zur „Welt-an-sich“ gibt. Ich sage bewusst „vielleicht“, weil
mir nicht ganz klar ist, ob ich verstehen kann, was ein solcher Versuch überhaupt bedeuten soll.6 Glücklicherweise sind beide Parteien auf solche Szenarien
nicht angewiesen. Worum es stattdessen in solchen Diskursen geht, so mein
Vorschlag, ist die Frage, mit welcher Metageschichte bezüglich eines Ausschnitts unserer Handlungswelt wir uns zufrieden geben sollten. Mit anderen
Worten: Wenn der Philosoph mit der Aufgabe beauftragt wird, eine problematisch gewordene, höherstufige Handlungskompetenz, beispielsweise mentale Selbst- und Fremdzuschreibungen oder modale Inferenzpraktiken zu
erhellen, dann bietet es sich in solchen Fällen an, eine genealogische Geschichte zu erzählen, wie aus einfacheren, bereits verstandenen Fähigkeiten
sprachlicher und nicht-sprachlicher Art, die höherstufigen Sprachspiele haben
entstehen können.7 Die Methodologie des Erzählens von genealogischen
Geschichten ist selbst jenseits von Realismus und Anti-Realismus, d.h., es gibt
realistische und anti-realistische Varianten solcher Geschichten. Auf der ersten
_____________
4
5
6
7
Vgl. zur kritischen Diskussion der Bifurkations-These: Kraut: Varieties of Pragmatism,
in: Mind 99 (1990), S. 157-183; Price: Expressivism, Pluralism, and Representationalism – A
New Bifurcation Thesis, Syndey 2007 (Vortrag); Price / Macarthur: Pragmatism, quasirealism and theglobal challenge, in: Misak (ed.): The New Pragmatist, Oxford 2007, S. 91-120;
und Blackburn: Pragmatism: All or Some, Sydney 2007 (Vortrag).
Ich will nicht leugnen, dass an dieser Stelle die ernst zu nehmende Frage zur Debatte
steht, wo Metaphysik beginnt. Vgl. dazu: Chalmers / Manley / Wasserman (eds.): Metametaphysics, Oxford 2009. Angedeutet werden soll, dass ich einen Unterschied sehe
zwischen metaphysischer Theoriebildung auf der einen und lebensweltlichem Common sense
auf der anderen Seite.
Es erscheint mir deshalb wenig sinnvoll, sowohl Realisten als auch Anti-Realisten auf
eine unverständliche (metaphysische) Annahme festzulegen. Dieser Zug wird keiner
Seite gerecht.
Vgl. zur Synthese von Pragmatismus und Genealogie in der Spätphilosophie Wittgensteins Tolksdorf: Wittgenstein und das Projekt einer pragmatisch-genealogischen Philosophie der
Sprache, in: Lütterfelds u.a. (eds.): Wittgenstein-Studien 2, Berlin-New York 2010/11.
32
Stefan Tolksdorf
Stufe beginnt eine solche genealogische Geschichte nicht mit repräsentationalistischen Paradigmen, sondern schlicht mit der Frage nach der Funktion
und dem Witz des sprachlichen Zuges. Was tun wir, wenn wir uns selbst und
anderen mentale Eigenschaften zuschreiben? Warum handeln wir so und wie
tun wir es? Es kann nun selbstverständlich so sein, dass uns die pragmatische
Genealogie auf Gegenstände und Eigenschaften verweist, es also eine Funktion des
Diskurses ist, über die Ausstattung der Welt zu berichten, eine Darstellung
derselben zu geben. Der Leser denke an die Katze auf der Matte. Gleichwohl
sollten wir damit rechnen, dass das nicht immer der Fall ist. Vielleicht bringt
unsere modale Sprache einzig die Urteilsneigung zum Ausdruck, gewisse
Inferenzen gut zu heißen, Festlegungen als solche kenntlich zu machen
und/oder über Grenzen der Vorstellungskraft zu berichten. Unter diesen
Umständen benötigen wir keine „möglichen Welten“ um die modale Praxis
zu erklären. Andersherum wird ein Schuh aus der Sache: Mögliche Welten
sind lediglich ein Mittel, jene praktischen Züge sprachlich zu verpacken.
Solche Geschichten machen uns reflexiv verständlich, wie Bereiche der
Lebenswelt funktionieren – und sie sind nicht auf einen extraterrestrischen
Standpunkt angewiesen. Dieser Interpretationsvorschlag der Debatten zwischen Realisten und Anti-Realisten kann als wohlwollend angesehen werden,
lässt er doch beide Seiten zu ihrem (eingeschränkten) Recht kommen. In
meinen Augen sind globale Anti-Realismen ebenso unplausibel wie globale Realismen. Was es zu verstehen gilt, ist, an welcher Stelle eine realistische Erklärung ihre Erklärungskraft verliert, an welchem Punkt die Rede von Gegenständen und Eigenschaften zwar zulässig, aber nicht die beste Erklärung des
Sprachspiels ist. In solchen Fällen überträgt der Realist ein bekanntes Bild auf
Bereiche der Handlungswelt, in denen es seine explanatorische Kraft verloren
hat.
2. Die Hauptakteure: Fiktionalismus und Non-Faktualismus
Nachdem ich meine Karten offen gelegt und so die Bühne vorbereitet habe,
sollen nun die beiden Hauptakteure die Bühne betreten, der Fiktionalismus und
der Non-Faktualismus. In beiden Fällen handelt es sich um Spielarten des AntiRealismus, die miteinander konkurrieren und nicht selten verwechselt werden.
Eine solche Verwechselung hat dramatische Konsequenzen und sollte vermieden werden. Als prominente Beispiele solcher Verwechselungen seien
David Lewis und Hilary Putnam angeführt. Lewis’ Interpretation des Blackburnschen Quasi-Realismus (der in meiner Terminologie eine non-faktualistische Spielart ist) läuft entlang folgender Punkte:
We look for something the quasi-realist says that the realist will not echo. And when
that’s what we look for, we find it. So the realist’s and the quasi-realist’s linguistic dis-
Reden ‚Als-ob‘
33
positions are not, after all, just alike. There are prefixes or prefaces that rob all that comes after
of assertoric force.8
Der letzte Satz führt uns direkt zum fiktionalistischen ‘Als-ob’. Dazu gleich
mehr. Auch Putnam sieht in der quasi-realistischen Deutung mathematischer
Sprachspiele eine fiktionalistische Elimination am Werke:
Someone who says “There aren’t any such things as numbers or sets or functions, mathematics is a kind of make-believe” is an eliminationist. … Simon Blackburn’s ‚quasirealism’ with respect to mathematics seems to me to be a form of this eliminationist
position.9
Beide Interpretationen sind meines Erachtens falsch. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass es gute Gründe gibt, zwischen Non-Faktualismus und
Fiktionalismus (bzw. Putnams Eliminationismus) strikt zu unterscheiden.
Ich widme mich beiden Positionen und der angedeuteten Verwechselung
nicht zuletzt deshalb, weil ich viele Arbeiten Hans J. Schneiders im Sinne des
Non-Faktualismus lese, gleichwohl die Gefahr sehe, sie fälschlicherweise
fiktionalistisch zu deuten. Um einige Beispiele zu geben: Ist das zentrale Anliegen der Religionsphilosophie des späten Wittgensteins, welche Schneider
als Sprungbrett benutzt und um wichtige Punkte ergänzt, nicht gerade die
These, dass es keinen Gott gibt, wir aber so reden, als gäbe es einen? Vergleicht Schneider die religiöse Sprache nicht mit Märchen und Fiktionen? Und
sagt er nicht explizit: „So können wir feststellen, dass die Aussage, für den
Ausdruck „Gott“ existiere kein gegenständliches Referenzobjekt im Sinne
von Freges ‚Bedeutung’ keinen Verlust anzeigt.“10? Oder nehmen wir den
Umgang mit mathematischen Zeichen ins Bild hinzu, genauer die Verwendung von Sätzen wie „Diese Steine sind fünf“. In Phantasie und Kalkül spricht
Schneider von einem Als-ob in folgender Weise:
Die Fügungsweise ‚x ist P’ muss jetzt anders gedeutet werden als früher; eine alte
Ausdrucksform wurde zur Etablierung eines neuen Handlungszusammenhangs benutzt, indem Ergebnisse von Zählhandlungen so mitgeteilt werden, als ob es sich dabei
um ‚Eigenschaften von Dingen’ handeln würde.11
In einem anderen Aufsatz spricht Schneider von mentalen Zuständen als
„metaphorische Schöpfungen“. Legt nicht diese Redeweise allein schon nahe,
hier würden mentale Zustände als fiktionale Gebilde aufgefasst – als Gebilde,
die lediglich in der Sprache bzw. in der Geschichte existieren? Schneider
_____________
8
9
10
11
Lewis: Quasi-Realism is Fictionalism, in: Kalderon (ed.): Fictionalism in Metaphysics, Oxford
2005, S. 314-321, S. 314f.
Putnam: Ethics without Ontology, Harvard 2004, S. 20, 135.
Schneider: Religion, Berlin 2008, S. 94.
Schneider: Phantasie und Kalkül, Frankfurt a. M. 1999, S. 408.
Stefan Tolksdorf
34
schreibt: „Der ‚Bezug’ auf den ‚mentalen Zustand’ ist im alltäglichen Sprechen metaphorischer Art; es gibt keinen Gegenstand...“12.
Die Gefahr, von der ich oben sprach, besteht darin, diese Ausschnitte
und die darin enthaltenen Thesen – analog der Interpretation des QuasiRealismus bei Lewis und Putnam – fiktional zu deuten, also immer dort, wo
ein ‚als-ob’ auftaucht, Fiktionalismus zu vermuten. Das aber wäre in meinen
Augen ein Fehler. Im Folgenden wird sich zeigen, dass vieles davon abhängt,
was Wittgenstein unter einer „grammatischen Fiktion“ verstanden wissen
wollte.13
3. Zwei Deutungen der Rede vom „propositionalen Gehalt“ –
grammatische versus ontologische Fiktionen
Beginnen wir mit einer kurzen Skizzierung der beiden Positionen. Der Fiktionalismus hat als eigenständige Position relativ spät die philosophische Bühne
betreten, wird dafür aber gegenwärtig intensiv diskutiert.14 Fiktionalisten fühlen sich der fregeschen Unterscheidung zwischen dem propositionalen Gehalt
eines Satzes und dem mit diesem Gehalt verbundenen Gebrauch (Kraft, Witz,
illokutionäre Rolle, etc.) verpflichtet. Über die bloße Annahme der allgegenwärtigen Differenz von Bedeutung und Gebrauch hinausgehend, halten sie
daran fest, dass der Sinn des Satzes stets auf die gleiche, repräsentationalwahrheitskonditionale Weise gebildet wird: der Subjektausdruck des Satzes
greift einen Gegenstand heraus, von dem dann mittels Prädikatausdruck eine
Eigenschaft ausgesagt wird. Dieses Paradigma des propositionalen Gehalts,
wonach in allen Fällen wahrheitsbezogener Rede ein Gegenstand unter einen
Begriff fällt, führt dann ganz natürlich dazu, mit jedem assertorischen Satz
einen repräsentierten Sachverhalt zu verbinden, der dem ausgedrückten Gedanken des Satzes entspricht. In diesem Sinne sagt Kalderon: „The fictionalist
can maintain that the sentences from the region of discourse are genuine
representations of a putative domain of fact.”15
_____________
12
13
14
15
Vgl. Schneider: Mentale Zustände als metaphorische Schöpfungen, in: Kellerwessel / Peuker
(eds.): Wittgensteins Spätphilosphie. Analysen und Probleme, Würzburg 1998, S. 209-226, S.
212.
Vgl.: „‘Bist du nicht doch ein verkappter Behaviorist? Sagst du nicht doch, im Grunde, dass alles Fiktion ist, außer dem menschlichen Benehmen?‘ – Wenn ich von einer
Fiktion rede, dann von einer grammatischen Fiktion.“ (Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, Frankfurt a. M. 2003, § 307).
Vgl. Kalderon: Moral Fictionalism, Oxfod 2005; ders. (ed.): Ficitionalism in Metaphysics,
a.a.O., Lewis: Quasi-Realism is Fictionalism, a.a.O., Rosen: Modal Fictionalism, in: Mind 99
(1990), S. 327-354.
Kalderon (ed.): Ficitionalism in Metaphysics, a.a.O, S. 4.
Reden ‚Als-ob‘
35
Was den Fiktionalisten nun zum Anti-Realisten werden lässt, denn bisher
spricht er wie ein echter Realist, ist die Tatsache, dass er der eben dargestellten semantischen These eine ontologische Annahme an die Seite stellt. Gemäß der
oben erwähnten Asymmetrie-Erfahrung urteilen Fiktionalisten, dass es die
Gegenstände, Eigenschaften und/oder Tatsachen gar nicht gibt. Oder anders
ausgedrückt: Alle Sätze des ausgewählten Diskurses sind wörtlich genommen
falsch, da in diesen von Entitäten und ihren Beziehungen zueinander die Rede
ist, die es in Wirklichkeit gar nicht gibt. Um das Sprachspiel aufrecht zu erhalten wird angenommen, es liegt eine Fiktion vor, wir reden in einem ‚Als-ob‘Modus: als gäbe es Zahlen, Werte, Götter und mögliche Welten. Das mag als
eine erste Skizze genügen.
Non-Faktualisten gehen einen anderen Weg. Sie interpretieren die Erfahrung der Sprachspiel-Asymmetrie auf eine andere Weise, nämlich so, dass
Wittgensteins Rede von Fiktionen nicht ontologisch, sondern grammatisch
verstanden wird. Was heißt das? Die Deutung der Asymmetrie vollzieht sich
gemäß non-faktualistischer Ansätze so, dass zwischen sprachlicher Oberflächen- und Tiefengrammatik unterschieden wird. Die Diskrepanz entsteht
dann, wenn die Form der Darstellung, also die Oberflächengrammatik, von
der Logik des Sprachspiels bzw. von der Bedeutung des Satzes abweicht.
Bereits 1929 schreibt Wittgenstein über die logische Form von Sätzen:
Diese Formen sind die Normen unserer spezifischen Sprache, in die wir alle möglichen verschiedenen logischen Formen nach allen möglichen verschiedenen Verfahren
projizieren. Formen, die wie ‚Dieser Vortrag ist langweilig‘, ‚Das Wetter ist schön‘,
‚Ich bin faul‘ gar nichts miteinander gemein haben, präsentieren sich als SubjektPrädikat-Sätze.16
Ausschlaggebend ist, dass Wittgenstein die Allgegenwärtigkeit der SubjektPrädikat-Form nicht ontologisch oder transzendental begründet, sondern von
einer etablierten Norm der Darstellung spricht. Es ist demnach weder so, dass
die Welt uns zwingt, Subjekt- und Prädikatausdrücke zu verwenden, weil wir
in unseren Handlungsvollzügen eben auf unterschiedliche Gegenstände und
Eigenschaften treffen. Noch sind es die „Bedingungen der Möglichkeit des
Denkens“, welche eine solche Form erzwingen. Stattdessen deutet Wittgenstein in den Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik eine pragmatischgenealogische Erklärung dieser sprachlichen Norm an:
Nun, können wir denn nicht das Begriffsgebäude ausbauen als Behältnis für welche
Anwendung immer daherkommt? Darf ich denn nicht die Form ausbauen und gleichsam eine Sprachform vorbereiten für mögliche Anwendungen? Ist denn nicht die
_____________
16
Wittgenstein: Vortrag über Ethik, in: ders.: Vortrag über Ethik und andere kleine Schriften,
herausgegeben von Joachim Schulte, Frankfurt a. M. 1995, S. 22.
Stefan Tolksdorf
36
Subjekt-Prädikat Form in dieser Weise offen und wartet auf die verschiedensten neuen Anwendungen?17
Ich kann der Idee der schrittweisen Ausdehnung einer sprachlichen Form der
Darstellung an dieser Stelle nicht weiter nachgehen. Plausibel scheint jedoch,
dass Wittgenstein folgendes Bild vor Augen hatte: Wir starten (zu Beginn der
Philosophischen Untersuchungen wie auch im Leben) mit einfachen inhaltlichen
Verhältnissen, in denen ein Gegenstand, zum Beispiel eine Platte, über eine
gewisse Eigenschaft verfügt, zum Beispiel die Farbe Rot. Die sprachliche
Darstellungsweise „Die Platte ist rot“ wird dann in einem zweiten Schritt auf
andere Kontexte übertragen, in denen die vermeintlichen „Gegenstände“
und/oder „Eigenschaften“ vom ursprünglichen Paradigma abweichen. Der
Leser denke an folgende Sätze: „Rot ist eine häufige Farbe“, „Der Tisch ist
schön“, „Die Liebe ist verblasst“. In diesen Fällen wird das Schema übertragen, jedoch, so Wittgenstein, gehen wir in die Irre, wenn das inhaltliche Verstehen darauf ausgerichtet bleibt, Röte und Liebe in Analogie zum Tisch zu
denken, oder aber Schönheit und Verblassen als Eigenschaften eines Dinges
zu deuten, wie wir ursprünglich Tischen Farben zugeschrieben haben.
Wir können diesen Gedanken nun wie folgt in das skizzierte Bild einfügen. Wenn die Subjekt-Prädikat-Form als propositionale Oberfläche mit realistisch-kognitiven Begleitassoziationen angesehen wird, denn sie bringt alle
Inhalte auf das Fregesche Bild: Gegenstand und Begriff, und wir darüber
hinaus die Erfahrung der Asymmetrie hinzunehmen, dann besteht die Möglichkeit, dass ein Satz lediglich oberflächengrammatisch repräsentational funktioniert, die für den Gedanken (Sinn, Gehalt) jedoch ausschlaggebende inhaltliche Fügung anders zu erklären ist. Genau auf diese Möglichkeit machen
Non-Faktualisten als realisiert in vielen Bereichen der Lebenswelt aufmerksam. Die Sprache homogenisiert die Vielfältigkeit des menschlichen Handelns. Wer diese Gleichmachung übersieht, versteht die Logik des Handelns
nicht vollständig. Hans J. Schneider hat diese Vorgänge der Projektion einer
grammatischen Form unter den Begriff der „syntaktischen Metapher“ gebracht: wir übertragen alte Komplexbildungsweisen auf neue Inhalte.18
Im Kern der Auseinandersetzung zwischen Fiktionalisten und NonFaktualisten steht folglich der Begriff des „propositionalen Gehalts“ selbst.
Letztere werfen den Fiktionalisten vor, naiv von der Oberfläche auf die Tiefengrammatik zu schließen und so die „grammatische Fiktion“ zu übersehen.
Das ‚Als-ob‘ ist ein solches lediglich auf der Ebene der Darstellungsform,
_____________
17
18
Wittgenstein: Bemerkungen über die die Grundlagen der Mathematik, Frankfurt a. M. 1999,
S. 295.
Vgl. Schneider: Phantasie und Kalkül, a.a.O., ders.: ‚Syntaktische Metaphern’ und ihre begrenzende Rolle für eine systematische Bedeutungstheorie, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie
41 (1993), S. 477-486.
Reden ‚Als-ob‘
37
nicht aber auf der Ebene sprachlicher Handlungszusammenhänge. Der Fiktionalist deutet den propositionalen Gehalt auf homogene Art und Weise, wobei die unterschiedlichen Gehalte auf ontologische Differenzen zurück geführt werden. Zahlen sind halt keine Tische, Unmöglichkeiten keine Farben.
Wenn Wittgenstein jedoch im Recht ist, dann haben wir es mit einer Vielzahl
von semantischen Komplexbildungsweisen zu tun – und damit also mit propositionalen Gehaltsformen im Plural.19 Daraus folgt, dass wir zwei Propositionsbegriffe klar voneinander trennen müssen: Bezogen auf die syntaktische
Form haben Fiktionalisten völlig Recht. Uns tritt in den meisten Sprachspielen ein „repräsentationaler Gehalt“ entgegen. Jedoch bezogen auf den Sinn
einiger Sätze und ihren Verankerungen in der nicht-sprachlichen Lebensform,
glauben Non-Faktualisten ihrerseits zu Recht zeigen zu können, dass der
ausgedrückte Gedanke (die Proposition) des Satzes für anti-realistische Geschichten anfällig ist, weil er ohne Bezugnahme auf die fraglichen Gegenstände und Tatsachen erklärt werden kann. Das muss selbstverständlich im Einzelfall gezeigt werden.
Ansatzweise sei an dieser Stelle auf die bereits erwähnten Beispiele verwiesen: Wenn wir davon ausgehen, dass modale Sätze wie „Runde Vierecke
sind nicht möglich“ oder „Menschen müssen sterben“ dazu dienen, gewisse
Zeichenkombinationen auszuschließen bzw. die Sätze aus dem Fluss der
Kommunikation zu nehmen, sie als Rahmenpunkt und methodologische
Setzungen des Fragens und Antwortens anzusehen, dann gewinnen Modaloperatoren ihren Sinn primär über solche Handlungsvollzüge und weniger
dank der Darstellung möglicher Welten bzw. der Bezugnahme auf existierende Modalitäten – auch dann, wenn die Sprache ein anderes Bild nahe zu legen
scheint. Die Fähigkeit, modal zu urteilen erwerben wir nicht durch Einsicht in
modale Realitäten. Was erläutert werden muss, ist gerade der Begriff der modalen Realität. Die Anwendung von Wahrnehmungsprädikaten auf modale
Beziehungen ist folglich eine sekundäre Ausdehnung (Projektion, ein metaphorischer Zug) basalerer Verwendungen von „Sehen“, und als solche nicht
selbsterklärend.
Analog könnte eine Geschichte moralischer Diskurse aussehen. Moralische Wahrheiten, Werte und Eigenschaften könnten das Ergebnis unserer
rationalen und emotionalen Einstellungen gegenüber Vorkommnissen in der
natürlichen und sozialen Welt sein. Als natürliche Wesen reagieren wir auf
Probleme und Situationen mit der Ausbildung von positiven und negativen
Einstellungen, welche, wollen sie moralisch verbindlich sein, selbst noch ein_____________
19
Vgl. Tolksdorf: Die Vielfalt semantischer Komplexbildungsweisen, in: Deutsche Zeitschrift
für Philosophie 57 (2009), S. 597-617. Propositionale Gehalte homogen zu konstruieren ist das gemeinsame Erbe Freges in den Ansätzen von Dummett, Quine und Davidson.
Stefan Tolksdorf
38
mal rational-diskursiv auf den Prüfstand gestellt werden. Was wir für eine
solche pragmatische Geschichte an ontologischer Ausstattung benötigen, sind
lediglich alltagsweltliche Gegenstände, interagierende Personen und einen
Raum des Handelns. Wollen wir herausfinden, ob die ablehnende Haltung
gegenüber Folterungen moralisch adäquat ist, müssen wir sie gewissen kognitiven Erwägungen aussetzen. Was in eine solche Prüfung einfließt, sind Handlungen des Folterns, die Erfahrung von Schmerz und Leid, das Wissen um die
Konsequenzen von Folterungen, etc. Von Werten und moralischen Wahrheiten ist
am Ende, nicht jedoch am Anfang dieser Geschichte die Rede. Das ist bekanntermaßen das Arbeitsfeld von Blackburns „Quasi-Realisten”:
I have now given several examples of the device of propositional reflection, the ways
in which expressions of attitude and propositions concerning the interrelations of attitudes with each other and with beliefs are given a syntax that makes them appear to
relate to facts in a peculiar, unobservable, moral realm. It must in no way be considered surprising that this device should exist. For disagreement in moral attitude is one
of the most important disagreements there is, and working out the consequences of
moral attitudes, is one of the most important subjects there is. The device of propositional reflection enables us to bring the concepts of propositional logic to this task. It
enables us to use notions like truth, knowledge, belief to give moral argument all the
structure and elegance of argument about facts.20
Meines Erachtens erzählt Hans J. Schneider, bezogen auf mentale und religiöse Sprachspiele, ganz ähnliche Geschichten. Schneiders Verzicht auf einen
religiösen Überglauben, verbunden mit der Fokussierung auf „religiöse Erfahrungen“ als dem Zentrum des Glaubens, führt zu einem Religionsbild, in
welchem die Praxis in den Mittelpunkt gerät und damit Fragen der Lebenseinstellung und des Leben-Könnens relevant werden. Die ungegenständliche
Erfahrung von Tod und Leid auf der einen und von Sich-fallen-lassen und
Aufgefangen-werden auf der anderen Seite versehen die religiöse Sprache mit
Sinn. Damit gilt im Sinne Blackburns, dass es nicht eine Entität namens
„Gott“ ist, die der Praxis ihren Wert verleiht.21 Stellen wir auf analoge Weise
die realistische Interpretation mentaler Selbst- und Fremdzuschreibungen
vom Kopf auf die Füße, dann gerät die Objektunterstellung unter Beschuss,
solche Sätze handeln von inneren, versteckten Entitäten mit Namen „Absicht“ oder „Wünsch“. So kann im gleichen Atemzug der Einsicht in die
pragmatische Funktion solcher Züge Raum gegeben werden, welche unter
anderem etwas damit zu tun hat, dass Personen für ihre Handlungen Verant_____________
20
21
Blackburn: Moral Realism, in: ders.: Essays in Quasi-Realism, Oxford 1993, S. 111.129, S.
129.
Auf dieser Ebene ist Putnams Slogan von der „objectivity without objects“ völlig
zuzustimmen. Er sagt: „The pragmatic pluralism does not require us to find mysterious and supersensible objects behind our language games.“ (Putnam: Ethics without Ontology, a.a.O., S. 22).
Reden ‚Als-ob‘
39
wortung übernehmen, sie ihren Charakter offenbaren oder eine gewisse
Selbstinterpretation präsentieren, ihr Tun in den Raum der Gründe stellen.22
Die benötigte Ontologie kommt auch hier ohne „innere Gegenstände“ aus,
ohne deshalb reduktionistisch zu sein.23
4. Nützliche Fiktionen und Quasi-Behauptungen
Wo stehen wir nach der Skizzierung der beiden Hauptakteure des vorliegenden Aufsatzes? Es sollte deutlich geworden sein, dass beide Positionen bestimmte Thesen teilen, diese aber anders verstehen bzw. andere Konsequenzen daraus ziehen. Diese Unterschiede hinter den Gemeinsamkeiten weisen
den Non-Faktualismus, wie im Fortgang immer deutlicher werden wird, als
die bessere anti-realistische Alternative aus.
Wie sehen die Gemeinsamkeiten aus? Als erstes können wir festhalten,
dass beide Ansätze der ontologischen Festlegung auf religiöse, moralische
oder modale Entitäten skeptisch gegenüber stehen. Das Sprachspiel lebt auch
ohne den Gegenstand, verfügt im Sinne Putnams über Maßstäbe der Angemessenheit und Normativität auch ohne zugeordnete Referenzen. Entscheidend ist jedoch, dass diese Skepsis aus unterschiedlichen Gründen genährt
wird. Wo der Fiktionalismus glaubt, die Rede von solchen Entitäten im Prinzip verstehen zu können und demnach die Zweifel auf der ontologischen
Ebene verortet, auf welcher – wie auch immer – sich zeigen soll, dass die
Entitäten nicht existieren, beginnt der Non-Faktualismus bereits auf der Stufe
des Verstehens Fragezeichen aufzustellen. Wittgensteins Bedenken, die in
gleicher Weise bei Schneider und Blackburn zur Sprache kommen, richten
sich zu aller erst auf die Frage, was die Annahme von „Zahlen“, „Werten“
und „Göttern“ als dinghafte Bestandteile der Welt, also über ihre Präsenz als
„Gegenstände der Rede“ hinausgehend, überhaupt bedeuten soll. Bedenken
dieser Art greifen nicht nur den Realisten, sondern in gleicher Weise auch den
Fiktionalisten an, der, durch diese Brille betrachtet, wie ein halbherziger Realist erscheint. Denn beiden Positionen ist der semantische Mantel gemein und
damit eine sprachphilosophische Annahme, deren Basis durch das Phänomen
der „syntaktischen Metapher“ gerade untergraben wird.
Die unterschiedliche Skepsis den Gegenständen gegenüber führt uns daher zur Differenz zwischen einem semantischen und einem ontologischen ‚Als-ob‘:
der Fiktionalist bezieht sein „als gäbe es die Gegenstände wirklich“ auf die
_____________
22
23
Vgl. den Beirag von Ralf Stoecker.
Vgl. dazu Schneider: ‚Den Zustand meiner Seele beschreiben’ – Bericht oder Diskurs?, in:
Köhler (ed.): Davidsons Philosophie des Mentalen, Paderborn 1997, S. 33-51; und ders.:
Mentale Zustände als metaphorische Schöpfungen, a.a.O.
Stefan Tolksdorf
40
Existenz der Dinge, der Non-Faktualist dagegen auf die Form der sprachlichen Darstellung.
Bereits an dieser Stelle scheint der Non-Faktualismus einen argumentativen Vorteil zu haben, beginnt seine Kritik doch an einer früheren und fundamentaleren Stelle. Fiktionalisten schulden uns, so können wir sagen, eine
Antwort auf die Frage, was die repräsentationalistische Rede von Werten und
Zahlen eigentlich bedeuten soll. Darauf komme ich gleich zurück. Der Vorteil, dieser Erklärungslast nicht ausgesetzt zu sein, hängt eng mit einem zweiten Vorteil zusammen, nämlich jenem, dass Non-Faktualisten die Annahme
eines systematischen Wahrheitswert-Fehlers gar nicht erst benötigen. Mit
anderen Worten: Unsere alltäglichen Sprachspiele sind nicht defekt. Die zu
erbringenden pragmatischen Metageschichten zeigen gerade, dass die fraglichen Begriffe anders funktionieren und anders zu verstehen sind, nämlich so,
dass auf das ontologische Hintergrundbild – und damit auf den Fehler – verzichtet werden kann. Dieses Bild wird einzig durch die Kleider der Sprache
erzeugt, welche Analogien und Ähnlichkeiten nahelegen, wo das Sprachspiel
über relevante Unterschiede verfügt. Der Fehler steckt nicht in der Sprache,
sondern in der (fiktionalistischen) Theorie.24
Kommen wir zur zweiten Gemeinsamkeit, die mit der ersten in Zusammenhang steht, dennoch auf den ersten Blick etwas überraschen mag. Wir
werden jedoch schnell erkennen, dass ein zweiter Blick uns argumentativ
einen wichtigen Schritt weiter bringt. Fiktionalisten und Non-Faktualisten
stimmen auch hinsichtlich der Überzeugung überein, dass die kognitive Oberfläche der fraglichen Sätze und Diskursklassen irreführend ist. Abweichend ist
erneut die Interpretation dieser These. Dass der Non-Faktualismus der Oberfläche kritisch gegenübersteht, sollte oben deutlich geworden sein, schickt sie
uns doch, so die Wittgensteinsche Deutung, nicht selten auf die Suche nach
Chimären. Was aber meinen Fiktionalisten, wenn sie den kognitiven Anschein
für irreführend halten? Um diese Frage beantworten zu können, müssen wir
etwas tiefer in das fiktionalistische Terrain eindringen.
_____________
24
An dieser Stelle sollte zugestanden werden, dass in der Literatur zwischen einem
hermeneutischen und einem revolutionären Fiktionalismus unterschieden wird. Diese
Unterscheidung ist für die Frage, von welcher Art der unterstellte systematische Fehler ist, durchaus von Belang. Der revolutionäre Fiktionalismus ist seinem Wesen nach
revisionär, das heißt, er plädiert aus ontologischen Gründen für eine fiktionalistische
Neuinterpretation des entsprechenden Diskurses. Hermeneutisch gestimmte Fiktionalisten gehen eher davon aus, dass ihre Analyse offenbart, was wir im Alltag immer
schon gemacht haben. Der Fiktionalismus entspricht also der mehr oder weniger expliziten Interpretation unserer Sprachspiele (vgl. dazu Kalderon: Fictionalism in Metaphysics, a.a.O., S. 5ff.). Da es mir nicht um eine umfassende Darstellung des Fiktionalismus geht, lasse ich diese Differenz im Folgenden außer Acht und will unter
„Fiktionalismus“ stets die hermeneutische Spielart verstanden wissen.
Reden ‚Als-ob‘
41
Angenommen wir stimmen um des Arguments willen der These zu, dass
alle moralischen Sätze wörtlich genommen falsch sind, da es so etwas wie die
„präskriptive Objektivität“25 nicht gibt. Sofort stellt sich dann aber die Anschlussfrage, weshalb wir trotz dessen moralische Urteile fällen, wozu das
moralische Sprachspiel am Leben gehalten wird, ja mehr noch, von den meisten sogar mit besonderer Relevanz versehen wird? Wäre Wahrheit die einzige
oder die maßgebliche Norm der Äußerung moralischer Urteile (die primäre
Diskurs-Norm), dann wären wir sicher gut beraten, den gesamten Diskurs zu
eliminieren. Geht es um Wahrheit, dann ist die systematische, moralische
Falschheit ohne Wert. An diesem Punkt angelangt, vollziehen Fiktionalisten
ein interessantes Manöver, indem sie sich pragmatischen Überlegungen hingeben und für die Existenz anderer, nicht auf Wahrheit bezogener Normen
eines Diskurses argumentieren. Das Ausspielen von propositionalen Gehalten
in einem rationalen Diskurs verpflichtet Sprecher und Hörer gleichermaßen
darauf, die Akzeptanz des Satzes im Auge zu behalten. Wer aber sagt, dass
Wahrheit der einzige Akzeptanz-Maßstab ist? Kalderon erinnert uns beispielsweise an folgendes: „The epistemic value of truth might be outweighed in
a given circumstance by some nonepistemic value.”26.
Damit betreten wir den Raum nützlicher Fiktionen: etwas kann falsch, aber
akzeptierbar sein, wenn es pragmatisch gesehen nützlich ist, eine nichtepistemische Funktion erfüllt.
Es ist der Begriff der nützlichen Fiktion, der es unter Umständen erlaubt,
eine zentrale Asymmetrie zwischen der Moraltheorie auf der einen und den
bekannten Theorien über Hexen und Phlogiston auf der anderen Seite herauszustellen. Denn alle drei Theorien sind für Fiktionalisten gleichermaßen
falsch: es gibt keine Hexen, kein Phlogiston und auch keine moralischen Werte in der Welt. Wieso aber haben wir die beiden pseudo-wissenschaftlichen
Theorien aufgegeben, das moralische Gebilde dagegen nicht?27 Die Antwort
lautet: Moralische Systeme erfüllen eine soziale Norm, sie halten die Gesellschaft am Leben, dienen einer Ordnungsfunktion, lassen die Menschen träumen, sie seien moralische Wesen, etc. Für Hexen dagegen haben wir keine
Verwendung mehr, es gibt keine starken nicht-epistemischen Werte, die den
epistemischen Defekt ausgleichen können.
Gibt es weitere Beispiele für nützliche Fiktionen? Naheliegenderweise bietet
sich der religiöse Diskurs als ein ausgezeichnetes Tätigkeitsfeld des Fiktiona_____________
25
26
27
Vgl. Mackie: Ethics: Inventing Right and Wrong, Penguin Books 1977.
Kalderon: Moral Fictionalism, a.a.O., S. 104.
Hans J. Schneider hat mich darauf hingewiesen, dass Theorien über Hexen und Theorien über Phlogiston nicht gleichermaßen pseudo-wissenschaftlich sind. Letztere haben
eher den Status veralteter, wissenschaftlicher Ansichten. Dem kann ich zustimmen,
wenngleich sich die Frage anschließt, wo die Grenze zwischen pseudowissenschaftlich und veraltet-wissenschaftlich verläuft.
Stefan Tolksdorf
42
lismus an. „Gott“ als nützliche Fiktion anzusehen bedeutet zum Beispiel, als
aufgeklärter und naturwissenschaftlich gebildeter Mensch nicht an Wesen mit
zauberhaften Fähigkeiten zu glauben, gleichwohl aber in den religiösen Geschichten Hilfe zu finden, geht es um Krankheit, Tod und Älterwerden. Religion, so ließe sich vielleicht etwas verkürzt sagen, ist die Antwort auf das
menschliche Alleinstellungsmerkmal: nur der Mensch weiß um seinen eigenen
Tod. Gemessen am in Aussicht gestellten Nutzen einer religiösen Fiktion, ist
die Tatsache der Falschheit nebensächlich.
Fiktionalistische Ansätze beschränken sich nicht auf außerwissenschaftliche Handlungszusammenhänge. Sie betreffen nicht selten den theoretischen
Kern moderner Naturwissenschaften selbst. Der Wissenschaftstheoretiker
Bas van Fraassen hat in vielen Schriften für die These argumentiert, theoretische Schlüsselbegriffe wie „Kraft“, „Feld“ und „Atom“ seien ebenfalls nützliche Fiktionen. Die Bezugnahme auf unbeobachtbare Entitäten zielt nicht
primär auf Wahrheit, das heißt, der Forscher geht nicht davon aus, dass die
theoretischen Terme die Struktur der Welt erfassen. Was wir von einer wissenschaftlichen Theorie erwarten, ist eher so etwas wie empirische Adäquatheit hinsichtlich der Ordnung und Anordnung wahrnehmbarer Phänomene.
Van Fraassen sagt:
In accepting a theory T, competent speakers who understand T do not believe the
theoretical proposition expressed. In accepting T, competent speakers believe only
that the theory is empirically adequate and they intend to deploy that theory in the
conduct of science.28
Ich kann in dieser Arbeit nicht weiter auf die erwähnten Beispiele eingehen.29
Wichtig für die vorliegende Fragestellung ist lediglich, dass Fiktionalisten
alltagsweltliche und wissenschaftliche Diskurse in gewisser Hinsicht wie literarische Werke (wie einen Roman beispielsweise) behandeln. Wenn Patrick
Süskind in Die Taube seinen Helden Jonathan Noel denken lässt: „’Was meint
sie? Was will sie? Warum sagst sie: man muss die Taube verjagen? Meint sie
vielleicht, ich solle die Taube verjagen?’ … er wünschte, er hätte es nie gewagt,
Madame Rocard anzusprechen.“30, dann behauptet Süskind nicht, so der Fiktionalist, dass es einen Noel wirklich gab, dieser panische Angst vor einer Taube hatte und mit Madame Rocard gesprochen hat. Es kommt nicht auf die
Wahrheit der Beschreibung an. Das literarische Genre erfüllt andere Funktionen. Allgemein gefasst heißt das, dass gemäß der fiktionalistischen Interpretation, assertorische Züge des Diskurses nicht das behaupten, was sie vorgeben
zu behaupten.
_____________
28
29
30
Bas van Fraassen: The Scientific Image, Oxford 1980.
Vgl. für den Fiktionalismus in der Philosophie der Mathematik Field: Science without
Numbers, Princeton 1980.
Süskind: Die Taube, Zürich 1987, S. 38.
Reden ‚Als-ob‘
43
Eine solche These hat semantische Auswirkungen auf die Begriffe
„Überzeugung“ und „Behauptung“. Unter normalen Umständen impliziert
das assertorische Ausspielen einer Behauptung nämlich, dass der Sprecher
von der Wahrheit des durch den Satz ausgedrückten propositionalen Gehalts
überzeugt ist. Unter fiktionalistischen Vorzeichen dagegen kann es nicht darum gehen, dass der Sprecher seine Überzeugung bezüglich des ausgedrückten
Gedankens zur Sprache bringt, denn er ist ja gerade von der Wahrheit nicht
überzeugt. Ohne Überzeugung aber auch keine Behauptung. Damit ist die
Frage aufgeworfen, welchen Sprechakt ein Fiktionalist vollzieht, und von welcher Art die kognitiv-propositionale Einstellung ist, wenn Behauptung und
Überzeugung als mögliche Kandidaten ausscheiden.
Bevor wir diese Fragen beantworten, kann die zweite Gemeinsamkeit
zwischen Fiktionalisten und Non-Faktualisten - der Leser erinnere sich an die
These, dass die kognitive Oberfläche der Sprache bisweilen irreführend ist aus fiktionalistischer Sicht wie folgt gedeutet werden: Unsere Sprache legt es
nahe, assertorische Sätze stets als echte Behauptungen aufzufassen, durch
welche der Sprecher seine Überzeugung bezüglich der Wahrheit des propositionalen Gehalts zum Ausdruck bringt. Das aber, so der Fiktionalist, ist häufig
ein Irrtum, weil kognitiv gesehen in moralischen Diskursen beispielsweise eine
solche Überzeugung gerade nicht primärer Teil des sprachlichen Zuges ist.
Interessanterweise wird diese Form der sprachlichen Täuschung, die nicht
mit der non-faktualistischen, an Wittgenstein angelehnten Diskrepanz zwischen grammatischer und logischer Form zusammenfällt, ebenfalls unter
Bezugnahme auf die Spätphilosophie Wittgensteins abgesichert. Kalderon
sagt diesbezüglich:
A representation can be used in all sorts of ways. Using it to claim that the world is
the way the representation represents it to be is but one of them. Indeed, this is an
important insight of Wittgenstein’s … section 23. In making up a story and reading it
one does not put forward the story as true, but it remains a representation nonetheless.31
Dieses Zitat ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert. Festgehalten werden soll
in diesem Zusammenhang, dass ich die von Kalderon angesprochene Wittgenstein-Lesart nicht für völlig verfehlt ansehe, sie meines Erachtens aber nur
die halbe Wahrheit ist. Wittgenstein thematisiert gerade nicht nur das, was wir
mit Repräsentationen tun können, sondern auch den Begriff der „Repräsentation“ selbst. Kalderon liesst PU 23 so, als wolle Wittgenstein sagen, die Philosophen hätten übersehen, dass wir Darstellungen für sehr unterschiedliche
pragmatische Zwecke einsetzen können. Eine Repräsentation mag Teil eines
Theaterstückes sein, sie kann als Voraussetzung für einen Witz fungieren oder
aber eine Beleidigung, Aufmunterung, etc. darstellen. All das ist richtig. Die
_____________
31
Kalderon: Moral Fictionalism, a.a.O., S. 92f.
44
Stefan Tolksdorf
kleine pragmatische Revolution der Spätphilosophie Wittgensteins, wie ich sie
nennen will, hat sicher mit dem Kampf gegen die Vormachtstellung der
Wahrheitsnorm zu tun. Es gibt unbestritten eine Tendenz in der Logik, Philosophie, aber auch im Alltag, die anderen eigenständigen Diskursziele zu übersehen.
Darüberhinaus – und dieser Punkt wird von Non-Faktualisten betont –
gibt es aber bei Wittgenstein auch eine zweite, große pragmatische Revolution. Der Bruch mit Frege geht gerade nicht in der Searleschen Hinzufügung
eines „illocutionary force indicators“ auf, sondern betrifft das Wesen der Wahrheit
selbst. Wenn Wittgenstein in PU 304 sagt - :
Das Paradox verschwindet nur dann, wenn wir radikal mit der Idee brechen, die Sprache funktioniere immer auf eine Weise, diene immer dem gleichen Zweck: Gedanken
zu übertragen – seien diese nun Gedanken über Häuser, Schmerzen, Gut und Böse,
oder was immer.
- dann greift er das Paradigma an, alle wahrheitsfähigen Sätze seien propositional homogen zu konstruieren, nämlich im Sinne der fregeschen Grundbeziehung ‚Gegenstand und Begriff‘ oder ‚Täter und Tätigkeit‘, welche von
Searle im Wesentlichen übernommen wird. Die Doppeldeutigkeit von PU
304, welche fiktionalistische und non-faktualistische Interpretationen zulässt,
besteht darin, dass wir in der Wendung „Gedanken zu übertragen“ einmal das
„übertragen“ und einmal den „Gedanken“ in den Mittelpunkt der Interpretation stellen können. Diskutieren wir das Übertragen von propositionalen
Gehalten, dann liegt die These nahe, dass nicht jeder Gehalt behauptet wird.
Betonen wir dagegen den Gedanken, dann öffnet sich das Feld semantischer
Komplexbildungsweisen. In Sätzen wie „Es regnet“ oder „Die Schmerzen
hörten langsam auf“, bei denen es durchaus um Wahrheit geht, ist von Tätern
oder Gegenständen („Es“, „die Schmerzen“) nur im übertragenen Sinne die
Rede, wie auch das Aufhören keine Eigenschaft oder Tätigkeit ist. Wir tun
also gut daran, soll der ausgedrückte Gedanke verstanden werden, die Konstruktion des Satzsinns nicht auf das Fallen eines Gegenstandes unter einen
Begriff zu reduzieren.
Fiktionalisten übersehen, so meine These, die Tiefe der pragmatischen
Überlegungen Wittgensteins.
5. Fazit: Die 4 Thesen des Fiktionalismus
Kommen wir zum systematischen Fazit des letzten Abschnitts zurück und
wiederholen die noch offene Fragestellung: Welchen Sprechakt vollzieht ein
Fiktionalist mit der Äußerung eines assertorischen Satzes und welche propositionale Einstellung bringt er dadurch zum Ausdruck? In der Literatur hat sich
die Rede von „Quasi-Behauptungen“ und „Quasi-Überzeugungen“ als Ant-
Reden ‚Als-ob‘
45
wort auf diese Frage durchgesetzt. Was ist damit gemeint? Zuerst einmal ist es
plausibel, die Behauptungskategorie im Spiel zu belassen. Auch wenn QuasiBehauptungen keine Behauptungen im engen Sinne des Wortes sind, so kann
doch nicht geleugnet werden, dass fiktionale Sätze mit einem Wahrheitsanspruch auftreten. Das heißt: Fiktionale Äußerungen sind in den meisten Fällen nicht ironisch gemeint, der Gesprächspartner soll nicht getäuscht oder
hinters Licht geführt werden. Kurzum: Der Sprechakt intendiert eine gewisse
wahrheitsfokussierte Ernsthaftigkeit. Es wird etwas behauptet, nur eben nicht
das, was durch den wörtlich genommenen Satz ausgedrückt wird. Behauptet
wird ein anderer als der ausgedrückte propositionale Gehalt. Um dieser Unterscheidung zweier Gehaltsarten gerecht zu werden, bietet es sich an, zwischen einem realen und einem fiktionalen Gehalt zu differenzieren. Der fiktionale Gehalt entspricht dabei der ausgedrückten Proposition, also zum Beispiel
„Jonathan Noel sah die Taube völlig eingeschüchtert an“. Da dieser Gehalt
aber nicht behauptet wird, kann er nicht der reale Gehalt sein – nicht der
Gehalt, von dessen Wahrheit der Sprecher überzeugt ist. Der reale Sinn des
Satzes entsteht der fiktionalistischen Standardlesart zufolge, wenn dem fiktionalen Gehalt ein F(iktions)-Operator vorangestellt wird. Das Ergebnis lautet
dann: F(propositionaler Gehalt). David Lewis sprach weiter oben von: „There are prefixes or prefaces that rob all that comes after of assertoric force“, was
wir nun wie folgt deuten können: der reale Gehalt einer fiktionalen Behauptung ist beispielsweise:
-
Gemäß der Geschichte gilt, dass Jonathan Noel die Taube völlig eingeschüchtert ansah,
Im Sinne der religiösen Schrift können wir sagen, dass Gott seine Hand über
den Demütigen hält,
Folgen wir dem Moralsystem, dann ist das Töten von Menschen verwerflich, etc.
Die Quasi-Behauptung behauptet den realen Gehalt, die Quasi-Überzeugung
bringt zum Ausdruck, dass der Sprecher den realen Gehalt für wahr hält. Die
Äußerungen des Fiktionalisten sind demnach wahr, wenn es sich in der Fiktion tatsächlich so verhält, wie der Sprecher sagt. Der reale Gehalt ist dieser
Lesart des Fiktionalismus nach also metasprachlich zu verstehen: wir reden
über fiktionale Gedankengebäude.
Damit haben wir den Fiktionalismus etwas ausführlicher beschrieben.
Fassen wir die gewonnene Charakterisierung thesenartig zusammen:
(1) Semantische These: Die Sätze des fraglichen Diskurses sind repräsentational zu verstehen.
46
Stefan Tolksdorf
(2) Ontologische These: Die Sätze des fraglichen Diskurses sind aufgrund ontologischer Tatsachen systematisch falsch.
(3) Irreführung der kognitiven Oberfläche: Entgegen dem Anschein der
sprachlichen Oberfläche sind die Sätze des fraglichen Diskurses keine Behauptungen und drücken keine Überzeugungen aus, stattdessen
liegen Quasi-Behauptungen und Quasi-Überzeugungen vor.
(4) Der reale Gehalt des Satzes ergibt sich aus der Einklammerung des
fiktionalen Gehalts, welche durch einen F-Operator vollzogen wird.
6. Non-faktualistische Kritik am Fiktionalismus
Wir sind jetzt in der Lage, die Kritik am Fiktionalismus klarer zu fassen und
um weitere Punkte zu ergänzen. Ich habe oben bereits angedeutet, dass uns
Fiktionalisten eine Geschichte darüber schulden, wie die Sätze eines fiktional
erschlossenen Diskurses repräsentational zu verstehen sind. Diesen Einwand
können wir nun wie folgt konkreter fassen: Wie ist der fiktionale Gehalt zu
verstehen? Die formale Struktur der fiktionalistischen Theorie, also F(propositionaler Gehalt), macht deutlich, dass das Rettungsmanöver der Einklammerung des propositionalen Gehalts von sekundärer Signifikanz ist. Ein
solcher Zug macht nur dort Sinn, wo bereits klar ist, von welcher Art die
Proposition ist, d.h., was die Rede von Zahlen, Werten und Modalitäten gemäß der semantischen These bedeuten soll. Entscheidend ist, dass der Wahrheitswert nach dem Sinn kommt – nur sinnvolle Sätze können wahr oder falsch
sein. Wer der Meinung ist, dass der Satz „Gott hält seine schützende Hand
über den Demütigen“ aus ontologischen Gründen falsch ist, der legt sich
darauf fest, verstanden zu haben, wie die mit „Gott“ benannte Entität in den
Lauf der Dinge eingreifen kann. Der Non-Faktualist fragt nun aber gerade, ob
wir wissen, was das bedeuten soll – und ich teile die Ansicht, dass hier massive Zweifel angebracht sind. Der Fiktionalist kommt mit seinem Rettungsversuch – in den meisten Fällen – also zu spät.
Diese Diagnose lässt sich auf die anderen Beispiele übertragen. Die antirealistischen Bedenken in der Metaehtik betreffen Fragen der folgenden Art:
Was soll es heißen, von moralischen Eigenschaften zu reden, die wahrnehmbar sind, die ihrem Wesen nach objektiv genug sind, um nicht idealistisch
genannt zu werden, zu deren Natur es gleichwohl gehört, intrinsisch handlungsanleitend zu sein? Oder wie kann der Realist die Supervenienz zwischen
moralischen und nicht-moralischen Eigenschaften erklären? Wieso sollten
Tatsachenarten, die in keiner Beziehung zueinander stehen, supervenient
aufeinander abgestimmt sein? All diese Frage bleiben virulent, wenn sie durch
die Phrase „angenommen, das Moralsystem ist korrekt“ lediglich eingeklammert werden.
Reden ‚Als-ob‘
47
Die erste These des Fiktionalismus, die wir oben semantisch genannt haben, mag zwar mehr als ein Lippenbekenntnis sein, stellt in meinen Augen
aber bereits den entscheidenden Fehler dar. Der sprachliche Zug des Annehmens, so sagt Wittgenstein in den Aufzeichnungen für Vorlesungen über ‚privates
Erlebnis’ und ‚Sinnesdaten’, ist dem, was angenommen wird, semantisch nachgeordnet. Zuerst müssen wir gelernt haben, die Wahrheit zu sagen, bevor der
parasitäre Zug kommt, die Wahrheit vorzutäuschen oder anzunehmen:
Wie macht man das: Annehmen, dass dies oder jenes der Fall ist? Was ist eine Annahme wie z.B. ‚A hat Zahnschmerzen’? Ist es nichts weiter, als dass man die Worte
‚A hat Zahnschmerzen’ sagt? Oder besteht es nicht darin, dass man mit diesen Worten etwas tut?“32
Wittgensteins Antwort ist, dass die Annahme ein funktionierendes Sprachspiel benötigt, da sie ein Handlungszug, nicht nur ein Zustand des Bewusstseins ist.
Dieser Einwand erlaubt es uns darüberhinausgehend, eine wichtige Differenz zwischen den literarischen Beispielen, also gewissermaßen der Heimat
des Fiktionalismus, und den anti-realistischen Übertragungen auf modale und
moralische Sprachspiele herauszuarbeiten. Denn niemand würde bezweifeln,
dass wir Süskinds Sätze in einem wörtlichen, d.h. nicht-fiktionalen Sinne verstehen. Weil wir das tun, kann der Autor mit ihnen weitere Züge ausführen.
Die Frage im modalen Fall ist aber, wie wir die Rede von „möglichen Welten“
tatsächlich repräsentational verstehen können. Ich sage daher nicht, dass
fiktionalistische Varianten in der Literatur keine Aussicht auf Erfolg hätten,
jedoch spricht die eben dargestellte Differenz dafür, dass anti-realistische
Diskurse in den meisten Fällen nicht fiktionalistisch interpretiert werden können.
Ich möchte dieser sprachphilosophischen Fundamentalkritik weitere
Einwände an die Seite stellen. Der erste Einwand betrifft die Motivation hinter der fiktionalistischen Erklärung. Erscheint es nicht inhaltlich reichlich
unmotiviert, mit der These zu starten, dass ein bestimmtes Vokabular (oder
eine philosophische Metageschichte darüber) intrinsisch defekt ist, dann aber
dazu überzugehen, unter gewissen Vorzeichen doch an diesem Diskurs festzuhalten? Was spricht dafür, in einem ersten Schritt den gesamten Diskurs
kognitiv zu ächten, also alle Sätze des Bereichs als falsch auszuweisen, dann in
einem nachgeordneten zweiten Schritt die Rehabilitation des Falschen zu
wagen? Ich sehe nicht, weshalb man so etwas tun sollte. Wieso tauschen wir
die Theorie nicht gegen eine ein, die ohne die Irrtumsunterstellung auskommt, aber den gleichen pragmatischen Nutzen verspricht wie die fiktionale
_____________
32
Wittgenstein: Aufzeichnungen für Vorlesungen über ‚privates Erlebnis’ und ‚Sinnesdaten’, in:
ders.: Vortrag über Ehtik, a.a.O., S. 64.
Stefan Tolksdorf
48
Geschichte? Genau solche alternativen Wege bieten uns Non-Faktualisten an.
Damit widerspreche ich Kalderon, wenn dieser festhält:
Thus, having established noncognitivism, moral fictionalism should be the default hypothesis, since the nonfactualist hypothesis involves further semantic commitments
unnecessary to explain the noncognitive nature of moral acceptance.33
Der Fiktionalismus erscheint nur dann als default-Position, wenn übersehen
wird, dass er eine semantische Erklärung schuldig bleibt. Die Herausforderung ist nicht das Einfangen der non-kognitivistischen Einstellung einem
propositionalen Gehalt gegenüber, sondern der Gehalt selbst. Die Beweislast
liegt meines Erachtens eindeutig auf der anderen Seite. Wenn der Fiktionalist
sagt, wir reden so, als gäbe es Zahlen, dabei gibt es sie gar nicht, dann muss er
dem Non-Faktualisten erklären, was der Nachsatz „dabei gibt es sie gar
nicht“, bedeuten soll. Der Non-Faktualist versieht die entsprechenden
Sprachspiele mit einer pragmatischen Genealogie, die den Zeichen und Sätzen
einen Sinn gibt. Zu sagen, dass es Zahlen nicht wirklich gibt, kann dann aber
lediglich bedeuten, dass es das mathematische Sprachspiel nicht gibt, das
heißt, dass die Menschen nicht rechnen, keine Anzahlen bilden, etc. Das aber
ist offensichtlich falsch. Zahlen existieren im vollen Sinne des Wortes „Existenz“, welcher sich aus dem Sprachspiel ergibt und nicht durch ein schwächeres Surrogat ersetzt werden muss. Wer zum Beispiel korrekterweise behauptet, dass es eine Zahl größer 6 gibt, der legt sich darauf fest, dass unsere
Zählhandlungen nicht bei 6 enden, wir 6 mit einer weiteren positiven Zahl in
der Addition verwenden können, etc. Mathematische Sätze können ebenso
wahr und falsch sein wie Beschreibungen eines Raumes, wenngleich wir damit
rechnen müssen, dass die Zuschreibung von Wahrheit in beiden Fällen anders
zu rechtfertigen ist. Unklar bleibt also, was die Differenz zwischen echter und
scheinbarer Existenz noch besagen soll, wenn mit dem ontologischen Bild im
Hintergrund gebrochen wird – jenem Bild, das den Fiktionalisten gefangen
hält.
Zum Schluss sei aus der eigenen Handlungsperspektive phänomenologisch angeführt, dass wir wohl die These nicht unterschreiben würden, unsere
moralischen und religiösen Einstellungen seien ihrer Verbindlichkeit und ihrer
Natur nach lediglich ‚Als-ob‘-Einstellungen. Wir sagen nicht, angenommen das
Töten von Menschen ist verwerflich und wir tun nicht so, als gäbe es moralische
Werte. Nichts würde unserem Selbstverständnis stärker entgegen stehen.34
Das Töten von Menschen ist verwerflich und es gibt moralische Werte.
_____________
33
34
Kalderon: Moral Fictionalism, a.a.O., S. 118.
Blackburn: Quasi-Realism no Fictionalism, in: Kalderon (ed.): Fictionalism in Metaphysics,
a.a.O. S. 322-338.
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7. Zur Logik non-faktualer Diskurse:
die Frege-Geach-Searle Problematik - eine Skizze
Wer mit der vorliegenden Debatte und den modernen Auseinandersetzungen
in der Metaethik vertraut ist, wird eventuell den Verdacht haben, ich hätte
dem Fiktionalismus an einer Stelle Unrecht getan, nämlich dort, wo die Motivation eines solchen Ansatzes in Frage gestellt wurde. Kalderons Bemerkung
in diesem Zusammenhang, der Non-Faktualismus stelle eine unnötige und
selbst massiv problembehaftete semantische These dar, deutet an, dass es
durchaus eine Motivation für den Fiktionalismus im Hintergrund geben mag.
Und diese Einschätzung stimmt. Die Rede ist dabei von der so genannten
Frege-Geach-Searle-Problematik35, die viele Autoren für anti-realistisch unlösbar
halten und deshalb dem Anti-Realismus ganz abschwören oder aber zu fiktionalistischen Alternativen Zuflucht suchen. Solche Reaktionen halte ich für
voreilig. Natürlich kann ich an dieser Stelle nicht ausführlich auf die Problematik eingehen. Was jedoch abschließend geleistet werden soll, ist die Darstellung einer Skizze, wie Non-Faktualisten die Sache angehen können. Erst
dann kann die Kritik am Fiktionalismus als einigermaßen vollständig angesehen werden.
Das Problem hat mit der von Frege betonten Tatsache zu tun, dass sich
beim Übergang von sprachlichen Äußerungen in direkten Kontexten zu solchen
in indirekten Kontexten die beiden Bedeutungsaspekte des Sinns und der Kraft
voneinander lösen. „Direkt“ wird ein Äußerungskontext bezeichnet, wenn
der Sprecher einen atomaren Satz, zum Beispiel eine Behauptung, assertorisch
ausspielt, also sagt: „Die Katze sitzt auf der Matte“. Unter diesen Bedingungen wird der Sinn des Satzes mit der Kraft des Behauptens ausgesagt. In indirekten Kontexten dagegen gebraucht der Sprecher diesen Satz, ohne ihn auszusagen, wie die folgenden Beispiele deutlich machen: „Wenn die Katze auf der
Matte sitzt, dann ist sie nicht im Körbchen“, „Ich glaube nicht, dass die Katze
auf der Matte sitzt“. In beiden Konstruktionen geht der Sinn des Satzes ‚die
Katze sitzt auf der Matte‘ als Bestandteil in den Komplex ein, nicht jedoch die
Kraft des Behauptens. Wer darüber nachdenkt, was der Fall wäre, wenn die
Katze auf der Matte sitzt, oder aber nicht glaubt, dass sie es tut, der behauptet
gerade nicht, dass die Katze auf der Matte sitzt. Sinn und Kraft werden also
insofern voneinander getrennt, wie der Sinn, nicht aber die Kraft eines atomaren Satzes in direkten Äußerungskontexten Bestandteil eines komplexen Satzes in indirekten Sprechsituationen ist. Dass der Sinn konstant bleibt, sieht
_____________
35
Vgl. zum Beispiel: Geach: Ascriptivism, in: Philosophical Review 69 (1960), S. 221-225;
ders.: Assertion, in: Philosophical Review 74 (1965), S. 449-465; Searle: Meaning and
Speech Acts, in: Philosophical Review 71 (1962), S. 423-432; ders.: Speech Acts, Cambridge 1969; Blackburn: Attitudes and Contents, in: Ethics 98 (1988), S. 501-517.
Stefan Tolksdorf
50
man unter anderem daran, dass eine Antwort semantisch auf die Frage bezogen ist und Konditionalsätze logische Übergänge von ‚p‘ zu ‚q‘ rechtfertigen.
Jede semantische Theorie sollte daher in der Lage sein, zu erklären, welche
semantischen Dimensionen beim Übergang von direkten zu indirekten Kontexten konstant bleiben und welche nicht.
Wieso stellt dieser Sachverhalt nun für Non-Faktualisten ein Problem dar,
für Fiktionalisten dagegen nicht? Wir haben gehört, dass Non-Faktualisten
einen Satz wie „Das Quälen von Tieren ist moralisch verwerflich“ nicht primär über Wahrheit und Wahrheitsbedingungen erklären, sondern darüber,
welche Einstellungen Sprecher mit der Äußerung des Satzes gegenüber dem
Tierquälen ausdrücken. Wenn die Einstellungsanalyse nun die Bedeutung des
Satzes offenlegt, wie lässt sich dann das Antezendens des moralischen Konditionals verstehen „Wenn das Quälen von Tieren verwerflich ist, dann auch
das Quälen von Menschen“, welches sicher nicht mit der entsprechenden
Pro- oder Kontra-Einstellung des atomaren Satzes ausgespielt wird. Analog
der deskriptiven Fälle gilt auch hier, dass das Konditional nicht nur die Kraft
des Behauptens, sondern auch das Eingehen bzw. Ausdrücken einer Einstellung einklammert. Es besteht somit die Gefahr, dass Non-Faktualisten unsere
Praxis des moralischen Argumentierens nicht adäquat einfangen können, in
welcher wir von ‚p‘ und ‚p  q‘ zu ‚q‘ übergehen. Denn wenn die Bedeutung
durch die Einstellung bestimmt wird, dann bedeutet <p> offensichtlich in ‚p‘
und ‚pq‘ etwas anderes, was unweigerlich implizieren würde, dass der Modus
ponens nicht gültig sein kann.
Searle hat diesen Einwand unter den Begriff des „pragmatischen Fehlschlusses“ gebracht: Non-Faktualisten schließen, so der Vorwurf, vom nichtrepräsentationalen Gebrauch eines Satzes auf die nicht-repräsentationale Bedeutung desselben – und dieser Schluss ist ungültig.36 Die Tatsache, dass ein Satz
eine bestimmte illokutionäre Rolle besitzt, einen gewissen Witz zum Ausdruck bringt oder Teil konkreter perlokutiver Zusammenhänge ist, erlaubt
keine Schlüsse auf die semantischen Dimensionen des Satzes im engeren
Sinne. Die Rede vom pragmatischen Fehlschluss setzt demnach eine explanatorisch basale Differenz zwischen Bedeutung und Gebrauch voraus. Fiktionalisten geben den Non-Faktualisten gerne zu, dass die Sätze eine non-kognitive
Funktion haben, nicht aber, dass sie deshalb auch über eine nonkognitivistische Bedeutung verfügen.
Wie sind diese Einwände zu bewerten? Beginnen wir mit einem Zugeständnis. Auch Non-Faktualisten benötigen eine Theorie indirekter Kontexte
und damit eine gewisse Differenz zwischen Bedeutung und Gebrauch, zwi_____________
36
Diskutiert werden in Speech Acts drei Fehlschlüsse dieser Art: der Fehlschluss der
Kritik des naturalistischen Fehlschlusses, der Sprechakt-Fehlschluss und der Behauptungs-Fehlschluss. Vgl. Searle: Speech Acts, a.a.O.
Reden ‚Als-ob‘
51
schen den Aspekten des Fregeschen Sinns und der Fregeschen Kraft. Das
Wort „Würfel“ bedeutet in der Frage „Wie viele Würfel liegen auf dem
Tisch?“ das gleiche wie im Konditionalsatz „Wenn fünf Würfel auf dem Tisch
liegen, dann müssen zwei auf dem Boden sein“. Soviel ist sicher unstrittig.
Gleichwohl habe ich die Zustimmung mit einer Einschränkung versehen: in
gewisser Weise sollten wir zwischen Bedeutung und Gebrauch unterscheiden.
Was aus dem gemachten Zugeständnis nicht folgen soll, ist eine semantisch
basale und grundsätzliche Abkoppelung der Bedeutung von einer allgemein
verstandenen Gebrauchsdimension, welche dazu führt, dass die Bedeutung
eines Satzes oder Zeichens als einer jedem Gebrauch vorgelagerten Dimension semantischer Signifikanz aufgefasst wird.
In der Regel wird angenommen, dass wahrheitskonditionale Bedeutungstheorien vom Frege-Geach-Searle-Problem nicht betroffen sind, weil die Konstante in direkten und indirekten Kontexten der repräsentational verstandene
propositionale Gehalt ist, welcher der gebrauchsneutralen Dimension des
Sinns entspricht. Diese Überzeugung findet dann in gewisser Weise in der
Thematisierung der Logik als auf Wahrheit gerichtet ihren Ausdruck. Konkret
formuliert: Ein logisch gültiger Schluss ist einer, der wahrheitserhaltend ist. Da
Non-Faktualisten ihre primären Gegenstandsbereiche nicht-repräsentational
deuten und damit als nicht wahrheitswertfähig ansehen, stellt sich für sie die
Frage, was mit der Logik in diesen Handlungsbereichen passiert. Das Problem ist also ein Doppeltes: Wie lässt sich der Zusammenhang von direkten
und indirekten Kontexten nicht-repräsentational verstehen? Und wie sieht
eine nicht auf Wahrheit gerichtete Logik aus? Da der Fiktionalismus den
repräsentationalistischen Realismus bezüglich Gehalt und Wahrheit nachahmt, stellen sich diese Frage für ihn nicht.
An dieser Stelle kommt es nun zum non-faktualistischen Gegenschlag.
Wenn Wittgenstein mit der These von der Projektion der Subjekt-PrädikatForm im Recht ist, dann hat die semantisch grundlegende Abkoppelung des
propositionalen Gehalts vom konkreten Handlungsvollzug, von der Stellung
des Satzes im Sprachspiel, wenig Aussicht auf Erfolg. In Fällen der Projektion
ist es nämlich erst diese Form des Gebrauchs, die uns zum Beherrschen des
Sprachspiels führt und so erkennen lässt, welcher Gedanke ausgedrückt werden soll. Wer den Satz „er hatte die Absicht ...“ als Bericht über die Existenz
einer inneren Entität auffasst oder sprachliche Willensbekundungen generell
als Bezugnahme auf versteckte Antriebsmechanismen deutet, der versteht
diese Sätze möglicherweise nicht nur nicht bezogen auf die Dimension der
Kraft oder des Witzes, sondern dem entgeht in einem grundsätzlicheren Sinne die Bedeutung des Satzes. Es ist erst die Stellung des Satzes im Sprachspiel,
das Zusammenwirken von sprachlichen und nicht-sprachlichen Eingangs- wie
Anschlusshandlungen, welche uns sagt, dass mit solchen Sätzen Handlungs-
Stefan Tolksdorf
52
erklärungen gegeben werden und was es heißt, sich als handelndes Wesen zu
verstehen.37
Diese Antwort deutet nun die Auflösung der Problematik an. Meines Erachtens können wir ohne Bauschmerzen zugestehen, dass der propositionale
Gehalt beim Übergang von direkten zu indirekten Sprechsituationen erhalten
bleibt und dass Wahrheit der Schlüssel zur Logik ist. Damit ist aber wenig
gesagt bzw., richtiger, der springende Punkt lediglich auf eine andere Ebene
verschoben worden. Aufgrund der Differenz zwischen Oberflächen- und
Tiefengrammatik erhalten die Begriffe „propositionaler Gehalt“ und „ist
wahr“ eine Bedeutung auf beiden Ebenen. Auf der syntaktischen Ebene können wir zugestehen, dass die meisten assertorischen Sätze durch das Wahrheits-Prädikat ergänzt werden können. „Propositionaler Gehalt“ und „Wahrheit“ bilden eine Art Begriffsfamilie, da sich das Wahrheitsprädikat auf den
Gehalt bezieht, welcher selbst wiederum durch die Frage bestimmt werden
kann, was als wahr angenommen wird. Bezogen auf die syntaktische Ebene
besitzen beide Begriffe eine minimalistische bzw. deflationistische Bedeutung.
Jedoch inhaltlich gesehen, bezogen auf die Tiefengrammatik, hilft uns diese
Antwort nicht weiter. Auf dieser Ebene muss etwas mehr gesagt werden, um
die Differenzen zwischen religiösen, empirisch-deskriptiven und etwa modalen Sprachspielen deutlich werden zu lassen. Das heißt: Was „Wahrheit“ im
Einzelnen bedeutet und wie propositionale Gehalte im konkreten Sprachspiel
konstruiert werden, ist selbst erklärungsbedürftig und nicht homogen zu beantworten. Non-Faktualisten können indirekte Kontexte und logische Operatoren demnach wie folgt rekonstruieren:
(1) Der pragmatische Witz logischer Operatoren besteht darin, atomare Festlegungen und Akzeptanzen aneinander zu binden, sie in ein System zu integrieren – ganz gleich, um welche Inhalte es geht. Der Nutzen solcher Gelenke
in der Sprache liegt auf der Hand: Wenn wir mit Sätzen wie „Das Quälen von
Tieren ist verwerflich“ unsere ablehnende Einstellung gegenüber Handlungen
des Tierquälens ausdrücken, dann sollten wir uns auch fragen, welche weiteren Einstellungen aus dieser atomaren Einstellung folgen, mit welchen anderen Einstellungen und Überzeugungen sie zusammen hängt, etc. Solche Beziehungen lassen sich dann sprachlich wie folgt ausweisen: „Wenn das Quälen
von Tieren verwerflich ist, dann auch das Anstiften dazu; das Töten von Tieren; etc.“. Was ich hier erwähne, entspricht zum Teil Brandoms inferentieller
Pragmatik, der zufolge logisches Vokabular lediglich inferentielle Beziehungen explizit macht, die bereits implizit Teil der Handlungswelt sind. Ob das
Bild der Explizitmachung des Impliziten die beste Beschreibung solcher Vorgänge ist, kann an dieser Stelle offen bleiben. Was allerdings überzeugt, ist die
_____________
37
Vgl. abermals den Beitrag von Ralf Stoecker.
Reden ‚Als-ob‘
53
Idee, dass das Konditional pq beispielsweise lediglich festhält, dass das
Ausspielen von p den Sprecher auf das Ausspielen von q festlegt, wie immer
das konkrete Sprachspiel und die konkrete Rechtfertigung dafür zu verstehen
sei. Logische Schlussmuster wie der Modus ponens sind dieser pragmatischen
Geschichte folgend deshalb kein Problem für Non-Faktualisten, weil ein
solches Muster aus dem Konditional folgt. Oder anders ausgedrückt: Konditionale kodieren inferentielle Schlussmuster – das Ausspielen von p muss
vom Ausspielen von q begleitet werden.
Statt also zu sagen, dass logische Schlüsse wahrheitserhaltend sind, erscheint
es weitsichtiger zu behaupten, dass sie festlegungserhaltend sind.
Die Logik, so können wir jetzt sagen, gehört weder dem Realisten, noch
dem Anti-Realisten. Jedoch versieht uns der Non-Faktualismus mit einer
pragmatischen Genealogie, mit einer Geschichte also, die uns verständlich
macht, wie es zur Ausbildung logischer Begriffe kommen konnte und welche
Funktion sie in unserer Lebenswelt übernehmen. Das als basal und nicht
erklärungsbedürftig angesehene realistische Verständnis, wonach Logik und
Wahrheit auf Abbildung zielen, ist dann lediglich ein Sonderfall dieser pragmatischen Geschichte – einige Festlegungen und Akzeptanznormen nennen
wir Wahrheit im engeren Sinne.
(2) Eine analoge Antwort bietet sich nun auch für indirekte Kontexte an, die
im gewissen Sinne der allgemeinere Fall sind. Das heißt: Logische Operatoren
erzeugen indirekte Kontexte, es gibt daneben aber weitere Möglichkeiten, in
den Modus des Sprechens über Festlegungen einzusteigen. Es liegt deshalb auf
der Hand, nach ähnlichen pragmatischen Erläuterungen dieser Möglichkeiten
Ausschau zu halten und im erläuterten Sinne deutlich zu machen, dass es
sinnvoll ist, über Einstellungen zu sprechen. Wenn ‚p’ im Sprachspiel vorgesehen ist, dann ist der Weg zu „ich glaube (nicht), dass p“ oder „S ist gerechtfertigt zu glauben, dass p“ nicht sehr weit, da wir uns vorstellen können,
Handlungen der Ungewissheit oder der Bestätigung p gegenüber auszuführen.
Was konstant bleibt, ist tatsächlich der propositionale Gehalt, der uns aber zu
sehr unterschiedlichen Zügen im Sprachspiel führt, zum Beispiel zu modalen,
moralischen und religiösen Aussagen. Der Verweis auf die atomaren Aussagen in direkten Kontexten, quasi auf das Heimat-Sprachspiel, ist für den indirekten Kontext unverzichtbar, weil abkünftige Kontexte dieser Art im gewissen Sinne nichts anders tun als sinngemäß zu sagen: wenn du über die
Handlungskompetenz des p-Sagens verfügst, dann gehe einen Schritt weiter
und erweitere sie um den pragmatischen Witz des Zweifelns, des Versicherns,
indem sprachliche Züge wie ‚ich glaube; zweifle; etc., dass p’, ausgeführt werden.
A Development in Wittgenstein’s Conception of
Philosophy: From “The Method” to Methods
James Conant
1. How Many Wittgensteins?
I had the pleasure and good fortune in the summer semester of 2004 to teach
a seminar on Wittgenstein together with Hans Julius Schneider while I was
visiting in the capacity of Gastprofessor at the Institute for Philosophy at the
University of Potsdam. I cannot think of a more fitting tribute to Hans Julius
Schneider than for me now to try to develop my thoughts a bit further on the
topics that he and I discussed in that seminar. Some of what I will say in this
paper, in order to set up the framework for the rest, will cover some ground
that will be quite familiar to him; but some of it, I hope, will broach ground
that is less familiar and hopefully also of interest to him. As my aim here is to
provoke further dialogue about matters of common interest, I will not shrink
from making some rather heterodox claims about the character and shape of
Wittgenstein’s philosophical development.
Six years since co-teaching that seminar, as I sit now before my desk writing
this paper in Chicago in the year 2010, a minor controversy in which I am one
of the alleged participants is taking place in the tiny world of Wittgenstein
scholarship – a controversy about how many Wittgensteins there are. My
colleague David Stern, at the comparatively nearby University of Iowa, takes
me not only to be a participant in this controversy, but also to be a proponent
of one particular extreme view, (what he calls) “the one-Wittgenstein view”.
His main complaint is directed, however, not only at people who, as I allegedly do, espouse this view, but also against their alleged opponents in the
controversy:
[I]t is nearly always presupposed that either there was one Wittgenstein, that in essentials Wittgenstein’s philosophy never really changed, or that there were two Wittgenstein’s, that there was a fundamental change between the early and the philosophy….
Very few interpreters seem prepared to even consider the possibility that these are restrictive and constricting alternatives, or that the best interpretation might well be one
James Conant
56
that recognizes both continuities and discontinuities in Wittgenstein’s philosophical
development.1
What Stern says here (“very few interpreters seem prepared to even consider”) ought to strike one as a bit of a stretch, given that the revelation (“the
best interpretation might well be one that recognizes both continuities and
discontinuities”) is a truism – true about pretty much any interesting philosopher. Kant, Russell, Heidegger, and Putnam come immediately to mind as
particularly pertinent examples about whom this is obviously true, but in each
case it is not at all easy to say how it is true. And it is perhaps especially difficult in the case of Wittgenstein to see precisely how properly to balance the
continuities against the discontinuities in a full narrative of the character of
his philosophical development. The devil lies in the details here.
It has been a central motivation of mine in developing, together with
Cora Diamond, a certain reading of Wittgenstein’s early work – which has
come to be known as “the resolute reading” – to begin to fill in some of the
background which I believe needs first to be in place before one is in a position fully to appreciate the specific difficulties which must attend any attempt
to sketch such a narrative of the overall arc of Wittgenstein’s philosophical
trajectory. In a moment I will say more about what I mean when I speak of
“a” (or what others mean when they speak of “the”) “resolute reading”. First,
however, I just want to say this much about the original motivation behind
developing such a reading of early Wittgenstein: the motivation was to help
put one in a position better to understand better what sort of break it is with
traditional philosophy (and therefore with his own earlier philosophy) that
Wittgenstein sought to undertake in his masterwork Philosophical Investigations.
Given that this was the original motivation, the misunderstanding involved in Stern’s claim that Conant (and Diamond, and various other resolute
readers) are committed to “the one-Wittgenstein view” is quite fundamental. I
would be happy if this paper were able to put an end to the ascription of such
a view to a commentator on Wittgenstein simply on the grounds that he or
she advocates a resolute reading of the Tractatus. For to advocate such a reading of the Tractatus is not yet to take a stance on the question “How many
Wittgensteins are there?” nor, for that matter, even if one thinks there is more
than one Wittgenstein, is to commit oneself to any particular answers to questions about where and when a (or “the”) significant break in Wittgenstein’s
philosophizing occurs over the course of his development.
This is not to deny that such a reading of Wittgenstein’s early work has
substantive implications for how one answers questions such as those men_____________
1
David Stern: How Many Wittgensteins?, in: Wittgenstein: The Philosopher and his Works,
edited by Alois Pichler and Simo Säätelä, Working Papers from the Wittgenstein Archives at the University of Bergen, No. 17 (2005), p. 170.
From “The Method” to Methods
57
tioned above. It is only to maintain that these implications are not straightforward and that they themselves therefore represent matters about which
resolute readers might well disagree. In this paper, I will defend one particular
line of thought about these matters. I should not be taken to be speaking for
other resolute readers of Wittgenstein in doing so. I do hope, however, to
illustrate how the framework of a resolute reading of Wittgenstein’s early
work can furnish a fresh perspective from which to consider questions about
the overall development of Wittgenstein’s conception of philosophy. The real
interest of this paper will therefore lie not in contributing to debates about
how to read Wittgenstein’s early philosophy, but rather in addressing a certain
question about the development of his philosophy as a whole.
A good way to begin on the latter topic is to consider what a remark such
as the following is doing in the Preface to Philosophical Investigations:
Four years ago I had occasion to re-read my first book (the Tractatus LogicoPhilosophicus) and to explain its ideas to someone. It suddenly seemed to me that I
should publish those old thoughts and the new ones together: that the latter could be
seen in the right light only by contrast with and against the background of my old way
of thinking.2
Proponents of the standard narrative of Wittgenstein’s development can and
do take this passage as a bit of textual evidence that Wittgenstein is here asking us to see his early work as directed against his later work. But how is it
directed against his early work? In particular, why does he say that “the latter
could be seen in the right light only against the background of my old way of
thinking”? The presence of the word “only” here suggests that what is to be
found in the pages of the Tractatus is not simply a recurrence of confusions
also to be found in the less difficult writings of lesser philosophers, but rather
that there is something to be found there that is not easily found elsewhere;
and that it is this difference between what is found there and what can be
found elsewhere in philosophy that recommends those early pages for inclusion in the single volume at issue here. The presence of the “only” suggests
that, if we want to see his new way of thinking in the right light, we need first
to see it against the background of features of his old way of thinking which
he takes to be both peculiar to that way of thinking and peculiarly important
to an understanding of the new way of thinking. Otherwise any of a variety of
other backgrounds would serve just as well. What I will be calling “a resolute
reading of the Tractatus”, I shall suggest, helps to focus attention on one important aspect of his old way of thinking which he both takes to be peculiar
to that way of thinking and the overcoming of which he takes to be peculiarly
important to an understanding of the new way of thinking.
_____________
2
Ludwig Wittgenstein: Philosophical Investigations, op cit, p. x.
James Conant
58
2. Resolute Readings of the Tractatus
The dispute between resolute readers and their critics has tended to take its
point of departure from the question how one ought to understand the following climactic3 moment in the Tractatus:
My propositions serve as elucidations in the following way: anyone who understands me
eventually recognizes them as nonsensical, when he has used them -- as steps -- to climb
out through them, on them, over them. (He must, so to speak, throw away the ladder
after he has climbed up it.)4
Taking this passage as my point of departure, I will provide, in this section of
the paper, a very sketchy account of what will be meant in the remainder of
this paper by “a resolute reading of the Tractatus”,5 primarily by saying a bit
about what is involved in climbing up and throwing away this ladder on any
resolute interpretation of the book of which that ladder forms the body.
Beyond this, I will have nothing further to say in these pages about the
internal commitments of such a reading. In particular, this paper will refrain
from rehearsing any of the (exegetically or philosophically motivated) reasons
why an open-minded reader might want to look with sympathy on such an
interpretative approach to the Tractatus. The burden of this paper will rather
be to clarify one of the ways in which such a reading might bear on questions
pertaining to an understanding of the relation between Wittgenstein’s early
and later work, and thereby to explore one aspect of the question whether
such an approach to reading Wittgenstein commits one, as David Stern
alleges, to some version of a “one-Wittgenstein view”.
In section 6.54 of the Tractatus, the author of the work does not ask us to
understand his sentences, but rather to understand him. Resolute readers take
this particular nicety of formulation to be tied to the way in which we are
supposed to come to see, regarding those sentences of the work that are at
issue here, that there is nothing that could count as understanding them. The
primary characteristic that marks out a reading of the Tractatus as “resolute”,
in the sense of the term at issue here, is its rejection of the following idea: what
_____________
3
4
5
Pun intended.
Ludwig Wittgenstein: Tractatus Logico-Philosophicus, §6.54. (my emphases). Quotations
from the Tractatus will be drawn from either the David Pears and Brian McGuinness
translation (London 1963) or from the reprint of the C. K. Ogden translation ( London 1981), or some emendation or combination thereof.
The characterization of such readings as “resolute” is first due to Thomas Ricketts
and first used in print by Warren Goldfarb in his: Metaphysics and Nonsense: On Cora
Diamond’s The Realistic Spirit, Journal of Philosophical Research 22 (1997), pp. 57-73, at
p. 64; cf. also p. 73, note 10. Goldfarb’s article lays out some of the issues in dispute
very well. See also Diamond’s: Realism and Resolution (which replies to Goldfarb) in the
same issue.
From “The Method” to Methods
59
the author of that work, in section 6.54, aims to call upon his reader to do
(when he says that she will understand him when she reaches the point where
she is able to recognize his sentences as nonsensical) is something that
requires the reader of the work first to grasp and then to apply to the
sentences of the work a theory that has been advanced in the body of the work
– a theory that specifies the conditions under which sentences make sense
and the conditions under which they do not.6 In order to be able to give
content to the idea that we are able to come to grasp the commitments of
such a theory, a commentator must hold that there is a fairly substantial sense
in which we can come to “understand” the sentences that “explain” the
theory, despite the fact we are eventually called upon to recognize these very
same sentences as nonsense. Resolute readers hold that to read the Tractatus in
this way is seriously to underestimate what is involved in the request that we
come to recognize these sentences as nonsense.
On standard readings of the book, the point of a significant number of
the sentences of the work is to achieve the formulation of an adequate set of
theoretical criteria of meaningfulness. These criteria when applied to the very
sentences that adumbrate them yield the verdict that they do not meet their
own criteria and thus are to be condemned as nonsensical. Resolute readers
are unhappy with any such reading for a variety of reasons. For the present
purpose, however, it will suffice to note that they are committed to rejecting
any such reading because they are committed to rejecting the idea that the
author of the work aims to put forward substantive theories or doctrines.
Wittgenstein tells us that the kind of philosophy he seeks to practice in this
work consists not in putting forward a theory, but rather in the exercise of a
certain sort of activity – one of elucidation.7 The core commitment of a resolute reading for the purpose of this paper lies in its insistence that a proper
understanding of the aim of the Tractatus depends upon taking Wittgenstein at
his word here. A close reading of the text guided by this commitment leads us
to the following gloss on his early understanding of the aim of this activity:
Early Wittgenstein aimed to practice a conception of philosophy in which philosophy
is not a matter of putting forward theses, doctrines or theories, but consists rather in
an activity of elucidation; and any apparent theses that are put forward in the course
of that activity, if it succeeds in its aim, are to be revealed as either (1) initially philosophically attractive yet in the end only apparently meaningful (Unsinn), or (2) either
_____________
6
7
Notice: this feature of a resolute reading – as, too, with regard to each of the other
features to be mentioned below – merely says something about how the book ought
not to be read, thereby still leaving much undetermined about how the book ought to
be read.
For more discussion of this topic, see my: The Method of the Tractatus, in: From Frege to
Wittgenstein: Perspectives in Early Analytic Philosophy, ed. Erich H. Reck, Oxford 2002.
James Conant
60
genuinely meaningful (sinnvoll) or merely tautologous (sinnlos) but only once clarified
and hence drained of their initial philosophical eros.8
Let’s call this “the avowed aim”. If one adopts it as a point of departure for
reading the text and allows oneself “strictly to think it through”9, resolute
readers take a proper understanding of the avowed aim to have far-reaching
exegetical consequences. It is perhaps not an exaggeration to say that, once
this business of strictly thinking it through gets underway, many of the further
commitments of resolute readers can be seen to fall into place as corollaries
that follow from it. I will confine myself here simply to mentioning three such
corollaries.
The first pertinent corollary (of a resolute rejection of an intended
commitment on the part of the author of the work to any theory or doctrine)
is the rejection of any intended commitment to an ineffable theory or doctrine.
This means that resolute readers are bound to reject the widely held view that
the relevant “propositions” of the work (namely, those concerning which
Wittgenstein said, at §6.54, that they are to be recognized as “nonsensical”)
are to be “understood” as conveying ineffable insights that the reader is to
“grasp” even though the author cannot “express” them. On standard readings
of the work, the alleged insights here in question are held to be individuated
through an identification of substantive constraints on sense adumbrated
through the aforementioned criteria on meaningfulness set forth in the body
of the work. It is through the “violation” of these constraints that the
sentences in question are revealed as simultaneously meaningless yet able to
convey something determinate. The form of their meaninglessness is
_____________
8
9
It would be a mistake to read this paragraph as saying (as the writings of standard
readers sometimes seem to suggest) that we can just go about inspecting sentences
and (apart from consulting their context of use) sorting them into categories such as
the sinnlos and the sinnvoll. For discussion of this topic, see Cora Diamond: Crisscross
Philosophy, in: Wittgenstein at Work, ed. Erich Ammereller and Eugen Fischer, op. cit. In
the interest of keeping things as simple as possible, I will have nothing further to say
about the topic of that which is sinnlos in this paper. For a discussion of some of the
points that arise in connection with this topic and how to accommodate them in a
resolute reading, see Michael Kremer: Mathematics and Meaning in the Tractatus, in: Philosophical Investigations 25 (2002).
I am alluding here to a formulation of Wittgenstein’s regarding what is involved in
philosophical elucidation that surfaces in passages such as the following: “[I]dealism,
strictly thought out [streng durchgedacht], leads to realism.” – and: “[S]olipsism, strictly
followed through [streng durchgeführt], collapses into pure realism.” The first is from
Notebooks: 1914-1916, eds. G. H. von Wright and G .E. M. Anscombe, tr. G. E. M.
Anscombe (Chicago 1979); p. 85. (I have emended the translation). The second is
from the Tractatus, 5.64. (I have emended the translation.) For further discussion of
the importance in Wittgenstein’s work of such a conception of thinking things
through, see my: On Going the Bloody Hard Way in Philosophy, in: John Whittaker (ed.):
The Possibilities of Sense, New York 2003.
From “The Method” to Methods
61
supposed to highlight, in each case, a particular feature of the general
conditions on sense specified by the theory in question. This requires that the
meaninglessness of these sentences has, in each case, a logically distinct and
specifiable character. It becomes, on standard readings, a central burden of
the theory (supposedly adumbrated in the book) to give content to this idea
of logically determinate forms of nonsense – where each of these forms of
nonsense is alleged to acquire the potential for communication that it
specifically possesses in virtue of its violation of a distinct requirement on
sense laid down by the theory. This commits standard readers to the idea that
the sort of nonsense that is at issue here must come in a variety of logically
distinct kinds.
This brings us to the second pertinent corollary: the rejection of the idea
that the Tractatus holds that there are logically distinct kinds of nonsense. This
is sometimes put by saying that the Tractatus aims to show that there is no
such thing as substantial nonsense. From the perspective of a resolute reader,
it makes little difference whether the candidate criteria for lending substance
to nonsense involve considerations of verifiability, bipolarity, logical wellformedness, or some other putative respect in which a “proposition” is held
to be intrinsically flawed because of its own internal logical or conceptual
structure. Part of what the Tractatus seeks to show, according to resolute
readers, is that all such “criteria of meaningfulness” cannot do the sort of
work to which we want to put them in our philosophical theorizing. Any
reading of section 6.54 that takes the recognition on the part of a reader there
called for to require a substantive employment of such criteria qualifies as an
instance of an irresolute reading, as long as it is committed to ascribing to the
Tractatus a theory which its author must endorse and rely upon (if he is to be
able to prosecute his program of philosophical critique) and yet which he
must also regard as nonsense (if he thinks through the commitments of his
own theory).10
_____________
10
Many critics of resolute readings notice that resolute readers are committed to one or
another of the corollaries, without ever managing to get the guiding commitment of
such a reading clearly into view. Such critics notice that resolute readers are
committed to rejecting some particular putatively Tractarian account of what makes
some sentences nonsensical (say, an account based on illegitimate syntactical
combination), while assuming that a resolute reader must share with the proponent of
a standard sort of reading the idea that the charge of nonsense leveled at the end of
the Tractatus is to be underwritten by some theory – be it one that is advanced within
the body of the work or one that is imported into the work from the outside. These
critics thereby assume that these readers must want to substitute some alternative
theoretical account of the grounds of sense for the particular one under criticism.
These critics then become understandably very puzzled about how such a reading can
possibly be thought to be sustainable. For they assume that the discovery that there
are no logically distinct kinds of nonsense is itself arrived at through the elaboration
62
James Conant
At a minimum, what a resolute reading seeks to avoid here is the mess
that commentators get into when they refuse to (allow that they are, at the
end of the day, supposed to) throw away the following paradoxical idea:
The author of the Tractatus wants its reader to reject the sentences of the book as
nonsense on principled grounds; yet, in the very moment of rejecting them, the reader
is to continue to retain a grip on these grounds by continuing to identify, grasp, and
believe that which these sentences would say, if they had a sense.11
Let’s call this “the paradox”. To be resolute in one’s approach to the Tractatus
involves taking this paradoxical idea itself to form a part of the ladder that we,
as readers, are meant to climb up and throw away (rather than taking it to be
an account of what it is to throw away the ladder). Thus, it involves taking the
sort of recognition that readers of the work are called upon to attain in
section 6.54 to require a recognition that the intermediate stages that we, as
readers, seem to occupy (when we take ourselves to be able to identify, grasp,
and believe what these sentences intend to convey) are aspects of the illusion that
the work as a whole seeks to explode – that they are themselves rungs on the
ladder that we are asked to climb up and throw away.
The third corollary has to do with how one ought to conceive the details
of the Tractarian procedure of elucidation – and, in particular, the role of the
many notational devices (the Sheffer stroke, the truth tables, the special
notation for quantification, etc.) that are introduced in the course of the book.
It is evident that logical notation is supposed to play some sort of important
role in a reader’s ascent up the ladder. A standard reader will assume that the
notation at issue here is one which is to be constructed so as to reflect the
requirements of the theory that is laid down in the book: only those sentences
the theory deems permissible will be constructible in the notation; and those
sentences the theory deems nonsensical will involve illegitimate constructions
forbidden by the syntactical rules governing the employment of the notation.
It should by now be evident that it is not open to a resolute reader to
construe the role of logical notation in Tractarian philosophical clarification in
anything like this way. According to a resolute reader, the forms of logical
_____________
11
and application of a theory of sense that these readers are now committed to viewing
as having somehow been successfully articulated by the author of the Tractatus, even
though the propositions by means of which it is to have been articulated have been
relegated to the status of mere nonsense. This then leads to the criticism that the
resulting reading renders the propositions of the book too semantically impoverished
to be able to articulate the theoretical conceptions about the nature of nonsense that
the readers in question are committed to ascribing to the work. I enthusiastically
endorse this line of argument as a criticism of a possible (misguided) reading of the
Tractatus. But it is a species of irresolute reading that is here criticized.
This idea that we can grasp what certain sentences would say if they had a sense is
sometimes called chickening out. See Diamond: The Realist Spirit, op. cit., pp. 181-2, 1945.
From “The Method” to Methods
63
notation employed by the author of the Tractatus (in order to make certain
philosophical confusions manifest) must be elucidatory instruments whose
employment is not itself supposed to require commitment (on the part of
those engaged in an elucidation) to any particular philosophical theses.
We are familiar in ordinary critical discussion with procedures in which
confusion in thought can be brought to a person’s attention through a
procedure of reformulation – in effect, through substituting one expression
for another. This is most commonly accomplished by substituting one
expression in the speaker’s native language for another. But if the speaker is
familiar with a foreign language then that familiarity can be exploited to bring
further elucidatory resources to bear on the situation. Thus, an equivocation
involving “or“ in ordinary English can be brought to a speaker’s notice, if he
speaks Latin, by asking him whether he wants to translate his English
sentence into Latin using “aut” or “vel”. No “theory of Latin” is required in
order for the speaker to take advantage of this elucidatory tool. All that is
required is knowledge of how properly to translate English sentences into
Latin ones. By being forced to reflect upon what is involved in the task of
having to choose one of these Latin expressions over the other, the speaker
can be made to realize that he has been hovering between alternative
possibilities for meaning his words without determinately settling on either
one.12 According to resolute readers, this is what nonsense is for the author of
the Tractatus: an unwitting wavering in our relation to our words – failing to
make genuine determinations of meaning, while believing that we have done
so.13 And the Tractatus’s understanding of the character of nonsense,
according to resolute readers, is internally related to its understanding of the
proper role of logical notation in philosophical clarification.
If our English speaker above did not know Latin, but instead had been
taught an appropriately designed logical notation (in which each of these two
different possible translations of the English sign “or” corresponds to a
different symbol in the notation) then exactly the same clarification could be
effected using this notation. No theory of the notation is supposed to be here
required, merely a mastery of its proper use. What is needed here – to
paraphrase Tractatus, §4.112 – is not a commitment to some doctrine, but
rather a practical understanding of how to engage in a certain sort of activity.
The forms of notation to which the Tractatus introduces us, of course, involve
manifold degrees and dimensions of designed regimentation (in our use of
_____________
12
13
For further discussion of this example, see Conant and Diamond: On Reading the
Tractatus Resolutely, in: Max Kölbel / Bernhard Weiss (eds.): Wittgenstein’s Lasting Significance, London 2004, pp. 61-2.
See Wittgenstein: Tractatus, op. cit., §5.4733.
64
James Conant
distinct signs to express logically distinct modes of symbolizing) far beyond a
single distinction in the use of signs to mark a mere distinction between two
different ways of using a particle of speech such as “or”. In principle,
however, if our aim is restricted to the Tractarian clarification of thought,
then the point of the exercise of mastering and applying such notation and
the justification of the procedures involved need not differ in any essential
way from those involved in the case of asking someone to translate “or” as
either “vel” or “aut”. The difference here (in the character of the exercise and
the procedures it involves) is one of degree not of kind. The forms of
notation introduced by the Tractatus therefore are not conceived by its author
as requiring independent theoretical justification; and, if they did, this would
defeat their purpose. They are put forward as proposals. If we try this notation,
we will see that it allows us to become clear (when there is something we
want to say) about what we want to say; and (when there is not) it allows us to
become clear about the character of our failure in our having unwittingly
failed to say anything. With respect to understanding his purpose in
introducing us to these instruments of logical notation, we may be said to
understand the author of the Tractatus each time we recognize how these
alternative forms of expression (which the notation makes available) enable
the recognition of nonsense.14 It is in this way that the notation is meant to
serve as a device that facilitates a reader’s ascent up the rungs of the ladder.
3. The Old Way of Thinking against the Background of the New
The author of Philosophical Investigations tell us that the most crucial moments
in philosophical conjuring tricks are the ones that are apt to strike one as
most innocent.15 This remark, I take it, bears on the evolution of his later
philosophy in two ways. First, it is tied to his later apprehension that it is
much more difficult to avoid laying down requirements in philosophy than
his earlier self had ever imagined – where this is tied in the later work, in turn,
_____________
14
15
A story about this can count as a version of a resolute reading only to the extent that
an understanding of the author here rests upon nothing more than a cultivation of the
reader’s logical capacities – capacities that she exercises whenever she thinks or
speaks. These capacities are honed in the context of philosophical elucidation through
our learning such things as how properly to parse sentences whose surface grammar
confuses us, how properly to employ the fragments of logical notion to which the author of the Tractatus introduces us, and so on. But the point of exercising such comparatively more determinate logical capacities is to refine the antecedently available
general capacity which the reader brings with her to an encounter with the text:
namely her ability to discern sense, recognize nonsense, and distinguish the one from
the other.
Wittgenstein: Philosophical Investigations, op. cit., §308
From “The Method” to Methods
65
to the need to develop a form of philosophical practice that can diagnose,
identify, and clarify the precise moments in which such requirements on
thinking are first unwittingly laid down, well prior to their manifesting
themselves to the thinker as commitments of any consequence.16 Second, it
required a set of procedures for the conduct of the new activity of diagnosis,
identification, and subsequent clarification that would not themselves prove
to carry further unwitting commitments in their train (introducing another
metaphysics newly built into the successor conception of clarification). Hence
the need to develop a non-dogmatic mode of philosophical correction (an, as
it were, further layer of correction directed at each of the moments of
correction themselves, and a further layer upon that, and so forth). An
elucidatory procedure whose steps are arraigned in the form of a ladder is no
longer up to this task: the procedure must be able to crisscross in such away
as to allow each step in the investigation devoted to exorcising a philosophical
demon to itself be pondered, reassessed, and purged, in turn, of the possible
latent forms of overstepping or overstatement that may unwittingly have
insinuated themselves in the course of the elucidation of the original
misconception.17 It is in this context (of cultivating such a non-dogmatic
mode of philosophizing) that a method of writing characterized by an
alternation of voices (including ones of overly insistent temptation and ones
of overly zealous correction) proves its value and comes to transform the face
of Wittgenstein’s authorship. This raises many questions (regarding the aims
and methods of Wittgenstein’s later philosophy) well beyond the scope of this
paper. It will suffice to confine our attention here briefly to the ever-recurring
first step in this crisscrossing procedure – a step that has no role and can have
no role to play in his earlier ladder-climbing mode of philosophical
elucidation: namely, the step in which one seeks to uncover that crucial sleight
of hand in the philosophical conjuring trick that is apt to strike one as most
innocent.
Wittgenstein’s original aim, in writing the Tractatus, was to bring metaphysics
to an end; and the method of clarification he thereby sought to practice, to
achieve that end, was to be one that was itself free of all metaphysical
_____________
16
17
One way of summing up this immense difference between early and later Wittgenstein
would be to say that the following question assumes a pivotal importance in later
Wittgenstein’s investigations that it never (could have) had in early Wittgenstein’s procedures: How does philosophy begin? On this, see Stanley Cavell’s: Notes and Afterthoughts on the Opening of Wittgenstein’s Investigations, in: Hans Sluga / David Stern (eds.):
The Cambridge Companion to Wittgenstein, Cambridge 1996.
“[M]y thoughts were soon crippled if I tried to force them on in any single direction
against their natural inclination—And this was, of course, connected with the very nature of the investigation. For this compels us to travel over a wide field of thought
crisscross in every direction” (Philosophical Investigations, p. ix).
James Conant
66
commitments. The following remark brings out how his later writing (unlike
most of the commentary on it) continues to keep this feature of his earlier
thought firmly in perspective while seeking to focus attention on its
problematic commitments:
We now have a theory, a “dynamic theory” of the proposition; of language, but it
does not present itself to us as a theory. For it is the characteristic thing about such a
theory that it looks at a special clearly intuitive case and says: “That shews how things
are in every case; this case is the exemplar of all cases.” – “Of course! It has to be like
that”, we say, and are satisfied. We have arrived at a form of expression that strikes us
as obvious. But it is as if we had now seen something lying beneath the surface.18
This passage brings out nicely why things must go wrong if one’s reading of
Wittgenstein is organized around a focus on the following question: “Which
parts of the theory that the Tractatus aimed to put forward did later
Wittgenstein think was wrong?” If one reads Wittgenstein in this way, then
one is apt to skip over the following seven aspects of later Wittgenstein’s
interest in (what one thereby calls) “the theory of the Tractatus”: (1) that what
we are able to see as heavily freighted philosophical commitments in the early
work did not present themselves to the author of the Tractatus as such, (2) that
it is the characteristic thing about such “theories” that, at the deepest level,
they garner their conviction not from a conscious intention to put forward an
ambitious philosophical claim, but rather from an apparently innocent
attention to what presents itself as a special clearly intuitive case, (3) that an
unprejudiced view of such a case already appears to permit one (without any
additional theoretical underpinning) to exclaim: “That shews how things are in
every case; this case is the exemplar of all cases”, (4) that it is therefore
particularly helpful to look at examples of philosophers who are already in the
grip of such apparent forms of clarity in those moments in their thinking that
occur prior to any in which they take themselves yet to have begun
philosophizing, (5) that it is even better, if one can find one, to look at the
example of a philosopher who, in the teeth of an avowed aim to eschew any
such commitments, nonetheless falls into them, (6) that the author of the
Tractatus is the prime example of such a philosopher, and therefore, in a sense,
the ideal target for the form of philosophical criticism to be prosecuted in the
pages of Philosophical Investigations, (7) that the ultimate quarry of philosophical
criticism in these pages is never this or that philosophical thesis or theoretical
commitment, but rather a characteristic form of expression – one that holds
us captive and strikes us as so very obvious that we imagine that it allows us
to be able to penetrate the appearance of language and see what must lie
beneath the surface.
_____________
18
Wittgenstein: Zettel (translated by G. E. M. Anscombe), Oxford 1967, §444.
From “The Method” to Methods
67
The preceding seven points represent a brief attempt to summarize certain aspects close to the heart of Wittgenstein’s mature conception of philosophical method, as well as to summarize an important aspect of his thinking close to the heart of his mature perspective on the differences between
the conceptions of philosophical method present in the Tractatus and the
Investigations respectively. With these seven points before us, allowing ourselves to assume that they capture important differences in the conceptions of
philosophy in the Tractatus and the Investigations respectively (and allowing
ourselves for a moment to subscribe to the facile idea that there is just one
important “break” in Wittgenstein’s philosophical development), the following point can now be made: any account of something that deserves to be
called “the break” between early and later Wittgenstein must be one which is
able to locate in the philosophy that supposedly lies on the far side of this
break resources for philosophical criticism sufficient to vindicate an entitlement to these seven points. And now let us ask: does the later Wittgenstein
who comes into view on the standard narrative of his philosophical development command such resources? Or, correlatively: does the Wittgenstein of
1929 – or, for that matter, the Wittgenstein of 1935 – command such resources?
4. Norway, 1937
Wittgenstein spent most of the twelve years between 1929 (after he returned
to living and thinking full time about philosophy in Cambridge, England) and
1951 (the year of his death), trying to write the book that eventually would
become the Philosophical Investigations. Halfway through this period, in August
of 1936, he withdrew to the tiny hut that he had built himself, in a remote
location at the very end of the Sognefjord, in Skjolden, Norway, in order to
be able to continue his work on the book in complete solitude. After an abortive start, he turned his attention in November, 1936, to reworking material
that essentially consisted of a draft of sections 1 – 189 of Part I of Philosophical
Investigations. Roughly the first half of this material was re-worked in the remaining two months of 1936 and (after a break to spend Christmas with his
family in Austria) the second half of it was re-worked in Skjolden between
February and May of 1937. It was during these months that sections 89 to
133 came to assume something close to resembling the form in which they
now appear in the final published version of Philosophical Investigations. What
happened during this period in Norway?
On a standard narrative of Wittgenstein’s philosophical development, the
most significant break in his philosophical development came in or around
1929. On this telling of the story, the period shortly thereafter is the one in
68
James Conant
which the most significant revolution in his conception of philosophy was
allegedly effected. What happened in Norway in 1937, according to this narrative, therefore, is simply that later Wittgenstein turned his attention more
closely to certain topics, thereby applying his already fully developed later
conception of philosophy to hitherto comparatively unexplored philosophical
issues, with the consequence that he further developed the implications already latent in that conception (that he began to espouse in or around 1929)
for the particular topics at hand.
This narrative, of course, leaves lots of room for us to view what happened in Norway in 1937 to be of great consequence, especially in as much as
it is there and then that Wittgenstein completed the first fairly finished draft
of the opening bit of the famous passages of the Philosophical Investigations now
known as “the rule-following considerations”. But what the standard narrative does not countenance is the idea that Wittgenstein’s conception of his method
in philosophy underwent a significant revolution while he was in Norway in
1937. One reason it does not countenance this is simply because the standard
narrative puts in place and operates with a particular sort of idea of what
would and could count as a significant sort of development in Wittgenstein’s
conception of philosophy. This blinds it to certain possibilities.
As David Stern indicates, there is a tendency to distinguish between two
Wittgensteins: an early and a later one. It is also customary to see the former’s
activity as culminating in the Tractatus, while dating the inception of the latter’s activity at around 1929, when he becomes centrally concerned to criticize
the Tractatus. This much seems to me to be right about this standard telling of
the story of Wittgenstein’s development: if we want to understand the nature
of a break between someone whom we want to call an “early” Wittgenstein
and someone whom we want to call a “later” Wittgenstein, then we do need
to understand the nature of the latter’s criticism of the former. The customary
way of locating this break is via certain philosophical doctrines – doctrines
that are taken to be central of the teaching of the Tractatus and then subjected
to criticism by the later Wittgenstein. The doctrines that are usually seized
upon and most highlighted in standard tellings of this story (about what early
Wittgenstein was for and later Wittgenstein was against) are ones that resolute
readers have argued are already fiercely under attack in the Tractatus.
This has led to others saying about such readers, as David Stern does,
that their view must be that there are no significant differences between early
and later Wittgenstein. And when they say this about me, I deny what they
say. This is not my view, I say, far from it. Thus a situation of the following
sort comes about: one in which it now seems incumbent upon me to offer a
tidy alternative picture of my own of Wittgenstein’s development – one in
which I specify where and when, according to me, the break between early
and later Wittgenstein occurs. And I find that I cannot do this. The more
From “The Method” to Methods
69
closely I look at the character of the development of Wittgenstein’s thought,
the more complex and nuanced and graduated the sorts of changes that development undergoes come to appear to me to be. So, in answer to the question “What is your story of Wittgenstein’s development?”, I am inclined to say
“Well, it’s complicated.” But that is not a satisfying answer.
If, however, I had to go on German television right now, and the host of
the TV show were to point a pistol at my temple and to say to me: “Professor
Conant, please tell our TV audience right now where and when, according to
you, the biggest single break comes in Wittgenstein’s philosophical development, or else we will shoot you here and now in front of millions of people
on German television!”, then I would answer: “Norway, 1937” Of course, if I
were on a television show, I would not be given any time to explain this answer. As I am, fortunately, not addressing this question as the guest on a
television show, I will take advantage of the situation to try to explain a bit
more why I would say this. I offer this answer, however, not because I wish to
endorse the idea that Wittgenstein’s philosophical development underwent a
single decisive moment of discontinuity and that it is useful to sort of everything in his work into two separate and utterly distinct categories – the category of the texts that he wrote before the crucial moment dawned and the
category of the texts that he wrote after that crucial moment dawned. In the
end, it is precisely this aspect of the standard narrative that I would most like
to do away with. Thus I offer my overly simplistic answer to my imaginary
German television interviewer not as some form of last word about how to
tell the story of Wittgenstein’s philosophical development. Rather I offer it as
a corrective and an antidote to the standard narrative, precisely in the hope
that it will help to bring out an important aspect of the actual complexity of
the development of Wittgenstein’s philosophy that goes missing on the standard narrative.
I am willing to maintain that the “break” in Wittgenstein’s philosophy
that I will go on to identify in the pages that follow is at least as significant as
any that takes place in or around 1929. This is a strong claim. To say this,
however, is not to deny that significant reasons for dissatisfaction with his
early philosophy did begin to come into view for Wittgenstein in and around
1929. Nor is it to deny that there are other very significant revolutions that his
thought undergoes, for example, in the period between 1913 and 1918, and,
for example, again in the period between 1945 and 1951. Thus to claim the
importance that I wish to for what happens in Norway in 1937 therefore is
not suggest that this is actually where the real “break” happens. It is merely to
suggest that a careful attention to the sort of criticism of his earlier conception of philosophy that Wittgenstein begins to initiate in 1937 can afford us a
perspective from which we can begin to see much of what is partial and distorted in the standard narrative of Wittgenstein’s philosophical development.
James Conant
70
5. Two Senses of ‘Piecemeal’
In order to achieve this perspective, it will help first to distinguish between
two different things that commentators have meant to say when they have
said what seemingly amounts to the saying of a single sort of a thing about
the character of Wittgenstein’s approach to philosophy. In saying these two
different things, in each case, commentators tend to use the same word – the
word ‘piecemeal’ – which helps to create a certain confusion that I would first
like to undo.
Wittgenstein’s approach to philosophical problems is a piecemeal one, we
are told by the commentators that I have in mind. But what does this mean?
In the passages from McGinn and Goldfarb that I will cite below, we will
encounter two different commentators explaining the sense in which the
expression ‘piecemeal’ does or does not properly apply to early Wittgenstein’s
conception of method in philosophy. In the former of these passages, Marie
McGinn comments on the way in which early Wittgenstein strives not to treat
each of the problems piecemeal; whereas, in the latter, Warren Goldfarb’s
explicates the sense in which Wittgenstein’s practice of philosophical clarification is only properly understood once it is recognized as essentially piecemeal
in character. Thus, on a superficial reading, it might appear that one of these
commentators is concerned to affirm something that the other is concerned
to deny.
The apparent disagreement here might be summed up as follows: Goldfarb thinks early Wittgenstein’s method is piecemeal (whatever that means);
whereas McGinn denies this. I think the disagreement here is merely apparent. But, before I say why, let us see look more closely at why each of these
commentators is drawn to reach for the concept of the piecemeal in their
respective attempts to characterize some aspect of early Wittgenstein’s philosophical procedure. I take it, first of all, that each of them has a hold of an
important part of the truth of Wittgenstein’s philosophy, at this early point in
its development, and, secondly, that it is not easy to keep these two parts of
the truth about Wittgenstein’s early philosophy sufficiently far apart – far
enough apart so that one of these can vary independently of the other over
the course of Wittgenstein’s development.
McGinn’s aim is to try to bring out what is at issue in remarks of Wittgenstein’s, especially in his early Notebooks, in which he speaks of himself as
grappling with “a single great problem”. Here is one such remark:
Don’t get involved in partial problems, but always take flight to where there is a free
view over the whole single great problem, even if this view is still not a clear one.19
_____________
19
Wittgenstein: Notebooks, 1914-1916 (translated by G. E. M. Anscombe), Oxford 1961,
p. 23. The following is a related passage: “The problem of negation, of disjunction, of
From “The Method” to Methods
71
Let me say, first of all, that I agree with McGinn that the aspiration that is
expressed here in the Notebooks is one that continues to shape the conception
of philosophical method at work in the Tractatus. In fact, I wish to argue for
an even stronger claim: namely, that this aspiration – for a single free view
over the whole of philosophy – continues well into the period of work that
people ordinarily think of as belonging to that of the “later” Wittgenstein. I
will also be concerned to argue for two further related claims: (1) that Wittgenstein’s eventual abandonment of this aspiration represents as significant a
development in Wittgenstein’s philosophical trajectory as any that is properly
associated with the break between the Tractatus and the work that Wittgenstein wrote during the first half of the 1930s, and (2) that it represents a shift
in his thinking about the nature of philosophy whose momentousness becomes completely obscured on the standard telling of Wittgenstein’s philosophical development.
Here is how McGinn summarizes what is at issue in the passage from the
Notebooks in question:
Wittgenstein here [in the above passage from Notebooks, 1914-1916, p. 23] instructs
himself not to try to treat each of the problems piecemeal.20
I will return to McGinn’s point here in a moment. But before I do, let us
complete our brief survey of the two different senses in which the expression
‘piecemeal’ can be helpfully employed in the context of elucidating Wittgenstein’s thought. Here is Goldfarb explaining the sense in which the Tractatus is
committed to (to something one might want to call) “a piecemeal approach”
to solving philosophical problems:
The lesson is that “nonsense” cannot really be a general term of criticism. As a general term of criticism, it would have to be legitimized by a theory of language, and
Wittgenstein is insistent that there is no such thing. (“Logic must take care of itself.”)
… Wittgenstein’s talk of nonsense just is shorthand for a process of coming to see
how words fall apart when worked out from the inside. What Wittgenstein is urging is
a case-by-case approach. The general rubric is nothing but synoptic for what emerges
in each case. Here the commonality with his later thought is unmistakeable.21
The sense of ‘piecemeal’ that concerns McGinn – that is, the sense in which
early Wittgenstein’s approach to philosophical problems is anything but
piecemeal – has to do with the unitary character of the method he employs,
that is, with what makes it correct to speak of there being such a thing as the
method of the Tractatus. The sense of ‘piecemeal’ that concerns Goldfarb –
_____________
20
21
true and false, are only reflections of the one great problem in the variously placed
great and small mirrors of philosophy” (Notebooks, 1914-1916, p. 40).
Marie McGinn: Wittgenstein’s Early Philosophy and the Idea of ‘The Single Great Problem’, in:
Alois Pichler / Simo Säätelä (eds.): Wittgenstein: The Philosopher and his Works, op. cit., p.
100.
Goldfarb: Metaphysics and Nonsense, op. cit., p. 71.
James Conant
72
that is, the sense in which early Wittgenstein’s approach to philosophical
problems of necessity requires a case-by-case approach – has to do with the
application of “the method of the Tractatus” to individual philosophical problems, and with why such an application must of necessity be retail, rather than
wholesale.
Let us first explore for a moment this latter sense of the term, in accordance with which early Wittgenstein’s conception of philosophical method can
properly be said to be piecemeal. This requires getting firmly into focus a
critical difference between standard and (what have now become know as)
resolute readings of the Tractatus.
As we saw above, according to standard readers, what the author of that
work, in section 6.54, aims to call upon his reader to do (when he says that
she will understand him when she reaches the point where she is able to
recognize his sentences as nonsensical) is something that requires the reader
of the work first to grasp and then to apply to the sentences of the work a
theory that has been advanced in the body of the work. And, as we also saw, in
order to be able to give content to the idea that we are able to come to grasp
the commitments of such a theory, a commentator must hold that there is a
fairly substantial sense in which we can come to “understand” the sentences
that “explain” the theory, despite the fact we are eventually called upon to
recognize these very same sentences as nonsense. And, finally, as we saw,
resolute readers are committed to rejecting such a reading, in part on account
of some of the consideration above. In the context of summarizing this
aspect of the dispute between standard and resolute readers above, I touched
upon Wittgenstein’s declaration that the kind of philosophy he seeks to
practice in the Tractatus consists not in putting forward a theory, but rather in
the exercise of a certain sort of activity – one of elucidation22; and I remarked
that a core commitment of a resolute reading lies in an insistence upon the
thought that a proper understanding of the aim of the Tractatus depends upon
taking Wittgenstein at his word here.
Peter Hacker is explicit about the fact that a standard reading of the Tractatus requires that one not take Wittgenstein at his word on this point:
To understand Wittgenstein’s brief remarks about philosophy in the Tractatus, it is essential to realize that its practice and its theory are at odds with each other. The official de jure account of philosophy is wholly different from the de facto practice in the
book.23
_____________
23
P. M. S. Hacker: Insight and Illusion, 2nd Edition, Oxford 1986, p. 12.
From “The Method” to Methods
73
What would it be to take Wittgenstein’s remarks about philosophy in the
Tractatus at face value? According to resolute readers, to regard one of the
sentences (of which the body of the book is comprised) to be a rung on the
ladder (that we are asked to climb up and then throw away) is to take it to
belong to this aspect of the task that the author of the work has set us. The
reader reaches a moment in which she understands the author (and what he is
doing with one of his sentences) each time she moves from a state of
appearing to herself to be able to understand one of these sentences to a state
in which it becomes evident to her that her earlier “state of understanding”
was only apparent. This point is reached not through the reader’s coming to
be convinced by an argument that forces her to believe that such-and-such is
the case, say, by convincing her that the sentence fails to meet certain
necessary conditions on sense. (Why should she ever believe the conclusion
of such an argument, if she takes herself still to be able to understand the
sentence in question? As long as she is able to do this, doesn’t she have good
reason to question the premises of the argument?) Rather, the point is
reached, in each case, by her experience of the sentence (and the sort of
understanding it can seem to support) undergoing a transformation. Each
such moment of “understanding the author” involves, in this sense, a change in
the reader. Her sense of the world as a whole, at each such moment, waxes or
wanes, not by her coming to see that p (for some effable or ineffable,
propositional or quasi-propositional p), but rather by her coming to see that
there is nothing of the form ‘that _____’ (of the sort she originally imagined)
to believe. So a point of understanding the author is reached when she arrives
at a moment in her relation to a given form of words when she is no longer
able to sustain her original experience of “understanding the sentence”. The
task of thus overcoming each such particular appearance of sense (that each
such rung on the ladder at first engenders in a reader) is an arduous one. The
form of understanding that is at issue here for resolute readers can only be
attained piecemeal, sentence by sentence.
Since they hold that the Tractatus has no general story about what makes
something nonsense, resolute readers are obliged to hold that these moments
of recognition that a reader is called upon (in section 6.54) to attain must
come one step at a time, in the way that Goldfarb sketches in the quotation
on your handout. This is contrary to the spirit of most standard readings,
according to which there can be a possible moment in a reader’s assimilation
of the doctrines of the book when the theory (once it has been fully digested
by the reader) can be brought simultaneously to bear wholesale on all of the
(putatively nonsensical) propositions that make up the work. According to
such a reading of the Tractatus, once we have equipped ourselves with the
right theory of language, we can determine where we have gone right and
74
James Conant
where we have gone wrong in philosophy, simply by applying the theory to
each of the things we are drawn to say when speaking philosophically.
According to resolute readers, it is a central project of the Tractatus to
criticize just this conception of the role that theory can play in philosophical
clarification – the very conception that standard readers assume lies at the
heart of the book. Equally controversially, according to resolute readers, this
rejection of the understanding of the role of theory in philosophy not only
marks an important point of discontinuity between Wittgenstein’s thought and
that of the philosophical tradition, but it also makes an important point of
continuity between the thought of early and that of later Wittgenstein.
We might sum up the alternative (so-called resolute) view of Wittgenstein
in question here as follows: Wittgenstein, early and late, rejected a wholesale
conception of how progress in philosophy is to be achieved – philosophical
clarity must be won piecemeal, one step at a time – thus not through the
application of a general philosophical account to a class of instances that fall
under the categories catered for by the account, but rather through a
procedure of philosophical clarification that requires the case-by-case
interrogation of genuinely felt individual expressions of philosophical
puzzlement.
The foregoing was my vey brief attempt to summarize (what we might
call) the Goldfarb sense of ‘piecemeal’ – the sense in which, according to
resolute readers, Wittgenstein is committed to a piecemeal procedure in philosophy. Now what about (what we might call) the McGinn sense of ‘piecemeal’?
In the quotation from McGinn above, she comments on the passage
about the Single Great Problem from the Notebooks by saying that Wittgenstein there “instructs himself not to try to treat each of the problems piecemeal”. The first thing we need to see is that what McGinn takes early Wittgenstein to be there instructing himself not to do (in her use of the expression
“treat each of the problems piecemeal”) and what resolute readers (such as
Goldfarb and myself) take early Wittgenstein to be committed to doing (in
their use of the expression “treat each of the problems piecemeal”) are not the
same thing. The ambition touched on in the remark from the Notebooks (the
ambition to attain a view of the problems of philosophy that allows them all
simultaneously to come into view as aspects of “a whole single great problem”)
is an ambition that Wittgenstein takes himself to have realized by the time of
completing the Tractatus. It is tied to the remark in the Preface of the Tractatus
that “the problems have in essentials finally been solved”. The problems have
in essentials been solved because the method of their (dis)solution has been
found. The application of this method to the problems of philosophy (that
require treatment by the method) is for early Wittgenstein, nonetheless, a
piecemeal process in (what I have called) the Goldfarb sense – that is why the
From “The Method” to Methods
75
problems have been solved only in essentials, and not in their details. It is the
latter distinction (between solving the problems in essentials vs. in their details) that mandates the early procedure of piecemeal interrogation of sentences that resolute readers insist upon. This is not to be confused with a
more fundamental distinction in philosophical conception between the methodological monism of the early Wittgenstein (who seeks to present the method of clarification) and the methodological pluralism of the later Wittgenstein (who seeks to present an open-ended series of examples of methods – a
series that can be continued in both unforeseen and unforeseeable ways) –
and that can be broken off at any point. A resolute reader who insists upon
things being piecemeal in the sense that goes with the first of these distinctions need not hold that they are piecemeal in the sense that goes with the
second of these distinctions (and therefore need not deny that there is an
enormous difference in methodological conception between early and later
Wittgenstein). The definite article in the title of my paper “The Method of the
Tractatus” (a paper which, incidentally, insists upon the piecemeal character
of any application of the method) is supposed to mark an important point of
difference between early and later Wittgenstein in this regard.24 A resolute
reader who fails carefully to distinguish these two senses (in which something
about the early method can be said to be “piecemeal”) runs the risk of falling
into thinking that a bare commitment to resolution itself entails a needlessly
severe claim regarding the extent of the continuity that can be found in Wittgenstein’s philosophy.25
The expression ‘piecemeal’ therefore, employed in the Goldfarb sense,
can be a useful locution for marking a profound continuity in Wittgenstein’s
thought that runs from the Tractatus to the end of his philosophical life. And
the expression ‘piecemeal’, employed in the McGinn sense, can be a useful
locution for marking a profound discontinuity in Wittgenstein’s thought. At
what point does this latter break in his conception of philosophy arise?
6. From Methodological Monism to Methodological Pluralism
As I already mentioned that I would tell the host of the imaginary German
television show: I believe that the correct answer to that question is 1937. To
document that claim properly would require going into a level detail that does
_____________
24
25
See: The Method of the Tractatus, in: Reck (ed.): From Frege to Wittgenstein, op. cit. Oxford
2002.
There are such resolute readers around now who take themselves to be in agreement
with my work. They are not.
76
James Conant
not fit well into the genre of an article-length contribution to a volume of
essays. I will therefore confine myself here to an attempt to sketch the larger
framework within which such an investigation would take place.
As I have already in effect indicated above, I do think this much is clear:
whenever exactly that break took place, it has been fully accomplished in the
final version of Part I of Philosophical Investigations. Of particular interest in this
connection is the entire stretch in Philosophical Investigations that runs from §89
to §133. In almost every remark we have some effort on Wittgenstein’s part
to bring his later methods of philosophy into relief by contrasting them with
his earlier conception of the method (cf. §133) of philosophy, and yet numerous local moments of continuity surface within this overarching contrast.
This contrast – between the (early) method and the (later) methods – draws
many of the other points of difference between the early and later philosophies together and, in particular, the difference between the Tractatus’s point
of view on the problems of philosophy (according to which they have in
essentials been solved) and the refusal of such a point of view in the Investigations (in which the essentials can no longer be separated in such a manner
from the details of their treatment). The confidence expressed in the claim (in
the Preface to the Tractatus) that the problems of philosophy have in essentials
been solved is tied to a confidence that, at least in its essentials, the basic outline
of the method for dissolving all such problems has been put been in place.
(This, in turn, is tied to a confidence that there is something which is the logic
of our language – the structure of which can be displayed in a perspicuous
notation.) The Tractatus aims to furnish this basic outline and demonstrate its
worth. Once it has successfully done so, it is now to become clear, in retrospect, that the prior absence of a serviceable method had been the big problem for the early philosophy – for the solution to all other problems had depended on the solution to this one – and now that it has been resolved, they,
are in principle (if not yet in practice) also resolved. This central (apparent)
achievement of the early philosophy, in turn, becomes a central target of the
very late philosophy. The entire stretch in Philosophical Investigations that runs
from §89 to §133 can be read as seeking to expose the latent preconceptions
that allowed early Wittgenstein to imagine that he had done this – that he had
been able to survey the structure of the problems as such and attain a perspective on them from which there could appear to be one big problem that could
admit of an overarching form of solution (at least in its essentials). Yet, at the
same time, there is much of local value in his early conception of clarification
that is to be recovered within this fundamental break with the early conception. Hence, even in the course of this markedly critical sequence of reflections on the relation between the early and later conceptions of philosophical
method, a crisscrossing method of investigation is required – one that denies
nothing of value and recoups each of the gains of the early philosophy, while
From “The Method” to Methods
77
laboring to identify each of the moments in which it oversteps or overreaches. One might think that the question of “the extent of the continuity
and the discontinuity in Wittgenstein’s philosophy” here at issue has primarily
to do with the relation between the author of the Tractatus and the author of
the Investigations. But I think this would be quite mistaken. And the mistake in
question here extends to the scope of the contrast between conceptions of
philosophical method drawn in the last sentence of §133: “There is not a
philosophical method, though there are indeed methods, like different therapies.”26 I do not meant to suggest that it is incorrect to understand the contrast in play here to be one that marks a difference between the Tractarian
methodological conception (the conception of the method) and that of §133
(the conception that there is not one philosophical method, though there are
indeed methods). But one should not conclude on this ground that §133
contains no criticism by Later Wittgenstein of Middle Wittgenstein. For this idea
of “the method” did not immediately die with Wittgenstein’s return to fulltime philosophizing in 1929. §133 is arguably equally concerned to draw a
contrast between the later methodological conception and the very emphatic
views of Middle Wittgenstein. Despite the far-reaching differences in their
respective methodological conceptions, there remains the following important
similarity between Early and Middle Wittgenstein: each believes he has hit
upon the method. One of Middle Wittgenstein’s favorite ways of putting this,
in the context of discussing his “new” method, is to emphasize how philosophy can now become a matter of skillful practice. There can be skillful philosophers as there are skillful chemists, because “a new method” had been
discovered, as happened when chemistry was developed out of alchemy: “The
nimbus of philosophy has been lost. For we now have a method of doing
philosophy… Compare the difference between alchemy and chemistry; chemistry has a method”.27 What matters now is not the truth or falsity of any
specific philosophical results but rather this all-important fact: “a method had
been found”.28 The contrast between there being a philosophical method
(according to Middle Wittgenstein) and there being philosophical methods
(according to Later Wittgenstein) represents an important difference in the
respect in which he thinks philosophy can and should aspire to a form of
maturity – a form of maturity that does, for example, properly characterize
the manner in which an immature discipline (say, chemistry) can be said to
_____________
26
27
28
Wittgenstein: Philosophical Investigations, op. cit., §133.
Ludwig Wittgenstein: Wittgenstein’s Lectures: Cambridge, 1930-1932, edited by Desmond
Lee, Ottawa-New York 1980, p. 21.
Ibid., p. 21.
78
James Conant
have successfully differentiated itself from the form it took in its infancy
through having come to attain a form of maturity marked out by the fact that
the fundamental questions of the discipline are no longer primary concerned
ones of method – a condition, that is, in which the majority of the practitioners, at any given time, are properly able to rest content with a stable conception of the sort of methods appropriate to such a form of inquiry.
It would be a mistake here to think that Middle Wittgenstein here
thought that philosophy should aspire to imitate the method or methods of
science. That would be a misunderstanding of how Wittgenstein viewed philosophy, early, middle, and late. The point is rather that Middle Wittgenstein,
like Early Wittgenstein yearned for the possibility of an overview of the possible forms of difficulty that characterize philosophical problems. In this
respect, a possible (and arguably fantastic) imaginary future state of medicine
might serve as a better analogy here than chemistry. Imagine a future in which
the science of medicine has attained the sort of maturity that Wittgenstein
postulates the science of chemistry can and has, where even once the science
of the possible forms of disease and their possible forms of cure has been
completed, the art of medicine might well persist as a form of craft that cannot itself be reduced to a form of science, even if its instruments of cure rests
on one. What makes this analogy more fitting is the fact that, for the author
of the Tractatus, for example, the provision of a proper Begriffsschrift is the sort
of thing that would, on the one hand, at least implicitly afford an inventory of
all of the possible forms of philosophical confusion, just as the tools it would
afford would provide a complete toolkit for the treatment of those forms of
confusion. Yet its exhaustiveness in these respects would not eliminate the
need for a form of elucidatory craft when it came to the clarification of philosophical problems. So to say that one has attained an overview of all of the
forms of philosophical confusion need to be to deny that, for example, the
discernment of which particular – or which particular combination of –
forms of notation (of the sort that the Tractatus introduces, such as the truthtable notation, the Klammerausdruck notation for generality, the N-operator
notation for the general form of the proposition, etc. for the treatment of
philosophical problems) will be help with this particular philosophical confusion might not be readily apparent, so that such a form of discernment might
well require considerable elucidatory experience, delicacy of judgment, and
philosophical craft. Similarly, even once the right elucidatory tools have been
identified, their application to a particular form of confusion might well be a
piecemeal matter, yielding limited relief and freedom from perplexity at each
step in the process, such that the overall procedure (which aims to make the
problems completely disappear) might require considerable deftness, patience
and art on the part of its practitioner.
From “The Method” to Methods
79
To employ a dangerous (because potentially misleading) analogy: just as
the discovery of all possible medical vaccines and cures for all possible forms
of disease would not necessarily eliminate the art of medicine, since even the
medical practitioner armed with a complete medical toolkit would still require
experience, judgment and medical craft properly to diagnose, treat and, heal
any particular form of illness, so that the true business of medicine must remain a forever piecemeal and unfinished task; so, too, for the author of the
Tractatus, even after the method of philosophy has been discovered (and thus,
in this sense, the problems have been solved in their essentials), the work of
philosophical elucidation – the true business of philosophy – must remain a
forever piecemeal and unfinished task (one which, with respect to its application in detail, must go on indefinitely without ever reaching a final resting
place).
It is this aspect of the methodological aspiration of the Tractatus that remains very much alive in Middle Wittgenstein, so that what is at issue here is
arguably the central difference in the thought of (what we might call) the
Early Later Wittgenstein and the Later Later Wittgenstein. Thus it would be a
mistake to think that §133 (in its denial that there is “a philosophical
method”) is primarily concerned to draw a contrast between the “early” view
(where early = Tractatus) and the “later” view (where later = Investigations). It is
worth noting in this connection that the predecessor version of §133 in The
Big Typescript is missing the last sentence (about there not being a philosophical method, but rather different methods).29 Yet much of §133 as we find it
in the Investigations is already in The Big Typescript, and is clearly concerned with
drawing contrasts between the author’s (i.e., Middle Wittgenstein’s) conception of philosophy and that of the Early Wittgenstein.
We here stand at the threshold of a broader inquiry. In order to see how
the point just made about §133 represents only the tip of a larger iceberg of
forms of revision in Wittgenstein’s texts – forms of revision that themselves
are symptomatic of a sea-change in his conception of philosophical method –
what one would need to do is to investigate the detailed ways in which entire
stretch in Philosophical Investigations that runs from §89 to §133 involves a careful rewriting of the chapter on Philosophy in The Big Typescript, so as to purge
of it of its commitment to the idea that the method has been found once and
for all (so that the problems of philosophy are of such a sort that the essentials of their solution allow for a sort of discovery that can be separated from
the messy details of their treatment) and thus that – even though much work
remains for individual practitioners of the subject to – the nimbus of philosophy has been lost once and for all (for philosophy has now been reduced to a
_____________
29
Ludwig Wittgenstein: The Big Typescript (translated by C. G. Luckhardt and M. A. E.
Aue), Oxford 2005, p. 316.
80
James Conant
craft of applying a set of tools whose fundamental nature and character have
been successfully identified and supplied). It this conception of what he seeks,
in seeking the method of philosophy, that Wittgenstein finally came to abandon in Norway in 1937.
On later later Wittgenstein’s conception, the treatment of philosophical
problems can no longer be separated in this way from a continuing exploration of the fundamental character of philosophy itself – which is to say that
philosophy can never lose its nimbus while remaining philosophy. The forms
of creativity required for the discovery of fruitful methods in philosophy and
the forms of creativity required for the fruitful application of such methods to
particular problems of philosophy are recognized by later later Wittgenstein as
two aspects of a single task, each of which requires an unending cultivation of
the latter.
A careful examination of the relevant differences between §89 to §133 of
Philosophical Investigations and the chapter on Philosophy in The Big Typescript
nicely brings out one aspect of the way in which the break with the Tractatus
was a graduated one, that was distributed over widely dispersed junctures in
his philosophical development. Here we see two crucial steps coming one
after the other. Middle Wittgenstein (who still thought there was one method)
thought that Early Wittgenstein had been confused (in thinking that it was
possible to solve all the problems at once by solving them in essentials). Yet
Later Wittgenstein (who thinks there can only be methods) thinks Middle
Wittgenstein is still confused in his criticisms of Early Wittgenstein (i.e., he
has unwittingly preserved an essential feature of the metaphysics of the Tractatus). This shows how, as a matter of historical fact, the process of purging
himself of the unwitting metaphysical commitments of the Tractatus is one that
unfolded for Wittgenstein, over the course of his own philosophical development, in (what we might call) a “piecemeal” manner– in yet a third application of that term to Wittgenstein’s philosophy. In this third application of the
term, what is at issue is not some particular aspect of Wittgenstein’s conception of philosophical method, but rather the shifts that the various aspects of
that conception undergo over time. What I hope to have begun to make plausible in this paper is that a proper and careful telling of that tale is a delicate
and difficult matter and one which has still gone largely untold.
„Die Wahrheit verträgt kein Mehr oder Minder“
Geert Keil
Den Satz von Frege, den ich für den Titel meines Beitrags ausgeliehen habe,
könnte man für ein philosophisches Glaubensbekenntnis halten. Als einem
solchen könnte man ihm die Bemerkung Adornos zur Seite stellen, in der
Philosophie sei die halbe Wahrheit schon die ganze Unwahrheit. Und wem
Adorno keine Autorität ist, der mag an Matthäus 5, 37 denken: „Deine Rede
aber sei: Ja, ja; nein, nein. Was darüber ist, das ist vom Übel“.
All das meint Frege nicht. Es geht ihm nicht um die Tugend der eindeutigen Rede oder um einen Rat an die Philosophen, sich nicht mit Halbwahrheiten zufriedenzugeben. Es geht ihm schlicht darum, was Wahrheit ist. Lässt
sich das Prädikat „ist wahr“ abstufen, oder ist Wahrsein eine Entweder-oderAngelegenheit?
Frege selbst ist der Auffassung, dass mit der Rede von mehr oder minder
Wahrem das Wahrheitsprädikat missbraucht wird. Dieser Auffassung war
schon Aristoteles und mit ihm die Mehrheit der Philosophen, die über diesen
Gegenstand nachgedacht haben. Auch die klassische Logik und die meisten
Bedeutungstheorien basieren auf dieser Annahme: Eine wohlgeformte Aussage, die überhaupt wahrheitsfähig ist, ist entweder wahr oder falsch. Den
Entweder-oder-Charakter der Wahrheit drücken drei eng verwandte logische
Prinzipien aus, das Bivalenzprinzip, das Tertium non datur und der Satz vom Widerspruch. Über die Unterschiede zwischen diesen drei Prinzipien ist viel Tinte
vergossen worden. Ich behelfe mich mit den folgenden Standarderläuterungen:
(i) Das Bivalenzprinzip sagt, dass alle Aussagen wahrheitswertdefinit, nämlich
entweder wahr oder falsch sind. Es verbietet Wahrheitswertlücken und lässt
als Wahrheitswerte nur „wahr“ und „falsch“ zu.
(ii) Der Satz vom ausgeschlossenen Dritten behauptet die Allgemeingültigkeit des
Aussageschemas P oder non-P. Mit anderen Worten: Jede Aussage der Form
P ¬P ist logisch wahr. Aristoteles drückt das Prinzip so aus, dass es zwischen den beiden Gliedern eines Widerspruches nichts Drittes oder Mittleres
geben könne (Met. 1011b).
82
Geert Keil
(iii) Der Satz vom (ausgeschlossenen) Widerspruch besagt, dass eine Aussage und
ihre kontradiktorische Negation nicht zugleich wahr sein können, oder dass
keine Aussage zugleich wahr und falsch sein kann: ¬ (P ¬P).
Mit welchem oder welchen dieser drei Prinzipien steht die Rede von halbwahren oder annähernd wahren Aussagen in Konflikt? Am offensichtlichsten
konfligiert die Annahme von Wahrheitsgraden mit dem Bivalenzprinzip. Dass
Wahrheitsfähiges nur einen der beiden Wahrheitswerte „wahr“ oder „falsch“
annehmen kann, scheint eine Aussage über den Wahrheitsbegriff selbst zu
sein, oder über die Natur der Wahrheit. Mit dem Satz vom ausgeschlossenen
Dritten, so könnte man argumentieren, konfligiert die Annahme von Wahrheitsgraden mittelbar. In diesem Prinzip wird zwar über die Natur der Wahrheit nichts explizit behauptet, doch der Wahrheitsbegriff, und anscheinend
der klassische zweiwertige, wird in ihm bereits verwendet. Im Tertium non datur
würde demnach die Zweiwertigkeit unterstellt, während sie im Bivalenzprinzip behauptet wird.
Die Formulierung des Bivalenzprinzips, dass es neben den beiden klassischen Wahrheitswerten keinen weiteren gebe, ist auslegungsbedürftig. Unvereinbar mit dem Bivalenzprinzip ist die Auffassung, dass es einen dritten Wahrheitswert gibt. Ob die in einigen dreiwertigen Logiken vorkommende Zuweisung „weder wahr noch falsch“ als dritter Wahrheitswert zählen sollte, ist
umstritten. Man könnte argumentieren, dass die Zuweisung “’neither true nor
false’ no more signifies a third truth value […] than ’either true or false’
does”.1 In diesem Fall widerspricht sie dem tertium non datur, nicht aber dem
Bivalenzprinzip.
Das Prinzip, dass die Wahrheit kein Mehr oder Minder verträgt, hat keinen eigenen Namen. Man könnte es das Prinzip vom kategorischen, absoluten,
nichtgradualen oder nichtabstufbaren Charakter der Wahrheit nennen.
(iv) Das Prinzip vom nichtabstufbaren Charakter der Wahrheit: Wahrsein lässt
keine Abstufungen zu. Was wahr ist, ist ganz wahr. „Was nur halb wahr ist, ist
unwahr. Die Wahrheit verträgt kein Mehr oder Minder.“2
Indem das Nichtabstufbarkeitsprinzip weitere Wahrheitswerte neben „wahr“
und „falsch“ verbietet, ist es in das Bivalenzprinzip eingeschlossen. Nun
könnte, wer eine Aussage „annähernd wahr“ nennen, sich aber nicht mit
Frege anlegen möchte, argumentieren, er habe nicht den zusätzlichen Wahrheitswert „annähernd wahr“ zugeschrieben, sondern den gewöhnlichen Wert
„wahr“ nur mit Abstrichen zugeschrieben. Das Weitere wäre dann jenseits
der Wahrheitstheorie in einer Logik des Zuschreibens oder Zutreffens zu
_____________
1
2
Wolfgang Künne: Conceptions of Truth, Oxford 2003, S. 352.
Gottlob Frege: Der Gedanke. Eine logische Untersuchung [1918], in: ders.: Logische Untersuchungen, hrsg. von Günther Patzig, Göttingen 1966, S. 30-53, hier: S. 32.
„Die Wahrheit verträgt kein Mehr oder Minder“
83
klären. Diesen Weg, der weitgehend analoge Probleme aufwirft, werde ich
hier nicht weiterverfolgen.
Wenn das Nichtabstufbarkeitsprinzip ein Spezialfall des Bivalenzprinzips
ist, sind alle Argumente für Wahrheitsgrade zugleich solche gegen Bivalenz.
Umgekehrt spricht aber nicht alles, was gegen Bivalenz spricht, auch für
Wahrheitsgrade. Ich werde den Unterschied zwischen beiden Prinzipien immer dort vernachlässigen, wo er für die Argumentation keine Rolle spielt.
Wie gesagt: Die meisten Philosophen, die über Wahrheit nachgedacht haben, sind der Auffassung, dass die Rede von mehr oder minder Wahrem das
Wahrheitsprädikat missbraucht. Und selbst diejenigen, die dieser Auffassung
widersprechen, finden auf Nachfrage meistens, dass sie damit die Sache richtig sehen und die anderen falsch. Sie bestreiten das Nichtabstufbarkeitsprinzip
oder das Bivalenzprinzip rundheraus und sagen nicht etwa, dass die Wahrheit
darüber in der Mitte liege. Nehmen sie damit in Anspruch, was sie bestreiten?
Nicht zufällig spielen elenktische Argumente und Selbstwiderlegungsargumente seit Aristoteles eine besondere Rolle in Diskussionen über die
fraglichen Prinzipien.
Aber Aristoteliker und Fregeaner haben kein Copyright auf den Wahrheitsbegriff. Die Alltagssprache kennt eine ganze Reihe von Wendungen, in
denen das Wahrheitsprädikat anders zu funktionieren scheint. Man spricht
von „Halbwahrheiten“, man spricht davon, der Wahrheit „näherzukommen“.
Man sagt, dass eine Lehre „ein Körnchen Wahrheit“ enthalte, dass sie „eher
wahr“ sei oder „eher falsch“, oder davon, dass die Wahrheit „in der Mitte“
liege. Alle diese Redeweisen scheinen Wahrheit zu einer Sache des Grades zu
machen. Jeder, der mit Frege die Auffassung verteidigt, dass die Wahrheit
kein Mehr oder Minder verträgt, sollte etwas zu diesen verbreiteten Redeweisen zu sagen haben. In der Philosophie möchten – oder sollten! – wir
schließlich denjenigen Wahrheitsbegriff analysieren, den wir tatsächlich besitzen und verwenden, und nicht ein neues, stipulativ definiertes Wahrheitsprädikat einführen.
Die philosophische Standardauffassung und die Art, wie wir im Alltag oft
über Wahrheit reden, passen offenkundig nicht zusammen. Die Wahrheit
über etwas kann nicht zugleich eine Entweder-oder-Sache und eine Mehroder-weniger-Sache sein. Ein überzeugter Nichtgradualist könnte diese Spannung freilich so kommentieren, dass außerhalb des Philosophischen Seminars
häufig Unsinn geredet werde. Doch diese Reaktion käme einer philosophischen Arbeitsverweigerung gleich. Mit etwas hermeneutischer Caritas lässt
sich den gradualen Redeweisen durchaus ein Sinn abgewinnen. Es gibt offensichtlich Phänomene, denen mit der gradualen Rede über Wahrheit Rechnung
getragen werden soll.
Welches sind diese Phänomene? Einen ersten Hinweis gibt die aus dem
forensischen Kontext bekannte Aufforderung, die ganze Wahrheit und nichts als
Geert Keil
84
die Wahrheit zu sagen. Ich erinnere mich, schon als kleiner Junge gefunden zu
haben, dass die Tugend der Wahrheitsliebe durch die zweite Hälfte der Formel hinreichend ausgedrückt sein sollte. Nichts als die Wahrheit zu sagen
kann man guten Gewissens versprechen. Wer nichts als die Wahrheit sagen
möchte, darf nichts Falsches sagen. Genaugenommen kann man nur versprechen, nichts zu sagen, was man für falsch hält, aber über den Unterschied
zwischen Wahrheit und Wahrhaftigkeit wird außerhalb der Philosophie oft
hinweggegangen.3 Die ganze Wahrheit zu sagen erscheint dagegen als ein nachgerade frivoles Ansinnen. Was soll das sein, die ganze Wahrheit über etwas?
Wann wäre dieses Ziel erreicht? Austin nennt „die Wahrheit, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit etwa über die Schlacht bei Waterloo oder
über Botticellis Primavera“ ein „trügerisches Ideal“.4 Auch beim frühen Wittgenstein findet sich der Gedanke einer vollständigen, nichts auslassenden
Beschreibung der Wirklichkeit. Er steht im Kontext seiner Version des logischen Atomismus, in der atomare Tatsachen und entsprechende Elementarsätze angenommen werden, so dass gilt: „Die Angabe aller wahren Elementarsätze beschreibt die Welt vollständig“.5 Diese Vollständigkeit der Beschreibung wird bei Wittgenstein aber nur stipuliert. Was in der Beschreibung überhaupt vorkommen kann, wird durch die Wahl des Notationssystems eingeschränkt, und wie man feststellen könnte, dass nichts ausgelassen wurde,
erklärt Wittgenstein nicht.6
Bei näherem Nachdenken gehört die Rede von der ganzen Wahrheit wohl
nicht in den Kontext der Bivalenz- oder der Gradierungsdebatte. Plausiblerweise geht es hier um eine quantitative Beurteilung von Wahrheiten über einen
Gegenstand, und da scheint es durchaus ein Mehr oder Minder zu geben. Ob
man Wahrheiten zählen kann und wie, sind schwierige Fragen, aber unstrittig
kann man einen Gegenstand oder einen Sachverhalt mehr oder weniger umfassend beschreiben, mehr oder weniger genau, mehr oder weniger facettenund implikationsreich. Wer vor Gericht aufgefordert wird, die ganze Wahrheit
über etwas zu sagen, soll nicht nur nichts Falsches sagen, er soll darüber hinaus nichts verschweigen, was potentiell relevant sein könnte – insbesondere
nichts, was die Sache in ein neues Licht rücken könnte. Er soll den Hörern
_____________
3
4
5
6
Innerhalb der Philosophie ebenfalls, wie das fehlbenannte Lügnerparadoxon zeigt:
Beim „lügenden“ Kreter geht es um die Wahrheit des Gesagten, nicht um die Aufrichtigkeit des Sprechers.
John L. Austin: Wahrheit [1950], zitiert nach: Gunnar Skirbekk (ed.): Wahrheitstheorien,
Frankfurt a. M. 1977, S. 226-245, hier: S. 237.
Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus, in: Schriften Bd. 1, Frankfurt a. M.
1960, Satz 4.26.
Vgl. dazu die erhellenden Ausführungen von Hans Julius Schneider in ders.: Ein
›Rätsel des Bewusstseins‹ – für wen?, in: W.-J. Cramm / G. Keil (eds.): Der Ort der Venunft
in einer natürlichen Welt, Weilerswist 2008, S. 88-102, hier: S. 90-95.
„Die Wahrheit verträgt kein Mehr oder Minder“
85
ermöglichen, sich ein möglichst vollständiges und unverzerrtes Bild vom
Tatgeschehen und seinen Umständen zu machen.
Nehmen wir um des Argumentes willen an, dass es Mengen von Wahrheiten gibt, die sich quantitativ vergleichen lassen. Dieser Mengenvergleich
verlangt kein gradiertes Wahrheitsprädikat. Wenn man mehr Wahres sagt, sagt
man dadurch nicht Wahreres. Entsprechend erfordern auch die „Halbwahrheiten“ und „Teilwahrheiten“, von denen im politischen Diskurs oft die Rede
ist, etwa bei Dementis mit kunstvollen Auslassungen, nicht die Annahme von
Wahrheitsgraden. Die Einsicht, dass „die ganze Wahrheit“ über eine Sache
ein unerreichbares Ideal ist, lässt sich ohne Abstufung des Wahrheitsprädikats
ausdrücken. Dass man schwerlich die ganze Wahrheit über etwas sagen kann,
bedeutet nicht, dass das, was man sagen kann, immer nur annähernd wahr
wäre. Insbesondere Kohärenztheoretiker der Wahrheit neigen dazu, beides zu
verwechseln.7
Es wäre ein großer Klärungsfortschritt, wenn man auch die anderen angeführten Redeweisen – wie „Annäherung an die Wahrheit“ und „Halbwahrheit“ – in einer Weise interpretieren könnte, die mit dem Nichtabstufbarkeitsprinzip vereinbar ist. Poppers Theorie der „Annäherung an die
Wahrheit“ läuft in der Sache auf eine quantitative Einschätzung hinaus.
„Wahrheitsähnlich“ („verisimilar“) ist für Popper eine Theorie, die einen
hohen Wahrheitsgehalt hat. Diesen bestimmt er als die Menge aller wahren
Aussagen, die sich aus der Theorie herleiten lassen.8 Allgemein bemerkt der
Linguist Pinkal zu den alltagssprachlichen Belegen für ein gradiertes Wahrheitsprädikat:
Man muß mit diesen Belegen vorsichtig sein, weil sie keineswegs nur zur Charakterisierung von Wahrheitsgraden dienen. Sie können z. B. auf den ›Wahrheitsgehalt‹
komplexer Äußerungen (grob gesagt, das Verhältnis von wahren zu unzutreffenden
Einzelinformationen) zielen.9
Mein Beitrag hat ein doppeltes Ziel: erstens einen nichtgradualen Wahrheitsbegriff so weit wie möglich zu verteidigen, zweitens zu zeigen, worin das
begrenzte Recht der gradualen Redeweisen besteht.10 Man wird den nicht_____________
7
8
9
10
Dies tun beispielsweise B. Blanshard und H. H. Joachim. Vgl. dazu Künne: Conceptions
of Truth, a. a. O., S. 386 f.
Vgl. Poppers (nie gehaltenen) Vortrag: Wahrheit, Rationalität und das Wachstum der
wissenschaftlichen Erkenntnis [1960], in ders.: Vermutungen und Widerlegungen 1, Tübingen
1994, S. 312-365.
Manfred Pinkal: Logik und Lexikon – Die Semantik des Unbestimmten, Berlin-New York
S. 1985, 134.
Man verzeihe mir die unübliche und unschöne Rede von einem „nichtgradualen“
Wahrheitsbegriff. Nahe läge die Bezeichnung „absoluter Wahrheitsbegriff“, aber da
Absolutismen jedweder Art in der Gegenwartsphilosophie in geringem Ansehen stehen, möchte ich diesen Ausdruck vermeiden. Um ihn hier in geklärter Form ins Spiel
zu bringen, wäre zunächst der Gemeinplatz, es gebe keine absolute Wahrheit, einer
Geert Keil
86
gradualen Wahrheitsbegriff nur dann überzeugend verteidigen können, wenn
man auch den legitimen Ort der gradualen Redeweisen bezeichnet – auf dass
das Wahrheitsprädikat nicht mit Problemen belastet werde, die andernorts
gelöst werden müssen. Insbesondere werde ich am Schluss des Beitrags zu
zeigen versuchen, dass das Problem der semantischen Vagheit keinen abgestuften Wahrheitsbegriff erfordert. An manchen Stellen wird meine Verteidigung
auch das Bivalenzprinzip umfassen. Ich lege aber Wert auf die Feststellung,
dass damit kein Votum zur Zulässigkeit der Zuweisung „weder wahr noch
falsch“ verbunden ist. Wenn diese Zuweisung ohnehin nicht als dritter Wahrheitswert zählt (s. o.), ist dieser Hinweis überflüssig. Ob das Zulassen von
Aussagen, die weder wahr noch falsch sind, nun gegen das Bivalenzprinzip
verstößt oder nicht, solche Aussagen erfordern jedenfalls kein graduales
Wahrheitsprädikat.11 Mein Kritikziel in diesem Aufsatz sind die Halbwahrheiten, nicht die Weder-wahr-noch-Falschheiten.
Herausforderungen für das Nichtgraduierbarkeitsund das Bivalenzprinzip
Welches sind die Phänomene, die ein nichtgraduales Wahrheitsprädikat und
das Bivalenzprinzp herausfordern? In der Philosophie und der Linguistik hat
sich eine Handvoll von üblichen Verdächtigen angesammelt.
Gelegentlich werden Aussagen angeführt, die sich aus irgendeinem
Grund nicht verifizieren lassen. Auf diese Fälle werde ich hier nicht eingehen,
weil der Nichtgradualist hier mit Recht anführen kann, dass sie nur für einen
epistemischen Wahrheitsbegriff ein Problem darstellen, also für einen, der
Wahrheit an gerechtfertigte Behauptbarkeit bindet. Legt man einen realistischen Wahrheitsbegriff zugrunde, wie ich in diesem Aufsatz, so folgt aus der
Unmöglichkeit, die Wahrheit einer Proposition festzustellen, niemals, dass sie
keinen Wahrheitswert hat.12
_____________
11
12
sinnkritischen Analyse zu unterziehen. Eine erste Sichtung der Belege zeigt, dass mit
dem Gemeinplatz in der Regel eine (krude) erkenntnistheoretische Behauptung aufgestellt wird, keine wahrheitstheoretische.
Auch Frege ist kein kompromissloser Bivalentist, denn er hält ja „Odysseus wurde tief
schlafend in Ithaka an Land gesetzt“ für weder wahr noch falsch. Vgl. Gottlob Frege:
Über Sinn und Bedeutung, in ders.: Funktion, Begriff, Bedeutung, hrsg. von G. Patzig, Göttingen 1962, S. 32.
Ein realistischer Wahrheitsbegriff, der unerkannte und möglicherweise unerkennbare
Wahrheiten zulässt, steht für einige Autoren in engem Zusamenhang mit dem Bivalenzprinzip. Nach Dummett ist das Bivalenzprinzip das Signum des Realismus, und
für Quine sind unerkennbare Wahrheiten der Preis für die Aufrechterhaltung der
Zweiwertigkeit. Vgl. Michael Dummett: Truth and Other Enigmas, London 1978, S. 145-
„Die Wahrheit verträgt kein Mehr oder Minder“
87
Mit den „üblichen Verdächtigen“ meine ich vielmehr Gebilde, deren
Wahrheitsfähigkeit in Frage steht, obwohl sie die Form grammatisch wohlgeformter Aussagesätze haben bzw. durch solche ausgedrückt werden.13 Folgende Phänomene gehören zu dieser Klasse:
– Sätze mit nichterfüllten Präsuppositionen, beispielsweise Kennzeichnungen mit leeren Singulärtermen („Die gegenwärtige Königin von Italien ist blond“)
– Paradoxe Sätze, darunter die semantischen Antinomien („Ich sage immer die Unwahrheit“)
– Sätze mit Kategorienfehlern („Caesar ist eine Primzahl“)
– Sätze über die kontingente Zukunft („Morgen wird eine Seeschlacht
stattfinden“)
– Sätze, die metaphorische Prädikationen enthalten
– Sätze, die vage Ausdrücke enthalten
– Moralische Urteile
– Ästhetische Urteile
– ? ? ? 14
Schnell wird klar, dass nicht alle Herausforderungen für das Bivalenzprinzip
auch solche für das Nichtgraduierbarkeitsprinzip sind. Den meisten der Sorgenkinder wäre mit dem Zulassen von Wahrheitsgraden nicht geholfen. Sie
verlangen andere Lösungen wie einen präzisierten Begriff der Wohlgeformtheit oder die Unterscheidung verschiedener Arten der Negation. Im Einzelnen und in der gebotenen Kürze:
Sätze mit nichterfüllten Existenzpräsuppositionen werden von Russell als falsch
angesehen, während sie für Frege und Strawson weder wahr noch falsch sind
(Strawson: „The question does not arise“). In singulären Kennzeichnungen
wird nach Russells Analyse die Existenz des gekennzeichneten Gegenstands
mit ausgesagt, während Strawson und die an ihn anschließenden neueren linguistischen Präsuppositionstheorien das Präsupponieren vom Aussagen und
Behaupten unterscheiden.
Für kategorienfehlerhafte Prädikationen wird vorgeschlagen, sie in die Klasse
der nicht wohlgeformten Sätze abzudrängen, die als nicht wahrheitsfähige
nicht unter das Bivalenzprinzip fallen. Dafür ist ein Begriff der Wohlgeformtheit erforderlich, der über syntaktische Korrektheit hinausgeht. Ohnehin
erscheint vielen Linguisten die scharfe Unterscheidung zwischen syntaktischer
_____________
13
14
165, bes. S. 155 (möglicherweise spricht Dummett an dieser Stelle auch vom Tertium
non datur); W. v. O. Quine: What Price Bivalence?, in ders.: Theories and Things, Cambridge,
Mass. 1981, S. 31-37, hier: S. 32.
Das Schwanken zwischen „Satz“ und „Urteil“ in der Liste wird unten kommentiert.
Weitere in jüngerer Zeit diskutierte Kandidaten sind Wahrscheinlichkeitsurteile, Wissenszuschreibungen und fiktionale Sätze.
Geert Keil
88
und semantischer Korrektheit als eine Idealisierung. Chomsky hat „Grade der
Grammatikalität“ vorgeschlagen, je nachdem, welche Subkategorisierungsund Selektionsregeln verletzt werden.
Metaphern sind nach Goodman „kalkulierte Kategorienfehler“. Von vielen
metaphorischen Sätzen wird man aber sagen müssen, dass sie in wörtlicher
(Fehl-)Interpretation durchaus nicht kategorial absurd sind, sondern schlicht
falsch, und dass erst ihre eklatante Falschheit Anlass dazu gibt, nach einer
metaphorischen Interpretation zu suchen. Für den Absurditätsgrad spielt
offenbar der kategoriale Abstand zwischen Subjekt- und Prädikatausdruck
eine Rolle. Dieser ist bei „Caesar ist eine Primzahl“ größer als bei „Fritz ist
ein Fuchs“ oder bei „Alle Männer sind Schweine“. Deshalb hebt beim Caesar-Satz die Negation „Caesar ist keine Primzahl“ die kategoriale Absurdität
nicht auf, während „Fritz ist kein Fuchs“ in wörtlicher Interpretation schlicht
wahr ist. Ob der kommunikative Erfolg metaphorischer Äußerungen zur
Annahme einer eigenen „metaphorischen Wahrheit“ nötigt, ist umstritten.
Wenn man wie Goodman eine metaphorische Wahrheit annimmt, erscheinen
Metaphern als ein Spezialfall von Ambiguität: Mit einem und demselben Satz
(„Alle Männer sind Schweine“) wird in wörtlicher Interpretation eine trivial
falsche, in metaphorischer Interpretation eine in ihrem Wahrheitswert zumindest umstrittene Aussage gemacht. Dagegen schlagen pragmatische Metapherntheorien metaphorische Äußerungen den indirekten Mitteilungen zu
und suchen ihren kommunikativen Erfolg durch einen Griceschen Mechanismus zu erklären.
Für die semantischen Antinomien erscheint das Verfahren des Abdrängens in
den Bereich der syntaktisch oder semantisch nicht wohlgeformten Sätze wenig aussichtsreich. Ein Satz wie »Ich sage immer die Unwahrheit« ist nicht nur
auf den ersten Blick, sondern auch auf den zweiten noch wohlgeformt. Durch
Typentheorien werden antinomieerzeugende Prädikationen verboten, doch
diesem Zug wird mit Recht entgegengehalten, dass das gewöhnliche Wahrheitsprädikat den Lügnersatz nun einmal zulässt.
Spätestens an dieser Stelle müssen wir uns der bisher ignorierten Frage
der Wahrheitswertträger zuwenden: Von was für Gebilden sagt man überhaupt, dass sie wahr oder falsch sind? In der Liste der Sorgenkinder war
mehrheitlich von Sätzen die Rede, aber vieles spricht dafür, nicht Sätze, sondern das jeweils mit ihnen Ausgesagte als Wahrheitswertträger anzusehen,
also die ausgedrückte Proposition. Für den terminus technicus „Proposition“ halten weder die deutsche noch die englische Sprache ein unzweideutiges Äquivalent bereit. Frege spricht eigenwillig von „Gedanken“, Künne behilft sich
mit „thinkables and sayables“.15
_____________
15
Vgl. Künne: Conceptions of Truth, a. a. O., bes. S. 249-269.
„Die Wahrheit verträgt kein Mehr oder Minder“
89
Zwei einschlägige Argumente für Propositionen als primäre Wahrheitswertträger sind, dass man mit zwei verschiedenen Sätzen ein und dieselbe
Wahrheit ausdrücken kann, so mit einem deutschen Satz und seiner englischen Übersetzung. Umgekehrt kann ein und derselbe Satz, wenn er indexikalische Ausdrücke enthält, bei zwei verschiedenen Gelegenheiten verwendet
werden, um einmal etwas Wahres, ein andermal etwas Falsches zu sagen.
Wenn man nun statt den Satz das mit ihm jeweils Ausgesagte als Wahrheitswertträger ansieht, wird man von einigen unserer Sorgenkinder sagen können,
dass der fragliche Satz gar keine Proposition ausdrückt: nichts, was Wahrheitsbedingungen hätte, keine mögliche Weise, wie die Dinge sich verhalten.
Es ist vorgeschlagen worden, diese Überlegung auch auf die semantischen
Antinomien anzuwenden.
Dass in den meisten Einträgen der Liste aus Traditionsgründen von Sätzen die Rede war, ist also kein Plädoyer dafür, Sätze als Wahrheitswertträger
anzusehen. Vielmehr scheint für einige der aufgelisteten Phänomene zu gelten, dass sie nur solange Sorgenkinder sind, als man sie als Sätze auffasst.
Offenbar sind nicht alle Sätze geeignet, eine Proposition und damit etwas
Wahrheitsfähiges auszudrücken. Was aber kein Wahrheitswertträger ist, ist
auch keine Herausforderung für das Bivalenz- und das Nichtabstufbarkeitsprinzip.
Bei den kontingenten Wahrheiten über die Zukunft gibt es eine zusätzliche
Komplikation, die allein durch die Wahl von Propositionen als Wahrheitswertträger nicht ausgeräumt wird. Die Frage, ob es „jetzt schon“ wahr sei,
dass morgen eine Seeschlacht stattfindet, unterstellt, dass Wahrsein eine in der
Zeit erwerb- oder verlierbare Eigenschaft von Propositionen ist. Diese Unterstellung könnte falsch sein. Dem Eternalismus zufolge ist Wahrsein eine unverlierbare Eigenschaft von Propositionen. Was sich mit der Zeit wandelt, seien
Kenntnis oder Behauptbarkeit, aber nicht die Wahrheit der Proposition. Ein
Eternalist sollte deshalb Fragen nach „jetzt schon“ oder „noch nicht“ Wahrem nicht zu beantworten suchen, sondern kühlen Blutes als kategorial verwirrt zurückweisen. Zeitindikatoren können Äußerungen qualifizieren, aber
keine Wahrheitswertträger.
Moralische Urteile werfen für das Bivalenzprinzip nur dann Probleme auf,
wenn der moralische Realismus falsch ist. Realisten halten moralische Urteile
schlicht für wahrheitsfähig. Alternativen dazu sind der Emotivismus und der
Expressivismus (solche Urteile brächten Gefühle oder subjektive Einstellungen zum Ausdruck), der Präskriptivismus (sie beschrieben nicht, sondern
empföhlen Handlungen) und der moralische Relativismus (ihr Wahrheitswert
variiere mit Sprecher und Kontext). Die relativistische Lösung wird auch für
ästhetische Urteile vorgeschlagen. Für Geschmacksurteile mit geringem kognitiven Gehalt bietet sich der Phänomenalismus als Alternative an, demzu-
Geert Keil
90
folge das Geschmacksurteil „Rhabarber schmeckt gut“ elliptisch für „Rhabarber schmeckt mir gut“ verwendet wird.
Natürlich gibt es für alle hier angedeuteten Lösungen Alternativvorschläge. Was als Herausforderung für das Nichtabstufbarkeitsprinzip in jedem
Fall übrig bleiben wird, ist das Phänomen der semantischen Vagheit. Viele Prädikate der natürlichen Sprache sind vage, lassen also Grenzfälle zu. Wie viele
Sandkörner bilden einen Haufen, wie viele Resthaare darf jemand haben, um
als glatzköpfig zu zählen, wo geht rot in orange über? Liegt es nicht überaus
nahe, angesichts eines Grenzfalls von „Haufen“ die Aussage „Dies ist ein
Sandhaufen“ nur halbwahr, approximativ wahr oder mit Abstrichen wahr zu
nennen? Der Klärung dieser Frage dient der Rest des Beitrags.
Freges Einwand gegen graduale Wahrheit
Zunächst ist noch Freges Begründung dafür nachzureichen, dass das Wahrheitsprädikat kein Mehr oder Minder zulasse. Sie findet sich in der folgenden
berühmten Passage aus „Der Gedanke“:
[W]as nur halb wahr ist, ist unwahr. Die Wahrheit verträgt kein Mehr oder Minder.
Oder doch? Kann man nicht festsetzen, daß Wahrheit bestehe, wenn die Übereinstimmung in einer gewissen Hinsicht stattfinde? Aber in welcher? Was müßten wir
dann aber tun, um zu entscheiden, ob etwas wahr wäre? Wir müßten untersuchen, ob
es wahr wäre, daß – etwa eine Vorstellung und ein Wirkliches – in der festgesetzten
Hinsicht übereinstimmten. Und damit ständen wir wieder vor einer Frage derselben
Art, und das Spiel könnte von neuem beginnen. So scheitert dieser Versuch, die
Wahrheit als eine Übereinstimmung zu erklären. So scheitert aber auch jeder andere
Versuch, das Wahrsein zu definieren. Denn in einer Definition gäbe man gewisse
Merkmale an. Und bei einer Anwendung auf einen besonderen Fall käme es dann
immer darauf an, ob es wahr wäre, daß diese Merkmale zuträfen. So drehte man sich
im Kreise.16
Frege kommt es in dieser Passage auf mehrere Dinge an. Er behauptet (i),
dass es mehr oder minder Wahres nicht geben könne, dass (ii) die Rede von
partieller oder aspektueller Übereinstimmung und (iii) letztlich von Übereinstimmung überhaupt unbrauchbar sei, dass (iv) das Wahrheitsprädikat
schlechterdings undefinierbar sei, was er (v) mit einem Regress- oder Zirkelargument zu erweisen sucht. Zu jeder dieser Behauptungen gibt es eine ausgedehnte Literatur.
Es ist nicht ganz klar, wie in der zitierten Passage die Ablehnung von
Wahrheitsgraden mit der Kritik am Kriterium der „Übereinstimmung in einer
gewissen Hinsicht“ zusammenhängt. Um beim Thema zu bleiben, hätte Frege
_____________
16
Gottlob Frege: Der Gedanke. Eine logische Untersuchung [1918], a.a.O., S. 30-53, hier: S.
32.
„Die Wahrheit verträgt kein Mehr oder Minder“
91
von einer annähernden Übereinstimmung sprechen müssen. Im Umkreis der zitierten Passage findet sich ein Hinweis. Frege stellt dort der Aussagenwahrheit
die bildliche Darstellung gegenüber, bei der man durchaus von einer größeren
oder geringeren Übereinstimmung, Ähnlichkeit oder Wiedergabetreue sprechen kann.17 Aber Wiedergabetreue ist eben nicht Wahrheit. Bilder machen
keine Aussagen und können deshalb, beiseite bemerkt, auch nicht lügen. Bilder können falsche Überzeugungen induzieren, aber sie tun es nicht dadurch,
dass sie falsche Aussagen machen.
Damit ist nicht gesagt, dass die abstufbaren Eigenschaften der Wiedergabetreue und der Ähnlichkeit keinerlei Analogon auf der Seite sprachlicher
Repräsentationen hätten. Auch wenn eine Aussage nicht mehr oder minder
wahr sein kann, scheinen sich doch ihr Informationsgehalt und ihre Genauigkeit abstufen zu lassen. An anderer Stelle habe ich dazu einen Vorschlag gemacht, der auf einer Übertragung der Eigenschaft des optischen Auflösungsvermögens auf sprachliche Repräsentationen beruht.18
Freges Hauptargument gegen die Definierbarkeit von Wahrheit als partieller oder aspektueller Übereinstimmung besteht darin, dass er den Verfechter eines solchen Wahrheitsbegriffs in einen Regress verwickelt. Er gesteht
ihm um des Argumentes willen einen Begriff der Wahrheit als „Übereinstimmung in einer gewissen Hinsicht“ zu und wendet ein, dass man dann wiederum entscheiden müsse, ob die Übereinstimmung in der fraglichen Hinsicht
besteht. Dies wäre aber wieder eine Entweder-oder-Frage, denn man möchte
_____________
17
18
Vgl. ebd., S. 33. Wie Bilder lassen sich auch geometrische Figuren nach dem Grad
ihrer Ähnlichkeit vergleichen. Diesen Umstand nutzt der Wissenschaftstheoretiker
Peter Smith, um der Rede von der „approximativen Wahrheit“ einen physikalischen
Sinn abzugewinnen. Es gelte: „a dynamical theory is approximately true just if the
modelling geometric structure approximates (in suitable respects) to the structure of
the modelled: a basic case is where trajectories in the model closely track trajectories
encoding physical real behaviors.” Eine entsprechende physikalische Theorie ist also
annähernd wahr, wenn die berechnete Kurve nahe an der tatsächlichen Bahnkurve
liegt; vollständige Wahrheit wäre Kongruenz beider Kurven. Peter Smith: Approximate
Truth, in: ders.: Explaining Chaos, Cambridge 1998, S. 71-90, hier: S. 73.
Den Begriff der „partial truth“ verteidigen mit wissenschafts- und modelltheoretischen Argumenten Newton C. A. da Costa und Steven French (Science and Partial
Truth. A Unitary Approach to Models and Scientific Reasoning, Oxford-New York 2003).
Wissenschaftliche Überzeugungen als „partially true only” anzusehen, so die Autoren,
„fully captures the vagueness, uncertainty, and fallibility of a scientist’s doxastic attitude” (S. 77). Wie schon die heterogene Konjunktion „vagueness, uncertainty, and fallibility“ vermuten lässt, bleibt im Plädoyer von Costa und French wahrheits- und bedeutungstheoretisch vieles im Vagen und im Argen.
Wenn der Grundschullehrer im Unterricht den Satz „Frankreich ist sechseckig“ äußert, legt er einen niedrigen Auflösungsgrad des Prädikats „sechseckig“ zugrunde. Nur
deshalb kann er mit dem Satz etwas Wahres sagen. Vgl. Keil: Über die deskriptive Unerschöpflichkeit der Einzeldinge, in: G. Keil / U. Tietz (eds.): Phänomenologie und Sprachanalyse,
Paderborn 2005, S. 83-125, hier: S. 99-104.
Geert Keil
92
ja wissen, so Frege, „ob es wahr wäre“, dass die besagte Übereinstimmung
vorliegt. Freges Einwand ist in Aristoteles’ Argument für den Satz vom ausgeschlossenen Dritten vorgebildet. Im Buch Gamma der Metaphysik führt
Aristoteles als einen Grund dafür, dass es „das Mittlere zwischen den beiden
Gliedern des Widerspruches“ nicht geben kann, an, dass man dann ja das
Mittlere selbst wieder bejahen oder verneinen können müsste, und das müsste
„ins Unendliche fortgehen“, so dass man am Ende „nicht nur das Anderthalbfache der seienden Dinge erhalten würde [sc. neben dem Wahren und
dem Falschen noch das Mittlere], sondern noch mehr“.19
Der Regresseinwand20 ist für unseren Zusammenhang einschlägig. Er
lässt sich auch gegen die Idee einer approximativen Wahrheit ins Feld führen:
Es soll also annähernd wahr sein, dass etwas sich so und so verhält. Ist das
nun wenigstens wahr, dass es annähernd wahr ist, oder ist es wieder nur annähernd wahr? Führt man in der Objektsprache Wahrheitsgrade oder -approximationen ein, so braucht man in der Metasprache ein sprachliches Mittel, um
deren Bestehen zu behaupten.21 Früher oder später, so scheint es, brauchen
wir ein Wahrsein simpliciter, eben einen nichtgradualen Wahrheitsbegriff –
eher früher als später, denn die natürliche Sprache zeichnet sich ja dadurch
aus, dass sie ihre eigene Metasprache enthält. Leider verschwinden durch dieses bestechend einfache Argument die Phänomene nicht, denen die Annahme
von Wahrheitsgraden Rechnung tragen soll. Das einschlägigste dieser Phänomene ist das der semantischen Vagheit.22
_____________
19
20
21
22
Aristoteles: Metaphysik IV, 7, 1011b S. 29-30 und 1012a S. 9-15.
In der Frege-Philologie gibt es eine subtile Debatte darüber, ob Frege seinem Gegner
an dieser Stelle einen Regress oder einen Zirkel vorwirft. Zum Überblick vgl. Ulrich
Pardey: Freges Kritik an der Korrespondenztheorie der Wahrheit, Paderborn 2004; sowie
Künne: Conceptions of Truth, a. a. O., S. 129-133.
Diese Überlegung entspricht allerdings nicht mehr ganz Freges Argument. Für Freges
Regresseinwand scheint weniger die Nichtgradierbarkeit als vielmehr die Primitivität
des Wahrheitsprädikats entscheidend zu sein, also dessen Zutreffen unabhängig von
definierenden relationalen Merkmalen. In folgender Präzisierung bin ich Christian
Nimtz verpflichtet: Frege argumentiert in der zitierten Passage gegen drei Varianten
der Korrespondenztheorie, (a) gegen vollkommene Übereinstimmung, (b) gegen
Übereinstimmung in einem bestimmten Grade, (c) gegen Übereinstimmung in einer
bestimmten Hinsicht. Gegen (a) argumentiert Frege, dass vollkommene Übereinstimmung Identität impliziere, gegen (b), dass die Wahrheit kein Mehr oder Minder
vertrage, gegen (c) mit dem Zirkel- oder Regressargument, das er zu einem Argument
gegen die Definierbarkeit des Wahrheitsprädikats überhaupt ausbaut.
Die folgenden Überlegungen sind genauer ausgeführt in meinem parallel erscheinenden Aufsatz: Halbglatzen statt Halbwahrheiten. Über Vagheit, Wahrheits- und Auflösungsgrade,
in: Adolf Rami (ed.): Realismus, Wahrheit und Existenz, Heusenstamm 2010.
„Die Wahrheit verträgt kein Mehr oder Minder“
93
Warum semantische Vagheit keine Wahrheitsgrade erfordert
Ein vages Prädikat, so heißt es, zieht keine scharfe Grenze zwischen den
Dingen, auf die es zutrifft und denen, auf die es nicht zutrifft. Es lässt Grenzfälle zu. Wie viele Resthaare darf jemand haben und wo, um als „glatzköpfig“
zu gelten, wo geht „rot“ in „orange“ über, wo verläuft die Grenze zwischen
„gesund“ und „krank“, wann ist jemand „groß“? Semantische Vagheit ist
nicht nur ein notorisches Problem für das Bivalenzprinzip, sondern auch für
das Prinzip, dass die Wahrheit kein Mehr oder Minder verträgt. Vagheit ist
dasjenige unter unseren Sorgenkindern, für das ein graduales Wahrheitsprädikat am ehesten Abhilfe verspricht. Wenn man zeigen könnte, dass nicht einmal das Phänomen der Vagheit Wahrheitsgrade erfordert, hätte man etwas
Interessantes gezeigt.
Aus der Perspektive des Sprechers äußert sich semantische Vagheit in der
Unsicherheit, in welchen Fällen das Prädikat anzuwenden ist und in welchen
nicht. Als definierendes Merkmal von Vagheit gilt weiterhin, dass diese Unsicherheit nicht durch Kenntnis empirischer Tatsachen beseitigt werden kann.
Dies drückt die vielzitierte Arbeitsdefinition von Grice aus:
To say that an expression is vague […] is presumably, roughly speaking, to say that
there are cases (actual or possible) in which one just does not know whether to apply
the expression or to withhold it, and one’s not knowing is not due to ignorance of the
facts.23
Unter „Vagheit“ verstehe ich hier die Randbereichsunschärfe von Prädikaten, also
diejenige semantische Unbestimmtheit, die das Sorites-Paradox erzeugt, indem sie die schrittweise Ausdehnung des Anwendungsbereichs eines Prädikats von unkontroversen Fällen über kontroverse bis hin zur Absurdität erlaubt oder zu erlauben scheint.
Vagheit ist zunächst einmal ein unleugbares Phänomen. Viele, wenn nicht
alle Prädikate der natürlichen Sprache sind in unterschiedlichem Ausmaß
randbereichsunscharf. Das Phänomen der Vagheit wird unter bestimmten
Bedingungen zum Problem. Freilich gibt es nicht das Vagheitsproblem, sondern
eine ganze Reihe davon. Wenn im Folgenden vom Vagheitsproblem im Singular die Rede ist, meine ich die Herausforderung, die sich aus dem Phänomen der semantischen Vagheit für das Bivalenz- und/oder das Nichtgradierbarkeitsprinzip der Wahrheit ergibt.
Frege behauptet in der zitierten Passage die Nichtgradierbarkeit ausschließlich für das Wahrheitsprädikat und nicht für die übrigen Prädikate
einer Sprache. Andernorts fordert er allerdings, Begriffe müssten „scharf
_____________
23
H. P. Grice: Studies in the Ways of Words, Cambridge, Mass.-London 1989, S. 177.
Geert Keil
94
begrenzt sein“.24 Unscharf begrenzte Begriffe würden nämlich über SoritesSchlüsse die Herleitung von Falschem erlauben. Anders gewendet: Nur auf
scharf begrenzte Begriffe ließen sich die logischen Gesetze überhaupt anwenden. Noch anders gewendet: „Das Gesetz des ausgeschlossenen Dritten ist ja
eigentlich nur in anderer Form die Forderung, dass der Begriff scharf begrenzt sei.“25 Eine unscharfe Begriffsgrenze ist nach Frege überhaupt keine
Grenze, ein unscharf begrenzter Begriff strenggenommen kein Begriff. Wittgenstein hat dem widersprochen und sinngemäß kommentiert, dass wir die
Grenzen jeweils so scharf zögen wie für den Kommunikationszweck erforderlich.26
Doch vielleicht gibt es eine Möglichkeit, beiden Recht zu geben, Frege
hinsichtlich des Wahrheitsprädikats und Wittgenstein hinsichtlich seines Lobs
der semantischen Unschärfe. Ich behaupte, dass man das nichtabstufbare
Wahrheitsprädikat und das Bivalenzprinzip verteidigen kann, ohne zu leugnen, dass es allgemein gute Gründe für die Gradierung von Prädikaten geben
mag. Am Beispiel des Sandhaufens: Man kann die Unsicherheit, ob „Sieben
Sandkörner bilden einen Haufen“ wahr ist, entweder dem Begriff des Haufens anlasten oder dem der Wahrheit. Vernünftigerweise wird man ersteres
tun, aber jedenfalls nicht beides zugleich. Es wäre widersinnig, das Problem
der Vagheit an beiden Fronten zugleich anzugehen, also durch eine Semantik,
die unscharfe oder gradierte Prädikatausdrücke zulässt und durch die Rede
von „annähernd“, „ein bisschen“ oder „ziemlich“ wahren Aussagen. Es besteht hier nachgerade ein inverser Zusammenhang: Je mehr Abstufungen
oder semantische Unschärfe wir in den restlichen Prädikaten einer Sprache
zulassen, desto weniger sind wir genötigt, am Wahrheitsprädikat zu manipulieren. Das ist ein Vorteil, denn früher oder später brauchen wir, wie die Argumente von Aristoteles und Frege zeigen, einen kategorischen Begriff des
Wahrseins oder des Zutreffens auf etwas.
Den Regresseinwand gegen die Abstufung des Wahrseins einer Aussage
oder des Zutreffens eines Prädikats möchte ich noch einmal auf eigene Rechnung paraphrasieren: Wenn auch nur die Fragen sinnvoll bleiben sollen, ob
eine Aussage wahr ist oder ob ein Prädikat auf einen Gegenstand zutrifft,
dann darf man nicht zugleich die Begriffe des Wahrseins und des Zutreffens
selbst gradieren. Man darf an der Intension von „Wahrsein“ und „Zutreffen“
nicht herumbasteln, um im Einzelfall deren Extension problematisieren zu
können, d.h. um die Frage, ob ein vages Prädikat auf einen gegebenen Fall
zutrifft oder nicht, sinnvoll stellen zu können.
_____________
24
25
26
Vgl. Gottlob Frege: Grundgesetze der Arithmetik II, a. a. O., S. 69 (§ 56); vgl. §§ 57-58, 62
und 65.
Ebd., S. 69 (§ 56).
Vgl. Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, in: ders.: Schriften Bd. 1, a.a.O., §§ 68-79.
„Die Wahrheit verträgt kein Mehr oder Minder“
95
Verfechter mehrwertiger Logiken sehen es anders, denn sie nehmen Zutreffens- oder Wahrheitsgrade an. Mehrwertige Logiken und Semantiken sind
ein naheliegender Vorschlag zum Umgang mit dem Vagheitsproblem. Nun
liegt es auf der Hand, dass die bloße Einführung eines dritten Wahrheitswerts
für das Vagheitsproblem nur einen bescheidenen Fortschritt darstellt. Weist
man Grenzfällen den Wahrheitswert „unbestimmt“, „halbwahr“ o. ä. zu, so
ergibt sich das Problem der höherstufigen Vagheit. Schon die vortheoretische
Rede von Grenzfällen und Grau- oder Übergangszonen wirft dieses Problem
auf. Führt man zwischen den Prädikaten „rot“ und „gelb“ oder zwischen
„rot“ und „orange“ eine Übergangszone ein, so stellt sich die Frage, wo genau
sie beginnt und endet. Auch die Extensionen der Prädikate „Grenzfall“ und
„Grauzone“ scheinen unscharf begrenzt zu sein. Das bedeutet aber, dass das
ursprüngliche Problem vervielfacht wird, denn mit der Frage, wo die Grauzone beginnt und wo sie endet, sind zwei Abgrenzungsprobleme entstanden,
wo zuvor nur eines war. Sainsbury kommentiert den Zug des Einführens von
Grenzfällen treffend: „You do not improve a bad idea by iterating it“.27
Besser geeignet erscheinen mehrwertige Logiken, die nicht drei, sondern
unbegrenzt viele Wahrheitswerte annehmen. Das bekannteste Beispiel ist die
von Zadeh 1965 vorgeschlagene „fuzzy logic“, die die beiden Wahrheitswerte
„wahr“ und „falsch“ durch ein Spektrum von Graden des Wahrseins bzw. des
Zutreffens von Prädikaten ersetzt.28 Motivieren lassen sich unendlichwertige
Logiken durch den Umstand, dass es zwischen Rot und Orange oder zwischen schütterem und vollem Haar kontinuierliche Übergänge gibt.
Auf den zweiten Blick hat die Modellierung kontinuierlicher Übergänge
durch fein abgestufte Wahrheitswerte große Nachteile. Ist es wirklich eine
gute Idee, einer Aussage wie „Peter hat volles Haar“ einen Wahrheitswert von
beispielsweise 0,43 zuzuschreiben? Ein einschlägiger Einwand besagt, dass
solche Wahrheitswertzuweisungen eine Scheingenauigkeit erzeugen, die über
alle verfügbaren Belege und Sprecherüberzeugungen hinausgeht. Pinkal nennt
dies das „Problem der intuitiv unhaltbaren Überpräzisierung“: „Wie soll man
entscheiden, ob ein bestimmter – einfacher oder komplexer – Satz 0.72 oder
0.73 oder auch 0.82 ‚wahr’ ist?“29 Kein Sprecher kann für typische Fälle vager
Prädikationen die genauen Zutreffens- oder Wahrheitsgrade angeben. Tut er
es dennoch, haben die Zuweisungen etwas Beliebiges. Mit Blick auf dieses
Problem hat Ulrich Blau sein „Vagheitsdilemma“ formuliert: „Wollen wir die
klassische Logik anwenden, so sind wir zu einem unsinnig scharfen Schnitt
gezwungen“; führen wir hingegen zwischen wahr und falsch weitere Wahrheits_____________
27
28
29
Mark Sainsbury: Concepts Without Boundaries, in: R. Keefe / P. Smith (eds.): Vagueness.
A Reader, Cambridge, MA 1996, S. 251-264, hier: S. 255.
Lotfi A. Zadeh: Fuzzy Sets, in: Information and Control 8 (1965), S. 338-353.
Pinkal: Logik und Lexikon, a. a. O., S. 133 und S. 132.
96
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werte ein, so wird die Klassifikation immer schärfer und am Ende „zu scharf,
also wieder willkürlich“.30
Summarische Urteile über die verschiedenen Reaktionen auf das Vagheitsproblem – Epistemizismus, mehrwertige Logiken, Kontextualismus,
Supervaluationismus – verbieten sich hier. Wenn mit „dem Vagheitsproblem“
die Frage gemeint ist, an welcher Stelle einer Sorites-Schlusskette wir unser
Urteil ändern und warum, helfen die sprachphilosophischen Standardtheorien
der Vagheit nicht weiter. Keine von ihnen löst das Problem, dass sich auch
für einen präzisierten Ausdruck stets wieder Grenzfälle finden lassen, also
Gegenstände am Rand der Extension, auf die der Ausdruck weder eindeutig
zutrifft noch eindeutig nicht zutrifft. Wer den Kern des Vagheitsproblems in
der Nichteliminierbarkeit von Grenzfällen erblickt, wird vermutlich lange
nach einer Lösung suchen.
Grenzen ziehen, wo noch keine gezogen sind
Die Frage, an welcher Stelle in einer Sorites-Reihe Zutreffen in Nichtzutreffen übergeht, ist keine gute Frage. Sie leistet dem semantizistischen Mythos
Vorschub, Prädikate hätten für ihre eigene Anwendung zu sorgen. Schon die
übliche Definition von Vagheit – vage Prädikate seien solche, die keine scharfe Grenze im Anwendungsbereich ziehen – befördert den Semantizismus.
Geboten ist demgegenüber, von vornherein die Sprecher und ihre Fähigkeiten
ins Spiel zu bringen. Die Prädikate ziehen keine scharfe Grenze? Das Grenzenziehen ist eine Leistung von Sprechern. Wir benutzen sprachliche Mittel,
um bestimmte Unterscheidungen zu treffen, um auf Gegenstände Bezug zu
nehmen oder sie allererst zu individuieren, um etwas von ihnen auszusagen
und unsere Hörer das jeweils Ausgesagte erkennen zu lassen. Wie viele Sandkörner für einen Haufen erforderlich sind, wird durch das Prädikat „Haufen“
in der Tat nicht festgelegt. Dass der generelle Term „Haufen“ eine unscharf
begrenzte Extension hat, hat zur Folge, dass er sprachrichtig zur Bezeichnung
von Ansammlungen verschiedener Größe verwendet werden kann. Da nun
Ansammlungen in beliebig feinen Abstufungen vorkommen können, wird
früher oder später ein Fall eintreten, in dem ein Sprecher unsicher ist, ob eine
fragliche Ansammlung noch unter das Prädikat „Haufen“ fällt.
Was an dieser Unsicherheit misslich ist, versteht sich nicht von selbst.
Misslich wäre, wenn aus ihr ein Verständigungsproblem erwüchse. Misslich
wäre insbesondere, wenn die Unsicherheit die Ressourcen oder die Fähigkeit
des Sprechers beeinträchtigte, seine Hörer das jeweils Gemeinte erkennen zu
lassen.
_____________
30
Ulrich Blau: Die dreiwertige Logik der Sprache, Berlin 1978, S. 28.
„Die Wahrheit verträgt kein Mehr oder Minder“
97
Beziehen wir an dieser Stelle Wittgensteins pragmatische Einwände gegen
Freges Forderung nach scharf begrenzten Begriffen ein:
Frege vergleicht den Begriff mit einem Bezirk und sagt: einen unklar begrenzten Bezirk könne man überhaupt keinen Bezirk nennen. Das heißt wohl, wir können mit
ihm nichts anfangen. – Aber ist es sinnlos zu sagen: »Halte dich ungefähr hier auf!«?
Was ist noch ein Spiel und was ist keines mehr? Kannst Du die Grenzen angeben?
Nein, Du kannst welche ziehen: denn es sind noch keine gezogen. (Aber das hat dich
noch nie gestört, wenn du das Wort »Spiel« angewendet hast.)
Wie gesagt, wir können – für einen besonderen Zweck – eine Grenze ziehen. Machen
wir dadurch den Begriff erst brauchbar? Durchaus nicht! Es sei denn, für diesen besonderen Zweck.31
Hervorhebung verdienen die letzten vier Worte: Wir können für einen besonderen Zweck eine Grenze ziehen, wo noch keine gezogen war. Brauchbar war der
Ausdruck schon als unscharf begrenzter. Dass das Grenzenziehen eine
menschliche Tätigkeit ist und also uns Sprechern obliegt, ist eine hilfreiche
Erinnerung wider den semantizistischen Mythos. Es bedeutet aber nicht, dass
vorab überhaupt noch keine Grenzen gezogen wären. Eine Entgegensetzung
von durch die Sprache selbst und durch Sprecher gezogenen Grenzen wäre
irreführend, denn der Zustand einer natürlichen Sprache geht auf kollektive
Leistungen früherer Sprechergemeinschaften zurück. Der sprachliche Sinn
von Prädikaten, wie er in Bedeutungswörterbüchern erläutert wird, ist ein
geronnenes Ergebnis ungezählter vergangener kommunikativer Handlungen.
Dieses Ergebnis limitiert, was wir mit unseren Worten meinen können. Ein
Sprecher kann seine Worte nicht Beliebiges bedeuten lassen. Allerdings
schießt nicht nur Humpty Dumpty über das Ziel hinaus, sondern auch seine
sich auf Wittgenstein berufenden konventionalistischen Kritiker. „Rot“ zu
sagen und „blau“ damit zu meinen ist nicht ganz einfach, doch in besonderen
Kontexten mag es mithilfe flankierender Maßnahmen gelingen.
Wenn die semantische Vagheit von Prädikaten zu Verständigungsproblemen zu führen droht, kann der Sprecher die Grenzen „für diesen besonderen
Zweck“ schärfen. Diese Operation der semantischen Schärfung wird in Supervaluationstheorien der Vagheit sowie in der linguistischen „Präzisierungssemantik“32 beschrieben. Was in einer gegebenen Verwendungssituation
vom Sprecher geschärft wird, ist allerdings nicht der sprachliche Sinn des
fraglichen Ausdrucks. Der Sinn (die lexikalische Bedeutung) beispielsweise
des Wortes „Haufen“ bleibt unverändert und steht in anderen Kontexten weiterhin für abweichende Präzisierungen oder für gewünscht unscharfe Verwendungen zur Verfügung.
_____________
31
32
Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, a. a. O., § 71, 68 und 69.
Vgl. Pinkal: Logik und Lexikon, a. a. O., S. 160-206.
Geert Keil
98
Entsprechende Kontextwechsel können sich blitzschnell vollziehen. Ein
Beispiel: Während einer Operation gibt der Chirurg das Skalpell mit der Bemerkung „Stumpf!“ an seinen Assistenten zurück. Der Assistent reicht das
Messer an die OP-Schwester weiter und sagt „Vorsicht, scharf!“33 Beide Sprecher mögen Recht haben. Binnen Sekunden hat eine Kontextverschiebung
stattgefunden, die den zugrunde gelegten Auflösungsgrad der Prädikate
„stumpf“ und „scharf“ verändert hat. Ein Instrument, das nicht scharf genug
zum Operieren ist, kann immer noch scharf genug sein, um sich daran zu verletzen. Durch die Berücksichtigung des Auflösungsparameters lässt sich erklären, warum die Vagheit von Prädikaten die Wahrheitsfähigkeit vieler Aussagen, die mithilfe dieser Prädikate gemacht werden, nicht gefährdet. So vage
die generellen Terme „scharf“ und „stumpf“ auch immer sein mögen, die
jeweiligen Adressaten sind im gegebenen Fall durchaus in der Lage, die beiden
Wahrheiten zu erkennen, die der Chirurg und sein Assistent ihnen mit den
Stummelsätzen „Stumpf!“ und „Vorsicht, scharf!“ mitgeteilt haben.
Sprecher verfügen über mannigfache Mittel, Prädikate wie „Haufen“,
„scharf“ oder „Glatze“ zu präzisieren oder zu gradieren. Wir können den
Grad des Haarverlustes einer Person so genau charakterisieren, wie es jeweils
nötig ist. Manchmal führen wir ein neues Prädikat ein, zum Beispiel „Halbglatze“. Wenn die verfügbaren Prädikate nicht ausreichen und es zu aufwendig erscheint, ad hoc neue einzuführen, gibt es eine weitere Methode der Wahl,
nämlich das Bilden komparativer Prädikate wie „größer als“ oder „mehr als“.
Zwei Sandhaufen oder Haaransammlungen lassen sich nach dem Mehr oder
Weniger ordnen, und diese Ordnung ist eine bestimmte, eindeutige, selbst
wenn die Ansammlungen sich nur um ein einziges Element unterscheiden.
Wir können als ultima ratio beide Ansammlungen zählen, und es ist dann
wahr simpliciter und nicht cum grano salis, dass die eine Ansammlung, sei sie ein
Haufen oder nicht, größer ist als die andere. Zumindest in einigen Fällen
scheint es also gerade die Möglichkeit des expliziten, gegebenenfalls numerischen oder metrischen Gradierens von Prädikaten zu sein, die ein nichtgraduales Wahrheitsprädikat zu bewahren und die Rede von approximativ
wahren Aussagen zu vermeiden hilft. In nuce: Da es Halbglatzen gibt, muss
es nicht auch noch Halbwahrheiten geben.
Das Grenzenziehen ist eine Leistung von Sprechern und das gegebenenfalls erforderliche Präzisieren ebenfalls. Kein Bedeutungswörterbuch und
keine Bedeutungstheorie kann Sprachbenutzern diese Leistungen abnehmen.
An diesen Umstand zu erinnern ändert nichts am Phänomen der Vagheit, hilft
aber bei der Eingrenzung der daraus entstehenden Probleme. In einer natür_____________
33
Das Beispiel stammt von Crispin Wright: Intuitionism, Realism, Relativism and Rhubarb,
in: P. Greenough / M. P. Lynch (eds.): Truth and Realism, Oxford 2006, S. 38-60, hier:
S. 53.
„Die Wahrheit verträgt kein Mehr oder Minder“
99
lichen Sprache können Sprecher beliebig viele und beliebig feine semantische
Unterscheidungen treffen.34 Wir können stets noch spezifischer werden,
wenn es darauf ankommt. Dabei wird die erreichbare Genauigkeit einer Beschreibung durch den Umstand, dass die verwendete Sprache vage Prädikate
enthält, nicht vermindert. Wenn es darauf ankommt, können Sprecher zwei
Sandansammlungen, die nur um ein einziges Korn differieren, voneinander
unterscheiden, denn Körner lassen sich zählen. Aber meistens kommt es
nicht darauf an, und darum bleibt der Ausdruck „Haufen“ brauchbar.
Bei all dem kann das Wahrheitsprädikat zweiwertig bleiben, feiner abgestuft oder höher aufgelöst werden im Bedarfsfall allein die restlichen Prädikate. Das bivalenzskeptische Motiv, dass die bunte und unermesslich fein
abgestufte Vielfalt des Seienden in verpixelten Schwarzweißbildern nur unvollkommen repräsentiert wird, verdient Sympathie. Nur haben die Freunde
der Wahrheitsgrade das falsche Mittel gewählt. Es ist nichts gegen die Rede
einzuwenden, dass eine präzisere oder höher aufgelöste sprachliche Darstellung eine Welt größeren Detailreichtums erschließt oder uns mehr von der Welt erkennen
lässt. Wahrer werden unsere Aussagen dadurch nicht. Die Wahrheit verträgt
kein Mehr oder Minder.35
_____________
34
35
Vgl. dazu Andreas Kemmerling: The Philosophical Significance of a Shared Language, in:
Ralf Stoecker (ed.): Reflecting Davidson, Berlin-New York 1993, S. 85-116, hier: S. 105 f.
Hans Julius Schneider wird nicht entgangen sein, dass auch dieser Beitrag eine religionsphilosophische Implikation besitzt. Mir ist sie durch ein Aperçu von Matthias
Beltz deutlich geworden: „Die einen sagen, dass Gott existiert, die andern, dass Gott
nicht existiert. Die Wahrheit wird, wie so oft, in der Mitte liegen.“
Ein Arbeitsprogramm, kein Abgesang
Wittgensteins grammatische Methode als Verfahren
experimentellen Denkens1
Birgit Griesecke / Werner Kogge
1. Triste Therapie – Wittgenstein im New Wittgenstein
In den Jahren seiner Umorientierung von der logischen Architektonik des
Tractatus zum grammatischen Sprachspieldenken der Philosophischen Untersuchungen äußert Wittgenstein, dass die Philosophie, so wie er sie jetzt vorführe,
nicht einfach ein weiteres Stadium im Rahmen einer „stetigen Fortentwicklung“2 sei, sondern ein „Knick“ in der „Entwicklung des menschlichen Denkens“, vergleichbar dem, was geschah, als Galileo die Dynamik ersann oder
aus der Alchemie die Chemie zum Vorschein kam: Eine „neue Methode“ sei
gefunden worden, und „geschickte Philosophen“ könnten nun – so gut wie
„geschickte Chemiker in ihrem Metier“ – (s)eine Methode zur Anwendung
bringen.
Bemerkenswert in dieser Einlassung vor seinen Studenten und Kollegen
in Cambridge ist das Zusammenspiel eines eminenten Selbstbewusstseins, mit
dem hier eine sich gerade erst entwickelnde Methode als philosophische Methode
in die Reihe bedeutender wissenschaftlicher Umwälzungen eingeschrieben
wird, mit der Rede von einem „Knick“ (nicht von einem Sprung oder einer
Revolution), die fast konterkarierend wirken könnte. Wie ist das zu verstehen?
‚Geknickt’ wird der Nimbus hochindividuellen genialischen Denkens, das den
tiefsten Beunruhigungen und Verwirrungen der Menschen mit der philosophischen Suche nach den tiefsten Gründen zu begegnen trachtet; ‚geschickt’
(„skilful“) wird eine methodisch erneuerte Philosophie daran gehen können,
_____________
1
2
Es handelt sich um die aktualisierte Fassung eines im August 2005 fertiggestellten
Textes.
Dieses und die folgenden Zitate stammen aus einem Referat über Wittgensteins
Vorlesungen, das George E. Moore auf Grundlage seiner Mitschriften angefertigt hat:
George E. Moore: Wittgenstein’s Lectures in 1930-33, in: ders.: Philosophical Papers, London 1959, S. 252-324, hier S. 322. Vgl. dazu auch: P.M.S. Hacker: Wittgenstein im Kontext der analytischen Philosophie, Frankfurt a. M. 1997, S. 162.
Birgit Griesecke / Werner Kogge
102
begriffliche Konfusionen in Ordnung zu bringen und auf diesem Weg die
durch falsche Fragestellungen, metaphysische Hoffnungen, fahrlässige Terminologie entstandenen Beunruhigungen zu kurieren.
Dass diese durchgreifende Tätigkeit des Aufräumens eine methodisch angeleitete ist, bricht nicht nur mit der herkömmlichen philosophischen Exklusivität, sondern auch mit der zählebigen Idee, dass die Philosophie – von
Anmaßung getrieben, von Selbstzweifeln gepeitscht – wenn sie nur ausdauernd genug nach den letzten Dingen sucht, diese eines Tages auch in Letztgültigkeit vor uns hinstellen wird und damit ihre Aufgabe zufrieden stellend
gelöst sein könnte. Die Philosophie, die Wittgenstein seit den frühen 1930er
Jahren verficht, operiert offenbar nicht länger in diesem Horizont: Wenn sie
sich ihrem Auftrag, die ganze Sprache zu „durchpflügen“3, stellt, so geht es
nicht um eine vielleicht sehr langwierige, aber letztlich doch teleologisch motivierte Sinnsuche, „sondern es wird jetzt an Beispielen eine Methode gezeigt,
und die Reihe dieser Beispiele kann man abbrechen/ kann abgebrochen werden.“4 „Kann abgebrochen werden“ heißt nicht: „wird an ihr Ende kommen“, sondern, dass es im Kreuz und Quer durch die Verstellungen der Sprache immer wieder andere, in sich begrenzbare Aufgabenfelder geben wird:
Die Unruhe in der Philosophie kommt daher, daß die Philosophen die Philosophie
falsch ansehen, falsch sehen, nämlich gleichsam in (unendliche) Längsstreifen zerlegt,
statt in (endliche) Querstreifen. Diese Umstellung der Auffassung macht die größte
Schwierigkeit. Sie wollen also gleichsam den unendlichen Streifen erfassen, und klagen, daß dies nicht Stück für Stück möglich ist“5
Der philosophische ‚Knick’ steht also offenbar für das Ende von philosophischen Höhen- oder Tiefflügen (eine Frage der Perspektive), für das Ende von
„turbulenten Mutmaßungen und Erklärungen“6, und eben nicht für das Ende
der Philosophie; die ‚neue Methode’ steht für eine immer wieder ansetzende
Arbeit an sprachlichen Verwirrungen, nicht dafür, das Philosophische ein für
allemal zu überwinden .
Gerade dies jedoch, dass in Wittgensteins philosophische Arbeiten, in die
vermeintliche Begrenztheit ihrer Aufgabenstellung, eine Selbstabschaffung
der Philosophie eingeschrieben sein könnte, legen mehr oder minder offensiv
die Interpretationen nahe, die das therapeutische Motiv in Wittgensteins
Selbstdarstellung forcieren. Diese Deutungsrichtung, die sich unter dem Titel
‚New Wittgenstein’ um Cora Diamond und James Conant zu einer Art Schule
formierte, aber auch außerhalb davon in den letzten Jahren an Boden gewon_____________
3
4
5
6
Vgl. Ludwig Wittgenstein: The Big Typescript. Wiener Ausgabe Bd. 11, Wien 2000, S.
290.
Ebd.
Ebd.
Ebd.
Ein Arbeitsprogramm, kein Abgesang
103
nen hat7, behauptet, dass Wittgensteins philosophisches Bemühen eigentlich
nur darauf gerichtet gewesen sei, uns die Einsicht nahezubringen, dass Aussagen, zu denen wir in der Philosophie neigen, unsinnig sind, weil sie auf der
illusorischen Annahme eines sprachexternen Standpunkts beruhen.8 Wittgensteins Methode bestünde demnach vornehmlich darin, uns die metaphysischen Sätze vorzuführen, so dass wir erkennen, dass sie nicht ausdrücken, was
wir sagen wollen.9 Ziel dieser Methode sei folglich eine Form der Erkenntnis,
die nur individuell zu vollziehen ist.10 Wir sollten die metaphysischen Sätze als
Leiter benutzen, um über die Philosophie hinauszukommen. Somit gäbe es
gar keinen wirklichen Bruch zwischen dem Früh- und dem Spätwerk Wittgensteins: „Vielmehr hätte“, so fasst Edward Kanterian die Position des New
Wittgenstein zusammen, „Wittgenstein zeit seines Lebens an der Unsinnigkeit
philosophischer Thesen festgehalten“.11
Manches an dieser Darstellung der Philosophie Wittgensteins ist richtig,
aber trivial, anderes ganz und gar missverstanden. Sicherlich richtig ist, dass
Wittgenstein in seinen Spätschriften gerade keine Art von Theorie aufstellen
wollte und dass er jeglichen sprachexternen Standpunkt ablehnte (aber wer
hat dem je widersprochen?). Doch diese konsequent immanente Haltung
bedeutet gerade nicht, die philosophische Arbeit auf einen einzigen negativen
Nachweis zu beschränken, der in gebetsmühlenartiger Wiederholung durchexerziert wird. Es bedeutet vielmehr, in der Sprache selbst den Sprachgebrauch auszulegen, um die Möglichkeiten, Grenzen und Verhältnisse der
Verwendung von Worten offen zu legen. Mit dem Verzicht auf externe theoretische Aussagen und Standpunkte ist die philosophische Arbeit also nicht
getan, sie fängt genau hier erst an. Die hunderte von Textpassagen, die Wittgenstein z.B. zum Thema Schmerz oder zum Thema Aspektsehen hinterlassen hat, zeugen von solcher Arbeit.
An der ‚therapeutischen’ Deutung des New Wittgenstein frappiert besonders die Idee, dass es Wittgenstein in seinem ganzen Werk – vom Tractatus bis
zu den Spätschriften – nur um ein einziges, negatives Ziel gegangen sein soll,
_____________
7
8
9
10
11
Vgl. etwa Gordon Baker: Wittgenstein’s Method and Psychoanalysis, in: Katherine J. Morris
(ed.): Wittgenstein’s Method. Neglected Aspects. Essays on Wittgenstein by Gordon Baker,
Malden-Oxford-Victoria 2004, S. 205-222.
Vgl. Alice Crary: Introduction, in: Crary / Read (eds.): The new Wittgenstein, London-New
York 2000, S. 1-18.
Ebd., S. 7.
Vgl. James Conant: Elucitation and Nonsense in Frege and Early Wittgenstein, in: The New
Wittgenstein, a.a.O., S. 174-217, hier S. 197. Ders.: Two Conceptions of Die Überwindung der
Metaphysik: Carnap and Early Wittgenstein, in: McCarthy / Stidd (eds.): Wittgenstein in
America, New York 2001, S. 13-61. Ähnlich aber auch: Baker: Wittgenstein’s Method and
Psychoanalysis, a.a.O., S. 213.
Edward Kanterian: Timothy McCarthy/ Sean C. Stidd (Eds.): Wittgenstein in America, in:
Philosophischer Literaturanzeiger 4/2002, S. 376-384, hier S. 377.
104
Birgit Griesecke / Werner Kogge
nämlich, das Selbstmissverständnis der Philosophie aufzulösen. Es kann daher nicht verwundern, dass Peter Hacker, ein Philosoph, der sich an Themen
wie Sprachspielen, Lebensformen, Regelfolgen seit Jahrzehnten abarbeitet, die
Folgenlosigkeit einer solcher Argumentation beklagt:
Suppose they are right – so what? What follows from this about the correct way to
tackle philosophical problems in any domain of thought? Surely nothing whatsoever.12
Doch ‚nichts’ ist es nicht, was aus der Konzeption des ‚New Wittgenstein’
folgt. Denn, so die Argumentation Crarys, einen sprachexternen Standpunkt
radikal aufzugeben, bedeute eben zugleich, dass es überhaupt keinen Standard
der Richtigkeit sprachlicher Ausdrücke gebe – auch keinen sprachspielrelativen. Diejenigen, die den späten Wittgenstein in die Nähe relativistischer Positionen rücken wollten, seien deshalb in einem fundamentalen Irrtum befangen13, woraus im Umkehrschluss gefolgert wird, dass es Wittgenstein gerade
darum gegangen sei zu zeigen, dass die Aufgabe der Illusion eines sprachexternen Standpunkts ohne alle Konsequenzen für unsere „epistemischen Ideale“14 bleibe. Hier tritt nun zum ersten Mal, wenngleich wiederum nur indirekt
formuliert, eine positive Aussage der ‚neuen Wittgensteinianer’ auf den Plan:
worin nämlich diese epistemischen Ideale bestehen, ist Erkenntnis in Form
von „full blooded objectivity“15. Könnte Hacker also recht haben, wenn er
den amerikanischen Philosophen zuschreibt, sie seien „mesmerized by science“16 und einer „certain form of scientism“17 verpflichtet?
Der problematischste Punkt aber scheint bei genauerer Betrachtung nicht
einmal die inhaltliche Schlichtheit einer Argumentationslinie zu sein, die mit
Befriedigung ob der Rettung ihrer „epistemischen Ideale“ und mit nicht gerade tief schürfender provokativer Lust, einer bloß noch negativ selbstreflexiven Philosophie das Wort reden will, sondern der Umstand, dass uns einer
der im besten Sinne des Wortes beunruhigendsten Denker des 20. Jahrhunderts hier – im Gewand eines ‚neuen’ – als ein höchst uninteressanter, als ein
ganz und gar monotoner, als ein vollkommen verharmloster Wittgenstein
begegnet; einer, der der Philosophie nicht etwa einen produktiven Knick
beigebracht, sondern sie auf eine bloße Geste der Selbstbescheidung reduziert
hat – auf eine Geste, die für Wittgensteins Philosophie tatsächlich außerordentlich wichtig ist, aber in ihr eine liminative, keine eliminative Funktion hat.
_____________
12
13
14
15
16
17
Peter Hacker: Interview with Edward Kanterian, Nov.-Dec. 2001, Internetquelle:
http://www.information-philosophie.de/philosophie/kanterian.html, 14. 7. 2005, S.
7.
Crary: Introduction, a.a.O., S. 10.
Ebd., S. 4.
Ebd., S. 3.
Hacker: Interview, a.a.O., S. 4.
Ebd., S. 5.
Ein Arbeitsprogramm, kein Abgesang
105
Was aufgelöst werden soll, sind bestimmte philosophische Probleme, nicht
die Philosophie, für die es gerade darum geht, „daß sie nicht mehr von Fragen
gepeitscht wird, die sie selbst in Frage stellen.“18
Gegen die philosophische Tristesse des „new Wittgenstein“, aber auch
über die bislang bekannte, übliche Wittgensteininterpretation hinausführend,
wollen wir einen noch ‚anderen’, einen sehr beweglichen, einen im Material
der Sprache arbeitenden Wittgenstein stark machen, einen Wittgenstein, der
das philosophische Denken experimentalisiert und Möglichkeitsräume
schafft. Dieses experimentelle Denken lässt sich so wenig auf die Aufgabe (im
doppelten Sinne des Wortes) der Philosophie reduzieren wie zur Therapie
individueller philosophischer Verwirrung herabwürdigen. Es ist auf die „allgemeinste Philosophie“19 gerichtet und macht sich unermüdlich zu schaffen
an den kollektiv erfahrbaren Finten und Fallen von durchaus überindividuellen Denkstilen. Und die Beruhigung, die es zeitigen mag, ist keine, die durch
Ausblendungen erzielt wird, sondern eine, die sich – immer wieder neu – im
offensiven Durcharbeiten von Beunruhigungen einstellt.
Den ‚anderen’ Wittgenstein als einen ‚experimentellen’ Denker auszuweisen,
steht dies nicht im Widerspruch zu all dem, was er selbst als Kennzeichnung
seiner Philosophie hätte gelten lassen? Erinnern wir uns nur an jene Stelle, wo
er gegen Ernst Mach einwendet:
Was Mach ein Gedankenexperiment nennt ist natürlich gar kein Experiment. Im
Grunde ist es eine grammatische Betrachtung.20
Was Wittgenstein mit dieser bemerkenswerten Volte vollführt, ist einerseits
eine Annäherung von Machs Methode einer Gedankenbewegung, die „die in
der Erinnerung und namentlich in der Sprache aufbewahrten Erfahrungsschätze“ durch „wenn möglich kontinuierliche Variation der Umstände“21 zu
einer „Gedankenerfahrung“22 führt, an seine eigene grammatische Methode,
die ganz ähnlich auf ein Erinnern, Durchspielen und Erfinden von Sprachspielen setzt, aber andererseits eine klare Absage an den Titel des Experiments. Warum ist ihm diese Absage so wichtig? Offenbar weil Wittgenstein
zum Zeitpunkt dieser Notiz das Experimentieren noch ganz und gar mit einer
_____________
18
19
20
21
22
Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, Werkausgabe Bd. 1, Frankfurt a. M.
1984, § 133 (Herv. im Orig.). Diese Bemerkung findet sich auch bereits im Big Typescript, a.a.O., S. 290.
Vgl. Wittgenstein: The Big Typescript, a.a.O., S. 285.
Ludwig Wittgenstein: Manuskriptband Nr. 107. Band III. Philosophische Betrachtungen, in:
Wittgenstein’s Nachlass. The Bergen Electronic Edition, Oxford-Bergen 2000, Item 107,
S. 284 f., 6.2.1930.
Ernst Mach: Über Gedankenexperimente, in: ders.: Erkenntnis und Irrtum. Skizzen zur
Psychologie der Forschung, Darmstadt 1976, S. 183-200, hier S. 191.
Ebd., S. 186.
Birgit Griesecke / Werner Kogge
106
genuin naturwissenschaftlichen Methode identifiziert, von der er die Philosophie gerade abzuheben trachtet:
Philosophen haben ständig die naturwissenschaftliche Methode vor Augen und sind
in unwiderstehlicher Versuchung, Fragen nach Art der Naturwissenschaften zu stellen
und zu beantworten. Diese Tendenz ist die eigentliche Quelle der Metaphysik und
führt den Philosophen in vollständiges Dunkel.23
Diese Kritik aus dem Jahr 1933 steht im Einklang mit Bemerkungen, in denen
es heißt, dass es in der Philosophie nichts zu entdecken und nichts zu erklären
gäbe24 und dass die Aufgabe der Philosophie darin bestehe, „den tatsächlichen Gebrauch der Sprache ... nur [zu] beschreiben.“25 Wittgensteins Emphase, mit der er, das „nur beschreiben“ einfordert, ist gegen die Adaption einer
naturwissenschaftliche Methode in der Philosophie gerichtet, gemäß der es
darum ginge, eine das Denken und Sprechen begründende Logik, d.h. dahinterliegende Prinzipien und Gesetze ans Licht zu fördern. Solange Wittgenstein nun der herkömmlichen Auffassung vom Experiment folgte, nach der
Experimentieren ein Verfahren ist, Erkenntnisse über eine unabhängig gegebene Natur zu gewinnen,26 solange musste also er seine Methode der grammatischen Betrachtung gerade in Opposition zum Begriff des Experiments
konturieren.
Wenn wir nun im folgenden mit Wittgenstein die Nähe von ‚grammatischer Betrachtung’ und Machs ‚Gedankenexperiment’ bestätigen, aber gegen
die frühe Auffassung Wittgensteins das eminent Experimentelle darin herausstellen werden, bringen wir einen Begriff des Experimentellen in Anschlag,
der nicht mehr derjenige ist, gegen den Wittgenstein seine philosophische
Methode zunächst meinte abgrenzen zu müssen. Unsere Überlegungen nehmen vielmehr ihren Ausgang von neueren Experimentaltheorien, die die praxeologische Dimension experimentellen Handelns betonen und die klassische
Dichotomie aus theoretisch gewonnenen Annahmen und der unabhängigen
Instanz Natur, die diese Annahmen bestätigt oder widerlegt, durch die damit
unvereinbare Zweiheit von fraglichen, noch unbestimmten Wissensobjekten
(‚epistemische Dinge’) und stabilisierten, verkörperten Bedingungen (‚techni_____________
23
24
25
26
Ludwig Wittgenstein: Das Blaue Buch. Werkausgabe Bd. 5, Frankfurt a. M. 1984, S. 39.
Vgl. Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, a.a.O., § 124-126.
Ebd., § 122.
Dass Wittgenstein in seinen programmatischen Grenzziehungen zur naturwissenschaftlichen Methodik immer einen sehr herkömmlichen Wissenschaftsbegriff, im
wesentlichen reduziert auf Hypothesenbildung und Kausalität, in Anschlag gebracht
hat, der schon seinerzeit vielfach umstritten gewesen ist, steht auf einem anderen
Blatt. Auch hat sich Wittgenstein seiner eigenen Programmatik zum Trotz nicht davon abhalten lassen, von Physikern wie Boltzmann und Hertz wichtige Anregungen
für seine Methode zu übernehmen.
Ein Arbeitsprogramm, kein Abgesang
107
sche Dinge’) ersetzt.27 Solche Experimentalsysteme sind nicht mehr bloße
Prüfverfahren theoretisch vorgefertigter Anfragen an die Natur, sondern
„werden eingerichtet, um Fragen auf Antworten zu geben, die wir noch nicht
klar zu stellen in der Lage sind.“28 Dank dieser produktiven Vagheit können
sie Ergebnisse zeitigen, die nicht lediglich eine Ausgangsannahme bestätigen
oder widerlegen, sondern unter Umständen auch ein Drittes hervorbringen,
das keineswegs vorhersehbar war. In dieser Perspektive erscheint nun das
Experimentieren als ein radikal ergebnisoffenes Unternehmen, das unauflöslich in die materielle Welt verwoben ist, in der es agiert – was zum einen bedeutet, dass in ihm kein abgeschlossenes Wissen über die Welt gewonnen
werden kann, zum anderen aber auch, dass es stets realitätshaltig und nicht
etwa haltloses Hirngespinst ist.
Wenn wir im folgenden Wittgensteins ‚grammatische Methode’ als eine
beschreiben, die große Übereinstimmungen mit der Konzeption der Experimentalsysteme aufweist, bedeutet dies, die fragliche Grammatik eines Wortes
als das ‚epistemische Ding’, dem die „Anstrengung des Wissens“ gelten soll,
aufzufassen, und die erinnerten wie die erfundenen, die tatsächlichen wie die
möglichen Verwendungsweisen als die Experimentalbedingungen, die ‚technischen Dinge’ also, mit denen die jeweilige Grammatik, das ‚epistemische
Ding’, durchgespielt, erprobt und in vielfältige Spannungen (mit anderen
Begriffen) versetzt wird, zu begreifen. Weiterhin bedeutet es, jene von Wittgenstein angestrebte ‚übersichtliche Darstellung’, das mühevolle Arrangement
der verschiedenen Fälle, als das – unvorwegnehmbare und überraschungsträchtige – Ergebnis eines solchen experimentellen Verfahrens anzusehen.
Mit diesem Ansatz ziehen wir ausdrücklich und gegen manche Vorbehalte
innerhalb des ‚neuen Experimentalismus’ den experimentellen Umgang mit
Sprache und Gedanken in sein ‚pragmatogones’ Konzept hinein, dessen Antrieb und Wirkkraft sich aus der konsequenten Aufwertung des PraktischExperimentellen gegenüber dem beharrlichen Postulat der Vorgängigkeit von
Theorie und Denken speist. Aber gerade weil offenbar bei aller tiefgreifenden
Reflexion und allen wichtiger Weichenstellungen für die Wissenschaftsforschung der ‚neue Experimentalismus’ letztlich doch die Tendenz mit sich
bringt, dem Gemeinplatz zu verfallen, dass Denken sich im Kopf ereignet
und Handeln mit Händen vollzogen wird, fällt es ihnen in der Regel genau so
schwer wie den ‚alten Experimentalisten’, gegen die sie angetreten sind, von
Gedankenexperimenten in einem eigentlichen Sinne, ohne Anführungszeichen, zu sprechen – und schon ist das Feld ganz jenen Ansätzen überlassen,
_____________
27
28
Vgl. Hans Jörg Rheinberger: Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte
der Proteinsynthese im Reagenzglas, Göttingen 2001, S. 24f.
Hans Jörg Rheinberger: Experiment. Differenz. Schrift: Zur Geschichte epistemischer
Dinge, Marburg an der Lahn 1992, S. 25.
Birgit Griesecke / Werner Kogge
108
in denen der Terminus ‚Gedankenexperiment’ schlichtweg mit ‚Fiktion’ kurzgeschlossen, ‚Fiktion’ dann mit ‚Kontrafaktischem’ synonymisiert29 und das
Experimentelle dadurch um das entleert wird, was nicht nur Empiristen seit
Bacon am Experiment fasziniert: das dialogische Verhältnis mit einer Wirklichkeit, das Verwobensein mit einer Materialität, die sich auf eigentümliche
Weise verhält.30
So werden wir uns also zunächst mit einer Schrift Ian Hackings, einem
neuen Experimentalisten, auseinandersetzen, in der er mit, wie wir zeigen
werden, anachronistischen Anleihen bei Wittgenstein betont, dass Gedankenexperimente mehr mit gedanklichen Bildwechseln als mit wirklichen Experimenten zu tun hätten. Dagegen werden wir erläutern, wie Wittgenstein in den
1930er Jahren, im Zuge seiner Revision des Tractatus, sowohl zu einer komplexeren Auffassung des Experimentellen als auch zu einer neuen philosophischen Methode gelangt, die es einem leicht macht, Gedankenexperimente und
grammatische Betrachtung in eine Verwandtschaftslinie zu fügen, und zwar in
einem starken Sinne des Experimentellen, nicht einem uneigentlichen, analogischen oder spielerischen. Mit anderen Worten: In der Aufmerksamkeit auf
experimentelle Denkbewegungen in der Philosophie Wittgensteins seit den
frühen 1930er Jahren wird – in Abgrenzung zum ‚neuen Wittgenstein’ – ein
ganz anderer Wittgenstein, aber auch – in Erweiterungen und Präzisierungen
des ‚neuen Experimentalismus’ – eine veränderte Experimentaltheorie zum
Vorschein kommen.
2. Bild, Beweis, Gedankenexperiment: Hat Denken ein Eigenleben?
Ian Hacking, dem vor einigen Jahren im Rahmen eines wissenschaftsphilosophischen panels zu Gedankenexperimenten die Rolle eines Kommentators
zukam, nutze diese Gelegenheit, Ludwig Wittgenstein, insbesondere dessen
Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik, als einen wichtigen Gewährsautor ins Spiel zu bringen; als einen Gewährsautor wohlgemerkt gegen die Auf_____________
29
30
Vgl. z.B. Hans-Ludwig Freese: Abenteuer im Kopf. Philosophische Gedankenexperimente,
Weinheim-Berlin 1995, S. 21. Albrecht Behmel: Was sind Gedankenexperimente? Kontrafaktische Annahmen in der Philosophie des Geistes - der Turingtest und das Chinesische Zimmer, Stuttgart 2001, S. 9. Annette Wünschel / Thomas Macho: Zur Einleitung: Mentale Versuchanordnungen, in: diess. (ed.): Science & Fiction. Über
Gedankenexperimente in Wissenschaft, Philosophie und Literatur, Frankfurt a. M. 2004, S. 914.
Vgl. dazu auch: Birgit Griesecke / Werner Kogge: Was ist eigentlich ein Gedankenexperiment? Mach, Wittgenstein und der neue Experimentalismus, in: Marcus Krause / Nicolas
Pethes (eds.): Literarische Experimentalkulturen. Poetologien des Experiments im 19.
Jahrhundert, Studien zur Kulturpoetik Bd. 4, Würzburg 2005, S. 41-72, hier S. 44f.
Ein Arbeitsprogramm, kein Abgesang
109
nahme der Gedankenexperimente in das Reich ‚echter’ Experimente. Wie
kommt er dazu?
Hackings zugrundeliegende Argumentationslinie ist die, dass Gedankenexperimente ihren Einsatzpunkt dort finden, wo es gilt, konkurrierende Weltbilder in eine sozusagen augenscheinliche Spannung miteinander zu versetzen.31 Die Weise, in der sie diese Aufgabe erfüllen, unterscheide sich vom
Vollzug gewöhnlicher Experimente genau dadurch, dass sie eher wie Witze
und optische Illusionen schlagartig eine neue Sichtweise zur Geltung bringen:
„They can replace one picture by another. That is their job, their once and
future job.“ Dann, seinen eigenen berühmt gewordenen Satz aufnehmend,
dass Experimente ein Eigenleben haben, versetzt er den Gedankenexperimenten gleichsam den Todesstoß:
I think of experiments of having a life: maturing, evolving, adapting, being not only
recycled but also, quite literally, being retooled. But thought experiments are rather
fixed, largely immutable. That is yet another respect that they are like mathematical
proofs...
Von mathematischen Beweisen unterscheiden sich Gedankenexperimente
lediglich darin, dass, während jene in verschiedenen Kontexten anwendbare
Beweisideen umsetzten, diese lediglich eine bestimmte Spannung zum Vorschein bringen. Mehr noch als mathematische Beweise sind Gedankenexperimente für Hacking daher Bilder, Figuren, die eine spezifische gedankliche
Wendung zur Darstellung bringen: „Once the thought experiment is written
out in perfection it is an icon. Icons, to reiterate, do not have a life of their
own.“
An dieser Stelle untermauert Hacking seine Argumentation mit einer von
Wittgensteins Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik: „Das Experimentelle verschwindet, indem man den Vorgang bloß als einprägsames Bild ansieht.“32
Vergegenwärtigt man sich nun jedoch, dass Wittgenstein den mathematischen Beweis bereits als stillgestelltes Bild eines Experiments auffasst und
ergänzt man Hackings Argument, dass das Gedankenexperiment sich vom
Beweis durch seine noch enger fixierte Anwendung unterscheidet, dann wird
deutlich, dass das Gedankenexperiment nach dieser zweifachen Verschiebung
nur noch den Schein eines schwachen Abglanzes vom strahlenden Licht empfängt, das das lebendige Experiment ausstrahlt. Mit Wittgenstein rückt Hacking Gedankenexperimente weit weg von der Sphäre des praktischen Expe_____________
31
32
Vgl. Ian Hacking: Do Thought Experiments Have a Life of Their Own? Comments on James
Brown, Nancy Nersessian and David Gooding, in: PSA: Proceedings of the Biennal Meeting
of the Philosophy of Science Association. Vol. 1992, Volume Two: Symposia and Invited Papers (1992), 302-308, hier: S. 307, die folgenden Zitate ebd.
Ludwig Wittgenstein: Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik. Werkausgabe Bd.
6, Frankfurt a. M. 1984, S. 68.
Birgit Griesecke / Werner Kogge
110
rimentierens. In einer Denkbewegung, die das konkrete Handeln, das Eingreifen und Erzeugen betont, werden Gedankenexperimente zu Stilleben des
Denkens, frappierend in ihrer Präsenz, formal perfektioniert – aber alles andere als experimentell.
Doch sieht Wittgenstein tatsächlich wie Hacking das Gedankenexperiment in Opposition zu wirklichen Experimenten und in enger Verwandtschaft zu mathematischen Beweisen? Wenn wir bei Wittgenstein lesen: „Der
Beweis [...] muß ursprünglich eine Art Experiment sein – wird aber dann
einfach als Bild genommen”33, so sollte uns dies stutzig machen. Denn welche
Art von Experiment führt zu mathematischen Beweisen? Deutet Wittgenstein
hier nicht an, dass zwar der Beweis tatsächlich als stillgestelltes Bild eines
Gedankengangs aufzufassen ist, dass dem Bild aber ein erprobendes, ein experimentelles Denken vorhergeht? Ist also Wittgenstein tatsächlich ein Gewährsmann für die Ablehnung des Experimentellen am Gedankenexperiment
oder liegen die Verhältnisse hier komplizierter?
Ein Blick auf die Passagen, an denen Wittgenstein von Gedankenexperimenten spricht, zeigt: beides ist der Fall, allerdings zu unterschiedlichen Zeiten. In der Tat finden sich ausgezeichnete Belege für Hackings Auffassung,
jedoch sind diese wesentlich früher verfasst als die Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik, auf die Hacking verweist. So ist etwa in dem Notizbuch
Philosophische Grammatik folgende Bemerkung, die vom 5. Juni 1932 datiert, zu
lesen: „Wir überlegen uns Handlungen, ehe wir sie ausführen. Wir machen
uns Bilder von ihnen; aber wozu? Es gibt doch kein ‚Gedankenexperiment’!”34 Weiter heißt es: „Ein Gedankenexperiment kommt auf dasselbe
hinaus wie ein Experiment das man statt es auszuführen aufzeichnet.”35 Zwischen 1930 und 1933 zieht Wittgenstein immer wieder diese Verbindung vom
Gedankenexperiment zum Bild. Betrachtet man das Umfeld dieser Bemerkungen, so wird schnell klar, dass Wittgenstein hier noch aus der Perspektive
der ‚Abbildtheorie’ des Tractatus argumentiert:36
_____________
33
34
35
36
Ebd., S. 160.
Ludwig Wittgenstein: Manuskriptband Nr. 114. Band X. Philosophische Grammatik, in:
Wittgenstein’s Nachlass, a.a.O., Item 114, S. 95 f., 5.6.1932.
Ebd., S. 224, 5.6.1932.
Matthias Kroß erklärt sehr deutlich, warum in der Perspektive des Tractatus der Begriff
Gedankenexperiment ein „Oxymoron“ (S. 125) ist, kommt allerdings hinsichtlich der
Spätphilosophie Wittgensteins zu einer anderen Auffassung als wir. Matthias Kroß:
Von einem Marsstandpunkt betrachtet. Ludwig Wittgenstein über Gedankenexperimente,
in: Macho/ Wünschel: Über Gedankenexperimente in Wissenschaft, Philosophie und Literatur,
a.a.O., S. 115-141.
Ein Arbeitsprogramm, kein Abgesang
111
Mein Gedanke, der Satz sei ein Bild, war Gut [sic!]. Er sagte, denken sei dasselbe oder
etwas ähnliches wie, sich ein Bild machen, und denkbar dasselbe oder etwas ähnliches
wie vorstellbar.37
Entscheidend ist nun aber, dass – bis auf eine Ausnahme, auf die wir unten
zurückkommen werden – sich in späteren Schriften Wittgensteins keine Gegenüberstellung von Gedanklichem und Experimentellem mehr findet.
Nachdem in den Jahren 1934 und 1935 überhaupt keine Überlegungen zu
Gedankenexperimenten verzeichnet sind, findet sich in dem Manuskriptband
Nr. XI Philosophische Bemerkungen; Philosophische Untersuchungen. Versuch einer
Umarbeitung, datiert vom 25. 8. 1936, eine Argumentationsskizze, in der Wittgenstein zum ersten Mal eine neue, eigenwillige Perspektive zum Thema Gedankenexperiment andeutet. Dort heißt es zunächst – in Bezug auf ein Beispiel zu Empfindungen beim Anblick vertrauter und unvertrauter
Gegenstände – ganz in der Diktion der älteren Auffassung:
Aber wie ist es: haben wir hier ein ‚Gedankenexperiment’ gemacht? – Wie wissen wir
denn, daß es sich so verhält, bloß dadurch, daß wir es uns so vorstellen? Was ist das
für eine seltsame Weise, festzustellen, wie sich eine Sache verhält?38
Doch lässt es Wittgenstein hier nicht mehr bei diesen Bedenken bewenden,
sondern entwickelt eine Unterscheidung, die für seine späteren Überlegungen
ausschlaggebend sein wird. Er räumt ein: „Nun kann man ja wirklich ein
Experiment machen, dadurch, daß man sich etwas vorstellt.“ Und präzisiert:
„Nicht ein Experiment in der Vorstellung, d.i., das bloße Vorstellungsbild
eines Experiments. (Ein Laboratorium kann man nicht dadurch überflüssig
machen, daß man sich Apparate und Versuche einfach vorstellt.)“ In der Vorstellung versus durch Vorstellungen: ersteres wäre nur die Bewegung in einem
gegebenen Bild, zweiteres dagegen die Durchführung eines erprobenden
Gedankens:
Wenn mich z.B. jemand fragt, ‚Wie begrüßt Du den N., wie gehst Du auf ihn zu?’, so
kann ich, um antworten zu können, mir vorstellen N trete herein und ich mache etwa
dabei die Bewegung des Begrüßens. Und dies ist ein Versuch.39
Wittgenstein geht es in dieser Passage vorrangig um die Rede von ‚inneren
Vorgängen’ und deshalb diskutiert er daran anschließend Subjektivität und
Objektivität solcher Vorstellungen. Für unsere Frage ist aber entscheidend,
dass Wittgenstein hier die Verquickung eines Experimentierens in Gedanken
mit statischen Vorstellungsbildern auflöst und damit einen Weg aufzeigt, in
welchem Sinne von Gedankenexperimenten oder experimentellem Denken
_____________
37
38
39
Ludwig Wittgenstein: Typoskriptband Nr. 219, in: Wittgenstein’s Nachlass, a.a.O., Item
219, S. 14, 1.1.1933.
Ludwig Wittgenstein: Manuskriptband Nr. 115, in: Wittgenstein’s Nachlass, a.a.O., Item
115, S. 226, 25.8.1936.
Wittgenstein: Manuskriptband Nr. 115, a.a.O., S. 226 f., 25.8.1936.
Birgit Griesecke / Werner Kogge
112
gesprochen werden sollte. Wir werden zwar noch sehen, dass dieses Beispiel
in einem wichtigen Punkt ein Hybrid bleibt, doch der entscheidende Schritt,
Denken von statischen Bildern abzulösen – der Schritt, der über die bei Hacking diskutierte Auffassung hinausgeht – ist an dieser Stelle bereits getan.
Nahezu alle Bemerkungen zum Verhältnis von Experiment, Rechnung
und mathematischem Beweis, die in den Bemerkungen über die Grundlagen der
Mathematik versammelt sind, stehen im Lichte dieser Einsicht. Es sind drei
Facetten der begrifflichen Verhältnisse, die Wittgenstein hier immer wieder
unterstreicht: Erstens, dass der mathematische Beweis nicht als Experiment, sondern als Bild eines Experiments anzusehen ist;40 zweitens, dass Denkvorgänge,
auch Praktiken wie Zählen durchaus als Experiment verwendet sein können (wobei in dieser Verwendung aber gerade nicht die mathematische Relevanz des
Vorgangs zur Geltung kommt)41 und drittens, dass das mathematische Ableiten
sich vom Experimentieren dadurch unterscheidet, dass es auf unzeitliche, normative
Verhältnisse zielt, nicht auf zeitgebundene, faktische.42 Im Fokus des Interesses
steht hier also die eigentümliche Erscheinungsweise des Mathematischen und
die Frage, wie diese sich zum naturwissenschaftlichen Entdecken verhält. Es
geht um die Differenz von Mathematik und empirischer Forschung, nicht um
die Differenz von Denken im allgemeinen und empirischer Forschung. Anders gesagt: Wittgenstein stellt das Spezifische der mathematischen Veranstaltung heraus – mit der allgemeinen erkenntnistheoretischen Problematik des
Verhältnisses von Denken und Natur beschäftigt er sich hier nicht. Die Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik für eine Argumentation gegen das
Experimentelle von Gedankenexperimenten anzuführen – wie Hacking dies
tut – beruht auf einem Missverständnis, das Denken mit mathematischer oder
logischer Deduktion identifiziert und damit gerade das Spezifische dieser
Denkformen, die sich von jeder konkreten Sachhaltigkeit abheben, ignoriert.
Lediglich an einer Stelle scheint Wittgenstein ins Fahrwasser der herkömmlichen erkenntnistheoretischen Differenz von Denken (Vernunft, Vorstellung) und Natur (Kausalität, Experiment) zu geraten und das Gedankliche
mit dem Mathematischen in eins zu setzen, wenn er nämlich ausführt:
‚Ich stelle mir einen Kreis vor aus schwarzen und weißen Stücken, eines ist groß, gekrümmt, die folgenden werden immer kleiner, das sechste ist schon gerade.’ Wo liegt
hier das Experiment? In der Vorstellung kann ich rechnen, aber nicht experimentieren. 43
Betrachten wir nun aber den Kontext dieser Bemerkung, so ist sie als Relikt
von Wittgensteins älterer Auffassung zu erkennen. Sie taucht zum ersten Mal
im Manuskriptband Nr. 118 auf und datiert vom 8. September 1937. Dort
_____________
40
41
42
43
Wittgenstein: Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik, a.a.O., S. 51, 68, 160, 382.
Ebd., S. 51, 98, 194, 338, 380, 382, 413.
Ebd., S. 75, 98, 187, 194f., 338f, 424f.
Ebd., S. 73 (Herv. von uns).
Ein Arbeitsprogramm, kein Abgesang
113
folgt ihr die Überlegung: „Die Grundlage der Mathematik ist das Rechnen. Gib
uns ein Gift, was das Rechnen unmöglich macht, & es gibt keine Mathematik
mehr.”44 Nur drei Tage später erscheint die Passage im Manuskript 117 wieder, dort aber schließt an sie eine andere Bemerkung an: „In einer Demonstration einigen wir uns mit jemand. Einigen wir uns in ihr nicht, so trennen sich
unsere Wege, ehe es zu einem Verkehr mittels dieser Sprache kommt.”45
Diese Montage wurde dann einige Monate später in ein Typoskript – nämlich
Nr. 221 – übernommen, das eine Überarbeitung der Manuskriptbände 117120 und 162a darstellt. Doch auch dieses Typoskript hat Wittgenstein – ab
Januar 1938 – wiederum überarbeitet und auf der Basis von ausgeschnittenen
Passagen aus 221 neu zusammengestellt. Im Typoskript 222 folgt dann der
genannten Formulierung die Passage: „Was ist die charakteristische Verwendung des Vorgangs der Ableitung als Rechnung – im Gegensatz zur Verwendung des Vorgangs als Experiment?”46 Wir sehen also: Obwohl es in jeder
Montage um das Spezifische von mathematischer Rechnung und Beweisführung geht, unterscheidet sich jede spätere Montage von der früheren insofern,
als sie sich schrittweise auf die Hauptaussagen der Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik hin bewegen. Während die erste Fassung lediglich den
elementaren Unterschied von Rechnen und Experimentieren unterstreicht
und die Rolle des Rechnens – in Abhebung vom Experimentieren – für die
Mathematik hervorhebt, spezifiziert die zweite Version die besondere Form
intersubjektiver Wirksamkeit des mathematischen Beweisens, wobei die Demonstration bereits zum Bild gerinnt, in dem alle Kraft der Überzeugung
beschlossen liegt. Die letzte Montage geht darüber hinaus, indem sie die apodiktische Schärfe der Aussage „In der Vorstellung kann ich ... nicht experimentieren” bricht und das Experimentelle – in der Entgegensetzung zum
Rechnerischen – zu einer Frage der Verwendung umdeutet. Ableitungen
können gemäß dieser Formulierung durchaus experimentell sein – solange sie
nicht als Rechnungen fungieren.
Einen Schlüssel zum Motiv dieser Reformulierung finden wir, wenn wir
das weitere Umfeld der Passagen mitberücksichtigen. Sowohl in den früheren
Manuskripten als auch in den späteren werden die Überlegungen zum Beweisen und Experimentieren von übergreifenden Reflexionen begleitet. Doch
während die früheren Fassungen offensichtlich von dem Motiv geleitet sind,
die philosophische Methode als Arbeit am „alltäglichen, allbekannten” von
der naturwissenschaftlichen, deren Zweck es gerade nicht sei, „Dich aufmerk_____________
44
45
46
Ludwig Wittgenstein: Manuskriptband Nr. 118. Bd. XIV. Philosophische Bemerkungen, in:
Wittgenstein’s Nachlass, a.a.O., Item 118, S. 69v, 8.9.1937.
Ludwig Wittgenstein: Manuskriptband Nr. 117. Bd. XIII. Philosophische Bemerkungen, in:
Wittgenstein’s Nachlass, a.a.O., Item 117, S. 88,11.9.1937.
Ludwig Wittgenstein: Typoskriptband Nr. 222, in: Wittgenstein’s Nachlass, a.a.O., Item
222, S. 73, 1.1.1938.
Birgit Griesecke / Werner Kogge
114
sam zu machen auf das, was Du schon längst wusstest”47, abzuheben, ist für
die letzte Version diese Abgrenzung offenbar nicht mehr zentral. Stattdessen
kann nun sachlich unterschieden werden zwischen mathematischer Rechnung, welche als Bild fungiert und dem Experiment, für das dies nicht gilt:
„Ich mache einen Schnitt; zwischen der Rechnung mit ihrem Resultat (d.i. einem bestimmten Bild, einer bestimmten Vorlage) und einem Versuch mit
seinem Ausgang.”48 Stehen also die früheren Passagen noch im Kontext der
Profilierung einer philosophischen Methode und stellen deshalb das Gedankliche dem Experimentellen gegenüber, so machen sich die späteren Überlegungen von dieser strategischen Opposition frei und betrachten das Experimentelle als eine Frage der Verwendung: „Experiment ist etwas durch den
Gebrauch, der davon gemacht wird.”49
Wir werden nun in den folgenden beiden Abschnitten darlegen, wie diese
Dynamisierung des Denkens sich bei Wittgenstein in methodologischen
Überlegungen und in der Praxis grammatischer Versuche niederschlägt.
3. Erinnern, Erfinden, Erfahren:
Was die grammatische Methode ausmacht
Wir haben bereits gesehen, dass Wittgenstein einst Machs ‚Gedankenexperimente’ unter dem Vorbehalt, dass hier Experimentelles nicht im Spiel sei, mit
seiner eigenen Methode ‚grammatischer Betrachtung’ identifizierte. Und tatsächlich scheinen ja auf den ersten Blick Experiment und Grammatik unvereinbar zu sein: Grammatik als Inbegriff sprachlicher Konventionalität und
Experiment als Ermöglichung von Neuem – wie sollte das zusammengehen?
Doch dass die Dinge so schlicht nicht zueinander stehen, zeigt sich, sobald
wir etwas mehr Licht in Wittgensteins Verwendung des Begriffs der Grammatik bringen.
Die Grammatik in Wittgensteins Terminologie ist kein Normierungsinstrument, das Sprachverwendungen vorschreibt. Grammatik bezeichnet bei
Wittgenstein vielmehr die Regeln, nach denen wir im Sprachgebrauch wirklich
(und nicht metaphysisch verirrt) verfahren und die nicht „anzutasten“, sondern – vornehmlichste Aufgabe der Philosophie – „nur zu beschreiben“
sind.50
_____________
47
48
49
50
Wittgenstein: Manuskriptband Nr. 117, a.a.O., S. 95, 11.9.1937.
Wittgenstein: Typoskriptband Nr. 222, a.a.O., S. 81, 1.1.1938.
Wittgenstein: Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik, a.a.O., S. 98; vgl. Manuskriptband Nr. 117, a.a.O., S. 28, 11.9.1937.
Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, a.a.O., § 122.
Ein Arbeitsprogramm, kein Abgesang
115
Dieser – vermeintliche – Beschreibungspurismus hat nun zu mancherlei
Missverständnissen geführt,51 deren schwerwiegendstes wohl in der Fehldeutung besteht, die Aufgabe der Philosophie habe sich nunmehr im Beschreiben
gegebener Sprachformen zu erfüllen. Doch genau dies, ein irgend positiv Gegebenes, ist nicht Gegenstand der grammatischen Methode. Deren Aufmerksamkeit richtet sich gerade nicht auf die Sprache im Sinne eines Korpus von
Worten oder Sätzen, über den empirische Untersuchungen angestellt werden
können. Nichts in diesem Sinne Gegebenes und Erforschbares, sondern die
Möglichkeiten des Gebrauchs sind der Gegenstand der Wittgensteinschen Untersuchungen. Diese Möglichkeiten nun sind formiert durch Regeln und Kriterien, die den Sprachgebrauch leiten und die wir sozusagen vor uns bringen
müssen. So gesehen trifft der Begriff Grammatik genau das, was Wittgenstein
durch die Untersuchung von Sprachformen eigentlich zur Darstellung bringen will: letztlich nicht das Sprachmaterial, sondern die Regeln und Kriterien,
die im Gebrauch von Worten und im Bilden von Sätzen wirksam werden.
Allerdings unterscheidet sich Wittgensteins Untersuchungsgegenstand, den er
zuweilen ‚Tiefengrammatik’ nennt und so von einer ‚Oberflächengrammatik’
unterscheidet,52 von der gewöhnlichen Grammatik dadurch, dass erstere keine
Regelform vorgibt, sondern Darstellungen der fein differenzierten und vielseitigen Kriterien versucht, die den tatsächlichen Sprachgebrauch leiten. Für
diesen Sprachgebrauch ist nun aber entscheidend, was Wittgenstein in dem
zentralen Paragraphen 23 der Philosophischen Untersuchungen zum Ausdruck
bringt:
Wieviele Arten der Sätze gibt es aber? Etwa Behauptung, Frage und Befehl? – Es gibt
unzählige solcher Arten: unzählige verschiedene Arten der Verwendung alles dessen,
was wir ‚Zeichen’, ‚Worte’, ‚Sätze’ nennen. Und diese Mannigfaltigkeit ist nichts Festes, ein für allemal Gegebenes; sondern neue Typen der Sprache, neue Sprachspiele,
wie wir sagen können, entstehen und andre veralten und werden vergessen.53
Berücksichtigt man diese Unabgeschlossenheit der Gebrauchsformen von
Sprache und ihre Veränderlichkeit, so leuchtet unmittelbar ein, dass die
Grammatik im Sinne Wittgensteins, die sich in den Kriterien und Regeln
dieses lebendigen Sprachgebrauchs manifestiert, kein abgeschlossenes Regelwerk sein kann.54 Einleuchtender wird nun aber auch der emphatische Beschreibungsbegriff: die Kriterien und Regeln, die den Sprachgebrauch tatsächlich leiten, lassen sich durch keine Rückführung auf ein ‚zugrundeliegendes’,
_____________
51
52
53
54
Vgl. zur verwandten Problematik in der phänomenologischen Beschreibungsdevise
Husserls: Birgit Griesecke: Japan dicht beschreiben. Produktive Fiktionalität in der ethnographischen Forschung, München 2001, S. 54ff.
Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, a.a.O., § 664.
Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, a.a.O., § 23.
Daher Wittgensteins Betonung, dass die grammatische Untersuchung immer nur zu
einem bestimmten Zweck erfolgen kann.
Birgit Griesecke / Werner Kogge
116
‚ideales’, ‚logisch vereindeutigtes’ oder sonstwie extern reguliertes Sprachspiel
erfassen. Der Sprachgebrauch folgt keinem von ihm ablösbaren, potentiell
eigenständigen Regelwerk. Die Regeln sind vielmehr Regeln, die im Sprachgebrauch wirksam sind und die daher nur in der Mannigfaltigkeit des Sprachgebrauchs aufgefunden werden können. Grammatik bezeichnet also den
offenen ‚Möglichkeitsraum’ gehaltvollen, im Lebenszusammenhang greifenden sprachlichen Handelns, nicht die Strukturen faktisch vollzogener Sprechakte. Folglich ergibt sich eine Beschreibung im Wittgensteinschen Sinne nicht
schon, indem man ‚realistisch’ auf die Dinge blickt, sondern ‚Beschreibung’
verlangt eine ganz eigene Leistung:
Wenn man an eine Beschreibung als ein Wortbild der Tatsachen denkt, so hat das etwas Irreführendes: Man denkt etwa nur an Bilder, wie sie an unsern Wänden hängen;
die schlechtweg abzubilden scheinen, wie ein Ding aussieht, wie es beschaffen ist.
(Diese Bilder sind gleichsam müßig.)55
Gesetzt nun den Fall, wir geraten in begriffliche Verwirrung und sind zu deren Klärung an der Grammatik eines bestimmten Wortes interessiert, wie
ließe sich dieser Möglichkeitsraum gestalten, woher gewinnen wir das
Sprachmaterial als Material der Beschreibung? Ganz in Einklang mit Ernst
Mach, der in seiner gedankenexperimentellen Konzeption auf „die in der
Erinnerung und namentlich in der Sprache aufbewahrten Erfahrungsschätze“
setzt, weil wir schließlich „noch in der Erinnerung Einzelheiten finden, die
wir bei unmittelbarer Beobachtung der Tatsache keiner Aufmerksamkeit gewürdigt haben“56, die uns aber zu Entdeckungen verhelfen, setzt auch Wittgenstein auf Erinnerungsarbeit: „Die Arbeit des Philosophen ist ein Zusammentragen von Erinnerungen zu einem bestimmten Zweck.“57
Was hier als eine beschauliche Sammlungstätigkeit genauso leicht genommen werden könnte wie die vermeintliche Bescheidung ins ‚nur beschreiben’, unter dessen Devise es steht, wird sich als ein aufwendiges Unterfangen entpuppen. Denn, bei der Klärung grammatischer Verwirrungen ist es
keineswegs damit getan, die erstbesten Erinnerungen über eine alltägliche
Verwendungsweise schlichtweg zur Norm zu erklären. Denn das Erstbeste
wird kaum schon das Klärendste sein. Vielmehr geht Wittgenstein davon aus,
dass „die für uns wichtigsten Aspekte der Dinge [...] durch ihre Einfachheit
und Alltäglichkeit verborgen [sind]. (Man kann es nicht bemerken, weil man
es immer vor Augen hat.)“58
_____________
55
56
57
58
Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, a.a.O., aus § 291. Vgl. zur Debatte über
Beschreibung versus Erklärung: Birgit Griesecke: Japan dicht beschreiben, a.a.O., S. 54ff.
Mach: Über Gedankenexperimente, a.a.O., S. 187.
Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, a.a.O., § 127. Die Bemerkung findet sich
bereits im Big Typescript, a.a.O., S. 280.
Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, a.a.O., aus § 129.
Ein Arbeitsprogramm, kein Abgesang
117
Verborgen? Hat Wittgenstein nicht immer wieder unterstrichen, dass es
in der Philosophie nichts zu entdecken, sondern eben nur zu beschreiben
gäbe? Das Missverständnis, dass Wittgensteins Methode sich im Rückbesinnen auf die Alltagssprache erschöpfe, kommt, wie wir an dieser Stelle festhalten sollten, zustande, weil Wittgenstein den Unterschied zwischen zwei Begriffen von Entdeckung nicht expliziert: wogegen er sich wendet, ist die
Auffassung, dass in der Philosophie eine zugrundeliegende Ordnung von
Gesetzen oder Formen, auf die die Erscheinungen zurückgeführt werden
können, zu entdecken ist; was aber für Wittgenstein ebenso klar ist, ist, dass
das Einfache und Alltägliche, dass die ‚Sprache bei der Arbeit’ eben nicht
unbedingt offen vor unseren Augen liegt und es, um Einsicht und Klärung
ihrer vielfältigen Möglichkeiten zu erlangen, drastischere Maßnahmen erforderlich sind als die erinnernde Sammlung, wie immer sorgsam sie auch betrieben werden mag. So gesellt sich in der Beschreibung zum Finden (oder Auffinden) das Erfinden, ein hervorragendes Mittel sowohl zum Hervortreiben
des im Alltäglichen Verborgenen als auch gegen zu schnelle Zufriedenheit,
gegen voreilige Selbstberuhigung:
[...] unser Zweck ist vielmehr, jemandes Verlegenheit zu beseitigen, die dadurch entstand, daß er dachte, er habe den genauen Gebrauch eines gewöhnlichen Wortes begriffen. Auch aus diesem Grund zählen wir mit unserer Methode nicht nur bestehende
Wortgebräuche auf, sondern erfinden bewusst neue – davon einige, gerade weil sie absurd erscheinen.59
Indem er den Satz Martin Luthers aufgreift, die Theologie sei die Grammatik
des Wortes ‚Gott’, zeigt Wittgenstein, was damit gemeint sein könnte:
Dies fasse ich so auf, daß eine Untersuchung dieses Wortes eine grammatische wäre.
Es könnte z.B. sein, daß sich die Leute darüber streiten, wie viele Arme Gott hat und
dann würde sich womöglich einer in die Debatte einmischen, indem er bestreitet, daß
von den Armen Gottes überhaupt gesprochen werden kann. Dies würde Licht werfen
auf den Gebrauch des Wortes. Auch was als lächerlich oder ketzerisch gilt, läßt die
Grammatik des Wortes erkennen.60
Um die Grammatik eines Wortes zu erkunden, genügt also nicht eine einzelne
Testfrage, ob dieses oder jenes Prädikat anwendbar, ob wir in diesem oder
jenem Fall noch von Gott oder xy sprechen würden. Vielmehr müssen solche
erfinderischen Fragen in immer wieder variierender Weise und in wechselnden Perspektiven an einen Begriff gestellt werden. So erschließt sich allmählich sein Spielraum, und wo man „eine glatte, regelmäßige Kontur“ erwarten
würde, kann es sich erweisen, dass man „eine zerfetzte zu sehen“61 bekommt.
Tatsächlich steht auch dieser Aspekt der grammatischen Arbeit, die fingierende Variation der Gedanken, die an Begriffen und den ihnen zugehörigen
_____________
59
60
61
Wittgenstein: Das Blaue Buch, a.a.O., S. 52.
Ludwig Wittgenstein: Vorlesungen 1930-1935, Frankfurt a. M. 1989, S. 187.
Ludwig Wittgenstein: Zettel. Werkausgabe Bd. 8, Frankfurt a. M. 1984, S. 293.
Birgit Griesecke / Werner Kogge
118
Phänomenen arbeitet, wiederum durchaus in Übereinstimmung mit Ernst
Machs Konzeption des Gedankenexperiments, wo die „Umschau in der Erinnerung an die Erfahrungen und die Fiktion neuer Kombinationen von Umständen“62, die auf Fälle setzt, „welche auf den ersten Blick von dem Ausgangspunkt wesentlich verschieden scheinen“63, weil gerade die vermeintlich
abwegigen Konstellationen „am besten die Natur eines Problems fühlen“64
lassen, zum experimentellen Grundprinzip erklärt werden. Man könnte auch
so sagen: Kontinuierliche, fingierende Variation erzeugt einen differentiellen
Raum, in dem durch „Denkhandlungen“65 (Wittgenstein) „Gedankenerfahrungen“66 (Mach) stattfinden können.
Zweierlei ist in diesem Zusammenhang wichtig: zum einen, dass das, was
Mach eine „Gedankenerfahrung“ nennt, keine Erfahrung in Gedanken, keine
bloß vorgestellte Erfahrung bezeichnet, sondern eine im Verlauf des Denkens
‚erfahrene Erfahrung’ meint, eine, die erst im Vollzug des Denkens gemacht
wird; zum anderen, dass das abwegig oder absurd Erscheinende nicht einfach
mit Kontrafaktischem in eins fällt, es vielmehr für eine fingierende Erprobung des Spektrum des Faktischen nutzbar gemacht wird, eines Spektrums,
das eben viel umfassender sein könnte als bislang denkbar gewesen war. Als
ein befreiendes, aber eben nicht beliebiges Erkunden des, wenn man so will,
‚wirklich Möglichen’, wird Wittgenstein auch in einer späten Vorlesung von
1946 noch einmal seine Methode als Therapie umreißen – freilich in einem
deutlich anderen Sinne als im ‚New Wittgenstein’ propagiert:
Was ich gebe, ist die Morphologie des Gebrauchs eines Ausdrucks. Ich zeige, daß er
Arten des Gebrauchs hat, von denen Sie sich oft nichts haben träumen lassen. In der
Philosophie fühlt man sich genötigt, einen Begriff auf eine bestimmte Weise anzusehen. Was ich tue, ist, andere Weisen der Betrachtung anzuregen oder sogar zu erfinden. Ich schlage Möglichkeiten vor, an die Sie früher gar nicht gedacht haben. Sie
dachten, es gebe eine Möglichkeit oder höchstens nur zwei. Ich aber habe Sie dazu
gebracht, an noch andere zu denken. Außerdem habe ich Sie erkennen lassen, es sei
absurd zu erwarten, der Begriff füge sich diesen beschränkten Möglichkeiten. So hat
sich Ihre geistige Verkrampfung gelöst, und Sie sind frei, sich im ganzen Feld des Gebrauchs des Ausdrucks umzuschauen und die verschiedenen Arten seines Gebrauchs
zu beschreiben.67
Solche Serien begrifflicher Einsätze, die an jene zunächst absurd erscheinenden Punkte zu führen vermögen, werden erst dann wirklich produktiv, wenn
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67
Mach: Über Gedankenexperimente, a.a.O., S. 187.
Ebd., S. 189.
Ebd., S. 196.
Wittgenstein: The Big Typescript, a.a.O., S. 160.
Mach: Über Gedankenexperimente, a.a.O., S. 186.
Norman Malcolm: Ludwig Wittgenstein. Ein Erinnerungsbuch, München-Wien 1961
[1958], S. 66f.
Ein Arbeitsprogramm, kein Abgesang
119
man die gesammelten Fälle in ihrer Beziehung zueinander präsentiert und
zwar, wie Wittgenstein es programmatisch formuliert, durch die Gruppierung
dieses Materials in Form einer ‚übersichtlichen Darstellung’. Auch Mach
spricht mit Blick auf seine Gedankenexperimente von einer klärenden „Übersicht der möglichen Fälle“, doch Wittgenstein geht noch einen Schritt weiter
und integriert auch an dieser Stelle programmatisch die Arbeit der Fiktion:
Die übersichtliche Darstellung vermittelt das Verständnis, welches eben darin besteht,
dass wir die ‚Zusammenhänge sehen’. Daher die Wichtigkeit des Findens und Erfindens von Zwischengliedern. Der Begriff der übersichtlichen Darstellung ist für uns
von grundlegender Bedeutung.68
Zwischenglieder sind die gefundenen und erfundenen Fälle, die eingeschliffenen Gebrauchsweisen an die Seite gestellt und diese heilsam destabilisieren,
umbiegen, öffnen können. Es sind Einsätze (enjeu) ins ergebnisoffene Spiel
der Beschreibungen. So erfüllen Zwischenglieder eine unverzichtbare Aufgabe inmitten eines Tableaus mehr oder minder vertrauter Gebrauchsweisen: sie
markieren begriffliche Übereinstimmungen, Übergänge und Unverträglichkeiten. Gerade weil in einer solchen ‚übersichtlichen Darstellung’ verschiedenste,
gewöhnlichste und ungewöhnlichste Verwendungszusammenhänge in eine
produktive Spannung versetzt werden, die etwas über die Reichweite und die
sinnvollen Grenzen bestimmter Worte zu sehen, zu erfahren gibt, darf sie
nicht mit einer panoramatischen Überschau verwechselt werden, wo von
einem entrückten Standpunkt aus feinste Differenzierungen im schweifenden
Rundblick eingeebnet werden. In der grammatischen Methode befindet man
sich – kreuz und quer gehend, prüfend, eingreifend – immer inmitten der
Darstellungsarbeit und gewinnt Übersicht im radikalen Wechsel der Perspektiven. Folglich ist die erzielte ‚Übersicht’ der Grammatik eines Wortes als
aufwendiges kritisches Arrangement lebendigen Sprachmaterials kein Bild für
die Ewigkeit, sondern von äußerst begrenzter Stabilität; sie ist ergänzbar,
veränderbar, sie gerät in prekäre Nachbarschaft zu anderen übersichtlichen
Darstellungen und gerade in dieser vollkommen unbeschaulichen Beweglichkeit funktioniert sie – Kennzeichen aller guten Experimentalsysteme – als ein
Forschungsaggregat am allerbesten.69
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68
69
Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, a.a.O., aus § 122. Die Bemerkung findet sich
auch bereits, allerdings noch ohne den ausdrücklichen Verweis auf das Erfinden, in:
Ludwig Wittgenstein: Bemerkungen über Frazers Golden Bough, in: ders.: Vortrag über Ethik
und andere kleine Schriften, herausgegeben von Joachim Schulte, Frankfurt a. M. 1989, S.
29-46, hier S. 37. Vgl. Birgit Griesecke: Zwischenglieder (er)finden. Wittgenstein mit Geertz
und Goethe, in: Wilhelm Lütterfelds / Djavid Salehi (eds.): ‚Wir können uns nicht in sie finden‘. Probleme interkultureller Verständigung und Kooperation, Frankfurt a. M. 2001, S. 123146.
Hans-Jörg Rheinberger: Augenmerk, in: ders.: Iterationen, Berlin 2005, S. 51-73, hier S.
69.
120
Birgit Griesecke / Werner Kogge
4. Wie experimentell ist Wittgensteins Methode? Ein Beispiel
Wenn ‚experimentell zu sein’ ein angemessenes Prädikat für Denken sein soll
und wenn dies in einem strengen Sinne des Begriffs ‚experimentell’ gelten
soll, dann müssen die Kriterien dafür, dass etwas experimentell genannt wird,
für Vorgänge des Denkens erfüllt sein. Und zu diesen Kriterien gehört zumindest, dass wir eine Versuchsanordnung aus relativ stabilen Elementen
vorfinden, die gleichwohl variabel ist (technische Dinge), dass es etwas gibt,
über das etwas in Erfahrung gebracht werden soll (epistemisches Ding), dass
ein Vorgang zum Ablauf gebracht wird (das Experiment also durchgeführt
wird) und zwar in einer Weise, dass das Ergebnis nicht nur zurechtgedrechselt
oder konstruiert wird, sondern sich auch aus Eigenschaften des untersuchten
Materials ergibt.
Der Behauptung, dass Denken experimentell sein kann, stehen die in der
Ablehnung von Gedankenexperimenten vorgebrachten Zweifel entgegen, was
denn das objektiv Gegebene im Denken sei. Auf der einen Seite fehle es an
einem Gegenüber, das – gleich der Natur – objektive Ergebnisse zeitigt, auf
der anderen Seite mangle es an einem realen, intersubjektiv reproduzierbaren
Versuchsaufbau, denn Denken, so wird vorausgesetzt, sei eine persönliche, im
Inneren des Subjekts sich vollziehende Angelegenheit. Dass beides für den
Fall der grammatischen Betrachtung nicht zutrifft, kann folgendes Beispiel
zeigen:
Daß etwa der König eines Stammes für niemanden sichtbar bewahrt wird, können wir
uns wohl vorstellen, aber auch, daß jeder Mann des Stammes ihn sehen soll. Das letztere wird dann gewiß nicht in irgendeiner mehr oder weniger zufälligen Weise geschehen sollen, sondern er wird den Leuten gezeigt werden. Vielleicht wird ihn niemand
berühren dürfen, vielleicht aber berühren müssen. Denken wir daran, daß nach Schuberts Tod sein Bruder Partituren Schuberts in kleine Stücke zerschnitt und seinen
Lieblingsschülern solche Stücke von einigen Takten gab. Diese Handlung, als Zeichen
der Pietät, ist uns ebenso verständlich, wie die andere, die Partituren unberührt, niemandem zugänglich, aufzubewahren. Und hätte Schuberts Bruder die Partituren verbrannt, es wäre auch das als Zeichen der Pietät verständlich. Das Zeremonielle (heiße
oder kalte) im Gegensatz zum Zufälligen (lauen) charakterisiert die Pietät.70
Diese Passage aus den Auseinandersetzungen mit dem Ethnologen James
George Frazer, stellt ein hochverdichtetes Beispiel für Wittgensteins experimentelles Verfahren dar. Inhaltlich geht es hier um die Kritik an einer Sichtweise, die Wittgenstein als eng, roh und irreführend charakterisiert, die nämlich, vom Standpunkt aufgeklärter, wissenschaftlicher Rationalität, die
fremden Gebräuche, über die sie handelt, „als Irrtümer erscheinen“71 lässt.
Dagegen führt Wittgenstein ins Feld, dass sich selbst von zunächst äußerst
_____________
70
71
Wittgenstein: Bemerkungen über Frazers Golden Bough, a.a.O., S. 33f.
Ebd., S. 29.
Ein Arbeitsprogramm, kein Abgesang
121
fremd erscheinenden Ritualen Linien ziehen lassen zu uns vertrauten Praktiken, dass also Frazers Darstellung von den irrationalen, in Irrtümern befangenen Wilden seiner eigenen Erklärungshypothese, die andere Lebensformen
nur als Vorstufen des eigenen zivilisatorischen Entwicklungsstandes betrachten kann („Welche Enge des seelischen Lebens bei Frazer! Daher: Welche
Unmöglichkeit, ein anderes Leben zu begreifen als das Englische seiner
Zeit!“)72, geschuldet sei.73 Wenn Wittgenstein in diesem Zusammenhang die
Fälle eines Königs, der im Verborgenen gehalten wird und eines Königs, der
ausgestellt wird, entwirft, dann kreiert er vor dem Hintergrund des vertrauten
Souveräns, der zu bestimmten Anlässen seine repräsentative Funktion ausübt,
eine sehr exotische, ja möglicherweise absurd erscheinende Konstellation.
Betrachten wir – bevor wir dazu kommen, in welchem Sinne hier ein Experiment durchgeführt wird – die Bestandteile dieses settings. Was wird hier ins
Spiel gebracht? Zunächst einmal sind die verschiedenen Konstellationen aus
Worten wie ‚König’, ‚verborgen’ und ‚zeigen’ so einfach, dass sie im experimentellen Rahmen kontrolliert und gezielt variiert werden können. Stellt man
in Bezug auf solche Konstellationen die Frage, welcher Status von Objektivität ihnen zukommt, so lässt sich festhalten, dass es sich nicht um persönliche
Erinnerungen Wittgensteins handelt – und ebenso wenig um auf die Persönlichkeit Wittgensteins beschränkte Phantasien. Denn mit Recht weist Wittgenstein ja darauf hin, dass wir uns Konstellationen wie den unsichtbaren
oder jedermann gezeigten König leicht vorstellen können. ‚Vorstellbarkeit’,
‚Denkbarkeit’ – diese Begriffe bezeichnen den Status der Objekte, die für das
experimentelle setting der grammatischen Betrachtung zusammengestellt werden.
Dass es sich mit ihnen tatsächlich so verhält wie sie vorgestellt werden, erscheint möglich. Möglichkeitsgebilde könnten wir diese Objekte nennen oder
‚mögliche Sachverhalte’, wenn wir in der Terminologie des Tractatus sprechen
wollen. Was in diesem Sinne denkmöglich ist, entscheidet nicht das einzelne
Subjekt, es ist aber auch nicht in irgendeinem Regelverzeichnis zum richtigen
Sprachgebrauch festgelegt. Seine Objektivität bezieht es aus seiner frappierenden Plausibilität, die so weit reicht, wie die eingesetzten Elemente bekannt
und vertraut sind. Was das experimentelle setting einsetzt, ist also der Grundschatz unseres kulturellen Wissens, Selbstverständlichkeiten, die so geläufig
sind, dass sie der Befragung und Kritik für gewöhnlich entzogen bleiben.74 In
ihrer unser ganzes Denken und Handeln konstituierenden Funktion bleiben
_____________
72
73
74
Wittgenstein: Bemerkungen über Frazers Golden Bough, a.a.O., S. 33.
Vgl. dazu: Birgit Griesecke: Cambridge 1930. Die neuen Denk- und Schreibversuche des
mittleren Wittgenstein, in: Wolfgang Braungart / Kai Kauffmann (eds.): Euphorion. Beiheft: Essayismus 1870-1930 (in Vorbereitung).
Vgl. Ludwig Wittgenstein: Bemerkungen über Frazers Golden Bough, a.a.O., S. 34: „Die
eigentlichen Grundlagen seiner Forschung fallen dem Menschen gar nicht auf. Es sei
denn, daß ihm dies einmal zum Bewusstsein gekommen ist. (Frazer etc., etc.)“
Birgit Griesecke / Werner Kogge
122
Unterscheidungen wie die von sichtbar und unsichtbar der subjektiven Bestimmung ebenso wie der konventionellen Regelung entzogen, und diese
Unabhängigkeit, verbunden mit einer manifesten Stabilität und Wirksamkeit,
ist es, was diesen Konstellationen einen objektiven Status, vergleichbar mit
dem der naturwissenschaftlichen Gegenstände verleiht.
Wenn wir nun fragen, in welchem Sinne hier ein Experiment durchgeführt
wird, gilt es zunächst einmal zu betonen, dass mit dem Entwurf von artifiziellen Konstellationen noch gar nichts Experimentelles verrichtet ist. Phantasievolle Konstruktion alleine – und seien die Ausgangsannahmen noch so irreal
und befremdlich – reicht nicht hin, um zu experimentieren. So besteht das
Experiment in Wittgensteins Beispiel auch nicht schon darin, monarchische
Rituale zu ersinnen, die von den uns vertrauten denkbar weit entfernt liegen,
vielmehr wird aus dieser Konstruktion ein Experiment erst dadurch, dass
diese Vorstellungen in ein präzises Arrangement gefügt werden, mit dem Ziel,
etwas geschehen zu lassen. Nicht also schon die Vorstellung von etwas, sondern das Geschehen, das durch Vorstellungen ermöglicht und induziert wird,
macht einen gedanklichen Prozess zum Experiment, ‚denke dir ...’, nicht:
‚stelle dir vor ...’ ist demgemäß Wittgensteins notorische Einleitung zu seinen
gedanklichen Versuchen.
Neben der Anordnung von relativ stabilen Elementen benötigt das Experiment etwas, worauf sich das Erkenntnisbestreben richtet, ein ‚epistemisches
Ding’. In unserem Beispiel richtet sich dieses Bestreben auf den Begriff der
Pietät, genauer: auf die Kriterien und Grenzen seiner Verwendung. Herausgefordert durch Frazers naserümpfende Darstellung außereuropäischer Rituale
und der beschränkten Perspektive des modernen Rationalisten fragt Wittgenstein danach, welche Verwendungen in unserem Begriff der Pietät (als Beispiel für eine mit Rituellem verknüpfte „geistige[ ] Angelegenheit“)75 angelegt
– denkmöglich – sind. Geleitet von der Vermutung, dass sich unser Begriff
der Pietät sehr wohl auf Fälle wie den verborgenen König beziehen lässt,
macht Wittgenstein den Versuch, ‚Zwischenglieder zu finden’, die diesen Fall
mit unzweifelhaften Fällen verknüpfen. Im Beispiel unserer Textpassage geschieht dies durch eine Parallelmontage der monarchischen Inszenierung mit
dem Totenritual Schuberts.76 Umkehrungen wie der ausgestellte König und
Variationen wie die zerschnipselte oder verbrannte Partitur korrelieren den
zunächst äußerst fremd anmutenden Fall des für niemanden sichtbaren Königs mit dem Fall der unzugänglich aufbewahrten Partitur, der uns als paradigmatisch für eine pietätvolle Handlung gilt.
In dieser Kette von Varianten zeigt sich nun auch das dritte Kriterium für
Experimente erfüllt, nämlich dass ein Vorgang zum Ablauf gebracht wird, der
_____________
75
76
Wittgenstein: Bemerkungen über Frazers Golden Bough, a.a.O., S. 36.
Zu einer genauen Analyse der Passage vgl. Birgit Griesecke: Cambridge 1930, a.a.O.
Ein Arbeitsprogramm, kein Abgesang
123
in seinem Ergebnis offen ist. Denn durch das Arrangement der Verwendungsfälle kommen zugleich Möglichkeiten der Verwendung im Begriff der
Pietät zum Vorschein, die in dem Bild, das wir uns zuvor davon machten, gar
nicht in den Blick kamen oder ganz unklar waren. Dieses Hervortreten von
Möglichkeiten ist ein tatsächlich „unvorwegnehmbares Ereignis“77, denn die
Frage, wie weit die Möglichkeit der Verwendung eines Begriffes reicht, lässt
sich nicht vorentscheiden, sondern nur durch Erprobung von Fallvarianten
erkunden. In der Erprobung kann sich erweisen, dass der Versuch glückt,
aber auch, dass er scheitert, eine Grenze zu anderen Begriffen markiert. Verbindungen und Grenzen, die uns nicht bekannt waren, werden so sichtbar
und in eine übersichtliche Darstellung gebracht; dies sind die Entdeckungen,
die uns das experimentelle Verfahren der grammatischen Betrachtung liefert.
Während der Versuch mit dem Begriff der Pietät glückt und daher einlädt, ihn ex post als Beweisführung zu deuten, zeigt sich das experimentelle
Moment noch klarer in einem Beispiel, in dem ein Fallarrangement eine
Grenze zum Vorschein bringt:
Frage dich: Wäre es denkbar, daß einer im Kopf rechnen lernte, ohne je schriftlich
oder mündlich zu rechnen? – ‚Es lernen’ heißt wohl: dazu gebracht werden, daß
man’s kann. Und es fragt sich nur, was als Kriterium dafür gelten wird, daß jemand
dies kann. – Ist aber auch dies möglich, daß einem Volksstamm nur das Kopfrechnen
bekannt ist und kein andres? Hier muß man sich fragen ‚Wie wird das aussehen?’ –
Man wird sich dies als einen Grenzfall ausmalen müssen. Und es wird sich dann fragen, ob wir hier noch den Begriff des Kopfrechnens anwenden wollen – oder ob er
unter solchen Umständen seinen Zweck eingebüßt hat; weil die Erscheinungen nun
zu einem anderen Vorbild hin gravitieren.78
Die Konstruktion von Fallarrangements, an denen Möglichkeiten und Grenzen der Begriffsverwendung sichtbar werden, ist materialgebunden, eingreifend und beobachtend genau in dem Sinne, in dem es jedes experimentelle
Handeln ist: die einzelnen Elemente und Konstellationen sind weder irreal
noch einfach vorgefunden, sie verhalten sich vielmehr indifferent zu ihrem
außerexperimentellen Auftreten: „wir betreiben“, schreibt Wittgenstein,
„nicht Naturgeschichte, – da wir ja Naturgeschichtliches für unsere Zwecke
auch erdichten können.“79
Doch wie lässt sich der Gegenstand der grammatischen Versuche begreifen? Welche ‚Wirklichkeit’ wird durch grammatische Betrachtung erforscht? Ginge
es nur um den gegebenen faktischen Gebrauch, so würde zum Rätsel, wozu
das Erfinden von Fällen und Zwischengliedern, wozu deren kunstvolles Arrangement mit gewöhnlichen Verwendungen nützlich sein sollte. Die Realität
der durchschnittlichen Verwendung wäre ja viel eher einer soziolinguistischen
_____________
77
78
79
Hans Jörg Rheinberger: Experiment. Differenz. Schrift, a.a.O., S. 15f.
Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, a.a.O., § 385.
Ebd., S. 578.
Birgit Griesecke / Werner Kogge
124
Erhebung zugänglich, die – eventuell ebenfalls durch Experimente – das
Material unserer jeweiligen sozialen Sprachkompetenz erforschte. Doch um
dieses Material geht es nicht bei der grammatischen Betrachtung; es geht in
ihr nicht darum zu erkunden, welcher Anteil einer Sprachgemeinschaft welchen Begriff in welchen Weisen gebraucht, sondern darum, in welcher Weise
der Begriff sich gebrauchen lässt. Doch inwiefern kann diese Möglichkeit als
empirische Wirklichkeit betrachtet werden, die experimentell zu erforschen
ist? Wittgensteins Beispiel für ein Experimentieren durch Vorstellungen war
die Situation ‚wie begrüße ich N?’ Fragt man, was hier erkundet wird, so heißt
die Antwort: eine Verhaltensroutine, die im alltäglichen Leben nicht bewusst
wird, die aber durch ausdrückliche Vergegenwärtigung vor sich gebracht werden kann. Wie wir angedeutet haben, bereitet dieses Beispiel der Auffassung
der grammatischen Betrachtung als experimentelles Verfahren zwar das Feld,
bleibt aber selbst ein Hybrid. Denn obschon hier durch Gedanken experimentiert wird, ist das, worauf sich das Erkenntnisstreben richtet, nicht ein Gedanklich-Begriffliches. Modifizieren wir das Beispiel nun so, dass es um den
Begriff des Begrüßens, also um die Frage geht: Was würde ich (noch) als Begrüßung auffassen, dann gelangen wir ins genuine Feld der Versuche durch
grammatische Betrachtung. Es ginge dann z.B. darum, ob und unter welchen
Umständen es eventuell mit dem Konzept des Begrüßens vereinbar wäre,
wenn N mir die Hand zum Gruß stoßartig mit ausgetrecktem Arm reichte.
Gegenstand der grammatischen Untersuchung wäre hier nicht eine Verhaltensdisposition, sondern die Begründungen und Kriterien, die in der Situation
eine Rolle spielen. Auch diese Untersuchung hat es mit konkreten Situationen
zu tun, nämlich mit Anwendungsfällen, an denen sich die begrifflichen Kriterien mehr oder weniger reiben.80 Erforscht wird hier nicht ein außerhalb des
Denkens Erfahrbares, ebenso wenig aber auch ein Denkmögliches jenseits
der Erfahrungen; erforscht wird vielmehr das Gefüge aus Erfahrungen und
Kriterien der Begriffsverwendung. Gedankenexperimente entdecken, wie
unsere Begriffe in unserer Erfahrungswelt wurzeln, indem sie sie sowohl auf
die Verwendungssituationen zurückführen, in denen sie unproblematisch
arbeiten als auch so strapazieren, dass sie mit der (sozialen) Wirklichkeit unserer Erfahrungen inkompatibel werden. Was erkundet wird, ist also die empirische Wirklichkeit des Zusammenspiels von Begriffen und Erfahrungen.
_____________
80
Vgl. Werner Kogge: Das Gesicht der Regel: Subtilität und Kreativität im Regelfolgen nach
Wittgenstein, in: Wilhelm Lütterfelds / Andreas Poser / Richard Raatzsch (eds.): Wittgenstein-Jahrbuch 2001/2002, Frankfurt a. M. 2003, S. 59-85.
Ein Arbeitsprogramm, kein Abgesang
125
5. Nicht ohne Experimente: der Ausweg aus dem Fliegenglas
Wir haben zu Anfang bereits angedeutet, dass die jüngere Debatte über die
Philosophie Wittgensteins nur den Anschein erweckt, als reduzierte sich diese
Philosophie auf eine Geste der Selbstüberwindung philosophischer Bemühungen. Gegen diese Beschränkung behaupten wir, dass der Gegenstand der
philosophischen Methode, wie sie Wittgenstein seit Beginn der 30er Jahre
entwickelt, nicht nur die Philosophie oder bestimmte philosophische Probleme (etwa bedeutungstheoretische) sind, sondern jedwedes Denken, insofern
es in Bildern und Fallen befangen ist. Der therapeutische Impuls in Wittgensteins Spätphilosophie geht deshalb auch nicht dahin, uns von irgend etwas
Bestimmtem zu befreien, schon gar nicht von der Philosophie selbst, sondern
dahin, eine Methode zu entwickeln und vorzuführen, Verengungen, Verirrungen und Blockaden zu überwinden, in die das Denken sich immer wieder
manövriert, da es die Möglichkeiten des Sprachgebrauchs nicht genügend
überblickt. Dass der Überblick, auf den Wittgenstein hinaus will, sich auf
Möglichkeiten richtet, kann nicht genug betont werden, denn dieser Aspekt
birgt das entscheidende Moment, in dem sich Wittgensteins philosophische
Methode vom wissenschaftlichen Verfahren der Untersuchung einer gegebenen Sprache abhebt. Nicht im bloßen Zurückführen, sondern im zurückführenden Hinausführen, liegt – pointiert gesprochen – das therapeutische Motiv
der Wittgensteinschen Spätphilosophie. Eines der stärksten Bilder, das Wittgenstein zur Kennzeichnung seiner Arbeit benutzt, ist deshalb in der Formulierung ausgedrückt: „Was ist dein Ziel in der Philosophie? – Der Fliege den
Ausweg aus dem Fliegenglas zeigen.“81 Diese Bemerkung, die Wittgenstein
immer wieder an verschiedenen Stellen seiner Manu- und Typoskripte eingesetzt hat, entfaltet ihre Bedeutung, wenn man weiß, dass ein Fliegenglas eine
Art Glockenform besitzt mit einer Öffnung unten. Genau dieser Ausweg, der
als Eingang ganz unproblematisch war, bleibt der Fliege, deren schematische
Bewegungs- und Fluchtrichtungen nach oben oder zur Seite gehen, unzugänglich, solange sie sich nicht von ihrer vorgeprägten Aktionsweise löst und
– gegen ihren Trieb82 – die Richtung einschlägt, aus der sie gekommen ist.
Eine solche Umwendung, die aus der Panik eines Gefangenseins erlöst, befreit tatsächlich aus einer Unruhe, löst tatsächlich aus scheinbarer Aporie und
kann deshalb in einem gewissen Sinne als eine Therapie verstanden werden.
Doch was Wittgensteins Methode für die Philosophie bedeutet, ist eben nicht
die Auflösung des einen oder anderen metaphysischen Rätsels, auch nicht die
Auflösung aller philosophischen Probleme; ihre eigentliche Leistung besteht
vielmehr darin, Verfahren und Fähigkeiten vorgeführt zu haben, durch die
_____________
81
82
Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, a.a.O., § 309.
Ebd., § 109.
126
Birgit Griesecke / Werner Kogge
begriffliche Probleme sich lösen lassen. Die Einsicht, dass die Sprache, dort,
wo sie arbeitet, immer auch sachhaltig ist, ist die elementare Voraussetzung
zum Verständnis dieser Methode. Denn nicht in einer Definition oder logischen Ableitung, sondern erst in der erprobenden Anwendung auf je konkrete Fälle stellt sich heraus, welche Koordinaten ein Begriff in unserer Erfahrungswelt, in unserer Lebensform einnimmt. Und weil diese Methode die
Sprache als Organ unserer Weltverbundenheit ernst nimmt, sich also auf
einen Bereich richtet, in dem wir stehen und von dem wir daher so wenig klar
wissen, ist sie auf tentative Erkundungen, auf die Durchführung von Versuchen angewiesen.
Epistemische Objekte als Zeichen- und
Interpretationskonstrukte
Günter Abel
I. Epistemische Objekte – Gefährliche Dinge?
Im Britischen House of Lords kam es vor einigen Jahren zu einer denkwürdigen Diskussion über die „Fullerene“, ein ausgezeichnetes Exemplar eines
„epistemischen Objekts“. Fullerene (die im Jahre 1985 entdeckt wurden) sind
Moleküle, die aus Kohlenstoff bestehen und die Form von hohlen fußballartigen Körpern besitzen. Ihren Namen verdanken sie dem amerikanischen
Architekten Richard Buckminster Fuller, der durch die Konstruktion der
geodätischen Traglufthalle bekannt wurde, die in ihrer Gestalt eine Ähnlichkeit mit der Struktur des Fullerene-Moleküls aufweist.
Das Anhörungs-Protokoll des House of Lords enthält die folgende Passage:
Baroness Sear: My Lords, vergeben Sie meine Unwissenheit; aber kann der edle Lord
sagen, ob ein Fulleren ein Tier, ein Gemüse oder ein Mineral ist? (...) Lord Renton:
My Lord, ich frage nach der Form des Fullerens: hat es die Form eines Rugby-Balls
oder eines Fußballs? Lord Reay: My Lords, ich glaube, es hat die Form eines Fußballs.
(...) Lord Campbell of Alloway: My Lords, was tut es? Lord Reay: My Lords, man
denkt, dass es mehrere mögliche Verwendungen haben könnte: für Batterien, als
Schmieröl oder als Halbleiter. All dies ist Spekulation. Es könnte sich auch herausstellen, dass es überhaupt keine Verwendung hat. Lord Russell: My Lords, kann man sagen, dass es nichts Besonderes kann, dies aber sehr gut tut? Lord Reay: Das könnte
gut der Fall sein.1
Leicht mag man sich vorstellen, dass eine der weiteren Fragen hätte lauten
können, ob Fullerene „gefährliche Dinge“ seien, ob nicht der Security Service
eingeschaltet und insbesondere deren Abteilung MI 5 mit ihrer permanenten
Observation betraut werden müsse.
„Epistemische Objekte“ sind das, worauf sich in den Wissenschaften, in
der Philosophie und in anderen Künsten unsere epistemische, d.h. unsere
wissens- und erkenntnis-orientierte Aufmerksamkeit und Neugierde, unsere
_____________
1
Internetquelle: http://www.fkf.mpg.de/andersen/fullerene/lords.html. (deutsche
Übersetzung G.A).
128
Günter Abel
Wissens- und Denkanstrengungen richten. Sie sind die Objekte der intellektuellen Begierde in Theorie und Praxis.2 In den Wissenschaften ist dies der Fall
auf dem ganzen Spektrum von z.B. Elementarteilchen, Molekülen, Genen,
Buckminster Fullerenen, Hirnmechanismen, mathematischen Knoten, bis hin
zu astrophysikalischen Galaxien. In der Philosophie reicht die Bandbreite
epistemischer Gegenstände von z.B. Sinnesempfindungen, über Vorstellungen, Wahrnehmungen, Bedeutungen, Referenzen, Repräsentationen, Gedanken, bis hin zu Verstandes- und Vernunftkonstruktionen (wie etwa Kausalität,
Freiheit, Gerechtigkeit, Wahrheit, Idee, Gut und Böse). In Theorie und Praxis
des Umgangs mit epistemischen Objekten möchten wir Näheres über sie und
ihre Rolle in unserem Welt-, Fremd- und Selbstverständnis erfahren. Dabei ist
mit der Frage nach den charakteristischen Merkmalen epistemischer Objekte
im Kern die sinnkritische Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen des
Wissens und Erkennens ebenso verbunden wie die Frage der Veränderung
und der Transformation von Wissensordnungen.3
Im Folgenden konzentriere ich mich vor allem auf epistemische Objekte
in den Wissenschaften. Und dort wiederum konzentriere ich mich auf die
Rolle von Zeichen, Sprachen und Interpretationen hinsichtlich epistemischer
Objekte und wissenschaftlicher Erfahrung. Vorschlagen möchte ich eine
zeichen- und interpretationsphilosophische Konzeption epistemischer Objekte, eine
Konzeption epistemischer Objekte als welterschließender Zeichen- und Interpretationskonstrukte in theoretisch-kognitiver ebenso wie in praktischtechnischer Hinsicht.
II. Objektaspekt und Epistemikaspekt
In Bezug auf die Rede von epistemischen Objekten denkt man zunächst an
die Objektseite des Ausdrucks, also bei „Viren“ an tatsächliche Viren, bei
„Elementarteilchen“ an tatsächliche Elementarteilchen oder bei „Wahrnehmungen“ an reale Wahrnehmungen. Aber offenkundig beschränkt sich der
Sinn der Rede von epistemischen Objekten nicht auf diese Seite. Weitere
semantische Merkmale kennzeichnen den Ausdruck. Wichtig ist zunächst
zwischen der Objektseite bzw. dem Objektaspekt und der Epistemikseite bzw. dem
Epistemikaspekt zu unterscheiden. Freilich ist diese Unterscheidung eine nur
_____________
2
3
Zu den Merkmalen epistemischer Objekte und zu ihrer Rolle für eine zeitgemäße
Epistemologie vgl. im einzelnen G. Abel: Epistemische Objekte - was sind sie und was macht
sie so wertvoll? Programmatische Thesen im Blick auf eine zeitgemäße Epistemologie, in: Pragmata.
Festschrift für Klaus Oehler, Tübingen 2008, S. 285-298.
Zu letzterem vgl. G. Abel: Die Transformation der Wissensordnungen und die Herausforderungen der Philosophie, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie, 34 (2009), S. 5-28.
Epistemische Objekte
129
heuristische und darstellerische (nicht eine theoretische). In der Sache gilt, dass
Objektaspekt und Epistemikaspekt intern so miteinander verschränkt sind,
dass sie zwei Seiten ein und derselben Medaille bilden. Aber – und das ist
wichtig – im Epistemikaspekt werden wir sogleich auf die zentrale Funktion
der Zeichen, Sprachen und Interpretationen aufmerksam. Jedes epistemische
Objekte und mithin jede Konzeption der Wirklichkeit ist von der Grammatik
und den Regeln der verwendeten und epistemisch wirkenden Zeichen- und
Interpretationsfunktionen abhängig. Das, was im Sinne der oben genannten
Beispiele epistemischer Objekte als ein Gegenstand unserer Aufmerksamkeit
und Neugierde, unseres Wissens, unserer Erfahrung und unseres Erkennens
zählt, ist unter kritischem Vorzeichen stets bereits „Gegenstand in der Aufmerksamkeit, in der Neugierde, im Wissen, in der Erfahrung und im Erkennen“. Berechtigterweise kann in Bezug auf jedes individuierte Stück Erfahrung die Frage nach den Instrumenten der Individuation, der Diskrimination
und der Spezifikation der jeweiligen Gegenstände und Erfahrungen gestellt
werden. Annehmen zu wollen, dass die für uns relevante Welt, die Welt, auf
die wir uns verstehen, als eine gänzlich geist- und schematisierungsunabhängige, als eine gänzlich nicht-epistemische Welt vorfabriziert individuiert fertig daliegt, wäre sinnkritisch nicht explizierbar. Wir können die
epistemische Situation der endlichen menschlichen Geister nicht überspringen. In diesem Sinne kann jede Welt als eine Zeichen- und Interpretationswelt
angesehen, konzipiert und modelliert werden. Dieser interne Zusammenhang
von Epistemikaspekt und Objektaspekt bildet den Kern und den heuristischen Ausgangspunkt der Allgemeinen Zeichen- und Interpretationsphilosophie.4
III. Die Individuation materieller Objekte und Ereignisse kraft
epistemischer Zeichen und Interpretationen
Hervorzuheben ist, dass die skizzierte Sichtweise weder in Bezug auf die verwendeten Zeichen- und Interpretationssysteme noch hinsichtlich des Sinns
der Rede von „epistemischen Objekten“ in einen Idealismus führt. Epistemische Objekte (wie z.B. Fullerene, Elementarteilchen, Gene, Hirnmechanis_____________
4
Deren Grundzüge werden näher entfaltet in G. Abel: Interpretationswelten. Gegenwartsphilosophie jenseits von Essentialismus und Relativismus, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1995; Abel:
Sprache, Zeichen, Interpretation, Frankfurt a. M. 1999; und in Abel: Zeichen der Wirklichkeit,
Frankfurt a. M. 2004. Zum Ansatz insgesamt vgl. die treffliche Darstellung bei U.
Dirks: Interpretation / Interpretationsphilosophie, in: Enzyklopädie Philosophie, hrsg. von H. J.
Sandkühler, 2. Auflage, Hamburg 2009.
Günter Abel
130
men) sind keine idealistischen Konstrukte im Sinne bloßer Bedeutungen und
Referenzen.5
Unter einem Idealisten in puncto „epistemische Objekte“ verstehe ich
jemanden, der auf die Frage „Wovon handelt und worauf bezieht sich die
Rede von epistemischen Objekten, z.B. von „Elementarteilchen“ oder „Galaxie“?“ letztlich antwortet: „Auf die Idee/Proposition ‚Elementarteilchen’ oder
‚Galaxie’ als Bedeutung und Referenz des Wortes bzw. des Einwortsatzes“.
Doch diese Antwort ist offenkundig nicht zutreffend. Die Rede vom epistemischen Objekt „Elementarteilchen“ handelt von und bezieht sich auf materielle Elementarteilchen, nicht auf die Proposition „Elementarteilchen“ als
Bedeutung des Satzes oder Ausdrucks. Und dass es Elementarteilchen gibt ist
die Erfüllungsbedingung der erfolgreichen Rede vom epistemischen Objekt
„Elementarteilchen“. Epistemische Objekte sind keine idealistischen Konstrukte. Sie können vielmehr als die realen Objekte des wissenschaftlichen
Forschens und der philosophischen Reflexion konzipiert werden.
Ein epistemisches Objekt ist – um eine Kantische Unterscheidung ins
Spiel zu bringen – weder bloß ein Phaenomenon (im Sinne eines Gegenstandes
als Erscheinung) noch ein Noumenon (im Sinne des unbestimmten Begriffs
von einem Etwas überhaupt, das außerhalb der Sinnlichkeit gedacht wird).
Aber es ist im Hinblick auf das, was für endliche menschliche Geister überhaupt Gegenstand eines gehaltvollen wissenschaftlichen Forschens und einer
gehaltvollen philosophischen Reflexion sein kann, intern stets bereits vorausgesetztes und als real präsupponiertes Zeichen- und Interpretationskonstrukt.
In den Wissenschaften besteht ein interner Zwang zur Bildung epistemischer Objekte, da Wissenschaften Wirklichkeit nicht einfach so beschreiben
und abbilden, wie diese uns alltäglich begegnet. Vielmehr geht es in den Wissenschaften darum, in bestimmten Hinsichten und unter relevanten Aspekten
Regelhaftigkeiten, Ordnungen, Strukturen und Gesetzesartigkeiten herauszupräparieren, die so zuvor noch nicht bekannt waren. In diesem Sinne sind z.B.
„Strukturen“ ausgezeichnete epistemische Objekte in der Grundlagenphysik.
Die Bildung solcher epistemischer Objekte (einschließlich der mit ihnen verbundenen möglichen wissenschaftlichen Hypothesen und Theorien) erfolgt
ebenso wie die Artikulation und die Kommunikation der Resultate wissenschaftlichen Forschens in der Scientific Community mit Hilfe, genauer: kraft
Sprache, allgemeiner: kraft Zeichen und Interpretationen.
Dabei ist hinsichtlich szientifischer Objekte heute nicht mehr nur darauf zu
achten, dass diese allgemein in Theorien konstituiert werden. In vielen Bereichen geht es vor allem auch darum, wie speziell durch den Einsatz von Methodendesign, Fachsprachen, Mathematisierung und gegenwärtig zunehmend
_____________
5
Vgl. im einzelnen Abel: Epistemische Objekte - was sind sie und was macht sie so wertvoll?
Programmatische Thesen im Blick auf eine zeitgemäße Epistemologie, a.a.O., Punkt 4.
Epistemische Objekte
131
durch den Einsatz von Computern auf die Objektindividuation Einfluss genommen wird.
In den modernen Wissenschaften sind zudem vornehmlich auch diejenigen epistemischen Objekte von besonderer Wichtigkeit, die nicht in unsere
direkte sinnliche Wahrnehmung fallen, sondern nur über komplizierte Zeichen- und Interpretationsvorgänge wie insbesondere aufgrund von Wirkungen und Messungen ausgemacht werden können. Man denke exemplarisch an
die Bereiche Mikrophysik, Nanotechnik oder Genetik.
In sprach-, zeichen- und interpretationsphilosophischer Perspektive ist
dabei das Verhältnis besonders wichtig, das zwischen dem Wandel der semantischen Merkmale (Bedeutung, Referenz, Wahrheits- oder Erfüllungsbedingungen) von Termini und Begriffen (z.B. von „Atom“, „Gen“) einerseits und
dem entsprechenden Wandel der darin ausgedrückten, bedeuteten und referierten Objekte andererseits besteht.
Die schleifenförmig in sich zurücklaufende Struktur des Verhältnisses
von Epistemikaspekt und Objektaspekt, von epistemischen Objekten und
materiellen Objekten (generell: von epistemischen Zeichen und materieller
Wirklichkeit) ist z.B. auch für die Sprache und Logik der Physik, insbesondere
der Quantenphysik kennzeichnend. So denotiert, beschreibt und artikuliert
z.B. ein mathematischer Formalismus die Zustände eines physikalischen Systems kraft Zeichen, im Beispiel: kraft mathematischer Größen, etwa durch
Vektoren. Darüber hinaus noch einmal trennscharf zwischen den Zeichenfunktionen einerseits und den gänzlich zeichen- und interpretationsunabhängigen Zuständen, Ereignissen und Prozessen andererseits unterscheiden zu wollen, führt, zumindest in epistemologischer Hinsicht, in bekannte
und letztlich desaströse Schwierigkeiten.
Diese gleichsam nach Art eines Möbius-Bandes in sich zurücklaufende
Struktur gilt generell für das Verhältnis von epistemischen Objekten und
materiellen Objekten des Forschens und der Reflexion. Jenseits des erfolgreichen Erforschens von und Reflektierens auf epistemische Objekte noch einmal nach den gänzlich nicht-epistemischen Objekten-an-sich und deren nichtepistemischen Eigenschaften-an-sich fragen zu wollen, verkennt von Grund
auf die nicht zu überspringende Tiefenwirkung „epistemischer Objekte“ für
das, was überhaupt als ein Gegenstand der Erfahrung, des Wissens und Erkennens gelten kann. Im Falle der Physik wird zugleich deutlich, auf welch
tiefsitzende und drehtürartige Weise vor allem die dort überaus relevante mathematische Modellierung und die darin denotierten und erfassten Zustände,
Ereignisse und Prozesse intern ineinander liegen. In diesem Sinne kann die
ganze Betrachtung in Sachen epistemische Objekte und die auf epistemische
Objekte bezogene Rede von „ontologischen Verpflichtungen“ („ontological
commitments“; Quine) aus dem Würgegriff der Dichotomie von „materiellem Naturalismus“ und „begrifflichem bzw. sprachlichem/linguistischem
132
Günter Abel
Idealismus“ herausgeholt, auf die Ebene der Zeichen- und Interpretationsverhältnisse überführt und dort rekonstruiert, modelliert und weitergeführt
werden. Das läuft auf eine adualistische Zeichen-und-Interpretationstheorie
epistemischer Objekte hinaus, die sich erklärtermaßen jenseits der inzwischen
steril gewordenen Dichotomie von „konstruktionalistischem Idealismus“ und
„metaphysischem Realismus“ bewegt.
IV. Sprach-, Zeichen- und Interpretationscharakter
der Wissenschaften
Der Sprach-, Zeichen- und Interpretationscharakter der Wissenschaften ist
unter zumindest drei Gesichtspunkten offenkundig:6
(1) Jede Wissenschaft ist auf Sprache und Zeichen gebaut und setzt damit
intern zugleich die Interpretation dieser Sprache und Zeichen voraus. Im
Falle der Naturwissenschaften ist dies vor allem die Sprache der Mathematik.
Modelle, Beschreibungen, Hypothesen, Theorien und Begründungen in den
Wissenschaften werden in öffentlichen, mit anderen Forschern geteilten Sprachen und Zeichen artikuliert, kommuniziert und intersubjektiv überprüft.
Bedeutung (mithin das, wovon die Ausdrücke handeln) und Referenz (mithin
das, worauf sie sich beziehen) aller Sprachen, zumal der Sprachen der Wissenschaften sowie ihrer epistemischen Ausdrücke und Termini (wie z.B.: „Gen“,
„Molekül“, „Gravitation“, „Feld“) sind Ergebnis öffentlicher Interaktion in
Sprache und Zeichen, im Falle der Wissenschaften interaktiver Verständigung
in der Scientific Community.
(2) Hinsichtlich des Verhältnisses von „Realitätsausschnitt und Sprache“
wird man sich leicht darauf verständigen können, dass sich die ModellRealität-Verhältnisse in Zeichen vollziehen. Sie vollziehen sich nicht bloß vermittels, sondern kraft der Zeichen, des näheren der Modell-Zeichen und ihrer
Interpretation. Modelle können als Zeichen- und Interpretationskonstrukte
verstanden werden. Und dies wiederum erfolgt nicht so, dass zwischen „Zeichen“ und „Tatsachen“ (etwa zwischen dem mathematischen Formalismus
und der durch diesen individuierten und artikulierten Realität) epistemische
Vermittler und Zwischen- oder Überbrückungs-Instanzen anzusetzen wären,
die den Zeichen ihre symbolisierende Kraft und ihre Repräsentationsleistung
allererst zukommen lassen. Zeichen sind in ihren Zeichenfunktionen keine
Stellvertreter der Gegenstände, von denen sie handeln und auf die sie sich
beziehen (z.B. von Galaxien oder von mikrophysikalischen Ereignissen) und
sie bedürfen in ihren Zeichenfunktionen keiner weiteren epistemischen Ver_____________
6
Vgl. dazu G. Abel: Zeichen der Wirklichkeit, Frankfurt a. M. 2004, Einleitung, S. 47-48
und S. 39.
Epistemische Objekte
133
mittlungsstücke. Dies wirft die Frage auf, wie es uns kraft der verwendeten
und verstandenen Zeichen eigentlich gelingt, das zu benennen, zu beschreiben oder zu repräsentieren, was wir ohne Zeichen- und Interpretationsfunktionen gar nicht als Wirklichkeit erfahren könnten.
(3) Angesichts des direkten Weltbezugs kraft Zeichen kann im Falle erfolgreichen Zeichenverwendens und Zeichenverstehens letztlich nicht mehr
verständlich gemacht werden, was es heißen soll, zwischen dem erfolgreichen
Zeichengebrauch und der Wirklichkeit resp. der darin beschriebenen Realität
eine logische Kluft ansetzen zu wollen. Vielmehr handelt es sich um „Zeichen
der Wirklichkeit“ im genitivus objectivus und subjectivus. Daher kann es auch
nicht mehr darum gehen, eine Brücke von den Zeichen zur Wirklichkeit zu
schlagen und zu diesem Zwecke etwa Brückenprinzipien anzusetzen oder
nach solchen zu fahnden. Die Pointe liegt vielmehr darin, dass die Wirklichkeit im erfolgreichen Verwenden und Verstehen der Zeichen intern immer
schon bei den Zeichen ist, und diese nicht erst noch mit jener in eine externe
Verbindung gebracht werden müssen. Wenn man aufgefordert wird, eine
semantische Charakterisierung der Ausdrücke, sagen wir: „Elementarteilchen“, „Molekül“, „Virus“ oder „neuronales Assembly“ zu geben, so wird
man schnell genötigt, etwas über die materielle Beschaffenheit von Elementarteilchen, Molekülen, Viren und neuronalen Assemblies sagen zu müssen.
Und im Sinne genau dieses Drehtüreffekts ist Wirklichkeit stets ebenso zeichen- und interpretations-abhängige Wirklichkeit wie umgekehrt in funktionierenden Zeichen Wirklichkeit stets bereits präsupponiert, gegeben ist. Mit
dem Drehtür-Genitiv der Formulierung „Zeichen der Wirklichkeit“ haben wir
es auch im Bereich der Wissenschaften und ihrer Modelle, Sprachen, Zeichen
und Interpretationen zu tun.
Ist das Verhältnis zwischen epistemischen Objekten/Ereignissen und materiellen Objekten/Ereignissen nicht als ein Dualismus, sondern als der skizziert schleifenförmige Drehtüreffekt, als die zwei Seiten ein und derselben
Medaille zu konzipieren, dann handelt es sich in puncto Repräsentation nicht
mehr um Verhältnisse der Isomorphie, des kopierenden oder mimetischen
Spiegels, der Fotographie, sondern um Verhältnisse des Passens. Repräsentation ist daher nicht mehr vorzustellen im Sinne des älteren Modells der Repräsentation als eine zwei-stelligen Relation („x repräsentiert y“). Vielmehr ist,
noch im älteren Modell von Repräsentation und bewusst paradox gesprochen,
eine nicht-repräsentationalistische Theorie der Repräsentation erfordert. Das
ist das Desiderat. Entsprechend kann die zeichen- und interpretationstheoretische Konzeption der epistemischen Objekte und der Repräsentation nicht
mehr im Sinne des älteren Repräsentationalismus verstanden werden. Die
Kunst besteht darin, die entsprechenden Verhältnisse des skizzierten Drehtüreffektes in Sachen epistemische Objekte nicht mehr im alten Sinne repräsentationalistisch zu denken, sondern vielmehr z.B. das Wahrnehmen als
Günter Abel
134
einen nicht-repräsentationalistischen Prozess zu konzipieren und zu modellieren. Im Beispiel und im Sinne der drehtürartigen Struktur könnte man zugespitzt sagen: die interpretatorischen Perzeptual-Zeichen formen die Wahrnehmungsobjekte bzw. Perzepte, die ihrerseits und ohne weitere epistemische
Vermittler die Erfüllungsgegenstände der Perzeptual-Zeichen sind. Um ein
konkretes Beispiel zu nennen: die Zeichenverfasstheit einer „Adler“-Wahrnehmung macht auch erst, dass der wahrgenommene Adler der Erfüllungsgegenstand der Wahrnehmung des Adlers ist.7
Eine mit dieser Auffassung verbundene Herausforderung besteht in der
Frage, wie man sinnvoll überhaupt von nicht-linguistischen, nicht-propositionalen und nicht-begrifflichen, jedoch gleichwohl diskriminierten und
individuierten Formen und Gehalten sensorischer sowie perzeptueller Erfahrung sprechen kann. Die zeichen- und interpretationsphilosophische Antwort
auf diese Frage besteht vor allem darin, zwischen der urteilsgrammatischen
Sprachabhängigkeit im engeren Sinne und der (nicht-sprachliche Zeichen
einschließenden) Zeichen- und Interpretationsgebundenheit im weiteren
Sinne zu unterscheiden. In einem solchen Horizont sind sprachunabhängige
und nicht-propositionale Gehalte ohne Schwierigkeiten konzipierbar, sofern
diese eben innerhalb des weiter gefassten Rahmens der nicht-sprachlichen
Zeichen- und Interpretationsverfasstheit gesehen werden.8 Sinnwidrig wird
die Betrachtung unter kritischem Vorzeichen erst dann, wenn auch aus der
Zeichen- und Interpretationsgebundenheit herausgesprungen werden und ein
gänzlich nicht-epistemischer, gar ein absoluter externer Standpunkt eingenommen werden soll. Ein solches Unterfangen wäre selbst-destruktiv hoch
angesetzt und erwiese sich eben darin als unvernünftig.
V. Epistemische Objekte als Zeichen- und
Interpretationskonstrukte
Vor dem Hintergrund des bisher Gesagten kann man die szientifischen epistemischen Objekte, Zustände, Phänomene und Prozesse als Zeichen- und
Interpretations-Objekte, -Zustände und -Prozesse konzipieren und modellieren.
Dabei sind die epistemischen Objekte, die Zeichen und die Interpretationen nicht bloß sekundär und nicht bloß instrumentell miteinander verbunden.
Vielmehr können wir (in Abwandlung einer Formulierung von Charles S.
_____________
7
8
Vgl. dazu im einzelnen G. Abel: Zeichen- und Interpretationsphilosophie der Wahrnehmung, in
Abel: Wissen in Zeichen, 2010.
Zu dem damit verbundenen Unterschied zwischen einem Sprach-Nominalismus und
einem Zeichen-Nominalismus vgl. näher G. Abel: Zeichen der Wirklichkeit, a.a.O. Kap. 8.
Epistemische Objekte
135
Peirce in Bezug auf den inneren Zusammenhang von Zeichen und Denken)
sagen: „es gibt keine epistemischen Objekte ohne Zeichen und Interpretation“ bzw. ins Positive formuliert: „wir haben epistemische Objekte nur kraft
Zeichen und Interpretation“. Der Zusammenhang zwischen „epistemischen
Objekten“ und „Zeichen- und Interpretationsprozessen“ ist intern, nicht
extern. Er meint nicht nur die Verstrickung der Rede von „Gegenständen als
Gegenständen“ in begriffliche und konzeptionelle Aspekte. Die ursprüngliche
Zeichen- und Interpretationsverstrickung geht über die sprachlichpropositionalen Aspekte und auch über die bekannte Rede von der Theoriegeladenheit epistemischer Objekte ebenso hinaus wie über die Grammatik des
sprachlichen Urteils in Bezug auf Merkmale und Eigenschaften epistemischer
Objekte. Sie betrifft die zeichen- und interpretations-bestimmten Prozesse der
Objekt-Individuation selbst. Sie ist bereits auch in den zeichen- und interpretations-bestimmten Prozessen der Diskrimination und Individuation epistemischer Objekte auf der Ebene vor-sprachlicher und vor-propositionaler Muster-, Form- und Gestaltbildungen gegeben. Und sie setzt sich fort in den
Prozessen und Resultaten der Wahrnehmung, des Denkens und des Handelns. Beide, die Konstitution epistemischer Objekte ebenso wie die Artikulation und Kommunikation der Resultate wissenschaftlicher Forschung, sind
konditional an Zeichen und Interpretation gebunden. Zeichen, Sprache und
Interpretation begleiten Wissen, Wissenschaft und Erfahrung keineswegs in
einem bloß sekundären und instrumentellen Sinne. Sie sind vielmehr konstitutiv für szientifisches Diskriminieren, Individuieren, Spezifizieren, Wissen und
mithin für die szientifische Erfahrung selbst. Zugleich tritt der weitere und
kardinale Punkt hervor, dass die in wissenschaftlichen Experimenten zu Tage
tretenden Phänomene, Daten und Befunde einerseits selbst etwas sind, was es
zu verstehen gilt (sie mithin Zeichen im weiten und eher passivischen Sinne sind),
andererseits jedes Experiment eine Interpretation erfordert.
Offenkundig haben Zeichen- und Interpretationssysteme einen weitreichenden und wesentlichen Einfluss auf die Art und Weise, in der Wissen
konstituiert, artikuliert, erworben, kommuniziert und verwendet wird. Man
denke etwa an die bereits erwähnte Rolle der mathematischen Notation in
den Wissenschaften oder an die Relation zwischen Sprache/Wort und Bild im
Wissen und in den Wissenschaften (unter Einschluss sowohl ästhetischer als
auch epistemologischer Aspekte, wie z.B. im Falle des „Magnetic Resonance
Imaging (MRI)“). Die Prozesse der Interaktion bzw. des Wechselspiels von
Zeichen- und Interpretationssystemen verdient eine sehr viel größere Aufmerksamkeit als dies in den letzten Jahrzehnten der Fall war. Zu nennen wäre
etwa der wichtige Einfluss, der gegeben ist durch die zeichen- und interpretations-basierten Werkzeuge/Instrumente wie etwa chemische Formeln, Klassifikationstafeln, MR-imaging, Computergraphiken, Computersimulationen,
Günter Abel
136
Computer als symbolische Maschinen im Sinne des Vollzugs algorithmischer
Kalkulationen und logischer Operationen in den Wissenschaften.
Wissen zu haben, Erfahrungen zu machen, Wissenschaft zu treiben, Tatsachen und Sachverhalte zu schaffen, – alle diese Aktivitäten sind offenkundig
ohne den Einsatz von Zeichen und Interpretationen nicht möglich. Die Formen der zeichen- und interpretationsbasierten Symbolisierungen in Wissen,
Wissenschaft und Erfahrung (wie z.B. in Theorien, Modellen, Hypothesen,
Bildern, Graphen, Diagrammen, Datenbanken, Sammlungen, Simulationen)
differieren auf signifikante Weise im Laufe der Zeit und über die Jahrhunderte
ebenso wie zwischen den Kulturen. Das gleiche gilt für die zeichen- und interpretations-basierten Wege der Systematisierung des Wissens und der Wissenschaften in Wissensordnungen (in z.B. Theoremen, Beweisen, Handbüchern, Forschungsjournalen, Forschungsberichten, Sammlungen, im
Generieren, Konservieren, Revidieren von Wissen ebenso wie in dessen Degeneration und Verlust), – alle diese Aktivitäten und Prozesse waren und sind
signifikantem Wandel unterworfen. Gegenwärtig stellen neue Transformationen der Wissensordnungen eine besondere Herausforderung für Philosophie,
Wissenschaften und andere Künste dar.9 Durch diese Prozesse der Modifikationen in der Symbolverwendung bzw. des Wandelns in den Zeichen- und
Interpretationspraktiken hindurch bleibt jedoch als entscheidend festzuhalten:
gänzlich zeichen- und interpretations-freie Profile des menschlichen Wissens,
der Wissenschaften und der Erfahrung sind nicht verständlich zu machen.
Der Wandel der Zeichen- und Interpretationsfunktionen und deren semantischer Merkmale tut der These von der Zeichen- und Interpretationsgebundenheit eines jeden menschlichen Wissens nicht nur keinen Abbruch. Er lässt
sie vielmehr umso deutlicher hervortreten, indem er die Aufmerksamkeit auf
das lenkt, was man die historische und kulturspezifische Seite der Zeichenund Interpretationsprozesse nennen muss.
In diesem Sinne muss der kognitive ebenso wie der historische Zugang
zur konstitutiven Rolle der Zeichen und Interpretationen im Wissen, in den
Wissenschaften und in der Erfahrung eine Erweiterung um zwei intern ineinander verwobene Perspektiven erfahren: um eine allgemeine Theorie der
Zeichen und der Interpretationen. Diese erstreckt sich auf alle unterschiedlichen Formen, Praktiken und Dynamiken von Wissen, Wissenschaft und Erfahrung. Die Frameworks des Denkens können als Modi des Zeichengebrauchs und darin intern als stets bereits vorausgesetzte öffentliche Praxis
der Zeichen-Interpretation konzipiert werden. Diese differieren über die Zeit
und zwischen den Kulturen und können durchaus zu „clashes“ des Wissens,
der Wissenschaften und der Erfahrungen führen, – was heute in vielen Fällen
auch tatsächlich der Fall ist. Man denke etwa nur an die ethischen Fragen, die
_____________
9
Vgl. dazu G. Abel: Die Transformation der Wissensordnungen, a.a.O.
Epistemische Objekte
137
mit dem biotechnologischen, neuroprothetischen, nanotechnologischen und
medizinischen Fortschritt in den gegenwärtigen Wissenschaften einhergehen
(in letzterem Bereich etwa an das Konzept des Gehirntods).
Zur konstitutiven Rolle der Zeichen und Interpretationen in den Formen
und Praktiken des Wissens und der Wissenschaften gehört auch, was Nelson
Goodman einmal die „suggestive power of symbols“10 genannt hat. Damit ist
der überaus spannende und grundlegende Punkt gemeint, dass wir z.B. an
einem mathematischen oder chemischen oder diagrammatischen Formalismus eine Modifikation vorzunehmen bereit sind, schlicht aufgrund der suggestiven Kraft des Formalismus hinsichtlich seiner möglichen Fortsetzbarkeit,
Abkürzung oder Pointierung. Aufgrund der skizzierten schleifenförmigen
Rückbindung der Zeichen an das, was als das Denotat eines Zeichens gilt,
gehen die suggestiven Veränderungen der Zeichen, Symbole und Interpretationen als realitäts-erschließende Kräfte an die so erschlossenen und kraft des
Formalismus bestimmten Wirklichkeiten über. Solche Zeichen-Modifikationen werden in den empirischen Wissenschaften dann zurückgebunden an
das Experiment. Arbeit am Zeichen-Formalismus wird zu einer Methode, um
ein neues Experiment-Design zu entwerfen, und das heißt auch: neue wirklichkeits-erschließende Aspekte ebenso zu eröffnen wie Grenzen der Theorien abzustecken.
Wie aber genau bildet sich ein „epistemischer Gegenstand“ und wie der
intern korrelierte „Begriff“ des Gegenstandes heraus, sofern in jede Gegenstandskonstitution auch begriffliche Aspekte involviert sind, und umgekehrt?
Gegenstandskonstitution und Begriffskonstitution hängen intern und drehtürartig miteinander zusammen. Epistemische Objekte ohne begriffliche
Komponenten sind – um Kants berühmtes Diktum abzuwandeln – „blind“,
und Begriffe ohne epistemisch-materialen Gehalt sind „leer“, d.h. keine empirisch gehaltvollen Begriffe.
Die hier relevante zeichen- und interpretations-konstruktionale Seite tritt
schlagartig in den Blick, sobald wir „Begriffe“ nicht mehr weder als mentale
Entitäten ansehen (deren wir auf dem Wege einer introspektionistischen
Schau ansichtig werden könnten) noch als dasjenige verstehen, was durch eine
Auflistung von Prädikatoren (z.B. des Begriffs „Haselnuss“ durch Prädikatoren wie „hartschalig“, etc.) gebildet wird. „Begriffe“ können vielmehr, mit
Hilary Putnam11 gesprochen, als Zeichen angesehen werden, die auf eine
bestimmte Weise verwendet werden, nämlich: situationsgerecht und regelgemäß. Über einen Begriff verfügt man dann, wenn man die volle Bedeutung
_____________
10
11
N. Goodman: Ways of Worldmaking, Cambridge 1978.
Vgl. H. Putnam: Reason, Truth and History, Cambridge 1981, S. 18 ff.
Günter Abel
138
des entsprechenden Wortes kennt12, und dies ist der Fall, wenn man das Wort
bzw. das Zeichen situationsgerecht und regelgemäß zu verwenden und zu
verstehen weiß. In diesem Sinne ist sowohl die Rede von „epistemischen
Objekten“ als auch die damit korrelierte Rede vom „Begriff“ des Gegenstandes zeichen- und interpretations-abhängig, denn die Bedeutung eines Zeichens angeben heißt, die angemessene Interpretation des Zeichens liefern.
In allen Bereichen der genannten Spektren in Wissenschaft, Philosophie
und anderen Künsten sind epistemische Objekte nicht einfach vorfabriziert
fertig in der Welt herumliegende Objekte, die darauf warten, in unserem
Sprechen, Denken, Experimentieren und Handeln repräsentiert und erfasst zu
werden. Vielmehr haben sie stets bereits eine Genealogie und Konstruktionsgeschichte hinter sich und ihre Entwicklung und Zukunft, gleichsam ihr
„Schicksal“, noch vor sich. Epistemische Objekte sind nicht einfach da. Sie
entstehen als Zeichen- und Interpretationskonstrukte aus einem Geflecht von
theoretisch-begrifflichen, praktischen und anschaulich-ästhetischen Interessen, im Zuge von Auffälligkeiten sowie aus sensorischen, perzeptuellen, verstandes- und handlungsmäßigen Netzwerken und Hintergründen heraus und
auf diese hin. Daher können epistemische Objekte auch alt werden und ihre
bis dato die Aufmerksamkeits-, die Wissens- und die Erkenntnisanstrengungen motivierende und orientierende Kraft verlieren. Epistemische Objekte
können sterben. Manche von ihnen besitzen eine lange Lebensdauer, andere
sind eher kurzlebiger (hin und wieder auch bloß modischer) Art. Epistemische Objekte sind ihrer Natur nach epistemische Objekte auf Zeit.
Von hoher Relevanz ist auch das Verhältnis von „epistemischen Objekten“ und „Modellierung“. Unter den Gesichtspunkten der Schematisierung
und Formatierung eines Gegenstandes als Gegenstand und unter zeichen- und
interpretations-konstruktionalen Gesichtspunkten kann die Artikulation vieler
epistemischer Objekte als eine Form der Modellierung, also in dem Sinne
verstanden werden, in dem z.B. die konkrete Bewegung der Planeten ein
Modell des Keplerschen Gesetzes ist. Freilich gilt das nicht für alle epistemischen Objekte. Dass dies nicht so ist, verhindern letztlich auch die evaluativen
und normativen Aspekte, die mit dem Verhältnis von epistemischen Objekten
und epistemischen Rechtfertigungen verbunden sind. Deutlich wird aber auch
im Rahmen der Modellierungsfrage der enge Zusammenhang zwischen Modellierung, wissenschaftlichem Realismus und epistemischer Rechtfertigung.
In der Ausarbeitung dieses Punktes muss deutlich unterschieden werden
zwischen den Objekten der „Philosophie und Geschichte des Wissens und
der Wissenschaften“ und den „Objekten der Wissenschaften selbst“ sowie
_____________
12
Solche Rede von der „vollen“ Bedeutung impliziert keineswegs die Annahme einer
definitiven, abschließenden, endgültigen, unveränderbaren oder ultimativen Bedeutung eines Wortes. Doch dieser Unterschied soll hier nicht weiter verfolgt werden.
Epistemische Objekte
139
den „Objekten des alltäglichen Lebens“. Die Objekte der Wissenschaftsphilosophie sind nicht die Objekte der Wissenschaften und beide wiederum sind
nicht mit den Objekten der alltäglichen Welt gleichzusetzen.
Dass die Zeichen- und Interpretationsphilosophie epistemischer Objekte
grundlegender ist als die Theorie darüber, „was es gibt“, mithin grundlegender
als die Ontologie ist, manifestiert sich vor allem unter zwei Aspekten. Zum
einen (a) liegt den epistemischen Objekten eine Zeichen- und InterpretationsGenealogie bereits im Rücken und können epistemische Objekte als Zeichenund Interpretations-Konstrukte modelliert werden. Zum anderen (b) rekurriert die epistemische Rechtfertigung im Sinne des drehtürartigen Passens
nicht auf überzeitliche und/oder ideale Entitäten, Standards und Normen.
Jede Ontologie setzt eine Zeichen- und Interpretationstheorie bereits voraus,
nicht umgekehrt. Entsprechend liegt die Theorie epistemischer Objekte innerhalb der allgemeinen Zeichen- und Interpretationstheorie. Jene können auf
dem Boden dieser modelliert werden, nicht umgekehrt.
VI. Diskrimination und Individuation als Zeichen- und
Interpretationsprozesse
Auf der ganzen Bandbreite und in allen unterschiedlichen Kontexten des
Sinns der Rede von „epistemischen Objekten“ sind zwei grundlegende Fähigkeiten stets bereits vorausgesetzt und in Anspruch genommen: dass wir in der
Lage sind zu diskriminieren und zu individuieren. Von epistemischen Objekten
und komplementär von epistemischer Rechtfertigung sprechen zu können,
setzt die Diskrimination und die Individuation von Gegenständen als Gegenständen bereits voraus.
Die elementarste Stufe der Diskrimination ist die sensorische, die Fähigkeit, sinnliche Qualitäten (wie z.B. Farben oder Töne, aber auch Zustände wie
Lust, Schmerz, Angst) unterscheiden zu können. Mit der Fähigkeit zur Diskrimination ist intern die Fähigkeit zur Individuation sensorischer und perzeptueller Objekte und Ereignisse verbunden.
Wichtig ist zunächst zu sehen, dass die beiden Fähigkeiten des phänomenalen Diskriminierens und Individuierens diesen grundlegenden Status besitzen. Sodann ist von kardinaler Bedeutung, dass sie bereits vor unseren verstandesbestimmten Klassifizierungen und bereits vor unserer Fähigkeit funktionieren, über die so bestimmten Gegenstände dann auch zu epistemischen
Meinungen, Überzeugungen, Experimentalanordnungen und zu ganzen Theorien zu gelangen und diese Komponenten mit epistemischen Rechtfertigungen zu korrelieren. Dass diese vor-theoretischen Schematisierungen gegeben
sind und funktionieren, sieht man z.B. im Falle eines Kleinkindes daran, dass
dieses in Bezug auf Objekte und Ereignisse in der Welt zwar noch nicht das
140
Günter Abel
entsprechende Sprach- und Begriffs-Spiel gelernt hat, offenkundig aber dennoch bereits über Fähigkeiten des Diskriminierens und Individuierens von
Objekten und Ereignissen verfügt (Objekte z.B. voneinander unterscheiden,
sie identifizieren und re-identifizieren und sensorische Unterschiede in Bezug
auf Klänge und Farben registrieren zu können).
Zeichen- und interpretationsphilosophisch sind hier vor allem zwei Aspekte zu betonen. Erstens, dass das sensorische Diskriminieren und Individuieren noch nicht an sprachliche (gar urteilsgrammatische) Zeichen, des näheren noch nicht an konzeptionelle Voraussetzungen gebunden ist. Zweitens,
dass das Diskriminieren und Individuieren aber ganz offenkundig – man
denke an Empfindungsgehalte, Gestalterfassung, Musterbildungen, sensorisch
feinkörnige Unterscheidungen zwischen Farben, zwischen Klängen, zwischen
Gerüchen – Vorgänge bzw. Ereignisse in Zeichen, in bzw. kraft nichtsprachlicher Zeichen sind. Des näheren sind hier die Prozesse zu nennen des
phänomenalen Unterscheidens, der sinnlichen Schematisierung, der sensorischen Umgrenzung, der phänomenalen Gestalt- und Musterbildung, der perzeptuellen Klassifikation etwa kraft Bilder (z.B. auf Flughäfen, in Bahnhöfen,
im Blick auf WC-Anlagen, etc.). Ich möchte sagen, dass es sich hier um (obgleich es wie ein hölzernes Eisen klingen mag) anschauliche Urteilskraft, um z.B.
visuelle Kognitionen handelt, die sich in bzw. kraft Zeichen vollziehen und nichtbegrifflichen Gehalt, d.h. einen Gehalt besitzen, dessen Diskrimination, Individuation und Manifestation sich nicht einem sprachlichen Aussagesatz, nicht
einer sprachlichen Proposition verdankt und dieser auch nicht bedarf.
Dass Diskriminations- und Individuations-Aspekte bereits auch in vorsprachlichen und vor-diskursiven Zusammenhängen von Wissen im weiten
Sinne anzutreffen sind, sieht man schon bei praktisch-inkorporierten Wissens-Zusammenhängen, z.B. an dem „Wissen-wie“ im Sinne eines Könnens
(etwa im Wissen, wie man Farben oder Töne oder Erlebniszustände, z.B. visuelle Erlebnisse, Lust, Angst, Schmerz unterscheidet und individuiert). Generell setzt die Fähigkeit zu wissen und zu erkennen die Fähigkeiten zu diskriminieren und zu individuieren stets bereits voraus, nimmt diese in Anspruch
und baut auf ihnen auf.
In den modernen Wissenschaften sind dann, wie betont, vor allem auch
diejenigen epistemischen Objekte von besonderer Wichtigkeit, die nicht in
unsere direkte sinnliche Wahrnehmung fallen, sondern nur über komplizierte
Wirkungen und Messungen ausgemacht werden können. Man denke z.B. an
Nanotechnik, Genetik oder Teilchenphysik, in letzterem Bereich heute etwa
an das epistemische Objekt „Raumzeit-Quanten“, die weder im Alltag noch
bislang in physikalischen Experimenten bemerkbar wurden, sondern vorerst
allein in der Interpretation der diesbezüglichen Gleichungen bestehen. Die
besondere Herausforderung und der besondere Reiz liegt hier in der Frage,
Epistemische Objekte
141
welcher Art die für diese epistemischen Objekte zu unterstellenden Diskriminations- und Individuationsprinzipien sind.
VII. Epistemische Rechtfertigung kraft Zeichen und Interpretation
Komplementär zur Genealogie und zu den Konstituenten dessen, was als ein
epistemisches Objekt angesehen wird und was nicht, sind intern stets auch
sinnlogische Annahmen im Blick auf die Triftigkeit der Meinungen, Urteile
und Aussagen über eben diese epistemischen Objekte (des näheren über ihre
Eigenschaften, Merkmale, Qualitäten, Regularitäten, Verhaltensweisen) und
damit Fragen der „epistemischen Rechtfertigung“ im Spiel. „Epistemische
Objekte“ und „epistemische Rechtfertigung“ bilden eine Einheit, sind eine
Art siamesische Zwillinge.
Rechtfertigung ist ein Vorgang, der an seine Artikulation in einer Sprache
gebunden ist, das heißt seinerseits ein Vorgang, der sich in bzw. kraft Zeichen
(sprachlicher, urteils-grammatischer oder nicht-linguistischer, etwa diagrammatischer Zeichen) im öffentlichen Raum des Verwendens, Verstehens und
Erfindens von Zeichen vollzieht.
Zu beachten ist, dass epistemische Objekte in den verschiedenen Wissens- und Wissenschaftsbereichen von unterschiedlicher Art sind. Man denke
an epistemische Objekte (a) in den Naturwissenschaften, z.B. in der Mikrophysik
an „Elementarteilchen“, „Raumzeit-Quanten“, „Energie“, oder z.B. in der
Hirnforschung an „Neuronale Assemblies“, „Neurotransmitter“, „Assoziationscortex“; (b) in den Geisteswissenschaften, z.B. in der Geschichtswissenschaft
an „Absolutismus“, „Feudalismus“, „Totalitarismus“; (c) in den Sozialwissenschaften etwa an „Gruppe“, „Herrschaft“, „soziale Beziehungen“; (d) in den
Technikwissenschaften an z.B. „Maschinen“, „Systeme“, „Artefakte“; und (e) in
den Planungswissenschaften an z.B. „Wirtschaftssystem“, „Finanzmärkte“, „Bruttosozialprodukt“.
Neben diesen engen Sinn der Rede von epistemischen Objekten ist der weite zu stellen. Er umfasst auch ganze Diskurse in ihrer diachronen Tiefenstaffelung und synchronen Breite, die dann z.B. auch thematisch werden bei der
rationalen und kulturgeschichtlichen Rekonstruktion von Entwicklungen etwa
der okzidentalen Physik, etwa die Entwicklung von dem, was es heißt, ein
physikalisches Objekt und/oder ein physikalisches Gesetz zu sein.
142
Günter Abel
VIII. Epistemische Objekte als Zeichen im engen und im weiten Sinne
Eine weitere zeichen- und interpretationstheoretische Klärung der Rede von
„epistemischen Objekten“ kann erreicht werden, indem wir die Unterscheidung zwischen „Zeichen im engen Sinne“ und „Zeichen im weiten Sinne“ ebenso wie die Unterscheidung zwischen „Interpretation im engen Sinne“ und
„Interpretation im weiten Sinne“ auf den Sinn der Rede von „epistemischen
Objekten“ anwenden.13
Unter Zeichen im engen Sinne seien diejenigen sinnlich wahrnehmbaren
Gebilde (wie z.B. Wörter, Bilder, Notationen, Diagramme) verstanden, die,
wie man gern sagt, „für etwas anderes stehen“: das Photo von Onkel Paul für
Onkel Paul oder das Wort „Kastanie“ für Kastanien. Hier geht es um Zeichen, die etwas symbolisieren und darin durch ihre semantischen Merkmale
charakterisiert sind. Zeichen in diesem Sinne sind gegebene, bereits vorhandene oder konstruktional eingeführte Zeichen. Man denke etwa an die Mathematik. Zu sagen, dass das Zeichen „r“ für den Radius des Kreises steht,
heißt, dass „r“ Zeichen im engen Sinne ist. Man denke aber auch an lebensweltliche und alltäglich-praktische Zusammenhänge, etwa daran, dass man mit
Peter die Verabredung trifft, immer dann, wenn er die Hand hebt, auf einen
_____________
13
Zu diesen Unterscheidungen vgl. im einzelnen G. Abel: Zeichen der Wirklichkeit, a.a.O.,
Einleitung, S. 20f.: Empfinden, Wahrnehmen, Sprechen, Denken und Handeln, kurz:
alle Formen des Welt-, Fremd- und Selbstverhältnisses sind Ereignisse in Zeichen,
vollziehen sich in bzw. kraft Zeichen. Eine vertiefende Reflexion des Zeichencharakters dieser Prozesse führt in die Zeichen- und Interpretationsphilosophie. Etwas wird
zum Zeichen und setzt darin intern zugleich Interpretation voraus, sobald es darum
geht, es zu verstehen, ihm Bedeutung zukommen zu lassen und es in den Fällen, in
denen es nicht direkt verstanden wird, zu deuten bzw. auszulegen. In diesem Sinne
sind Zeichen- und Interpretationsfunktionen grundlegend für jedes Erschließen von
Welt und jede Form des Wirklichkeitsbezuges, für jedes Verständnis anderer Personen, für jedes Selbstverständnis, für jede Orientierung in der Welt und anderen Personen gegenüber, für alle Handlungen in ihren situativen, kontextuellen und pespektivischen Zusammenhängen und für alle Wissenschaften und Künste. Zeichen- und
Interpretationsprozesse sind für Wirklichkeit konditional, nicht bloß optional. In der
allgemeinen Zeichen- und Interpretationsphilosophie werden sie zur Grundlage und
zum Leitfaden der Betrachtung erhoben. Jede nähere Erörterung dieser Aspekte und
Zusammenhänge muss innerhalb der Rede von ›Zeichen‹ und ›Interpretation‹ Unterscheidungen und Stufungen vornehmen, um im Blick auf die betreffenden Zustände,
Prozesse und Phänomene diskriminativ leistungsfähig zu sein. Zunächst und vor allem ist grundsätzlich zwischen dem weiten und dem engen Sinn von Zeichen und Interpretation zu unterscheiden. Dieser Unterschied ist in dem hier erörterten Zusammenhang ebenso wichtig wie die unten in Abschnitt IX vorgenommene Anwendung des
Stufenmodells der Zeichen- und Interpretationsverhältnisse auf epistemische Objekte,
um den Semantikaspekt, den Konventionsaspekt und den Kategorialaspekt unterscheiden
und zugleich aufeinander beziehen zu können.
Epistemische Objekte
143
Knopf zu drücken. Damit ist seine Handbewegung ein konventionelles Zeichen im engen Sinn des Ausdrucks, denn sie steht für die Aufforderung, jetzt
den Knopf zu drücken.
In diesem engen Sinn von Zeichen sind auch epistemische Objekte in ihrem Epistemikaspekt Zeichen (z.B. der Terminus „Atom“), sofern wir sie als
konstruktional eingeführte und dann denotierende und referenziale Zeichen
sowie ihre semantischen Merkmale verstehen. Freilich sind epistemische Objekte unter ihrem Objektaspekt in dem eingangs betonten Sinne nicht bloß
„Zeichen im engen, stellvertretenden Sinne“. Denn sie werden in ihrer Referenzfunktion als intern verknüpft mit ihren Referenzobjekten und darin als
intern referenziale Zeichen gegenstandskonstitutiv eingesetzt und in Anspruch
genommen.
Gegenüber diesem engen Sinne sei unter „Zeichen im weiten Sinne“ jedes
Gebilde verstanden, dass irgendwie auffällt, Aufmerksamkeit auf sich zieht,
als bedeutungstragend und als etwas angesehen wird, an dem und in Bezug
auf das es etwas zu verstehen gibt. Um ein Beispiel zu geben: Während eines
wissenschaftlichen Experiments entdecken wir plötzlich einen irgendwie
irritierenden Effekt auf dem Computerbildschirm. Die irritierenden Flecken
und Streifen könnten vernachlässigt werden. Sie könnten aber auch etwas
sein, was es von jetzt an zu verstehen gilt. In letzterem Falle sind die Flecken
und Streifen zum Zeichen im weiten Sinne des Ausdrucks geworden. Offenkundig wird dieser weite Sinn vor allem daran deutlich, dass man nach der
Bedeutung der Phänomene, Gebilde und Vorkommnisse explizit fragen kann.
So fragt man in der alltäglich-lebensweltlichen Praxis etwa, was denn diese
Handbewegung Onkel Pauls, was diese rote Fläche, was dieses Geräusch, was
dieser Blick, was dieser Duft, was dieses Licht am Himmel bedeutet. Und im
Falle eines wissenschaftlichen Experiments fragt man indexikalisch, was denn
dieser Fleck und dieser Streifen auf dem Bildschirm bedeutet. Dieser weite
Sinn von Zeichen ist offenkundig nicht auf sprachliche oder bildliche Zeichen
begrenzt. Er kann von jedem Objekt realisiert werden, sobald es in den Horizont der Aufmerksamkeit, in die Dimension der Fragen des Verstehens und
der Bedeutung gerät, – sobald es eben zum Übergang von einem bloßen Sinneseindruck zum Zeichen in dem skizziert weiten Sinne kommt.
Auch in puncto „Interpretation“ ist ein enger und ein weiter Sinn zu unterscheiden.14 Angesichts der internen Verschränkung von Zeichenfunktion und
Interpretationsfunktion ist dies nicht überraschend. Der enge wie der weite
Sinn von Interpretation sind im Blick auf eine nähere Bestimmung der Rede
von epistemischen Objekten wichtig. Der enge Sinn von Interpretation meint
die Deutung, die Auslegung, das aneignende Verstehen eines Zeichens, das
nicht oder nicht mehr auf Anhieb verstanden wird, zum Beispiel eines Wor_____________
14
Ebd., S. 22f..
144
Günter Abel
tes, eines Notationszeichens, eines abkürzenden Formalismus, eines Bildes,
einer Geste oder einer Handlung. Hier geht es um die nachträgliche Prozedur,
die erforderlich wird, sobald die Zeichen nicht Zeichen nicht mehr direkt und
nicht mehr störungsfrei verstanden und verwendet werden. Ziel der Interpretation im Sinne von Deutung ist das (erstmalige oder erneute) aneignende
Verstehen der neu auftretenden oder der fraglich gewordenen Zeichen und
die Herstellung oder Wiederherstellung eines Zustandes direkten, störungsfreien und flüssigen Verstehens und Verwendens der Zeichen im Empfinden,
Wahrnehmen, Sprechen, Denken und Handeln.
Im Blick auf die epistemischen Objekte ist dieser enge Sinn von Interpretation in beiden Fällen des Auftretens von Zeichen erfordert: zum einen in
den Fällen, in denen z.B. nach der Bedeutung eines während des Experimentes irritierend auftretenden Phänomens gefragt und damit Interpretation gefordert wird; zum anderen in den Fällen, in denen nach der Bedeutung z.B.
der Begriffe „Atom“, „Elementarteilchen“, „Bruttosozialprodukt“, „neuronales Aktionspotential“ gefragt und dann eine Antwort unter Verwendung anderer Zeichen und/oder Handlungen, mithin auch hier eine Interpretation
der Zeichen im engen Sinne von Interpretation gegeben wird.
Demgegenüber meint der weite Sinn von Interpretation den adjektivischen
und adverbialen Gebrauch der Wörter „Interpretation“, „interpretativ“ und
„interpretatorisch“. Das betrifft vor allem den intern perspektivischen, konstruktionalen, schematisierenden, projizierenden, vereinfachenden und modellierenden Charakter der Zeichenverwendungen selbst.
In puncto epistemische Objekte ist dieser Charakter gemeint, wenn man
sagt, dass epistemische Objekte als Interpretationskonstrukte angesehen werden können. Gemeint ist damit, dass sie unter ihrem Epistemikaspekt als
perspektivische, konstruktionale, schematisierende, projizierende und modellierende Konstruktbildungen verstanden werden können.
Dieser Interpretationscharakter ist ipso facto in jede Zeichenfunktion intern insofern eingebaut, als eine gänzlich perspektive-, konstruktions- und in
diesem Sinne interpretationsfreie Zeichenfunktion im Grunde gar keine Zeichenfunktion wäre (ebenso wie ein gänzlich perspektive- und interpretationsfreier Standpunkt gar kein Standpunkt wäre). Die Interpretationsgebundenheit eines jeden Zeichens beginnt mithin nicht erst dort, wo über die
semantischen Merkmale und über die pragmatischen Merkmale (Situiertheit
und Eingebettetsein in Kontext, Situation, Zeit und Kultur) „berichtet“ wird.
Sie ist vielmehr konstitutiv bereits für das, was es für ein Zeichen heisst, eine
Zeichenfunktion, etwa seine denotierende und referenziale Kraft auszuüben.
Wenn etwas überhaupt als ein Zeichen fungiert, symbolisierende Kraft besitzt
und diese ausübt, dann liegt dieser Funktion stets bereits eine interpretative
Praxis der Zeichenverwendung zugrunde. Die Bedeutung eines Zeichens ist
in einem doppelten Sinne an die Interpretation gebunden: nach der Seite des
Epistemische Objekte
145
direkten und störungsfreien Verwendens und Verstehens ist sie an die interpretativ-perspektivische Verfasstheit der Zeichenfunktion selbst geknüpft;
und nach der Seite des nicht mehr störungsfreien Funktionierens eines Zeichens ist es die Deutung des Zeichens, mit deren Hilfe die flüssige Verständigung wieder hergestellt wird.
In diesem Sinne liegt auch jedem Verständnis und erfolgreichen Einsatz
epistemischer Objekte stets bereits eine Interpretationsgebundenheit im Rücken. Wenn etwas überhaupt als ein epistemisches Objekt fungiert, symbolisierende, objekt-, phänomen- und sachstands-erhellende Kraft besitzt und
diese ausübt, dann liegt dieser Funktion des epistemischen Objekts als Zeichen bereits eine interpretative Praxis zugrunde. Gemeint ist damit die interpretativ-konstruktionale Verfasstheit des epistemischen Objektkonstrukts in
seinem Profil und seinem Funktionieren selbst. Das ist der Tiefensitz der
Rede, dass epistemische Objekte als Zeichen- und Interpretationskonstrukte
angesehen werden können.
Mit Rekurs auf den weiten Zeichenbegriff lässt sich meines Erachtens auch
reformulieren, was es heißt wissenschaftliche Forschung als die Suche nach
Neuem zu betreiben, und was es heißt, dass epistemische Objekte keineswegs
als statische, sondern als dynamische, als die bisherige Standpunkte überschreitende, als Standpunkt-bewegende Zeichen- und Interpretationskonstrukte angesehen werden können. Diese beiden Punkte werden unten in
Abschnitt X näher ausgeführt. Ist die Standpunkt-überschreitende/bewegende Komponente nicht oder nicht mehr gegeben im theoretischen wie
im praktischen Einsatz epistemischer Objekte als Zeichen- und Interpretationskonstrukte, dann haben wir es nicht mehr mit Forschung im radikalen
Sinne, nicht mehr mit horizont-eröffnenden epistemischen Objekten zu tun.
Dann handelt es sich vielmehr um teils automatisierte Abläufe in den Wissenschaften und Experimenten und/oder, im Theoriebereich, um Begriffsgehäuse und fest-gezurrte, um gleichsam sterile epistemische Objekte, von denen
her es nicht mehr zur Erschließung neuer radikaler Erfahrung kommt. Letzteres ist, was wir meinen, wenn wir z.B. von nicht mehr fruchtbaren, gleichsam
ausgeknautschen epistemischen Objekten sprechen.
Dass ein bloß passivischer und zunächst epistemisch noch gar nicht auffälliger Sinneseindruck zu einem dann epistemisch überaus relevanten Zeichen im weiten Sinne werden kann, ist in den Fällen szientifischer epistemischer
Objekte zugleich auch in genau dem Sinne möglich, dass das epistemische
Objekt über das hinaus, was wir bislang bereits von ihm wissen, die Aufmerksamkeit auf umgebende Aspekte und Phänomene so lenkt, dass wir dann
neugierig, aufmerksam, wissens- und erkenntnis-hungrig an- und aufgeregt
fragen „Was das (etwa: dieses weder theoretisch noch praktisch und auch
anschaulich-ästhetisch bislang noch nicht aufgetretene Phänomen, diese
Anomalie, dieser Ausreißer im Experiment, dieser unerwartete Effekt, diese
Günter Abel
146
Suggestion des Formalismus) wohl bedeutet und wie es bzw. er zu verstehen
ist?“
Vor diesem Hintergrund können wir nun auch einen weiten und einen engen Sinne der Rede von epistemischen Objekten unterscheiden. Zu sagen, dass
epistemische Objekte als Zeichen- und Interpretationskonstrukte gefasst
werden können, heißt dann ein Doppeltes:
(1) Im engen Sinne der Rede von „epistemischen Objekten“, aufgefasst als
Zeichen und Interpretationskonstrukte, handelt es sich um den Epistemikaspekt der Rede von epistemischen Objekten im Sinne denotierender und
darin zugleich interpretatorisch-organisierender Zeichen, etwa des Wortes
„Atom“, des Zeichens „“, eines Graphen, einer chemischen oder einer mathematischen Notation. Hier denotieren Zeichen im engen Sinne Gegenstände,
Zustände, Phänomene, Prozesse und/oder Sachverhalte und besitzen die
zugehörigen semantischen Merkmale. Im Falle wissenschaftlicher Theorien
sind wir des näheren und primär an buchstäblich denotierender Theorie und
Deskription interessiert.
(2) Im weiten Sinne der Rede von „epistemischen Objekten“ meine ich
diese Rede im Horizont genau des oben entfalteten weiten Sinns der Rede von
„Zeichen“ und „Interpretation“, epistemische Objekte also in dem Sinne, in
dem ein Gebilde uns affiziert, auffällt, das Denken anregt und in Bezug auf
das es etwas zu fragen und zu verstehen gibt. Das betrifft – ein Aspekt fundamentaler Wichtigkeit in jedem denkenden Forschen – in dem skizzierten
Sinne des Drehtür-Modells das interne Ineinandergreifen von Objektaspekt
und Epistemikaspekt in der Rede von „epistemischen Objekten“.
IX. Semantikaspekt – Konventionsaspekt – Kategorialaspekt.
Das Stufenmodell der Zeichen- und Interpretationsverhältnisse in
Bezug auf epistemische Objekte
In einem Stufenmodell werden die Zeichen- und Interpretationsverhältnisse
nach Ebenen unterschieden, um verschiedene Hinsichten auseinanderhalten
und sie in ihren Wechselwirkungen deutlicher vor Augen führen zu können.15
In Bezug auf epistemische Objekte erlaubt das Stufenmodell die wichtigen
Unterscheidungen zwischen dem Semantikaspekt, dem Konventionsaspekt und
dem Kategorialaspekt. Im Blick auf die epistemischen Objekte lassen sich die
Zeichen- und Interpretationsverhältnisse wie folgt auffächern:
_____________
15
Das folgende Modell wurde in den in Anmerkung 4 genannten Arbeiten entwickelt
und vor allem in G. Abel: Interpretations-Welten, in: Philosophisches Jahrbuch, 96
(1989), S. 1 – 19, detailliert ausgeführt.
Epistemische Objekte
147
(a) Semantikaspekt: – Auf dieser Ebene sind unter anderem die folgenden
und im Blick auf die epistemischen Objekte wichtigen Komponenten angesiedelt: die semantischen Merkmale (Bedeutung, Referenz, Wahrheits- oder Erfüllungsbedingungen), die aneignenden Deutungen, die Hypothesen- und
Theoriebildungen, die Erklärungen und Rechtfertigungen. In der allgemeinen
Zeichen- und Interpretationsphilosophie wird diese Ebene mit einem Index
versehen und die „Zeichen-und-Interpretations-Ebene-3“ genannt.
(b) Konventionsaspekt: – Auf dieser Ebene sind unter anderem die folgenden und im Blick auf den Einsatz sowie das Verständnis epistemischer Objekte wichtigen Komponenten angesiedelt: die auf Übereinkunft und Vereinbarung beruhenden Konventionen und die durch Gewohnheit habituell
gewordenen Praktiken, Fertigkeiten und Muster in der Verwendung und im
Verstehen von Zeichen- und Interpretationskonstrukten in Handlungszusammenhängen. Diese Ebene sei indiziert die „Zeichen- und Interpretations-Ebene2“ genannt.
(c) Kategorialapekt: – Auf dieser Ebene sind hinsichtlich der Objekte und
Ereignisse der Welt sowie unserer Fremd- und Selbstverhältnisse die folgenden und im Blick auf den Einsatz und das Verständnis epistemischer Objekte
wichtigen Prozesse angesiedelt: die Kategorialisierung, die raum-zeitliche
Lokalisierung, die Individuation, die sortale Prädikation, die primäre Klassifikation, die Identifikation und Re-Identifikation, kurz: die Prozesse der Umgrenzung und Individuation dessen, was überhaupt als ein Objekte und Ereignis zählt und was nicht. Diese Ebene sei indiziert die „Zeichen- und
Interpretatons-Ebene-1“ genannt.
Diese Stufungen können Top Down ebenso wie Bottom Up gelesen
werden. Und man kann sie anwenden, um z.B. im Blick auf epistemische
Modelle, aber eben auch hinsichtlich der epistemischen Objekte sowohl Stufen voneinander abzuheben als auch diejenigen in der Rede von epistemischen Objekten im engeren Sinne in Anspruch genommenen Voraussetzungen zu analysieren, denen sich Form, Profil, Charakter, Gehalt und
Reichweite der epistemischen Objekte verdanken.
Die Anwendung dieses Stufenmodells erfolgt im Horizont der Grundthese, dass epistemische Objekte in dem dargelegten Sinne als Zeichen- und
Interpretationskonstrukte konzipiert und modelliert werden können. Dieser
Auffassung zufolge sind epistemische Objekte zeichen- und interpretationsverfasst und -abhängig, funktionieren konstruktional und haben eine Genealogie aus einem projektional und perspektivisch verfassten Netzwerk mit anderen epistemischen Objekten ebenso wie Hintergrundannahmen und Zwecksetzungen stets bereits im Rücken. Konstruktion ebenso wie Status und Rolle
von epistemischen Objekten erfolgen aus diesen Netzwerken und Hintergrundannahmen heraus und auf sie hin.
148
Günter Abel
Es ist sinnvoll, heuristisch und methodisch noch etwas näher zwischen
der kategorialisierenden, der konventionalistischen und der semantischen
Ebene zu unterscheiden:
(1) Die kategorialisierende Funktion ist diejenige Funktion, die die epistemischen Objekte kraft ihres Epistemikaspektes in Sachen Diskrimination, Individuation, Klassifikation und Prädikation auf diejenigen Objekte und Ereignisse ausüben, denen dann unsere wissens- und erkenntnisbezogene
Aufmerksamkeit, Neugierde, Forschung und Reflexion gilt. Insofern epistemische Objekte als Zeichen- und Interpretationskonstrukte aufgefasst und
modelliert werden können, heißt dies innerhalb des Stufenmodells, dass wir
uns hier auf der „Zeichen- und Interpretations-Ebene-1“ bewegen. Man kann
hier von der kategorialisierenden Kraft epistemischer Objekte und in diesem
Sinne von kategorialen epistemischen Objekten bzw. von deren Kategorialaspekt sprechen.
(2) Von dieser Kategorialebene können heuristisch die Gewohnheiten,
Praktiken, Muster und Konventionen der Verwendung und des Umgangs mit
epistemischen Objekten in einer gegebenen Zeit, Kultur und Disziplin, kurz:
die konventionalistischen Aspekte unterschieden werden. In den Wissenschaften
entspricht dieser zweiten bzw. mittleren Ebene das, was Thomas Kuhn als
„normal science“, das heißt als das bezeichnet hat, was Forscher nach der
erfolgreichen Etablierung eines Paradigmas (und im Falle epistemischer Objekte können wir sagen: nach der erfolgreichen Etablierung eines epistemischen Objekts) als wissenschaftliche Arbeit betreiben, um das, was sie über
dieses epistemische Objekt wissen, weiter zu festigen und näher auszubuchstabieren. Auch alle Aktivitäten der „normalen Wissenschaft“ vollziehen sich
natürlich in bzw. kraft Zeichen und Interpretationen, in eben den habituell
gewordenen, gewohnheitsmäßig verankerten Mustern, Praktiken und Konventionen. Hier bewegen wir uns auf der „Zeichen- und InterpretationsEbene-2“ und in diesem Sinne auf der Ebene des Konventionsaspektes
epistemischer Objekte, auf der Ebene der habituell verankerten und konventionellen epistemischen Objekte.
Im Blick auf wissenschaftliche Forschung geht es auf dieser Ebene-2
primär darum, die Instrumente der Forschung zu spezifizieren und (vor allem
durch Beobachtung, Experiment und Simulation) Daten zu generieren, die
den Kategorialaspekt des jeweiligen epistemischen Objekts (z.B. von „Galaxie“, „neuronale Aktivität“) belegen und empirisch weiter unterfüttern. Wir
bewegen uns auf dieser Ebene noch nicht auf der Ebene-1 genuiner Grundlagenforschung. Denn auf letzterer Ebene geht es nicht bloß um die Spezifikation dessen, was man über ein epistemisches Objekt im Grundsatz und bislang weiß. In radikaler Forschung geht es vielmehr darum, genuin Neues zu
entdecken, etwas also, das man bislang noch nicht kannte und im Blick auf
das man im Grunde vorab noch nicht einmal recht weiß, wonach man eigent-
Epistemische Objekte
149
lich sucht. Dies schließt auch die Möglichkeit ein, ein bislang erfolgreiches
epistemisches Objekt zu modifizieren, zu revidieren, es im Grenzfall zu verabschieden, durch ein anderes zu ersetzen, in Bezug auf das dann neue Forschungen durchgeführt werden, weiter in unbekanntes Gelände aufgebrochen
wird. In diesen Fällen bewegen wir uns auf der „Zeichen-und-InterpretationsEbene-1“. Finden hier Um- und Neu-Kategorialisierungen statt, kommt es zu
andersartigen Diskriminationen, Individuationen, Klassifikationen und sortalen Prädikationen, kurz: nimmt sich Welt anders aus. Im Feld der Wissenschaften sprechen wir dann von „wissenschaftlichen Revolutionen“, im Blick
auf unser Welt-, Fremd- und Selbstverständnis von Transformationen der
Wissensordnungen, im Grenzfall von Revolutionierungen des Menschen- und
Weltbildes.
(3) Von diesen ersten beiden Ebenen, der Kategorialebene und der Konventionsebene, kann die Semantikebene unterschieden und näher beschrieben
werden. Das ist die Ebene der Deskriptionen, Deutungen, Berichte, Hypothesen- und Theoriebildungen, Erklärungen und Rechtfertigungen. Diese Ebene
ist in puncto epistemische Objekte vornehmlich in zwei Hinsichten explizit
erfordert. Zum einen dann, wenn die epistemischen Objekte eingeführt, zum
anderen dann, wenn sie nicht bzw. nicht mehr direkt, d.h. nicht mehr ohne
weitere Fragen nach den semantischen Merkmalen des EpistemischenObjekt-Ausdrucks, z.B. von „Galaxie“, verstanden werden. Wird diese Seite
epistemischer Objekte relevant, das heißt: fragen wir nach Deskriptionen,
Konstituenten, Deutungen, Erklärungen, Referenzobjekten und im kritischen
Falle nach Rechtfertigungen der Ausdrücke, Sätze und Urteile, in denen sich
die epistemischen Objekte manifestieren, dann bewegen wir uns auf der
semantischen Ebene der Rede von epistemischen Objekten, im Semantikaspekt epistemischer Objekte. Alle angeführten Operationen (wie Beschreiben,
Deuten, Erklären, Berichten, Hypothesen- und Theoriebilden sowie Rechtfertigen) vollziehen sich selbstredend in bzw. kraft Zeichen und Interpretation.
Das ist zum einen in dem Sinne der Fall, dass wir ein neues Zeichen deskriptiv einführen, zum anderen in dem Sinne, dass wir ein in seinen semantischen
Merkmalen fraglich gewordenes Zeichen deuten, erklären und rechtfertigen
müssen, um auf diese Weise den semantischen Störfall zu beseitigen. In beiden
Fällen tun wir dies, indem wir andere Zeichen als die, die eingeführt werden
sollen, und andere Zeichen als die, nach deren semantischen Merkmalen jetzt
gefragt wird bzw. deren semantische Merkmale fraglich geworden sind, verwenden. Damit bewegen wir uns hier auf der „Zeichen-und-InterpretationsEbene-3“.
Profil, Charakter, Funktion und welterschließende Leistungsfähigkeit von
epistemischen Objekten sind nicht einfach auf jeweils nur einer der drei Ebenen der Zeichen- und Interpretationsverhältnisse angesiedelt. Kennzeichnend
ist vielmehr, dass epistemische Objekte erst durch das Zusammenspiel und
150
Günter Abel
die Wechselwirkungen der drei Ebenen als die erfolgreichen epistemischen
Objekte, die sie für uns sind, fungieren und funktionieren. Im Falle z.B. der
elementaren Struktur der Materie bedeutet dies hinsichtlich der Rede von
„Elementarteilchen“: grundlegend ist die kategorialisierende Ebene-1 der Zeichen- und Interpretationsprozesse in dem Sinne, dass auf ihr allererst umgrenzt (diskriminiert, raum-zeitlich lokalisiert, individuiert, sortal prädiziert,
primär klassifiziert) wird, was überhaupt als ein Elementarteilchen gilt und
was nicht. Auf der konventionalen und habituell-gewohnheitsverankerten Ebene-2 der
Zeichen- und Interpretationsprozesse wird dieses als grundlegend vorausgesetzte Verständnis der Ebene-1 dann in operativen Verfahren spezifiziert
(etwa in einer szientifischen Beobachtung, in einem mit spezifischem Design
versehenen physikalischen Experiment, in einer Messung nach festgelegten
Standards und Messgrenzen), mithin empirisch bestimmt. Auf der semantischen
Ebene-3, das heißt auf der Ebene der Bedeutung, der Referenz sowie der
Wahrheits- bzw. Erfüllungsbedingungen der Verwendung des Terminus
„Elementarteilchen“ gehen wir davon aus, dass der Ausdruck „Elementarteilchen“ oder das entsprechende Äquivalent im mathematischen Formalismus
die Bedeutung „Elementarteilchen“ hat, sich auf Elementarteilchen bezieht
und dass die Rede von „Elementarteilchen“ in Urteilen Elementarteilchen als
ihren Erfüllungsgegenstand hat und dass dieses Erfüllungsverhältnis, wenn es
erfüllt ist, intern mit der Wahrheit des entsprechenden Erkenntnisurteils verknüpft ist.
Mit Hilfe des Stufenmodells der Zeichen- und Interpretationsverhältnisse können wir die horizontalen ebenso wie die vertikalen Wechselwirkungen
sowohl zwischen dem Epistemikaspekt und dem Objektaspekt als auch die
zwischen dem Semantikaspekt, dem Konventionsaspekt und dem Kategorialaspekt darstellen. Das Stufenmodell vermag diese Wechselwirkungen erstens
zu benennen und sie zweitens so zu modellieren, dass das Wechselspiel der
auf den unterschiedlichen Ebenen angesiedelten Komponenten transparent
wird. In diesem Sinne stellt das Modell Instrumente bereit, das zu beschreiben, was passiert, wenn epistemische Objekte welterschließend und in intersubjektiven Kommunikationsverhältnissen erfolgreich eingesetzt werden
(einschließlich der jederzeit möglichen Modifikation, Verschiebung, Transformation, Revision, bis hin zum Ausmustern von nicht mehr als fruchtbar
angesehenen epistemischen Objekten, wie zum Beispiel im Falle des berühmtberüchtigten „Phlogiston“ oder in der Philosophie der Cartesianischen „Zirbeldrüse“ als dem Sitz und Zentralorgan des menschlichen Bewusstseins).
Der Status des Stufenmodells der Zeichen- und Interpretationsverhältnisse
ist, es sei nachdrücklich betont, der einer Heuristik und eines Modells, nicht der
einer Theorie im terminologisch starken Sinne der Behauptung, dass es ontologisch und nomologisch definitiv genau so sei, wie die Sätze der Theorie es
aussagen.
Epistemische Objekte
151
Wichtiger aber als dieser letztgenannte Aspekt ist zu sehen, dass es sich in
den Fällen erfolgreicher epistemischer Objekte um das Zusammenspiel und
die Wechselwirkungen zwischen Momenten der unterschiedlichen Ebenen
der Zeichen- und Interpretationsverhältnisse handelt. Epistemische Objekte
fungieren nicht auf nur jeweils einer der drei genannten Ebenen. Zudem
funktionieren sie nur dann welterschließend und kommunikativ, wenn es zu
einer Integration der drei Ebenen kommt. Wir haben es im Falle von epistemischen Objekten und deren Funktionen sowohl mit einem distribuierten als
auch einem integrierten Zusammenspiel zu tun. Die jeweils spezifische Ausprägung dieses Verhältnisses kommt durch das jeweils besondere Profil des
epistemischen Objekts, durch die besondere Art der mit ihm verbundenen
Fragestellung und durch den mit ihnen verfolgten Zweck einer Welt-, Fremdund Selbstthematisierung ins Spiel.
X. Die zeichen-interpretationalen Wurzeln der Entdeckung
von Neuem kraft epistemischer Objekte
In Sachen epistemische Objekte lässt sich der zentrale Aspekt des Forschens
bzw. dessen, was es heisst, nach Neuem zu forschen, zeichen- und interpretationsphilosophisch reformulieren. Dabei lassen sich zumindest vier zeicheninterpretationale Wurzeln des forschenden Entdeckens von Neuem benennen. Sie haben mit Aspekten der Überschreitung, der Unbestimmtheit und
der Unterbestimmtheit von Zeichen und Interpretationen zu tun: (1) mit
einer Standpunkt-Überschreitung, (2) mit einer Begriffs-Überschreitung, (3) mit
einer Determiniertheits-Überschreitung und (4) mit einer systematischen Unterbestimmtheit. Das ist zugleich der vierfache Sinn, in dem epistemische Objekte
Zeichen und Interpretationen in dem skizziert weiten Sinne sind und eben
genau darin intern zugleich die Möglichkeit des Forschens eröffnen, – sie
mithin, so könnte man sagen, ihren Kernjob erfüllen, genau dies nämlich zu
ermöglichen und eben darin auch zu unserem Weltbild beizutragen.
(1) Standpunkt-Überschreitung: – Epistemische Objekte sind von ihrer zeichen- und interpretations-theoretischen Seite und in ihrem engen Sinne betrachtet Standpunkt-abhängige Zeichen- und Interpretationskonstrukte. In ihrer
erfolgreichen Anwendung und ihrem explanatorischen und prognostischen
Einsatz verfügen sie jedoch über die höchst bemerkenswerte und höchst
wertvolle Eigenheit, in der Standpunkt-abhängigen Exekution ihrer Funktionen Standpunkt-modifizierend und Standpunkt-überschreitend zu wirken, zu neuen Phänomenen, Prozessen und Zuständen führen zu können, uns über einen
bisherigen Standpunkt im buchstäblichen Sinne hinaus zu bewegen. Lebendige und Forschung anstachelnde epistemische Objekte sind keine statischen,
sondern dynamische Objekte, sind Epistemische-Objekte-in-Bewegung-und-auf-
152
Günter Abel
Zeit. Sie bewegen uns über einen zu einer Zeit gegebenen Standpunkt hinaus,
geben uns in diesem Sinne (wissenschaftlich und philosophisch) zu denken,
und führen, im gelingenden Falle, zu Neuem, zu neuem Erkennen und Wissen.
(2) Begriffs-Überschreitung: – Epistemische Objekte sind, was ihre Konstituenten angeht, auch Begriffs-abhängige Objekte, d.h. in die Konstitution von
epistemischen Objekten gehen immer auch begriffliche Aspekte ein. Hinsichtlich der die Forschungs-Lebendigkeit eröffnenden Kraft epistemischer
Objekte ist zugleich aber der folgende Punkt entscheidend. Im Zuge der Applikation der Begriffsanteile eines spezifischen epistemischen Objektes sowie
vor allem in Zusammenhängen mit anderen und interagierenden Momenten
kann es zu unerwartet neuen Phänomenen, Prozessen und Zuständen, zum
Eintreten von neuem und vom bisherigen Begriff her unerwartetem Geschehen kommen. Tatsächlich geschieht dies auch häufig, in natur-, geistes- und
sozialwissenschaftlichen ebenso wie in lebensweltlichen und alltäglichen Zusammenhängen.
Man denke etwa an folgendes Beispiel: Man beginnt in der Elementarteilchen-Physik zunächst mit einem physikalistischen Begriff von Teilchen und
Eigenschaften. Sodann wird dieses physikalische Setting in eine Verbindung
mit einem mathematischen Formalismus gebracht. Und diese Interaktion zwischen dem „physikalischen Begriff“ und dem „mathematischen Formalismus“
kann zur Suche und zur Entdeckung von neuen Elementarteilchen führen. In
dieser Interaktion lädt der Mathematiker den Physiker gleichsam ein, in Experimenten nachzusehen, ob er das neue Elementarteilchen findet. Gegenwärtig
ist die Suche nach den Higgs-Teilchen mit Hilfe des Großbeschleunigers am
CERN ein augenfälliges Beispiel für diese Zusammenhänge.
In diesem Sinne steckt in jedem epistemischen Objekt das Potential zu
Unerwartetem, zu Neuem, das begrifflich ebenso wie empirisch so zunächst
nicht zu erwarten war. In dem, was wir wissenschaftliches Forschen und philosophische Reflexion nennen, gehen wir in der Erfahrung ebenso wie im
Denken (aufgefasst im weiten Sinne als das Verbinden von Vorstellungen)
über unsere bis dato leitenden Begriffe hinaus. Das ist der kreativ Wirklichkeits-erschließende und -eröffnende Charakter epistemischer Objekte. In
diesem Sinne sind epistemische Objekte sowie die intern korrelierten Phänomene, Prozesse und Zustände in dem dargelegten Sinne „Zeichen und Interpretationen bzw. Interpretationszeichen im weiten Sinne“. Dieser begriffsmodifizierende und -überschreitende Charakter kann sich natürlich auch
erschöpfen, kann erlöschen. Epistemische Objekte können in den festen
Bestand einer Wissenschaft übergehen (und dort unter anderem auch Auslöser weiterer epistemischer Objekte werden) oder aus diesem aussortiert werden, ihre epistemische Attraktivität verlieren, können mithin auch „sterben“.
Epistemische Objekte
153
(3) Determiniertheits-Überschreitung: – Epistemische Objekte sind als Zeichen- und Interpretationskonstrukte und hinsichtlich ihrer semantischen
Merkmale durch ihre „Unerforschlichkeit der Referenz“ (Quine) bzw. ihre
Unbestimmtheit gekennzeichnet. Die semantischen Merkmale der Ausdrücke
epistemischer Objekte, z.B. von „Atom“, „Gen“ oder „Bruttosozialprodukt“,
sind nicht unexakt und nicht ohne Regeln der Anwendung. Aber sie sind auch
nicht exakt und definitiv umgrenzt. Die Grenzen der semantischen Merkmale
epistemischer Ausdrücke sind nicht ein für alle Mal fixiert, und sie sind auch
nicht, wie Definitionen in Mathematik und Logik, exakt über Prädikatoren
eingeführt und definiert für alle möglichen Situationen, Kontexte und Zeiten.
Und der wichtige Punkt ist: diese Unbestimmtheit ist keineswegs ein Hindernis (das es zu überwinden gälte), sondern vielmehr gerade eine Kondition für
die wissenschaftliche Forschung ebenso wie für die philosophische Reflexion.
Ich möchte diese Unbestimmtheit die „semantisch-epistemische Unbestimmtheit“
nennen. Sie ist entscheidend, ist konditional und essentiell für das, was wir die
auf reale Objekte und Ereignisse in der Welt bezogene Forschung und Reflexion in Wissenschaften, Philosophie und anderen Künsten nennen.16 (Im
Unterschied dazu ist Forschung in Mathematik und Logik nicht an die Determiniertheits-Überschreitung gebunden. Forschung bewegt sich dort – darin
von natürlichen Sprachen und Zeichen unterschieden – auf dem Boden von
klar umgrenzenden Definitionen und bestimmten Konstruktionen.)
Wenn epistemische Unbestimmtheit in Bezug auf die Grenzen der semantischen Merkmale gegeben ist, dann ist sie (aufgrund der dargelegten
internen Zusammengehörigkeit von Epistemikaspekt und Objektaspekt)
intern auch hinsichtlich der Relationen zwischen epistemischen Objekten und
den durch diese denotierten materiellen Objekten selbst gegeben. Dies ist der
Fall, da eine der Voraussetzungen zum Auf- und Erfassen von Objekten darin
besteht, dass wir uns zunächst auf eine Form der Bezeichnung, mithin auf
Zeichen- und Interpretationsfunktionen verstanden haben müssen, und dass
wir es erst dadurch (und in dem skizziert adualistischen und nichtidealistischen Sinne) mit den zugehörigen Gegenständen zu tun haben, - nicht
umgekehrt.17
_____________
16
17
Die Situation ist in etwa so wie im Falle von Sprache und Kommunikation: die nichteliminierbare Unbestimmtheit der Bedeutung, der Referenz und der Übersetzung ist
kein Hindernis, sondern eine Bedingung für die inter-individuelle Kommunikation. In
diesem Sinne machen die semantisch offenen bzw. die nicht exakt umgrenzten Valenzen auch den Unterschied aus, der offenkundig zwischen einem Datenaustausch zwischen Computern und der Kommunikation zwischen Personen besteht.
Das Umgekehrte behaupten zu wollen hieße, die Nachweise führen zu müssen, (a)
dass wir gänzlich nicht-epistemisch und gänzlich zeichen- und interpretations-frei von
Gegenständen sprechen könnten, (b) dass die Natur sich selbst in Gegenstände, Gattungen und Arten einteilte und (c) dass die Natur ihr eigener Epistemiker sei, – was
ein offenkundig selbstdestruktiver naturalistischer Fehlschluß wäre.
Günter Abel
154
Die epistemische Unbestimmtheit ist nicht eine empirische Unbestimmtheit.
Sie kann nicht durch empirische Vollständigkeit eliminiert werden. Sie ist eine
logische Unbestimmtheit, betrifft also alle möglichen epistemischen Objekte in
allen möglichen semantischen Zusammenhängen. Die Situation ist hier analog
zu der der Geschichtlichkeit und der Zeitlichkeit epistemischer Objekte. Wir
neigen zu der nicht explizierbaren Auffassung, im Laufe der Zeit (sic!), „in the
long run“ (Peirce), würden sowohl die Unbestimmtheit als auch die Zeitbedingtheit und die Geschichtlichkeit epistemischer Objekte aufhören bzw. zu
einem Ende kommen. Diese Hoffnung jedoch, die Unbestimmtheit, die Geschichte und die Zeitbedingtheit aus der Epistemologie letztlich doch heraustreiben zu können, ist bloß ein eschatologischer Traum.
(4) Systematische Unterbestimmtheit: – Epistemische Objekte, aufgefasst als
zeichen-interpretationale Konstrukte, sind systematisch durch „Unterbestimmtheit“ (Quine) gekennzeichent, d.h. durch eine systematische Differenz,
ein systematisches Gefälle zwischen (mit dem Bild Quines gesprochen) „the
meager (empirical) input of data“ für eine Theorie und „the torrential output“
in der Konstruktion von Theorien, deren Anspruch auf Gültigkeit weit über
die Datenbasis hinaus geht (und sich z.B. auf das ganze Universum erstreckt).
Sie sind nicht nur kontingenterweise, sondern systematisch unterbestimmt in
Bezug auf die empirischen Objekte und Gehalte, die sie als Zeichen- und
Interpretationskonstrukte instantiieren. Ich möchte diese Unterbestimmtheit
die „epistemische Unterbestimmtheit“ nennen. Die Unterbestimmtheit ist zunächst
empirischer Natur. Aber sie ist (ebenso wenig wie die Unbestimmtheit) nicht
durch empirische Vollständigkeit behebbar. Auch die Unterbestimmtheit ist
in Bezug auf alle möglichen empirischen Fakten gegeben, die einen zeicheninterpretational funktionierenden epistemischen Ausdruck verifikationistisch
instantiieren können.
Diese vier Charakteristika epistemischer Objekte (d.h.: StandpunktÜberschreitung; Begriffs-Überschreitung; epistemische Unbestimmtheit; epistemische Unterbestimmtheit)18 sind das, was (a) wissenschaftliche Forschung ebenso
_____________
18
Diese Charakteristika epistemischer Objekte lassen sich in eine positive Verbindung,
aber auch in eine kritische Diskussion mit dem bringen, was H.-J. Rheinberger (im
Sinne seiner wissenschaftshistorischen Studie Experimentalsysteme und epistemische Dinge:
Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas, Göttingen 2001) in seiner Antwort auf
David Bloor in Bezug auf die Funktion epistemischer Objekte schreibt, in: Perspectives
on Science, 2005, vol 13, no.3, S. 406f.: Szientifische bzw. epistemische Objekte funktionieren Rheinberger zufolge „by virtue of their opacity, their surplus, their material
transcendence, if you like, which is what arouses interest in them and keeps them alive
as targets of research.“ Dabei setzt Rheinberger epistemische Objekte mit szientifischen Objekten gleich und versteht diese, ohne die oben nachdrücklich herausgestellte Unterscheidung von Objektaspekt und Epistemikaspekt vorzunehmen, direkt als
„clearly material things“. Beide Aspekte sind meines Erachtens (zumal aus der Perspektive der hier vertretenen Auffassung der epistemischen Objekte als Zeichen- und
Epistemische Objekte
155
wie philosophische Reflexion möglich macht, (b) den Möglichkeits-Raum zur
Entdeckung von gänzlich Neuem, von radikal Neuem (in Wissenschaften, Philosophie und anderen Künsten) eröffnet und (c) einsichtig macht, dass unser
Forschen und Reflektieren aus systematischen Gründen nicht zu einem „in
der Sache“ definitiven und „für alle (möglichen) Personen allgemein verbindlichen Abschluss“, nicht zu einem Ende kommen.
In der zeichen- und interpretationsphilosophischen Perspektive ist das
auch in puncto epistemische Objekte vor allem aus drei Gründen nicht der
Fall:
(1) Die Liste der semantischen Merkmale der epistemischen-ObjektAusdrücke ist nicht definitiv und nicht allgemein verbindlich abschließbar.
Stets sind Erweiterungen, Veränderungen, Modifikation, Revisionen, UmPräferenzierungen möglich. Einzig eine vollblütige Metaphysik träumt davon,
zu einem solchen Abschluss, zum Ende kommen zu können.
(2) Jede Konzeption epistemischer Objekte ist zeit- und geschichts- sowie
kultur-gebunden. Aus der Zeit-, Kultur- und Geschichtsbedingtheit herausspringen zu wollen, ist lediglich ein metaphysischer Traum.
(3) Die Bedeutung eines epistemischen-Objekt-Zeichens (z.B. des Zeichens
„Atom“ oder „neuronales Assemblie“ oder „Bruttosozialprodukt“) wird
durch die Interpretation mithilfe anderer Zeichen angegeben. Die Bedeutung
eines epistemischen-Objekt-Zeichens besteht in seiner angemessenen Interpretation, – mithin aber wiederum in einem Zeichen. Geben wir uns mit diesem Interpretationszeichen unter bestimmten Zwecken und Hinsichten
pragmatisch zufrieden – bis auf weiteres, d.h. bis jemand nach der Bedeutung
auch dieses Interpretationszeichens fragt – dann sind wir pragmatisch in genau
dem Sinne und Ausmaß „zum Ende“ gekommen, wie dies für die flüssige
Kommunikation und für unsere Orientierung in der Welt so überaus hilfreich,
unabdingbar ist. Jedoch bleibt jederzeit die Möglichkeit, dass auch nach der
Bedeutung des Interpretationszeichens gefragt wird, – und so weiter, ohne ein
absehbares definitives und allgemein verbindliches Ende. Der Ozean ist offen. Unsere Schiffe können neu und in neue Richtungen und in neuen Verbundsystemen auslaufen.
Vor diesem Hintergrund wird leicht einsichtig, was es heißt, dass unsere
Welten als Zeichen- und Interpretationswelten qualifiziert werden können.19
Der Sprung in eine völlig nicht-epistemische und gänzlich zeichen- und interpretations-freie, aber gleichwohl individuiert fertig daliegende Welt ist
menschlichen Geistern verwehrt. Von dieser Möglichkeit sind wir nicht nur
kontingenterweise, sondern systematisch abgeschnitten. Glücklicherweise
_____________
19
Interpretationskonstrukte) nicht unproblematisch. Doch soll eine nähere Diskussion
dieser Punkte an dieser Stelle nicht erfolgen.
Zum Folgenden vgl. G. Abel: Sprache, Zeichen, Interpretation, a.a.O., S. 143f.
Günter Abel
156
möchte man hinzufügen. Denn eine nicht-epistemische Welt wäre nicht Welt
von unserer Welt, und wir würden uns nicht auf sie verstehen. Was allerdings
unsere zeichen- und interpretations-gebundene Wirklichkeit angeht, so können wir strenggenommen noch nicht einmal sagen, dass sie nur eine einzige
und bestimmte Geschichte hat. Entscheidend wird schließlich, dass unsere
Welt, unsere Wirklichkeit, anders erscheint, sobald man sie (in einem Wittgensteinschen Bild gesprochen) mit anderen Möglichkeiten umgibt. Setzt man
noch hinzu, dass dies letztlich darauf hinausläuft zu sagen, dass das, was als
wirklich gilt, nicht jeweils nur eine bestimmte, sondern alle Möglichkeiten in
sich hat, dann trifft sich diese Sichtweise mit einer grundlegenden Auffassung
der Quantenphysik. Denn dieser zufolge gilt, dass ein Objekt
has not just a single history but all possible histories“, wobei sich dann in bestimmten
Fällen die „probabilities of neighboring histories reinforce each other. It is one of
these reinforced histories that we observe as the history of the object.20
Zurück zum Anfang des vorliegenden Beitrags und insbesondere zu den in
Abschnitt I angesprochenen „gefährlichen Dingen“. Wie gefährlich also sind
epistemische Objekte? Die Antwort auf diese Frage ist doppelter Natur. Zum
einen können die zuletzt genannten vier Charakteristika helfen, ›epistemische
Objekte‹ nicht länger als im engeren Sinne „gefährliche Dinge“ anzusehen.
Entwarnung kann an das Britische House of Lords gegeben werden. Es ist
nicht erforderlich, den MI 5 einzuschalten. Es handelt sich nur um epistemische Objekte. Zum anderen jedoch sind die mit den epistemischen Objekten
verbundenen Prozesse – wie jede Theoriebildung und insbesondere jedes
Philosophieren – vornehmlich im Sinne der vier Überschreitungen durchaus
gefährlich zu nennen. Theoriebildung und Reflexion lassen nämlich die Dinge
nicht so, wie sie bis dahin waren. Unser Weltbild und Weltverständnis können
sich ebenso wie unser Selbstbild und Selbstverständnis verschieben, modifizieren und müssen, in Grenzfällen, sogar der radikalen Revision unterzogen,
gar verabschiedet werden. Und das wiederum bringt neue Anforderungen für
unsere Orientierung in der Welt, anderen Personen und uns selbst gegenüber
mit sich, in theoretischer wie in praktisch-ethischer Hinsicht. In letzterer
Hinsicht denke man nur an die Erfolge in den Forschungen der Medizin, der
Biotechnologie, des Neuroenhancement und/oder der Nanotechnologien.
Dass die mit diesen Forschungen verbundenen Transformationen unserer
Wissensordnungen Konsequenzen für unser Welt-, Fremd- und Selbstverständnis haben, ist offenkundig und stellt uns vor bislang noch nicht dagewesene Herausforderungen.
_____________
20
St. W. Hawking: Black Holes and Baby Universes and Other Essays, New York 1993, S. 45.
Freind oder feund?
Einige sprachphilosophische Konsequenzen aus Nelson Goodmans
Analyse des Induktionsproblems
Christian Stetter
Die Grenze zwischen berechtigten und unberechtigten Voraussagen (oder Induktionen oder Fortsetzungen) richtet sich danach, wie die Welt sprachlich beschrieben
und vorausgesagt wurde.1
Artifizielle Prädikate wie „grot“ oder „Smarblume“ spielen in Goodmans Reformulierung und Lösung des Induktionsproblems eine Schlüsselrolle.2 Zunächst die Definitionen:
grot df vor einem Zeitpunkt t geprüft und als grün befunden, sonst rot;
Smarblume df vor einem Zeitpunkt t geprüft und als Smaragd befunden,
sonst Kornblume.3
Diese Prädikate sind nach folgendem Prinzip konstruiert: Man fasst die Intensionen zweier „normaler“ sprachlicher Prädikate zu einem zusammen, hier
von „grün“ und „rot“ zu „grot“ bzw. „Smaragd“ und „Kornblume“ zu
„Smarblume“, um ihre Anwendung auf zwei durch einen Zeitpunkt t getrennte Zeitintervalle zu verteilen: Seien also „grot“ bzw. „Smarblume“ Objekte
O1, O2, …, On, die vor t auf ihre Eigenschaften hin geprüft und für grün-seiend bzw. Smaragd-seiend befunden wurden, seien andere Objekte, etwa On+1,
On+2, …, On+i, die in „normaler“ Redeweise als rot bzw. als Kornblume bezeichnet werden, dagegen vor t nicht auf ihre Eigenschaften hin geprüft worden,4 dann könnte man gemäß den oben gegebenen Definitionen jedes geprüfte grüne Objekt und jedes ungeprüfte Objekt On+k, von dem man vermutet oder weiß, dass es rot ist, „grot“ nennen, jeden geprüften Smaragd
ebenso wie jedes Objekt On+m, von dem man vermutet, dass es eine Korn_____________
1
2
3
4
Goodman: Tatsache, Fiktion, Voraussage, Frankfurt a. M. 1988, S. 152.
Vgl. die Kapitel 2-4 (ebd.), denen die Special Lectures in Philosophy zugrunde liegen,
die Goodman 1953 an der Universität London gehalten hat.
Im Englischen Original: grue (green/blue) bzw. emerose (emerald/rose). Vgl. Goodman:
Fact, Fiction, and Forecast, Cambridge, Mass. 1983, S. 74 f.
Es ist gleichgültig, ob t in der Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft liegt.
Christian Stetter
158
blume ist, „Smarblume“. Vor dem Zeitpunkt t bilden somit die Extensionen
von „grün“ und „grot“, „Smarblume“ und „Smaragd“ Schnittmengen, nach t
„rot“ und „grot“, „Smarblume“ und „Kornblume“.
Diese Prädikate – ich nenne sie im weiteren abkürzend G-Prädikate –
dienen Goodman dazu, bestimmte Aspekte des Induktionsproblems zu klären, die in der traditionellen Diskussion des Problems nicht oder nicht hinreichend gesehen worden waren – eben weil sie auf den ersten Blick dem gewohnten Sprachverständnis zuwider laufen. Denn die Basis für die Neufassung des Induktionsproblems ist – das diesen Überlegungen vorangestellte,
Goodmans Text entnommene Motto deutet es an – ist ein sprachphilosophisches Argument. Darüber hinaus hat Goodman jedoch – dies ist meines
Wissens bislang kaum beachtet worden – mit der Konstruktion dieser „Kunstprädikate“ implizit auf Eigenschaften von sprachlichen Prädikaten aufmerksam gemacht, die nicht die seltsame, aus zwei verschiedenen Morphemen
zusammengesetzte sprachliche Form aufweisen wie die G-Prädikate, und hat
damit – dies soll im weiteren gezeigt werden – ein sprachphilosophisches
Grundproblem berührt, das der Philosophie kein Geringerer als Platon in
seinem Dialog „Kratylos“ hinterlassen hat: die Frage nämlich, was es heiße,
dass die Bedeutung eines Wortes in den Konventionen des Sprachgebrauchs
verankert sei.5 Es wird sich zeigen, dass in diesem Zusammenhang auch die
Physei-These des Herakliteers Kratylos, die mit den Etymologien, welche
Sokrates in diesem Dialog durchdekliniert,6 ad absurdum geführt schien (und
in Platons Schule wie in der Folge dann auch faktisch ad acta gelegt war),
zumindest partiell zu neuen Ehren kommt, wenn auch nicht in der Weise, in
der die These im „Kratylos“ diskutiert worden war.
Bekanntlich ist Goodman zu seiner Reformulierung des Induktionsproblems dadurch geführt worden, dass seine Bemühungen um eine Lösung des
Problems der irrealen Bedingungssätze in den 1940er Jahren zunächst gescheitert waren.7 Damit schien auch das Problem der Dispositionsprädikate
_____________
5
6
7
Wenn auch im Kratylos selbst die Frage unentschieden geblieben ist, ob den Wörtern
ihre Bedeutung physei (aufgrund natürlicher Gründe) oder nomō (aufgrund sozialer
Konvention) zukomme, so ist in Platons Schule doch zweifellos die Nomō-These favorisiert worden. Bester Beleg dafür ist Aristoteles’ Peri hermeneias (entstanden während Aristoteles’ Zugehörigkeit zur Akademie), wo kurz und bündig definiert wird, die
Wörter bedeuteten das, was sie bedeuten, kata synthēkēn (16a S. 20 ff.).
Vgl. Kratylos 391d-427c, dazu Stetter: Platons „Kratylos“, in: Hausmann / Siepmann
(eds.): Vom Rolandslied zum Namen der Rose. Meisterwerke der Weltliteratur I, Bonn
1987, S. 172-192; und ders.: Die Grundlegung der Aristotelischen Zeichenkonzeption in der
Platonischen Dialektik, in: Zeitschrift für Semiotik, Bd. 30 (2008), S. 29-47.
Kapitel 1 in Goodman 1988, das ursprünglich 1947 als Aufsatz im Journal of Philosophy (44, S. 113-128) erschienen ist, berichtet ausführlich über das Scheitern dieser
Versuche.
Freind oder feund?
159
unlösbar.8 Beide Probleme, das der irrealen Bedingungssätze wie das der Dispositionsprädikate, hängen – wie Goodman in den Special Lectures gezeigt
hat – aus internen Gründen mit dem Induktionsproblem zusammen: Aussagen über Dispositionen haben die ontologisch prekäre Konsequenz, die
Realität mit ‚möglichen’ Eigenschaften zu bevölkern. Denn Dispositionen
„zeigen“ sich stets nur unter besonderen Bedingungen, und es kann durchaus
sein, dass diese für einen Gegenstand G, der zu D disponiert ist, nie eintreten.
Manches Kupferkabel leitet nie Strom. Und so für beliebige Gs und Ds. Die
Übersetzung einer Aussage, in der von einem Dispositionsprädikat Gebrauch
gemacht wird, in einen irrealen Bedingungssatz überführt diese in einen Verbund zweier Aussagen, in denen der Vordersatz das Eintreten der spezifischen Bedingung und der Nachsatz das Sich-zeigen der betreffenden Eigenschaft an G in manifesten Prädikaten beschreibt. Damit wird die Rede über
‚mögliche’ Eigenschaften vermieden, eben um den Preis des Irrealis: Wenn
ich zur Zeit t ohne Anmeldung den Garten meines neuen Nachbarn betreten
hätte, dann wäre ich von dessen Hund gebissen worden. Der irreale Bedingungssatz simuliert sozusagen den Induktionsschluss, der im Dispositionsprädikat zwar nahegelegt, aber mit dem Zusprechen eines solchen eben gerade nicht vollzogen wird. Eine Warnung wie „Vorsicht, bissiger Hund“9 besagt
zwar allgemein, dass das betreffende Tier H unter bestimmten Umständen
zubeißt, vollzieht aber den eigentlichen Induktionsschritt nicht: die Fortsetzung der Hypothese „H beißt jeden, den es nicht kennt“ von einer Reihe
bestätigter Fälle auf den nächsten anstehenden: „H wird Sie beißen, wenn Sie
jetzt den Garten betreten.“ Nun ist es eine bekannte Tatsache, dass selbst das
zuverlässigste, bestens gewartete Auto eines Morgens unerwartet streiken
kann.10
Es führt jedoch zu nichts, wenn man das Problem der Dispositionsprädikate durch das der irrealen Bedingungssätze ersetzt, denn dieses ist mit
noch mehr Komplikationen belastet als jenes. Denn der irreale Bedingungssatz behauptet nie nur, dass unter der und der Prämisse das und das sich
effektiv ereignet hätte oder ereignen würde. Das macht nicht seinen vollen
_____________
8
9
10
Jede Behauptung, die einem Gegenstand G ein Dispositionsprädikat zuspricht, z. B.
„brennbar“, kann in einen irrealen Bedingungssatz umformuliert werden, in dem dieses – erkenntnistheoretisch problematische – Prädikat durch Ereignisprädikate ersetzt
wird: Wäre G, z. B. Papier, zum Zeitpunkt t auf 200 erhitzt worden, so hätte es sich
entzündet.
Warnungen sind schon vom Inskriptionstyp her auf die Verwendung von Dispositionsprädikaten ausgelegt.
„bestens gewartet“ kann man als kaschiertes Dispositionsprädikat auffassen: so gewartet, dass alle Funktionen des Fahrzeugs auf ihre Funktionsfähigkeit hin überprüft
und diese somit gegeben sind.
Christian Stetter
160
Sinn aus. Immer setzt die „irreale“ Behauptung voraus11 – dies macht das
eigentlich Irreale an ihr aus –, dass zusätzlich bestimmte günstige Bedingungen gegeben wären, unter denen erst die hypothetisch vorausgesagte Folge aus der Prämisse faktisch zutreffen würde oder hätte zutreffen können –
der Irrealis ist, wie sich an dieser Präzisierung zeigt, nie in den Realis zu verwandeln.
Das Scheitern dieses Lösungsversuchs hat Goodman veranlasst, das Problem der Induktion grundsätzlich neu zu überdenken. Da das eine wie das
andere Problem das der Induktion impliziert, musste dort der Grund für die
Schwierigkeiten zu suchen sein. Der Aufbau der Special Lectures macht
Goodmans Weg deutlich. Das braucht hier nicht im einzelnen referiert zu
werden. Resultat dieses Weges ist eine Umorganisation der gesamten Problemlage. Alles wird schließlich auf die Frage zugespitzt, wie die Fortsetzung
einer Hypothese auf einen noch nicht geprüften Fall gerechtfertigt werden
kann, und die Antwort auf diese Frage wird aus einem Problem der Rechtfertigung der Gültigkeit dieser Fortsetzung transformiert in die Frage, ob der
gegebene Induktionsschluss den Regeln einer bewährten Praxis der Induktion
entsprochen habe oder entspricht. Aus der Frage nach der Rechtfertigung
einer Aussage über Zukünftiges wird so die nach einer Definition des Unterschiedes zwischen gerechtfertigter Weise und nicht gerechtfertigter Weise
fortgesetzten Hypothesen.12
Die ebenso ingeniöse wie irritierende Erfindung der G-Prädikate dient
dazu, die für diese Unterscheidung einschlägigen Kriterien zu klären. Sie hat
zunächst manches Missverständnis hervorgerufen.13 Hilary Putnam hat darauf
hingewiesen, dass diese Prädikate es Goodman ermöglicht hätten, einen regelrechten Beweis für seine These zu führen, dass die Gültigkeit einer Induktion
nicht formal gezeigt werden könne wie die einer Deduktion.14 Dies trifft zwar
in gewisser Weise zu, doch evident ist die Beweisführung bei weitem nicht.
Jedenfalls läuft Goodmans Neuansatz auf das Problem der Fortsetzung
einer Hypothese und damit auf Folgendes hinaus: Das Induktionsproblem
besteht nicht darin, eine Schlussfolgerung von Einzelfällen einer bestimmten
Klasse von empirischen Sachverhalten auf die Gesamtmenge dieser Klasse als
gültig auszuweisen, insbesondere auf diejenige Teilmenge von Fällen, von
_____________
11
12
13
14
Goodman spricht davon, dass der irreale Bedingungssatz dies behaupte, vgl. Goodman: Tatsache, Fiktion, Voraussage, a.a.O., S. 55 f. Dies scheint mir unzutreffend, allerdings für Goodmans weitere Argumentation unerheblich. Klar ist jedenfalls, dass jeder irreale Bedingungssatz voraussetzt, dass die erforderlichen günstigen Umstände im
betreffenden Fall gegeben gewesen wären. Vgl. hierzu ebd., S. 52 ff.
Vgl. ebd. S. 110 ff. Die Hypothese formuliert stets einen gesetzesartigen Zusammenhang zwischen Prämisse und Konsequenz, vgl. ebd. S. 97 ff.
Vgl. hierzu auch Goodmans Vorwort zur 3. Auflage, in: ebd., S. 7 ff.
Vgl. Putnams Vorwort zur 4. Auflage von Fact, Fiction, and Forecast, in: ebd., S. I ff.
Freind oder feund?
161
denen man unterstellt, dass sie sich zukünftig ereignen werden, also etwa auf
alle zukünftig zu startenden Autos, dass sie starten werden. Eine derartige
Sicherheit der Prognose gibt es schlechterdings nicht, denn unsere Kenntnis
empirischer Sachverhalte ist begrenzt. Vielmehr lautet das Problem der Induktion, wie es zu rechtfertigen ist – offenkundig ist es ja gängige Praxis –,
eine mehr oder weniger gut bestätigte Hypothese auf einen neuen, noch nicht
geprüften Fall anzuwenden. Die traditionelle Form der Induktion wird somit
umgeformt in das Problem der Fortsetzung einer Hypothese, die sich an einer
begrenzten Anzahl von Fällen bewährt hatte, auf einen noch nicht bestätigten
Einzelfall.15 Das daraus sich ergebende Problem lautet: Wie ist dieser Induktionsschritt zu rechtfertigen?
Goodmans Lösungsansatz kombiniert zwei Gedanken miteinander:16
Erstens verweist er darauf, dass sich auch die Gültigkeit eines deduktiven
Schlusses D nicht deduktiv beweisen lässt. Jeder Beweis setzt die Form des
Beweises bereits als gültig voraus.17 D kann daher nur dann – dann aber völlig
zu Recht – als gerechtfertigt betrachtet werden, wenn er in Übereinstimmung
_____________
15
16
17
„Fortsetzung“ ist bei Goodman folgendermaßen definiert: Gegeben sei eine Hypothese H, dass sich aus einer Sachlage Sp (und einer Menge von kontingenten Begleitumständen Up) und einem auf diese einwirkenden Vorgang Vi stets eine Sachlage Sc
ergibt; vorausgesetzt weiter, dass die Regelmäßigkeit dieser Abfolge Sp  Vi  Sc
durch eine Reihe von Tests oder Experimenten bestätigt wurde. Dann besteht die
Fortsetzung der Hypothese in dem explizit formulierten und akzeptierten Schluss darauf, dass sich aus einer zukünftigen Sachlage Sp’ und einem auf diese einwirkenden
Vorgang Vi’ eine Sachlage Sc’ ergibt derart, dass Sp und Sp’, Sc und Sc’ und Vi und
Vi’ – abgesehen von kontingenten Differenzen, die sich aus den schon zeitlich differierenden Umständen ihrer Realisierung ergeben –, als die gleichen Sachlagen bzw.
Vorgänge betrachtet werden können. Abgekürzt: dass [Sp  Vi  Sc]  [Sp’  Vi’ 
Sc’]. Vgl. hierzu Goodman: Tatsache, Fiktion, Voraussage, a.a.O., S. 110 ff. Hierzu eine
Anmerkung zum Gebrauch des Wortes „gleich“ () in diesem Zusammenhang:
Die Umstände, unter denen etwa zweimal das gleiche Fahrzeug auf der gleichen Strecke bei gleichem Tempo mit dem gleichen Druck auf die Bremse abgebremst wird,
werden nie genau gleich sein – weder das Fahrzeug beim zweiten Mal genau dasselbe
wie beim ersten Mal, noch das Tempo exakt dasselbe usw. Doch bei einer ausgereiften Fahrzeugserie wird man sagen können, dass ein Fahrzeug dieses Typs bei der
und der Geschwindigkeit und dem und dem Gewicht bei dem und dem Bremsdruck
und … dem und dem … nach so und soviel Metern zum Stehen kommt. Ingenieure
lösen dieses logische Problem technisch u. a. durch die Definition von Fertigungstoleranzen.
Vgl. Goodman: Tatsache, Fiktion, Voraussage, a.a.O., S. 84 ff.
Dies hatte u. a. schon Peirce in seinen Analysen zum Verhältnis von logica docens (
Theorie) und logica utens ( Praxis) gezeigt. Vgl. hierzu CP 2.186 ff. Der Grundgedanke des Goodman’schen Lösungsansatzes ist dem übrigens analog: Dass nämlich
die Lösung des Induktionsproblems in einem Spezialfall der Induktion zu suchen ist –
in der Fortsetzung des Dispositionsprädikats „fortsetzbar“. Vgl. hierzu Goodman:
Tatsache, Fiktion, Voraussage, a.a.O., S. 110 ff.
Christian Stetter
162
mit einer akzeptierten Praxis des Vollzugs von Deduktionen vollzogen wurde,
also gemäß dem, wie eben ein deduktiver Schluss in der Regel organisiert ist.
Entsprechendes muss für die Induktion gelten. Die Pointe dieses Gedankens
liegt darin, dass sich die Regeln für Deduktion bzw. Induktion daraus ergeben, dass einzelne Schlüsse als gültig akzeptiert werden, was zu entsprechenden Regelformulierungen führt. Diese werden anhand weiterer Schlüsse auf
ihre Haltbarkeit überprüft und gegebenenfalls modifiziert: „Der Vorgang der
Rechtfertigung besteht in feinen gegenseitigen Abstimmungen zwischen Regeln und anerkannten Schlüssen; die erzielte Übereinstimmung ist die einzige
Rechtfertigung, derer die einen wie die anderen bedürfen.“ Zweifellos liegt
hier ein Zirkel vor, aber eben ein nicht zirkulärer, sondern ein produktiver:
Jeder erfolgreiche Durchgang bestätigt das Verfahren – eine Art von Induktion.18
Zweitens macht er geltend, dass die Rechtfertigung eines Induktionsschlusses nicht darin bestehen könne zu zeigen, dass die betreffende Prognose sich als richtig erweisen werde. Dies ist – wie oben schon erwähnt –
unmöglich. Die Rechtfertigung kann daher nur in einer zutreffenden Beschreibung der akzeptierten Praxis der Induktion bestehen, sodass gezeigt
werden kann, dass ein vorliegender Induktionsschluss den Regeln dieser Praxis genügt. An die Stelle des sogenannten Humeschen Problems19 tritt somit
die „konstruktive Aufgabe“, die akzeptierte Praxis des Vollzugs von Induktionen so zu beschreiben, dass sich daraus Kriterien für die Unterscheidung
von gültigen und nicht gültigen Induktionsschlüssen ableiten lassen:20 „Das
Induktionsproblem ist kein Beweisproblem, sondern ein Problem der Defini_____________
18
19
20
Ebd., S. 87. Goodman nennt dies einen „guten Zirkel“ (ebd.). Dies scheint mir in
gewisser Weise durchaus zutreffend, aber zu schwach zu sein. Zwar trifft es zu, dass
allgemeine Regeln der Deduktion sich nur durch ihre Übereinstimmung mit effektiv
vollzogenen gültigen Schlüssen als gültig erweisen lassen. Jedoch lassen sich manche
effektiv vollzogenen Schlüsse auch effektiv als gültig erweisen, z. B. die Allgemeingültigkeit des quantorenlogischen Schemas (x) Fx  (x) Fx oder die des
Schemas (y) [(x) Fx  Fy] für jeden nichtleeren Bereich; für diese Schemata genügt die Explikation des Verständnisses der Ausdrücke „nichtleer“ bzw. „alle“; vgl.
hierzu Quine: Grundzüge der Logik, Frankfurt a. M. 1969, S. 136 ff. und S. 182 ff. Ähnliches lässt sich für nicht unendliche Bereiche auch für induktive Schlüsse zeigen.
Doch dies ist für die weitere Diskussion ohne Belang.
Goodman “rehabilitiert” Hume, indem er zeigt, dass die geläufige Auffassung dieses
sogenannten Problems auf dem Missverständnis beruht, ein Induktionsschluss sei
dann gerechtfertigt, wenn demonstriert werden könne, dass und aus welchen Gründen er sich als richtig erweisen werde. Aber eben dies ist – wie schon bemerkt – unmöglich, und Hume war diesem Missverständnis auch nicht aufgesessen. Vgl. Goodman: Tatsache, Fiktion, Voraussage, a.a.O., S. 81 ff., Hume: Eine Untersuchung über den
menschlichen Verstand, Frankfurt a. M. 2007, Abschn. 4 und 5.
Ebd., 3.3, S. 89 ff.
Freind oder feund?
163
tion des Unterschiedes zwischen gerechtfertigten und ungerechtfertigten
Voraussagen.“21
Goodman zeigt anhand seiner „G-Prädikate“, dass sich dieses Fortsetzungsproblem, damit das Induktionsproblem generell,22 nicht formal lösen
lässt. Die Rechtfertigung für die Fortsetzung einer so und so bestätigten Hypothese H auf einen zukünftigen Fall ergibt sich vielmehr daraus, dass die
Beschreibungen der Sachlagen Sp und Sc und des Vorgangs Vi auf Prädikaten
beruhen, die sich regelmäßig unter bestimmten Umständen bewährt hatten,
indem sie sich auf ähnliche Sachverhalte als Deutungskategorien übertragen
ließen,23 also nicht auf der logischen Syntax der betreffenden Schlüsse, sondern auf der spezifischen, auf ihrem kontingenten Gebrauch beruhenden
Semantik der in diesen Schlüssen verwendeten Prädikate. Goodman nennt
diese Qualität der Beschreibungsprädikate ihre „Verankerung“.24 Diese kann
mehr oder weniger bewährt sein – je nachdem, wie erfolgreich ein Prädikat in
der Vergangenheit fortgesetzt worden war.25
Dieser Begriff der Verankerung ist sozusagen der Grundstein, auf dem
die von Goodman umrissene Theorie der Fortsetzung beruht. Um so merkwürdiger, dass er eher en passant eingeführt wird, als wäre er durch den Hinweis auf seine Funktion im Rahmen der Fortsetzung hinreichend erläutert.26
Goodman weist erläuternd darauf hin, dass eigentlich nicht das Prädikat, sondern seine Extension verankert werde.27 Doch auch dies bedürfte der Klä_____________
21
22
23
24
25
26
27
Ebd. S. 88.
Goodman zeigt – dies ist wohl die eigentliche Pointe seines Lösungsansatzes – im
Anschluss an sein Konzept der Fortsetzung, dass (1) die Fortsetzung des Prädikats
„fortsetzbar“ als Spezialfall eines Induktionsschlusses auffassen lässt, und dass (2) die
Lösung dieses Spezialfalls die Lösung des allgemeinen Problems der Rechtfertigung
von Induktionen ist. Denn jeder gültige Induktionsschluss beruht ja auf einer gerechtfertigten Fortsetzung eines Dispositionsprädikats. Vgl. ebd., 4.1, S. 110 ff.
Die Bewährtheit von Prädikaten beruht somit – dies sei eigens festgehalten – streng
genommen nicht auf regelmäßigem, sondern auf analogem Gebrauch, auch wenn der
Zusammenhang zwischen Prämisse und Konsequenz als gesetzmäßig unterstellt wird.
Denn es bleiben eben immer die irreduziblen günstigen Umstände, die gegeben sein
müssen, damit die Hypothese erfolgreich fortgesetzt werden kann.
Vgl. Goodman: Tatsache, Fiktion, Voraussage, a.a.O., S. 121 ff. In einer Erläuterung
dieses Konzepts bemerkt Goodman, dass – genauer betrachtet – nicht die Prädikate,
sondern ihre Extensionen verankert würden (ebd. S. 123). Dies ist zumindest missverständlich: Der Begriff meint offensichtlich das Austarieren der Denotationsrelation
zwischen dem Prädikat und seiner Extension, was notwendig Konsequenzen auch für
die Intension des Prädikats hat.
Ebd., S. 120 ff. und 128 f.
Es wäre ja in der Tat kein „guter“ Zirkel, wenn zum Verständnis des Wortes „Verankerung“ auf das Verständnis des Begriffs „erfolgreiche Fortsetzung“ rekurriert werden müsste.
Ebd. S. 123.
Christian Stetter
164
rung.28 Dass die Hypothese „Alle Smaragde sind grün“ erfolgreich fortgesetzt
wurde, besagt zunächst ja nicht mehr, als dass ein neu gefundener Smaragd
sich ebenfalls als grün erwiesen hatte, allgemein: dass eine Voraussage der
Form
„Der Gegenstand G wird sich unter den Bedingungen C1, C2, …, Cn so
und so verhalten“
beim nächsten „anstehenden“ Fall eingetroffen war.
Für „… wird sich … so und so verhalten“ steht je ein bestimmtes Prädikat: „… wird zubeißen“, „… wird sich bei … entzünden“, „… wird nach …
Metern zum Stehen kommen“ usw. Das zweite Prädikat könnte bei einem
chemischen Versuch verwandt werden, das dritte bei einem Fahrzeugtest, also
einem technischen Versuch. Was heißt es nun, dass die Extension dieser Prädikate verankert wird? Zunächst nicht mehr, als dass das Resultat der betreffenden Versuche denen vorausgegangener Versuche gleich oder annähernd
gleich war. Die bestätigte Extension wäre hier eine bestimmte Bandbreite von
quantitativen Werten, also Werte, die nicht kleiner als … und nicht größer als
… waren. Dass der neu gefundene Smaragd sich als grün erwies, bedeutete
entsprechend, dass er nicht rot und nicht blau und nicht … war usw. Verankerung der Extension heißt also: Bestätigung einer Hypothese über die Extension des betreffenden Prädikats in Unterscheidung von der Extension
anderer, mehr oder weniger ähnlicher Prädikate. Dass x unter den Umständen
U einen Bremsweg von ca. 20 Metern hat, kann nur gegen „konkurrierende“
Maße wie etwa „… von ca. 5 Metern“ oder „… von ca. 30 Metern“ verankert
werden, nicht aber gegen Angaben wie „… von ca. 5 Kilometern“ oder „…
von ca. 5 kg“, die Extension von „grün“ gegen die von „gelb“ oder „blau“,
nicht aber gegen die von „salzig“ oder „von Bach komponiert“ usw. „Verankerung“ heißt also: Austarieren, präzisieren, korrigieren der Denotationsrelation zwischen einem Prädikat P und seiner Extension in Unterscheidung – so
könnte man sagen – von Prädikaten der gleichen oder einer ähnlichen Sphäre
oder Ordnung logischer Subjekte.29
Je besser diese Relation in ihrem Gebrauch durch entsprechende Sprachoder Forschergemeinschaften oder ähnliche Populationen verankert ist, desto
besser verankert ist das betreffende Prädikat. Dieser Gedanke liefert die Basis
dafür, berechtigte von nicht berechtigten Fortsetzungen eines Prädikats zu
unterscheiden.30 Bezogen auf „grün“ als Nachprädikat einer Hypothese, das
auf „Smaragd“ als Vorprädikat angewandt wird, heißt dies, dass dieses Prä_____________
28
29
30
Für sich genommen ist – wie sich im Weiteren zeigen wird – diese Bemerkung eher
irreführend. Es geht vielmehr um die Verankerung der Denotationsrelation.
Vgl. hierzu Goodman: Sprachen der Kunst, Frankfurt a. M. 1997, Kap. 1.
Genauer müsste man hier von berechtigteren von weniger oder gar nicht berechtigten
Fortsetzungen sprechen.
Freind oder feund?
165
dikat hier im Gegensatz zu „grot“ offensichtlich oft erfolgreich fortgesetzt
wurde.31
Jede Verankerung eines hypothetisch verwendeten Prädikats setzt dergestalt eine schon sprachlich beschriebene und kategorisierte Welt voraus. Über
grün oder rot kann man nur dann streiten, wenn unstrittig ist, dass der betreffende Fall in einem Bezugnahmegebiet angesiedelt ist, das unter die Distinktion farbig: nicht farbig fällt und für den anstehenden Fall farbig als einschlägig vorausgesetzt ist. Damit haben wir die – in Fact, Fiction, and Forecast
zwar berührte32, nicht aber explizit thematisierte – sprachphilosophische Basis
von Goodmans Theorie der Fortsetzung erreicht. Kommen wir nun zum
Thema zurück:
Die allgemeine Formel für ein G-Prädikat P* lautet, so können wir zusammenfassen:
P* beschreibt eine Klasse K* von Objekten O*, für die Folgendes gilt:
Wenn gilt: Oi ist vor einem Zeitpunkt t geprüft, dann: Oi ist p1, andernfalls
gilt: Oi ist p2, und die Aussage „x ist p2“ impliziert, dass x nicht p1 ist.
p1 und p2 sind im Kontext des bislang referierten Induktionsproblems als
Variablen zu verstehen für „normale“ natürlichsprachliche Prädikate wie „…
ist rot“, „… ist ein Smaragd“, „… leitet elektrischen Strom“, „… ist 1,5 m
lang“, „… wiegt 1 kg“ usw. Betrachten wir nun zwei andere, nach dieser
Formel konstruierte Prädikate:
freind df vor einem Zeitpunkt t geprüft und als freundlich befunden,
sonst feindlich;
feund df vor einem Zeitpunkt t geprüft und als feindlich befunden, sonst
freundlich.
Was unterscheidet sie von G-Prädikaten wie „grot“, „glau“33 oder „Smarblume“? Gemeinsam ist ihnen die Struktur der Extension: Sie fassen jeweils
eine Menge von Objekten zu einer Klasse zusammen, deren Elemente sich
darin unterscheiden, dass die einen vor einem Zeitpunkt t geprüft und für p1
befunden wurden, die anderen, für die dies nicht gilt, sind p2. Gemeinsam ist
ihnen auch – dies wird nun relevant –, dass „freind“ und „feund“ wie „grot“
usw. ein und derselben Sprechergemeinschaft SGi als regelmäßig verwendetes
_____________
31
32
33
Die Frage, ob ein Prädikat auf einen neuen Fall anzuwenden ist, setzt ja dessen Prüfung voraus. Also ist für sämtliche bereits geprüften Smaragde die Extension von
„grün“ und „grot“ gleich. Sie unterscheiden sich aber in ihrer Verankerung: Jede „erfolgreiche“ Benennung eines neu gefundenen Kristalls, das sich als Smaragd herausstellte, als grün-seiend hat die Relation zwischen dem Prädikat „grün“ und seiner Extension bestätigt und damit diese Anwendung von „grün“ einen Grad „fortsetzbarer“
gemacht – im Gegensatz eben zu „grot“; vgl. hierzu Goodman: Tatsache, Fiktion, Voraussage, a.a.O., S. 120 ff.
Vgl. das diesem Aufsatz vorangestellte Motto.
glau df vor einem Zeitpunkt t geprüft und grün, sonst blau.
Christian Stetter
166
Vokabular zugeschrieben werden.34 Gemeinsam ist ihnen schließlich auch,
dass dasselbe Vokabular – hier das der deutschen Sprache – als Definitionsvokabular verwendet wird.35
Sie unterscheiden sich aber darin von G-Prädikaten, dass dasselbe Objekt
Ot36 von verschiedenen kompetenten Sprechern von SGi vor t nicht einmal
„grün“, ein anderes Mal „rot“, oder einmal „grot“, ein anderes Mal „rün“37
genannt wird, sondern – solange jedenfalls die betreffende Sprachkompetenz
„funktioniert“ und normale Wahrnehmungsbedingungen herrschen – entweder regelmäßig „grün“ oder regelmäßig „rot“ usw., während ein und dieselbe Person Pt von verschiedenen kompetenten Sprechern von SGi vor t,
also nach Prüfung, durchaus einmal „freundlich“, einmal „feindlich“, oder
einmal „freind“, einmal „feund“ genannt werden könnte. „rot“, „grün“,
„Smaragd“, „Kornblume“ usw. sind in der deutschen Sprache bestens verankerte Prädikate, die auf ein stattliches Alter zurückblicken können.38 Wenn
nun von zwei Sprechern des Deutschen der eine Ot als rot, der andere als
grün bezeichnen würde, so würde man zu dem Schluss kommen, dass entweder die beiden doch von verschiedenen Objekten sprechen, oder dass einer
von beiden farbenblind ist. Würde dasselbe mit „Smaragd“ und „Kornblume“
eintreten, so würde man wohl vermuten, dass einem von beiden entweder die
Bedeutung von „Smaragd“ oder die von „Kornblume“ nicht bekannt ist. Weil
eben für einen ‚kompetenten’ Sprecher des Deutschen ein und derselbe Gegenstand gleichzeitig nicht sowohl rot wie grün, nicht sowohl Smaragd wie
Kornblume sein kann.39 Daher kann – so wäre man versucht, bei einem be_____________
34
35
36
37
38
39
In Goodmans Analysen ist dies – aufgrund ihres Gegenstandes – als selbstverständlich unterstellt worden. „grot“, „Smarblume“ usw. werden als alternatives Vokabular
ein und derselben Sprechergemeinschaft behandelt, der auch das „Normalvokabular“
zugeschrieben wird, das als Definitionsvokabular verwendet wird.
Goodmans in Auseinandersetzung mit Carnap verwendetes Argument, man könne
ebenso G-Prädikate wie „grot“ oder „Smarblume“ zur Definition unserer „normalen“
Prädikate „rot“, „grün“ usw. verwenden (vgl. Goodman: Tatsache, Fiktion, Voraussage,
a.a.O., S. 103 ff.), ist zwar abstrakt zutreffend, widerspricht aber seiner eigenen Theorie der Verankerung.
Ein vor t geprüftes Objekt.
rün df vor einem Zeitpunkt t geprüft und als rot befunden, sonst grün.
Wörter sind nach einem schönen Diktum W. von Humboldts die eigentlichen „Individuen“ der Sprachen; vgl. Humboldt: Grundzüge des allgemeinen Sprachtypus, herausgegeben von Christian Stetter, Berlin 2004, S. 81. Und die meisten von ihnen sind Jahrhunderte alt, viele noch weitaus älter.
Es gibt natürlich Objekte, die teilweise rot, teilweise grün oder – wie eine Ampel –
phasenweise entweder rot oder grün sind. Das ist hier nicht gemeint; die Rede ist von
Gegenständen, die als Ganze entweder dauerhaft oder phasenweise nur eine Farbe
aufweisen. Bei als Klassenbezeichnungen verwendeten Substantiven stellt sich das
Problem normalerweise nicht: Ein Smaragd ist eben ein Smaragd, eine Kornblume eine Kornblume, und bei letzterer Sorte von Objekten nehmen wir sogar beträchtliche
Freind oder feund?
167
währten, in der Sprachgemeinschaft gut verankerten Prädikat Pi zu verallgemeinern – ein und derselbe Gegenstand für verschiedene kompetente Sprecher der betreffenden Sprache zu einem bestimmten Zeitpunkt t nicht einmal
Pi und einmal non-Pi sein.
Für „rot“ wie „Kornblume“ mag dies zutreffen, und es trifft sogar für
nicht verankerte Prädikate wie „grot“ oder „Smarblume“ zu. Es gilt jedoch
weder für „freund“ und „feind“ noch für „feund“ oder „freind“.40 Denn
obwohl „freund“ und „feind“ im Sprachgebrauch des Deutschen sicher so
gut verankert sind wie „rot“ oder „Kornblume“, ist es doch nicht nur möglich, sondern kommt regelmäßig vor, dass ein und dieselbe Person Si für zwei
verschiedene Sprecher des Deutschen, die im Gebrauch dieser Prädikate – so
wollen wir annehmen – völlig übereinstimmen, vom einen als Freund, vom
anderen als Feind wahrgenommen und so bezeichnet wird. Denn im Unterschied zu „rot“ oder „Kornblume“ bezeichnen „freund“ und „feind“ nicht
interne Eigenschaften von Si,41 sondern Relationen zwischen Si und anderen
Personen. Und diese Relationen können sich zudem im Verlauf der Zeit in ihr
Gegenteil verkehren. Aus Freunden können bekanntlich Feinde werden und
umgekehrt.
Dies gilt für jedes Prädikat, das in einer Sprachgemeinschaft zur Interpretation einer Relation zwischen Personen oder Gruppen oder ganzen Populationen usw. verwendet wird. Ich bezeichne solche Prädikate im weiteren als
relationale Vorurteilsprädikate bzw. V-Prädikate. Das in unserem Zusammenhang Bedeutsame liegt darin, dass Vorurteile die gleiche Zeitstruktur für ihre
Extension aufweisen wie die G-Prädikate: Eine Meinung über einen Sachverhalt S gilt dann als Vorurteil, wenn sie nicht auf überprüfter Kenntnis von
S beruht und bestätigten Erfahrungen widerspricht. Vorurteile haben ja die
interne Eigenschaft, erfahrungsresistent zu sein: Es kommt häufig genug vor,
dass Personen, die regelmäßig zum Türken einkaufen oder essen gehen, Muslime für gefährlich oder für nicht vertrauenswürdig halten.42
_____________
40
41
42
Unterschiede des Zustandes hin, ohne das Prädikat zu wechseln: Eine frische wie eine
völlig verdorrte Kornblume bleibt doch eine Kornblume.„Wie erkenne ich“, fragt
Wittgenstein, „dass diese Farbe Rot ist?“, … und er antwortet: „Eine Antwort wäre:
‚Ich habe Deutsch gelernt.’“ (Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, Schriften Bd.
1, Frankfurt a. M. 1984, § 381.)
Ich behandle „freund“ und „feind“ hier der Einfachheit halber als Adjektive. Für die
substantivische Verwendung gilt das Folgende gleichermaßen.
Ich verwende das Prädikat „intern“ hier in dem von Wittgenstein definierten Sinn:
„Eine Eigenschaft ist intern, wenn es undenkbar ist, dass ihr Gegenstand sie nicht besitzt.“ (Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus, Schriften Bd. 1, Frankfurt a. M. 1984,
T 4.123).
Bis vor wenigen Jahrzehnten gab es regelmäßig noch zwischen den Angehörigen
verschiedener christlicher Konfessionen oder Landsmannschaften ähnliche Vorurteilsstrukturen; zum Teil existieren solche noch bis heute. Man könnte also für die
Christian Stetter
168
Vorurteile sind ebenso verbreitete wie funktionale soziale Phänomene. Sie
minimieren die Ungewissheit des Handelns in Konstellationen von Sachlagen,
die man nicht überschaut, wo man unerfahren ist, wo also Informationen
fehlen, um Handlungsalternativen rational abwägen zu können. Sie greifen bei
V-Prädikaten entsprechend in dem Extensionsbereich der nicht vor t geprüften Sachverhalte.43
V-Prädikate exemplifizieren somit in ihrer Extensionsstruktur eine für alle
Prädikate typische Eigenschaft, die in menschlichen Gesellschaften verwendet
werden, um Konstellationen sozialen Handelns oder Verhaltens zu interpretieren und zu unterscheiden.44 Dabei kommt es immer auf den Standpunkt,
die Interessenlage, das jeweilige System von Kategorien und Werten an. Das
Vokabular mag traditionell und weit verbreitet sein. „freund“, „feind“, „nützlich“, „schädlich“ usw. sind im Sprachgebrauch des Deutschen jedenfalls
bestens verankerte Prädikate – freilich nicht im Sinne von Goodmans Konzept der Verankerung von Prädikaten.45
Dessen Spezifik wird erst im Kontrast zu dem der V-Prädikate deutlich:
Als Bezugnahmegebiet für „rot“, „grün“, „grot“, „rün“, „Smaragd“, „Kornblume“ usw. ist in Goodmans Überlegungen stets und ausschließlich ein Bereich von ‚natürlichen’ oder ‚technischen’ Sachverhalten unterstellt, deren
Eigenschaften experimentell erforscht werden. Das ergibt sich aus dem Problem, das zu lösen ist: der Induktion. Deren Gegenstand sind – wie bereits
bemerkt – Gesetzesaussagen.46 Dies gibt der Intension der in diesem Zusammenhang betrachteten Prädikate ein besonderes Gesicht, selbst so alltäglicher
wie „rot“, „grün“, „rund“ oder „eckig“: In diesem Rahmen werden solche
Prädikate – sofern sie zur Unterscheidung von Eigenschaften verwendet
werden, die für die betreffenden Sachverhalte „kritisch“ sind – durch quantitative Werte definiert, die von „rot“ oder „grün“ etwa durch solche, die durch
Spektralanalysen gewonnen werden, die von „Smaragd“ durch Angabe der
besonderen kristallinen Eigenschaften usw. Das macht es dann möglich, die
Extension der betreffenden Prädikate mit einer Genauigkeit zu bestimmen,
die ihren Grund nicht mehr in der Wahrnehmungsfähigkeit menschlicher
_____________
43
44
45
46
hier als Beispiele mit einer gewissen Aktualität verwendeten Prädikate „Türke“ und
„Muslim“ ebenso „Katholik“, „Protestant“, „Rheinländer“, „Schwabe“ usw. einsetzen. Insbesondere Vorurteile ersterer Art sind inzwischen sicher seltener geworden,
aber solche oder ähnliche Vorurteilsstrukturen wird es immer geben.
Wobei man hier für t „jeweilige Handlungs- oder Wahrnehmungsgegenwart“ setzen
könnte. Das macht das Vorurteilsmäßige am Vorurteil aus.
Ich fasse im Folgenden alle solche Prädikate, die zur Interpretation sozialer Sachverhalte im eben skizzierten Sinne verwendet werden, unter der Bezeichnung „VPrädikate“ zusammen.
Insbesondere beziehen sie sich nicht auf gesetzesartige Zusammenhänge.
Vgl. hierzu Goodman: Tatsache, Fiktion, Voraussage, a.a.O., S. 33 ff. und S. 97 ff.
Freind oder feund?
169
Sinnesorgane hat, sondern in der Funktion und Präzision von Messapparaturen.47
„Verankerung“ heißt somit immer: Regelung und Austarierung der Relation zwischen dem Prädikat und seiner Extension im Rahmen des Gebrauchs
dieses Prädikats, und zwar – wie wir gesehen hatten – stets im Unterscheid zu
anderen Prädikaten derselben oder ähnlicher kategorialer Bereiche. Entscheidend ist für die Verankerung eines Prädikats P im Unterschied zu Prädikaten
Q, R, S, … stets die möglichst genaue Grenzziehung zwischen noch P und
nicht mehr P, sondern schon Q oder R usw. Bei V-Prädikaten wird diese
Grenzziehung im Rahmen von natürlichsprachlichen Diskursen getroffen, in
denen konkurrierende Meinungen über die Interpretation des fraglichen
Sachverhalts aufeinandertreffen. Seien solche Auseinandersetzungen noch so
rational: Sie werden – es gehe etwa darum, ob sich die Partei XYZ angesichts
des Wahlausgangs noch an eine vor der Wahl gegebene Zusage halten müsse
oder ob die politische Realität nun etwas anderes verlange – in aller Regel
nicht durch den Nachweis entschieden, dass die eine Meinung zutreffend, die
andere falsch sei. Im Bereich empirischer sozialer Fakten sind derartige Nachweise meist nicht zu führen.48 Eine Meinung wird sich durchsetzen – wie
auch immer.
Im Experiment ist dies anders: Die Denotation eines Prädikats wie „biegsam“ wird im Design des Experiments, in dem die Biegsamkeit bzw. Elastizität eines Metalls geprüft werden soll, durch Angabe der betreffenden physikalischen oder chemischen Eigenschaften des Metalls und durch die
quantitativen Werte definiert, die sich etwa in einer Testreihe ergeben. Diese
Werte gelten dann für die betreffenden Sprachspiele von Spezialisten innerhalb bestimmter Rahmenbedingungen, jedenfalls solange sie nicht durch
neuere Experimente korrigiert werden, was in der Regel heißt, dass die Toleranzgrenzen präzisiert werden. Für Laien gelten sie dann per se.
Wir finden uns hier wieder vor dem uralten Widerstreit zwischen dem
Wahren und dem Wahrscheinlichen, zwischen Logik und Rhetorik, wie er in
Platons Dialogen ausgetragen worden ist.49 Über Prädikate wie „Freund“,
„Feind“, „nützlich“, „schädlich“, „gerecht“, „sozial ausgewogen“ usw. wird in
allen oder doch den meisten menschlichen Gesellschaften immer wieder neu
debattiert und neu entschieden, öffentlich oder privat, frei oder unter Repres_____________
47
48
49
Natürlich müssen deren Instrumente abgelesen werden, und auch hier liegen noch
mögliche Fehlerquellen. Das vernachlässige ich im Weiteren, da es für das hier diskutierte Problem bestenfalls eine Nebenrolle spielt.
Dies schon deswegen nicht, weil es mindestens voraussetzen würde, dass man sich
über die Prämissen der Entscheidung einig wäre. Zudem fehlt in der Regel eine gesicherte Datenbasis. Die kann sich – wie man weiß – selbst bei statistisch erhobenen
Fakten, etwa Umfragen vor einer Wahl, unerwartet verändern.
Vgl. hierzu Stetter: Schrift und Sprache, Frankfurt a. M. 1997, Kap. 8 und 9.
Christian Stetter
170
sion. Dass sich im offenen Diskurs der zwanglose Zwang des besseren Arguments durchsetze, darf und muss man zwar hoffen, doch setzt dies vieles
voraus: Bildung und Einsicht der Diskursteilnehmer, Abwesenheit von Sachzwängen und divergierenden Interessen ebenso wie von drohender Gewalt
usw., also eine ‚ideale’ Kommunikationssituation. Dass durch die Macht von
Mehrheiten, von Ämtern und Funktionen, von Kapital, Medien oder militärischer Potenz entschieden wird, ist gesellschaftliche Realität, die in vielen Fällen durchaus legal, in manchen sogar legitim ist. Das braucht hier nicht weiter
ausgebreitet zu werden. Es gibt der These, die Platon letztlich wohl doch als
der Realität zumindest nahekommend akzeptiert hatte, dass nämlich die Bedeutung der Wörter sich aus der gesellschaftlichen Konvention herleite, dem
Nomos, einen skeptischen oder auch zynischen Sinn: Der Nomos war das
traditionale Recht,50 und das beruhte seinerseits auf Macht. Die Verankerung
von V-Prädikaten im Sprachgebrauch öffentlicher wie privater Diskurse geschieht heute wie von zweitausend Jahren unter den Rahmenbedingungen
von legitimer und legaler wie illegitimer und illegaler Macht.
Mit den Prädikaten, die von Goodman im Zusammenhang des Induktionsproblems betrachtet werden, verhält sich dies partiell durchaus ähnlich:
Auch sie erfahren ihre Verankerung in öffentlichen Diskursen, und auch dort
wird es unterschiedliche Standpunkte geben, auch von Machtverhältnissen
bestimmte Meinungsbildungen usw. Auch die Natur- oder Ingenieurwissenschaften sind institutionelle Prozesse.51 Doch spielen – wie bereits angedeutet
– bei der Verankerung der in naturwissenschaftlich-technischen Diskursen
verwendeten Prädikate Experimente und Tests eine Rolle, für die es im Bereich der hermeneutischen und sozialwissenschaftlichen Disziplinen kein
Analogon gibt.52
Ein Prädikat zu verankern heißt, wie wir gesehen hatten, die Denotationsrelation zwischen dem Prädikat und seiner Extension im Gebrauch dieses
Prädikats auszutarieren. Wesentlich ist dabei die Abgrenzung gegenüber anderen, „konkurrierenden“ Prädikaten. Was unter die Extension von Pi fällt,
kann effektiv je nur durch Bestimmung einer Grenze entschieden werden,
jenseits von der das betreffende Objekt eben als non-Pi anzusprechen ist. Die
Frage ist nun, wie dieser Prozess des Austarierens vor sich geht. Bei V-Prädikaten lässt sich diese Frage kaum beantworten. Die philologische Beschrei_____________
50
51
52
Das Wort ist abgeleitet vom Verb nemein: verteilen, zuteilen. Grundbedeutung: das
Zugeteilte, dann: Brauch, Gesetz.
Insbesondere letztere sind in ihrer Forschungspraxis oft von industriellen Auftraggebern abhängig. Daraus können sich sehr spezifische Konstellationen von Erkenntnis
und Interesse ergeben.
In den Sozialwissenschaften, namentlich in den Wirtschaftswissenschaften, werden
auch Gesetzesaussagen getroffen, und zwar auf der Basis von statistischen Daten.
Entsprechend „weich“ sind darauf gegründete Gesetzesannahmen.
Freind oder feund?
171
bung einer „Wortgeschichte“, wie wir sie etwa im Grimmschen Wörterbuch
finden, listet uns eine zeitlich geordnete Auswahl von Lemmata auf, die einem
Wort als diachronischer Identität zugeordnet werden – eine Paradoxie sui
generis, an der kein Geringerer als Saussure verzweifelt ist.53 Wir würden sie
heute als Menge aufeinander folgender Kopien deuten: z. B. frouwâ (ahd.)…
frouwe (mhd.) … vrouw (nl.) … frowe (fries.) … Frau. Doch die hier gegebenen
Beispiele sind schriftlich dokumentierte Ausschnitte aus über Jahrhunderte, in
vielen Fällen sogar über Jahrtausende sich erstreckende Kontinua oralen
Sprachgebrauchs.54 Eine solche „Geschichte“ beschreibt Stationen eines kontinuierlichen Gebrauchs des betreffenden Wortes, während dessen es sich der
Form wie der Bedeutung nach allmählich verändert – ohne dass dies aber den
dieses Wort Gebrauchenden je bewusst würde. Es handelt sich um Ausschnitte eines Invisible-hand-Prozesses, der grob das Faktum beschreibt,
nicht aber die Umstände, deren Resultat der Formen- wie Bedeutungswandel
ist. Logisch betrachtet ist dieser Prozess grundsätzlich metaphorischer Natur.
Er beruht auf Analogien. Wir können dem bestenfalls entnehmen, dass sich
der Gebrauch einer Wortes im Laufe der Zeit durchaus ‚motiviert’ verändert,
so eben auch der von Prädikaten. Doch hat dieser Prozess nichts Gesetzesartiges an sich.
Der kritische Punkte in Platons Diskussion des Sprachproblems war die
Zuverlässigkeit (bebaiotēs) von Prädikaten (onoma, nomen), in moderner Terminologie: die Invarianz der Relation zwischen Prädikat und Extension im Ge_____________
53
54
Vgl. hierzu Stetter: Ferdinand de Saussure, in: Dascal / Gerhardus / Lorenz / Meggle
(eds.): Sprachphilosophie. Ein internationales handbuch zeitgenössischer Forschung, Berlin-New
York 1992, S. 510-523. Die logischen Mittel, diese Paradoxie aufzulösen, standen
Saussure und den strukturalen linguistischen Schulen noch nicht zur Verfügung. Eine
Lösung für dieses Problem habe ich – auf der Basis des von Leonard und Goodman
(The Calculus of Individuals and its Uses, in: The Journal of Symbolic Logic, Vol. 5 (1940),
S. 45-55) entwickelten Individuenkalküls – erstmals in Stetter 2005 (System und Performanz. Symboltheoretische Grundlagen von Medientheorie und Sprachwissenschaft, Weilerswist
2005, Kap. 7, S. 285 ff.) entwickelt.
Ein „Jahrtausendbeispiel“ gibt uns das Wort „wissen“, das wir mit Sicherheit bis auf
den altgriechischen „Stamm“ (v)id- (vgl. idea, …, oida: ich weiß, lat. vidi, …), also bis ins
Indoeuropäische zurückverfolgen können. Dieser „Stammbaum“ lässt uns verstehen,
wieso ich weiß, du weißt, er weiß usw. eigentlich Präterita, also Vergangenheitsformen
sind, denn sie flektieren wie „normale“ Präterita: ging, gingst, ging, sah, sahst, sah usw. Die
Bedeutung ist, wie der Vergleich mit dem Altgriechischen oder Lateinischen belegt:
ich habe gesehen. Diese „Geschichte“ ist aber eine philologische Fiktion, denn es gibt
kein logisches Subjekt, dem sie zugeschrieben werden könnte. „Das“ Wort wissen ist
qua Typ nichts als eine offene Menge von Tokens, die Kopien voneinander sind, für
die es kein Original gibt. Existenz ist nur diesen Kopien zuzuschreiben, Realität dem
Typ nur qua Menge von Kopien. Freilich ist die Linguistik bis heute von einem Universalienrealismus kontaminiert, ihr aus der naiven Philologie des 19. Jahrhunderts
stammendes Erbe, in dem sie sich so eingerichtet hat, dass sie es nicht einmal bemerkt. Vgl. hierzu Stetter: System und Performanz, a.a.O., S. 14 ff. und 317 ff.
Christian Stetter
172
brauch durch verschiedene Populationen. Im Bezugnahmegebiet sozialer oder
historischer Sachverhalte wird und kann dies nie gegeben sein. Deshalb
herrscht dort die Nomō-These unangefochten, und sie tut dies – Platons
Kritik zum Trotz – legitimerweise. Es gibt keine sozialen Sachverhalte unabhängig von den Deutungen der in sie involvierten Subjekte.
Bei Prädikaten, die im Zusammenhang natur- oder ingenieurwissenschaftlicher Forschung verwendet werden, ist dies anders: Hier kommt mit
dem Experiment oder Test ein Faktor ins Spiel des Verankerns, der keineswegs von der Art eines Invisible-hand-Prozesses ist, denn er beruht auf dem
Funktionieren von Artefakten, deren Konstruktion bekannt ist. Es ist das
Kennzeichen eines Experiments, dass es ohne die Intervention menschlicher,
d. h. sprachlicher Interpretation abläuft bzw. abzulaufen hat.55 Hier bekommt
also die „Reaktion“ des Versuchsaggregats auf die vorgegebene Frage ein
Eigengewicht, auch wenn Messinstrumente abgelesen und der Verlauf eines
Experiments im Kontext gegebener Erkenntnisse zu interpretieren ist. Doch
der Interpretation sind hier enge Grenzen gesetzt. Messinstrumente müssen
korrekt abgelesen werden, ja man kann sogar das Ablesen, im weiteren Sinn
die Kontrolle und Protokollierung der Ergebnisse von Experimenten selbst
noch durch technische Prozeduren so unterstützen, dass selbst Fehlertoleranzen exakt bestimmbar werden.
Die Versuchsapparatur kann zwar selbst nicht sprechen, aber sie kann auf
die im Experiment gestellte Frage so oder so „antworten“ – oder auch die
„Aussage verweigern“. Und dies eben ohne die Intervention menschlicher
Subjekte. Insofern sind hier zweifellos natürliche Prozesse – auch wenn diese
experimentell „zurechtgestellt“ sind – am Geschäft des Austarierens der Denotationsrelation für die betreffenden Prädikate beteiligt. Und – wenn man so
will – kann man dies als eine moderne Variante der im „Kratylos“ verworfenen Physei-These betrachten.
Allerdings fungiert diese nicht als Antithese zur Nomō-These, sondern
stets in deren Rahmen. Auch wenn die „Äußerungen“ der Apparatur in technischen Prozessen so erfasst werden, dass sie kategorial wie quantitativ bestimmbar werden, so werden hier doch keine „natürlichen“ Kategorien er_____________
55
In der generativen Linguistik hat man eine Methode des „Experimentierens“ mit
künstlichen Beispielen entwickelt, um durch Grammatikalitätstests eine in der
menschlichen Sprachanlage angelegte Grenze zwischen dem, das in einer menschlichen Sprache syntaktisch möglich ist, und dem Gegenteil herauszufinden. Chomsky
hat dementsprechend von einem „galileischen“ Verfahren der generativen Linguistik
gesprochen, das man den verstehenden Verfahren der Geisteswissenschaften entgegengesetzt hat. Doch lässt sich unschwer zeigen, dass solche „Tests“ eben nicht frei
sind von sprachlicher Interpretation. Insofern ist die Rede von Experimenten hier in
strengem Sinn unzutreffend. Vgl. hierzu Grewendorf: Sprache als Organ – Sprache als
Lebensform, Frankfurt a. M. 1995, dazu Stetter: System und Performanz, a.a.O., Kap. 4.
Freind oder feund?
173
fasst, wie sie etwa Rudolf Carnap vorgeschwebt haben mögen. Auch „Geschwindigkeit“, „Druck“ usw. sind in der alltäglichen Rede über den Umgang
mit Artefakten verankert, die so alt ist wie die Gattung Mensch selbst.56
Andererseits zeigt dieser Zusammenhang, dass die traditionelle Auffassung, die Bedeutung sprachlicher Prädikate sei grundsätzlich konventioneller Natur, unzureichend ist. Entweder ist sie trivial, dann besagt sie nicht
mehr, als dass die Bedeutung eines Wortes von den Regeln seines Gebrauchs
abhängt, was darauf hinausläuft, dass es bedeutet, was immer es bedeutet –
oder aber sie ist schlicht falsch. Kein Mensch kann auch nur eine einzige der
vielen Regeln ändern, die insgesamt den Gebrauch der Wörter unserer Sprache bestimmen und denen unsere Rede genügen muss, wenn wir uns anderen
wie uns selbst verständlich machen wollen.57 Sprachwandel ist grundsätzlich
von der Art eines Invisible-hand-Prozesses, der sich „hinter dem Rücken“ der
jeweiligen Sprachgemeinschaft vollzieht,58 ein quasi-natürliches Attribut ihres
Sprachgebrauchs, auch wenn die „jeweilige Rede“ oder der Sprechakt durchaus intentional vollzogen sein mag – was allerdings auch nicht immer zutreffen wird. Ob eine „neuer“ Sprachgebrauch sich durchsetzt, eine „kühne“
Metapher, ein Regelverstoß „durchkommt“, das ist nie zu prognostizieren
und hängt meist von Rahmenbedingungen ab, die den Sprechern in ihrem
Redevollzug kaum oder gar nicht bewusst sein. So hat J.L.Austin etwa gezeigt,
wie vielfältig die Gelingensbedingungen sind, denen schon die alltägliche
Rede unterliegt.59
_____________
56
57
58
59
Vgl. hierzu Leroi-Gourhan: Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst,
2. Aufl., Frankfurt a. M. 1984.
„Diktatorische“ Eingriffe in Sprachgebräuche, insbesondere in literale, gibt es und hat
es immer wieder gegeben. Doch eine Regeländerung ist die Etablierung eines neuen
Typs anstelle eines älteren. Dies bedarf immer der Akzeptierung und des Gebrauchs
durch eine Sprachgemeinschaft. Und das entzieht sich aufgrund der Natur der Sache
jedem reglementierenden Zugriff. Das Schicksal der sogenannten, 1996 von der Kultusministerkonferenz der Bundesländer beschlossenen Rechtschreibreform ist ein aktueller, relativ „harmloser“ Beleg dafür.
Vgl. hierzu Keller: Sprachwandel. Von der unsichtbaren Hand in der Sprache, 2. Aufl.,
Tübingen-Basal 1994. Ich folge ihm allerdings nicht in der These, das Resultat eines
Invisible-hand-Prozesses sei die kausale Folge von Handlungen (ebd. S. 91 f.). Denn
schon „schwache“ Konzepte von Kausalität verkehren ja den Sinn des Invisible-handKonzepts in sein Gegenteil.
Das sogenannte Arbitraritätsprinzip, das seit F. de Saussure als Grundaxiom der
Linguistik gilt, hat – philosophisch betrachtet – eine ganz andere Funktion als die, die
ihm innerhalb der Zunft zugemessen wird. Dort kann man es eigentlich vernachlässigen. Tatsächlich macht es zweierlei klar: Erstens, dass eine sprachliche Tatsache,
also „mögliches“ Objekt linguistischer Analyse, nur ist, was „untrennbare“ Einheit
von signifiant und signifié ist (woraus zum Beispiel folgt, dass Silben oder Phoneme
keine solche Einheiten sind). Zweitens hat es eine Art fiktionalen Sinn: Es legitimiert
in gewisser Weise die analytische Praxis des Linguisten, die den signifié nolens volens
Christian Stetter
174
Denkt man Goodmans Gedanken der Verankerung sprachlicher Prädikate weiter, so wird man wohl für verschiedene Sprachspiele – zwei haben wir
hier nur flüchtig betrachtet – unterschiedliche Formen der Bewährung oder
eben Verankerung von Wörtern im Sprachgebrauch finden – vom spontanen
Gebrauch über informelle Regelungsprozesse und Sprachplanungsverfahren
bis hin zu formalisierten Verfahren, wie sie in der Praxis vieler Wissenschaften wie in institutionellen Prozessen wie Verwaltung, Rechtsprechung
usw. zu finden sind. Was wir eine sprachliche Konvention nennen, erwiese
sich so als die Momentaufnahme eines Bewährungsprozesses, der je nach
dem, welches Spiel gespielt wird, so oder so gestaltet sein kann.
_____________
zerstören muss, um den signifiant dann formal beschreiben zu können. Vgl. hierzu
Stetter: Schrift und Sprache, a.a.O., Kap. 4.
B
Philosophie des Geistes
Wie ist der Solipsist in der Fliegenglocke
zur Ruhe zu bringen?
Joachim Schulte
Neulich im Wirtshaus bemerkte ich im Gespräch mit einem französischen Freund, wie oft in deutschen Landen das Sprichwort
„In der Not frißt der Teufel Fliegen“ zu hören sei. Worauf der
Franzose – ein wenig verdrießlich ob seiner geringen Meinung von
der hiesigen Küche – erwiderte: „Und wahrscheinlich muß er seinen Schnaps aus dem Fliegenglas trinken!“
Aus einer autobiographischen Schilderung einer Künstlerreise ins Brandenburgische (um 1850)
Die Formulierung der Titelfrage – „Wie ist der Solipsist in der Fliegenglocke
zur Ruhe zu bringen?“ – klingt vielleicht unvertraut. Dennoch geht es im
folgenden hauptsächlich um den §309 von Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen.1 Dieser anderthalbzeilige Paragraph gehört zu den bekanntesten
Bemerkungen Wittgensteins und wird auch von Personen zitiert, die nie ein
Buch unseres Philosophen in der Hand gehabt, geschweige denn in einem
seiner Bücher gelesen haben. Aufgrund ihrer Kürze gehört diese Bemerkung
zu einer Gruppe von Paragraphen, bei denen man besonders versucht ist, sie
unabhängig von ihrem Kontext zu betrachten und zu interpretieren. Bei einigen dieser Aussprüche – wie z. B. §580 („Ein 'innerer Vorgang' bedarf äußerer Kriterien“) – fällt das nicht schwer. Bei anderen – wie z. B. §483 („Ein
guter Grund ist einer, der so aussieht“) – gibt es eher Probleme, wenn man auf
die Heranziehung des Kontexts verzichten möchte. Der §309 ist etwas länger
und besteht immerhin aus zwei Sätzen – einer Frage und einer Antwort: „Was
ist dein Ziel in der Philosophie? – Der Fliege den Ausweg aus dem Fliegenglas zeigen.“
Das klingt allgemein und zugleich persönlich genug, um diese Bemerkung
in die Rubrik „Mahnsprüche und Sentenzen moralischen Inhalts“ zu stecken.
Einen Sinn hat man sich leicht zurechtgelegt: Die „Fliege“ – das ist der ver_____________
1
Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen (1953), hier zitiert nach der Ausgabe
in der Bibliothek Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2003.
178
Joachim Schulte
wirrte Philosoph, und diesem will Wittgenstein helfen, indem er ihm zeigt,
wie er aus dem Fliegenglas herauskommt. Die Frage, ob man diesen Sinn mit
den Nachbarparagraphen in Verbindung bringen will oder sollte, scheint hier
keiner dringenden Antwort zu bedürfen.
Eine – freilich überwindbare – Schwierigkeit besteht darin, daß nur wenige Leser eine genauere Vorstellung von Fliegengläsern haben. Einige Kommentatoren haben jedoch erklärt, worum es sich handelt. Ein Fliegenglas ist
ein unten offener und eingestülpter Glasballon. Die obere Öffnung wird wie
bei einer Flasche mit einem Korken verschlossen. In die untere Einstülpung
wird eine Lockflüssigkeit – z. B. Zuckerwasser oder Bier – geschüttet. Die
Fliegen kommen von unten und fliegen tendenziell nach oben, da es sie zum
Licht hinzieht. Nach längerem Hin und Her landen die Fliegen in der Flüssigkeit und ertrinken. Der Ausweg nach unten ist ihnen aufgrund ihrer Instinkte
weitgehend verbaut. Der Zufall oder ein Fliegenfreund müßte ihnen zu Hilfe
kommen, um sie auf diese Flugbahn zu leiten.
Sobald man sich diese Kenntnisse angeeignet hat, kann man unseren Paragraphen etwas genauer ausdeuten. Gemeint ist offenbar, daß der mit der
Fliege verglichene – verwirrte und auf Irrwege geratene – Philosoph vor allem
deshalb in der Bredouille steckt, weil er nur den ihm besonders naheliegenden
Wegen folgt. Eine Richtungsänderung kommt ihm nicht in den Sinn. Daher
gelingt es ihm nicht, sich aus der Konfusion zu befreien. Wittgensteins Ziel
wäre es demnach, den Verwirrten darauf aufmerksam zu machen, daß es
diesen noch nicht gesehenen und nicht ausprobierten Weg gibt.
I
Fürs erste habe ich mir zwei Aufgaben vorgenommen: Erstens möchte ich
kurz auf den Kontext unserer Bemerkung blicken, um festzustellen, ob dieser
nicht doch in Betracht gezogen werden könnte oder sollte. Zweitens werde
ich zu klären versuchen, auf welchem Weg der §309 an diese Stelle gekommen ist. Eine Skizze dieses Wegs wird, wie ich vermute, weiteres Licht auf
den Sinn dieser Bemerkung werfen.
Zunächst zum Kontext von §309: Der hintere Nachbar, also §310, ist,
soweit ich sehe, nicht ohne weiteres und in spezifischer Form mit unserer
Bemerkung in Verbindung zu bringen. Doch die vorherige Bemerkung – der,
wie ich finde, völlig zu Recht gerühmte §308 – bietet plausible Anknüpfungspunkte. Im Mittelpunkt steht, vereinfacht gesprochen, der Gedanke, daß
philosophische Probleme in puncto seelische Vorgänge und Zustände dadurch zustande kommen, daß wir uns durch das Reden von Vorgängen und
Zuständen vorgeben lassen, wie wir über die relevanten Phänomene reden.
Hier kann man, wenn man möchte, von grammatischen Analogien sprechen
Solipsist in der Fliegenglocke
179
und sagen, das als Vorgang aufgefaßte Erinnern z. B. werde dadurch in unberechtigter Weise in die Nähe anderer Vorgänge gerückt. Ähnlich im Fall der
vermeintlichen Zustände: Wer vom mentalen Zustand des Glaubens oder
Wünschens redet, läßt sich leicht von nicht hinterfragten Parallelen mit anderen Zuständen (wie Krank- oder Betrunkensein) beeinflussen. Da der Gebrauch dieses Vokabulars der psychischen Zustände und Vorgänge meistens
nicht reflektiert oder gar in Frage gestellt wird, können unsere Gedanken nur
in bestimmte Richtungen gehen, nämlich in solche, die mit den Begriffen
„Vorgang“ oder „Zustand“ vereinbar sind. „Der entscheidende Schritt im
Taschenspielerkunststück“, schreibt Wittgenstein, „ist getan, und gerade er
schien uns unschuldig“. Um von diesen Begriffsgleisen herunterzukommen,
bedarf es einer Neuorientierung. Denn man muß sozusagen wieder zurück
auf Feld 1 und das Wäglein der philosophischen Reflexion neu aufgleisen, um
andere Begriffsnachbarschaften zu Gesicht zu bekommen. Eine solche Neuorientierung kommt nicht von selbst; und häufig wird sie nur durch einen
Eingriff von außen ermöglicht. Diese externe Hilfe könnte ein philosophischer Therapeut wie Wittgenstein leisten, der zeigt, daß die bisher gegangenen
Wege nicht die einzigen sind. Das Fliegenglas wäre demnach mit den durch
Begriffe wie „Vorgang“ und „Zustand“ vorherbestimmten Begriffsgleisen zu
vergleichen; und der Ausweg bestünde mindestens in der Einsicht, daß wir
uns durch ein Vorurteil beeinflussen lassen, und vielleicht in der zusätzlichen
Erkenntnis, daß andere Ansätze möglich sind.
Diese Lesart ist, wie ich finde, ganz einleuchtend und gibt eine gute Basis
ab für die These, der §309 sei deshalb an diese Stelle gekommen, weil er nicht
nur vage dorthin paßt, sondern die vorige Bemerkung, also §308, in einer
spezifischen und erhellenden Weise beleuchtet.
Beide Bemerkungen sind – und hier bin ich bereits bei der zweiten Aufgabe, die ich mir eben gestellt habe – erst im letzten Akt des Entstehungsprozesses der Philosophischen Untersuchungen in das Buch aufgenommen worden.
Zwischen 1938 und 1944 hatte Wittgenstein hauptsächlich Texte geschrieben,
die später in die Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik aufgenommen
wurden. Als er sich 1944 in Swansea aufhielt, notierte er eine große Zahl
neuer Bemerkungen zu den Komplexen „Regelfolgen“ und „private Sprache“. Noch im selben Jahr diktierte er ein Typoskript, das aus den bereits seit
1937 vorliegenden §§1-189 und einer Auswahl von etwas über hundert neuen
Bemerkungen bestand. Das ca. 300 Bemerkungen umfassende Maschinenskript wird als „Zwischenfassung“ der Philosophischen Untersuchungen bezeichnet.2 Und wenn man sich die uns interessierende Stelle in dieser Zwischenfas_____________
2
Periodisierung („Frühfassung“, „Zwischenfassung“ usw.) nach der Kritischgenetischen Edition: Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, hg. von Joa-
Joachim Schulte
180
sung anschaut, sieht man, daß dort die fünf Bemerkungen zwischen §304 und
§310 fehlen. Sie sind erst bei der wahrscheinlich 1946 erfolgten letzten Überarbeitung des Texts hinzugekommen.
Das heißt aber nicht, daß etwa §308 und §309 – also die Taschenspielerkunststück- und die Fliegenglas-Bemerkung – aus derselben Zeit oder gar aus
demselben Manuskript stammen. Nein, so leicht hat Wittgenstein es uns nicht
gemacht. Die Taschenspielerkunststück-Bemerkung wurde, soweit wir wissen,
1945 geschrieben. Die Fliegenglas-Bemerkung hingegen wurde am 8. September 1937 notiert, also in der sehr fruchtbaren norwegischen Zeit, in der
Wittgenstein am 2. Teil der damaligen Philosophischen Untersuchungen arbeitete,
d. h. dem der Philosophie der Mathematik gewidmeten Teil der sog. Frühfassung, aus dem dann postum der 1. Teil der Bemerkungen über die Grundlagen der
Mathematik wurde. Auf den genauen Wortlaut dieser Fassung komme ich
gleich zu sprechen. Bemerkenswert ist jedoch, daß dies nicht die erste Verwendung der Fliegenglas-Metapher war. Acht Tage früher gebraucht Wittgenstein im selben Manuskript das gleiche Bild. Im Großkontext geht es um
Beweisfiguren, also anschauliche Formen von Beweisen. In diesem Zusammenhang kommt Wittgenstein auf ein puzzleartiges Geduldspiel zu sprechen,
dessen Zusammensetzung der Betrachter ständig verkennt. „Es ist gleichsam“, schreibt Wittgenstein,
… diese Lage aus der Geometrie ausgeschlossen. Als wäre hier ein "blinder Fleck" in
unserm Gehirn. – Und ist es denn nicht so, wenn ich glaube, alle möglichen Stellungen versucht zu haben und an dieser, wie durch Verhexung, immer vorbeigegangen
bin?
Kann man nicht sagen: die Figur, die uns die Lösung zeigt, beseitigt eine Blindheit;
oder auch, sie ändert deine Geometrie. Sie zeigt dir gleichsam eine neue Dimension
des Raumes. (Wie wenn man einer Fliege den Weg aus dem Fliegenglas zeigte.)
Ein Dämon hat diese Lage mit einem Bann umzogen und aus unserm Raum ausgeschlossen.3
Hier sind, verglichen mit dem bekannten Bild aus den Philosophischen Untersuchungen, drei anders akzentuierte Punkte zu betonen: Erstens wird der Erlebnischarakter der neuen Einsicht betont. Es ist, als wäre die Lösung durch eine
Verhexung oder einen Teufelsbann ausgeschlossen gewesen. Dieser Bann
muß wie durch einen Exorzismus gebrochen werden, um schließlich zu er_____________
3
chim Schulte in Zusammenarbeit mit Heikki Nyman, Eike von Savigny und Georg
Henrik von Wright, Frankfurt a. M. 2001.
MS 118, S. 44v, 1. 9. 37 = Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik, Werkausgabe,
Band 6, Frankfurt a. M. 1984 u. ö., S. 56. Wittgensteins Manuskripte werden nach der
elektronischen Bergen Edition zitiert (Oxford 2000). Die Zählung der Manuskripte
(MS) und Typoskripte (TS) entspricht dem Katalog von G. H. von Wright, siehe von
Wright: Wittgensteins Nachlaß, in: ders.: Wittgenstein, übers. von J. Schulte, Frankfurt a.
M. 1986, S. 45-76. Orthographie und Zeichensetzung der Manuskript-Zitate wurden
normalisiert.
Solipsist in der Fliegenglocke
181
kennen, was eigentlich die ganze Zeit schon offen vor unseren Augen lag.
Zweitens unterstreichen der Vergleich mit Verhexung und Teufelsbann sowie
der Gebrauch solcher Wörter wie „Blindheit“, „Geometrie“ und „Raum“, daß
das Nichtsehen der relevanten Möglichkeit nachgerade eine Sache der Notwendigkeit ist: Es hat sich nicht nur so ergeben, sondern es mußte so sein.
Drittens erhält der Ausweg aus dem Fliegenglas ein bestimmtes Ziel. Der
Weg führt in eine neue Dimension, die vorher wie weggeschnitten war. Das
könnte man natürlich auch auf das Bild aus §309 übertragen, indem man
beispielsweise sagt: Anfangs gab es für die Fliege nur die Dimensionen Osten,
Westen, Norden. Durch den Eingriff des therapeutischen Philosophen ist die
Dimension Süden hinzugekommen, und die Entdeckung dieser Dimension
ermöglicht es der Fliege, in die Freiheit zu entkommen.
Obwohl der Kontext dieser Fliegenglas-Bemerkungen zu vielen interessanten Betrachtungen Anlaß gibt, möchte ich es bei meinen wenigen Hinweisen belassen und zur Urfassung von §309 übergehen. Nur auf eine Verbindung
möchte ich noch aufmerksam machen, denn wenige Zeilen nach der eben
zitierten Stelle schreibt Wittgenstein in einer kodierten, also als persönlich
markierten und damit aus dem Zusammenhang gelösten Notiz:
Es ist für mich wichtig beim Philosophieren immer meine Lage zu verändern, nicht
zu lange auf einem Bein zu stehen, um nicht steif zu werden. Wie, wer lange bergauf
geht, ein Stückchen rückwärts geht, sich zu erfrischen, andre Muskeln anzuspannen.4
Das Bedürfnis nach Veränderung der Lage, der Körperhaltung, kann man
natürlich auch mit der Möglichkeit einer durch diese Veränderung ermöglichten besseren Sicht – einer ganz neuen Perspektive – in Zusammenhang bringen. Es kommt also vielleicht nicht nur darauf an, die verkrampften Muskeln
zu entspannen, sondern auch darauf, mehr bzw. Neues zu sehen. In diesem
Sinne sagt Wittgenstein etwa im Blue Book,5 daß Verkrampfungen des Denkens gelöst werden können, indem man mit Hilfe spezieller Notationen dazu
gebracht wird, Dinge zu sehen, die man vorher nicht gesehen hat.
Die Urfassung von §309 lautet wie folgt: „Was ist dein Ziel in der Philosophie? – Ich zeige der Fliege den Ausgang aus dem Fliegenglas.“
Wie wir sehen, ist der zweite Satz ein wenig anders formuliert, aber inhaltlich läuft er auf das gleiche hinaus wie die Fassung der Philosophischen Untersuchungen. Doch damit ist die Bemerkung in ihrer ursprünglichen Gestalt
noch nicht beendet. Wittgenstein fährt fort: „Dieser Weg ist, in einem Sinne,
unmöglich zu finden, und, in einem andern Sinne, ganz leicht.“
Dieser Zusatz, der auch in der nächsten, wenig später niedergeschriebenen Manuskriptfassung vorkommt, dort allerdings auch gestrichen wird, läßt
_____________
4
5
MS 118, S. 45r = Vermischte Bemerkungen, in: Werkausgabe, a.a.O., Band 8, S. 488.
Wittgenstein: The Blue and Brown Books, hg. von Rush Rhees, Oxford (1958), 21969, S.
59.
182
Joachim Schulte
sich auf zweierlei Weise mit den bisher angestellten Überlegungen verbinden
und dementsprechend deuten. Zum einen könnte es sein, daß Wittgenstein,
wie im Zusammenhang mit der wenig früher entstandenen ersten FliegenglasBemerkung, an eine Unmöglichkeit im Sinne des Fehlens einer ganzen Dimension denkt. Solange diese Dimension nicht im Blick, also gewissermaßen
abgeschnitten ist, ist der Ausweg unmöglich zu finden, da er gar nicht gesehen werden kann. Sobald die fehlende Dimension jedoch restituiert ist, kann
der Weg ganz leicht gefunden werden, denn jetzt ist er kaum noch zu übersehen.
Eine zweite Lesart könnte sich auf unsere bereits angeführte Interpretation der Taschenspielerkunststück-Bemerkung beziehen: Wenn man eine These oder ein Problem mit Hilfe bestimmter Begriffe formuliert und andere
ausschließt, können bestimmte Begriffsgeleise notwendig und andere unmöglich erscheinen. Wer also z. B. von einem geistigen Vorgang spricht, verpflichtet sich einerseits dazu, den mitgemeinten Ablauf gegebenenfalls zu
spezifizieren, und wird andererseits bestimmte Darstellungsmöglichkeiten
nicht sehen können, da ihm die vorgegebene Begriffsbahn im Wege steht.
Sobald er jedoch einsieht, daß dies nicht der richtige oder zumindest nicht der
einzige Weg der begrifflichen Erfassung ist, wird es ganz leichtfallen, neue
Möglichkeiten der Deutung in Betracht zu ziehen.
Wie gesagt, diesen gerade interpretierten Zusatz zur ursprünglichen Fliegenglas-Bemerkung hat Wittgenstein schon bald gestrichen. Den Grund kennen wir nicht, aber eine Möglichkeit wäre freilich die, daß Wittgenstein die
Bemerkung vage halten wollte, so daß sie in ganz disparate Kontexte paßt.
Das weitere Schicksal unserer Fliegenglas-Bemerkungen möchte ich hier
nicht in allen Einzelheiten beschreiben. Aber die Hauptstufen sollen in groben Zügen angedeutet werden: Die Wege dieser beiden Bemerkungen trennten sich schon bald. Die erste, also die zum Geduldspiel-Kontext gehörende
Bemerkung blieb diesem Kontext erhalten und wanderte bereits 1938 in ein
Typoskript, auf dessen bearbeiteter Form der 1. Teil der postumen Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik basiert. Mit der weiteren Geschichte der
uns vorliegenden Philosophischen Untersuchungen hat sie daher nichts mehr zu
tun.
Mit der zweiten Fliegenglas-Bemerkung hingegen, also dem späteren
§309, passierte zunächst gar nichts. Sie blieb liegen, bis Wittgenstein vermutlich 1945 ein Typoskript diktierte oder anfertigen ließ, für das Einzelbemerkungen aus mehreren früheren Manuskriptbänden ausgewählt wurden. Diese
„Bemerkungen I“ genannte Auswahl war zwar eine Auslese – d.h. es wurden
zahlreiche Bemerkungen ausgeschieden –, aber sie war im großen und ganzen
kein Versuch einer Neuordnung – oder allenfalls ein erster Schritt auf dem
Weg zu einer Neuordnung. Anders verhält es sich mit einer wenig später
hergestellten Auswahl aus den Bemerkungen I (TS 228). Dieses neue Ty-
Solipsist in der Fliegenglocke
183
poskript, das als Bemerkungen II (TS 230) bezeichnet wurde, stellt erstens eine
weitere Auslese und zweitens einen recht komplizierten Versuch einer Neuordnung dar. Eine große Zahl dieser Bemerkungen wurde erstens benutzt,
um Lücken in der zweiten Hälfte der bereits genannten Zwischenfassung der
Philosophischen Untersuchungen zu stopfen, und zweitens um den letzten Teil des
Buchs (also §§422 bis 693) zusammenzustellen. Unser §309, der sowohl in
den Bemerkungen I als auch in den Bemerkungen II vorkommt, wurde mithin zum Stopfen einer solchen Lücke verwendet.
Es liegt in der unterschiedlichen Entstehungsgeschichte dieser beiden
Typoskripte, daß uns die Position der Fliegenglas-Bemerkungen in den Bemerkungen I nicht sonderlich interessiert. Die Position in den Bemerkungen II jedoch, die ja einen eigenständigen Ordnungsversuch darstellen, kann durchaus
aufschlußreich sein.
In den Bemerkungen II steht der spätere §309 zwischen zwei Bemerkungen,
die in den Philosophischen Untersuchungen nicht weit auseinander liegen, nämlich
zwischen den späteren §§436 und 428. Der §428 beginnt mit den zitierten
Worten „Der Gedanke, dieses seltsame Wesen“ und leitet in den Philosophischen Untersuchungen, wie man sagen könnte, das Kapitel „Harmonie von Gedanke und Wirklichkeit“ ein. §436 gehört zum selben Kontext und beginnt
mit den Worten „Hier ist es leicht, in jene Sackgasse des Philosophierens zu
geraten“. Beide Bemerkungen lassen sich mit unserer Fliegenglas-Bemerkung
in Verbindung bringen. Hier beschränke ich mich auf die Betrachtung des
Zusammenhangs zwischen der Sackgassen- und der Fliegenglas-Bemerkung.
Der erste Absatz von §436 lautet:
Hier ist es leicht, in jene Sackgasse des Philosophierens zu geraten, wo man glaubt, die
Schwierigkeit der Aufgabe liege darin, daß schwer erhaschbare Erscheinungen, die
schnell entschlüpfende gegenwärtige Erfahrung oder dergleichen, von uns beschrieben werden sollen. Wo die gewöhnliche Sprache uns zu roh erscheint, und es scheint,
als hätten wir es nicht mit den Phänomenen zu tun, von denen der Alltag redet, sondern „mit den leicht entschwindenden, die mit ihren Auftauchen und Vergehen jene
ersteren annähernd erzeugen“.6
Ein erster Zusammenhang zwischen diesem Absatz und unserer FliegenglasBemerkung liegt auf der Hand: Das Fliegenglas ist eine Art von Sackgasse,
vielleicht eine besonders schlimme Art von Sackgasse, denn ohne fremde
Hilfe kommt die Fliege nicht heraus. Die Illusion, durch die man in diese
Sackgasse gerät, ist allerdings anderer Art als die Täuschungen, die bisher in
Zusammenhang mit dem Fliegenglas erwähnt wurden: Es geht um Aspekte
_____________
6
Siehe Bemerkungen II, §177. Die in Anführungszeichen gesetzten Worte sind höchstwahrscheinlich kein echtes Zitat; in der ersten erhaltenen Manuskriptfassung (MS 146,
S. 26) fehlen die Gänsefüßchen. Vgl. Anm. der Herausgeber (P. M. S. Hacker und Joachim Schulte) zu §436 in der neuen Blackwell-Ausgabe (2009) der Philosophischen Untersuchungen/Philosophical Investigations (S. 256).
184
Joachim Schulte
der unmittelbaren Erfahrung, die wir mit Hilfe unserer normalen Sprache
nicht erfassen zu können glauben. Festzuhalten ist jedenfalls, daß Wittgenstein hier eine charakteristische „Sackgasse des Philosophierens“ benennt.
In den Philosophischen Untersuchungen hat diese Bemerkung einen zweiten
Absatz, der aus einem kurzen Augustinus-Zitat (aus dessen Erörterung der
Zeitproblematik) besteht. Dieser Absatz ist aber erst in der spätesten Fassung
des Typoskripts mit dem ersten Absatz von §436 verbunden worden und hat
auf diese Weise einen früheren zweiten Absatz ersetzt, der in den Bemerkungen
II unserer Fliegenglas-Bemerkung unmittelbar vorhergeht. Dieser Absatz ist
in unserem Zusammenhang von Interesse. Die Stelle lautet:
Und da muß man sich daran erinnern, daß alle Phänomene, die uns nun so merkwürdig vorkommen, die ganz gewöhnlichen sind; die, wenn sie sich abspielen, uns nicht
im geringsten auffallen. Sie kommen uns erst in der seltsamen Beleuchtung merkwürdig vor, die wir nun auf sie werfen, wenn wir philosophieren.
Dieser nicht in die Philosophischen Untersuchungen aufgenommene Absatz bringt
einen Aspekt ins Spiel, den Wittgenstein an mancher anderen Stelle betont:
Phänomene, die uns verwirren, sind in Alltagszusammenhängen überhaupt
nicht verwirrend. Rätselhaft werden sie für uns erst im Kontext des Philosophierens. Das kann mehrere Gründe haben. Hier haben wir das Gefühl, gewisse Phänomene der unmittelbaren Erfahrung seien zu fein und zu flüchtig,
um mit dem scheinbar so groben Instrument der normalen Sprache erfaßt
werden zu können. Dieses Gefühl wiederum kann seine Ursache darin haben,
daß wir uns in völlig unnatürlicher Weise auf unsere Wahrnehmungserlebnisse konzentrieren. In anderen Fällen geraten wir, wie gesagt, deshalb in eine
charakteristische Sackgasse des Philosophierens, weil wir auf Begriffsgleisen
dahingleiten, die wir aufgrund unserer Vorurteile nicht in Frage stellen oder
nicht in Frage stellen wollen.
In diesen und ähnlichen Fällen, so die These des eben zitierten Absatzes,
ist es das Philosophische unserer Betrachtungsweise, das uns in die Irre führt
bzw. die Irreführung mit bewirkt. Was hier mit dem „Philosophischen“ gemeint ist, wird durch die gerade genannten Beispiele zwar veranschaulicht,
aber wahrscheinlich noch nicht genügend geklärt. Ich werde am Schluß kurz
darauf zurückkommen. Die Frage, die sich jetzt mit einer gewissen Dringlichkeit stellt, ist die, ob die Hilfe, durch die der Fliege aus dem Fliegenglas geholfen wird, Rückwirkungen auf dieses philosophische Moment hat oder haben
sollte. Anders gefragt: Wird die Fliege, die auf den Ausweg aus dem Fliegenglas aufmerksam gemacht wurde, durch den anschließenden Befreiungsschlag
zugleich von der Philosophie befreit? Oder kann der Ausweg auch dann funktionieren, wenn dieser Ausgangspunkt des Wegs in die Sackgasse bzw. ins
Fliegenglas – also die Philosophie – nicht kassiert wird?
Solipsist in der Fliegenglocke
185
II
Das ist die Leitfrage für den zweiten Teil dieser Arbeit, in dem ich auf die
allererste Erwähnung des Fliegenglases in Wittgensteins Schriften zu sprechen
komme und in dem auch der Solipsist meines Titels endlich seinen Auftritt
haben wird.
Zum ersten Mal erwähnt wird das Fliegenglas in einem wahrscheinlich
1935 geschriebenen Manuskript. Dieses Manuskript ist größtenteils auf englisch verfaßt, da es Notizen zu den damals gehaltenen Vorlesungen über Sinnesdaten und Privatheit enthält. Eine von Rush Rhees stammende Nachschrift dieser Vorlesung ist veröffentlicht und gibt Auskunft darüber, wie das
Manuskriptmaterial zum Einsatz gebracht wurde.7 Hier geht es mir aber nur
um ein bestimmtes Zitat, das ausnahmsweise auf deutsch notiert wurde und
wie folgt lautet: „Der Solipsist flattert und flattert in der Fliegenglocke, stößt
sich an den Wänden, flattert weiter. Wie ist er zur Ruhe zu bringen?“8
Daß Wittgenstein hier nicht vom Fliegenglas, sondern von einer Fliegenglocke spricht, sollte uns nicht weiter stören. Der Unterschied in der Bezeichnung kann nicht erheblich sein, denn offenbar handelt es sich um das gleiche
Gerät. Was uns ebenfalls nicht stören sollte, ist der Umstand, daß das Wort
„flattern“ wohl nicht sonderlich geeignet ist, um die zappelnden oder torkelnden, jedenfalls ultranervösen Bewegungen der Fliege zu beschreiben. Wir
wissen, was gemeint ist; und die Bemerkung ist eine flüchtig niedergeschriebene Notiz, die nicht weiterverwendet wurde.
Warum der Solipsist, der in den Aufzeichnungen dieses Manuskripthefts
nur wenige Male erwähnt wird, so nervös ist, ist nicht ganz klar. Eine Möglichkeit ist die, daß er, mit irreduzibel sozialem Vokabular konfrontiert, nicht
weiß, was er antworten soll. Wenige Zeilen vorher heißt es nämlich: „Die
Auffassung des Solipsismus erstreckt sich nicht auf Spiele. Der Andere kann
Schach spielen so gut wie ich.“9
Eine zweite Möglichkeit ist folgende: Der Solipsist will aus der Unmittelbarkeit der Gesichtswahrnehmung Kapital schlagen und den Gedanken artikulieren, die von ihm bewohnte visuelle Welt sei einzigartig. Deshalb ist er
beunruhigt, weil er nun vor dem Problem steht, wie diese Einzigartigkeit am
besten auszudrücken wäre. Wie dem auch sei, hier möchte ich darauf aufmerksam machen, daß das verwendete Bild grundverschieden ist von dem,
das wir aus den Philosophischen Untersuchungen kennen. Während es dort auf den
_____________
7
8
9
Rush Rhees: The Language of Sense Data and Private Experience (1984), in: James Klagge /
Alfred Nordmann (eds.): Ludwig Wittgenstein: Philosophical Occasions 1912-1951, Indianapolis 1993, S.289-367.
MS 149, S. 67 = Philosophical Occasions, a.a.O., S. 258.
Ebd.
186
Joachim Schulte
Ausweg aus dem Fliegenglas ankam, ist hier von einem Verlassen der Fliegenglocke nicht einmal andeutungsweise die Rede. Der Solipsist steckt offenbar
in der Fliegenglocke fest. Helfen kann man ihm allenfalls, indem man ihn zur
Ruhe bringt.
Hier möchte man sich fragen, ob das überhaupt eine große Hilfe sein
kann. Die Fliegenglocke ist auch im besten Fall kein angenehmer Aufenthalt.
Es liegt nicht auf der Hand, daß man sich als ruhige Fliege besser darin fühlt
denn als nervöse Fliege. – Aber wahrscheinlich hat es mit dem Hilfsangebot
der Beruhigung eine andere Bewandtnis: Vermutlich muß das Bild anders
interpretiert werden. Ruhe ist, wie wir wissen, nicht nur aus Wittgensteins
Sicht ein wichtiges Ziel des Philosophierens. Aber vielleicht setzt Wittgenstein
den Akzent anders als die meisten Philosophen, die von der Ruhe der Seele
geschwärmt haben. Sehr bekannt ist die Formulierung aus dem §133 der Philosophischen Untersuchungen:
Die eigentliche Entdeckung ist die, die mich fähig macht, das Philosophieren abzubrechen, wann ich will. – Die die Philosophie zur Ruhe bringt, so daß sie nicht mehr
von Fragen gepeitscht wird, die sie selbst in Frage stellen.
Es gibt, wenn ich das richtig sehe, drei grundverschiedene Möglichkeiten,
diese vertrauten Zeilen zu deuten. Erstens könnte man die Ruhe, die hier
unverkennbar als erstrebenswert präsentiert wird, als Resultat der Entdeckung
auffassen, die dem Philosophen die Fähigkeit zur Preisgabe seines Metiers
verleiht. Die Ruhe wäre dann eine begrüßenswerte Folge dieses radikalen
Schritts. Zweitens wäre es möglich, das Wort „abbrechen“ nicht im Sinne des
endgültigen Aufgebens zu lesen, sondern im Sinne von „unterbrechen“. So
wie die Musik jetzt abbricht, um wenig später wieder einzusetzen, könnte man
auch das Philosophieren abbrechen, um zu einem späteren Zeitpunkt – und
vielleicht mit weniger Brio – erneut damit zu beginnen. Drittens könnte man
das Zur-Ruhe-Bringen der Philosophie als Resultat einer anderen Entdeckung
als der zuerst genannten auffassen. Es kann ja sein, daß Wittgenstein sagen
will: „Hauptsache, wir kriegen Ruhe in die Philosophie. Es muß ja nicht gleich
die ewige Ruhe sein. Das ist zwar – wie angedeutet – auch eine Möglichkeit,
aber vielleicht gibt es noch andere.“
In Wittgensteins Schriften finden sich mehrere Stellen, die eher die zweite
oder die dritte Lesart nahelegen. Ein Beispiel wäre die folgende, weniger bekannte Manuskriptstelle:
Warum wirken die philosophischen Fragen so beunruhigend, irritierend? Oder soll ich
sagen: Die philosophischen Fragen entspringen einer gewissen Aufgeregtheit, denn
der Denkkrampf ist eben von Aufregung /Irritation/ begleitet. (Ähnlichkeit mit dem
Nägelbeißen.)
Solipsist in der Fliegenglocke
187
Man kann sagen: Der Philosophierende muß erst immer wieder trachten, zur Ruhe zu
kommen.10
Egal, welche Lesart man bevorzugt, wichtig ist, daß die Berücksichtigung des
Gesichtspunkts der Ruhe oder Beruhigung auf eine Interpretation der Fliegenglocken-Metapher verweist, die in eine andere Richtung führt als unser
bisheriges Verständnis der Fliegenglas-Metapher aus den Philosophischen Untersuchungen. Dort steht das Fliegenglas für einen gefährlichen Ort, an den man
durch das Philosophieren geraten ist und dem man eventuell durch die Hilfe
des therapeutischen Philosophen entkommen kann. Hier dagegen ist es vielleicht so, daß die Fliegenglocke selbst durch das Philosophieren zustande
kommt. Sie wäre dann kein unabhängig gegebener Ort, von dem es denkbar
ist, daß jeder dorthin gelangen könnte, sondern eine Art Kerker, in den sich
der aufgeregte Philosoph nicht hineinverirrt, sondern den er durch sein Philosophieren überhaupt erst in die Welt setzt und in den er von diesem Moment
an eingesperrt ist. Um im Bild zu bleiben, bestünde der Ausweg nicht darin,
daß er einen Fluchtweg entdeckt, sondern darin, daß sich seine geistige Verfassung ändert, bis er aufhört, eine Fliegenglocke aus sich herauszuspinnen, in
der er dann umherzappeln muß. Anders gesagt: Die Beruhigung des Philosophen könnte dazu führen, daß die Fliegenglocke überhaupt verschwindet und
ihn nicht mehr in seiner Bewegungsfreiheit hindert.
Die beiden grundlegenden Rettungsmodelle dürften jetzt deutlich geworden sein: Erstens kann man sich aus dem Fliegenglas befreien, indem man
einen Ausweg findet und die Falle hinter sich läßt. Zweitens kann man das
Fliegenglas überhaupt zum Verschwinden bringen, indem man zur Ruhe
gelangt und seine Freiheit findet oder wiederfindet.
Nun sollten wir auf unseren Solipsisten zurückkommen, von dem Wittgenstein an der eben zitierten Stelle sagt, er flattere in der Fliegenglocke umher. Nicht von der Hand zu weisen ist die Frage, ob Wittgenstein nicht vielleicht auch in den Philosophischen Untersuchungen den Solipsisten im Sinn haben
könnte, wenn er dort die Fliegenglas-Metapher verwendet. Oder, um es etwas
vorsichtiger zu formulieren: Kann es sein, daß der Solipsist ein besonders
geeigneter Kandidat für den Posten der Fliege im Fliegenglas ist?
Eine Anfangsschwierigkeit besteht darin, daß die Figur des Solipsisten
keine Konturen hat. Die Philosophiegeschichte kennt keinen Vertreter des
Solipsismus. Moritz Schlick hat sicher recht, wenn er in der Allgemeinen Erkenntnislehre schreibt, daß „keines der historischen philosophischen Systeme
den Solipsismus ernstlich vertreten“ hat.11 Es gibt freilich terminologische
Tricks, die es ermöglichen, bestimmte theoretische Auffassungen psychischer
_____________
10
11
MS 119, a.a.O., S. 80 f. (= MS 117, S. 95).
Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre, hg. von Jans Jürgen Wendel und Fynn Ole
Engler, Wien-New York 2009, S. 522.
Joachim Schulte
188
Entitäten als „solipsistisch“ zu bezeichnen. So kennzeichnet beispielsweise
Ernst Mach im ersten Kapitel von Erkenntnis und Irrtum eine solipsistische
Position, von der er allerdings sogleich behauptet, daß sie „andere gleichberechtigte nicht ausschließt“.12 Es ist nicht unwahrscheinlich, daß der junge
Wittgenstein diese Stelle kannte; aber es ist müßig zu fragen, ob sie Eindruck
auf ihn gemacht hat. Der Solipsismus, der, wie es in der Logisch-philosophischen
Abhandlung (5.62) heißt, etwas Richtiges meint, hat mit Mach nicht viel zu tun.
In einem gewissen Sinn könnte man sagen, der Wittgenstein des Tractatus sei
der einzige namhafte Philosoph, der je eine Form von Solipsismus verfochten
habe. Aber dieser Solipsismus, möchte ich behaupten, ist nicht nur von Mach
weit entfernt, sondern auch von allem, was in Wittgensteins späteren Schriften mit „Solipsismus“ gemeint sein könnte.13
Wie gesagt, unsere von der Fliegenglocken-Bemerkung inspirierte Frage
lautet: Ist der Solipsist ein plausibler Anwärter auf den Posten der Fliege im
Fliegenglas? Da keine historischen Vorbilder in Frage kommen, müssen wir
uns, um diese Frage zu beantworten, in Wittgensteins späteren Schriften umsehen. Vielleicht finden sich dort Hinweise, die es gestatten, der Figur des
Solipsisten schärfere Umrisse zu verleihen.
Werfen wir zunächst einen Blick auf die Philosophischen Untersuchungen! Hier
gibt es nur drei Stellen, an denen das Wort gebraucht wird. In §24 wird allgemein darauf verwiesen, daß die Tragweite bestimmter Umformungsmöglichkeiten klarer wird, wenn über den Solipsismus gesprochen werden wird. Wie
manche Kommentatoren gesehen haben, ist es höchst fraglich, ob die hier
gemeinte Erörterung des Solipsismus im Buch vorkommt oder überhaupt
existiert. Ansonsten ist vom Solipsismus nur in den §§402 und 403 die Rede.
Die relevanten Sätze in §402 sind sehr allgemein:
Denn so sehen ja die Streitigkeiten zwischen Idealisten, Solipsisten und Realisten aus.
Die Einen greifen die normale Ausdrucksform an, so als griffen sie eine Behauptung
an; die Andern verteidigen sie, als konstatierten sie Tatsachen, die jeder vernünftige
Mensch anerkennt.
Zweifellos eine pfiffige Bemerkung, aber sie hilft uns nicht, ein genaueres Bild
des Solipsisten zu zeichnen. §403 enthält immerhin einen Hinweis. Der Solipsist ist hier jemand, der den Anwendungsbereich der Wörter für Psychisches für sich allein in Anspruch nimmt. Das liefe, wie Wittgenstein schreibt,
auf eine Veränderung unserer Notation hinaus, aber es brächte dem So_____________
12
13
Ernst Mach: Erkenntnis und Irrtum (11905, 51926), Darmstadt 1976, S. 9. Den Hinweis
auf Mach verdanke ich Brian McGuinness: Solipsism, in: ders.: Approaches to Wittgenstein,
London 2002, S. 131 f.
Siehe den bereits genannten Artikel von McGuinness sowie meine eigene Interpretation in: 'Ich bin meine Welt', in: Ulrich Arnswald / Anja Weiberg (eds.): Der Denker als
Seiltänzer, Düsseldorf 2001, S. 193-212.
Solipsist in der Fliegenglocke
189
lipsisten keinen erkennbaren praktischen Vorteil. „Aber der Solipsist will ja
auch keine praktischen Vorteile, wenn er seine Anschauung vertritt!“
Hinter diesem knappen Hinweis auf Veränderungen der Notation steht
eine lange Vorgeschichte. Wittgenstein bezieht sich damit auf Versuche, die
solipsistische Position zu formulieren, über die er sich bereits im Dezember
1929 ausführlich geäußert hat. Die Grundidee kommt an zahlreichen Stellen
von Wittgensteins Schriften vor. Eine anschauliche Zusammenfassung bietet
der folgende Passus aus Waismanns Gesprächsaufzeichnungen. Wittgenstein
sagt:
Man kann nun viele verschiedene Sprachen konstruieren, in welchen jedesmal ein anderer Mensch Mittelpunkt ist. Stellen Sie sich etwa vor, Sie wären ein Despot im Orient. Alle Menschen wären gezwungen, in der Sprache zu sprechen, in welcher Sie
Zentrum sind. Wenn ich in dieser Sprache rede, so würde ich sagen: Wittgenstein hat
Zahnschmerzen. Aber Waismann benimmt sich so wie Wittgenstein, wenn er Zahnschmerzen hat. In der Sprache, in der Sie Mittelpunkt sind, würde es gerade umgekehrt heißen: Waismann hat Zahnschmerzen, Wittgenstein benimmt sich wie Waismann, wenn er Zahnschmerzen hat. […] Eine von diesen Sprachen ist ausgezeichnet,
nämlich die Sprache, in der ich der Mittelpunkt bin. Die Sonderstellung dieser Sprache liegt in ihrer Anwendung. Sie wird nicht ausgedrückt.14
Anders gesagt: In diesem System kann der solipsistische Despot seine Sonderstellung nicht explizit zum Ausdruck bringen. Er kann zwar eine Sprachreform durchsetzen, doch was er eigentlich sagen will, wird sozusagen von der
Anwendung dieser Sprache verschluckt, denn die relevanten Aussagen sind
alle ineinander übersetzbar.
Was der Solipsist sagen will, könnte er mit Hilfe einer Formulierung wie
„Nur was ich sehe, wird wirklich gesehen“ auszudrücken versuchen. Diesen
und ähnliche Ausdrücke benutzt Wittgenstein zum Beispiel im letzten Viertel
des Blue Book, um die Position des Solipsisten zu veranschaulichen. Hier und
an mehreren anderen Stellen seiner Schriften ist das Ergebnis stets, daß solche Formulierungsversuche scheitern. Entweder ist die Äußerung des Solipsisten nichtssagend, oder er begeht Fehler, weil er durch den normalen
Wortgebrauch irregeführt wird. So will er beispielsweise das Wort „ich“
zugleich persönlich und unpersönlich verwenden. Das Wort „wirklich“ leistet
hier nichts, weil kein bedeutungsstiftender Gegensatz zu Gebote steht. Der
solipsistische Gebrauch des Wortes „sehen“ beinhaltet, wie Wittgenstein im
Blue Book sagt, eine Verwechslung des „geometrischen“ mit dem „physischen“ Auge. Und so weiter und so fort.
Wittgensteins Ausführungen zum Gebrauch der Wörter „ich“, „wirklich“
und „sehen“, seine Bemerkungen über Kriterien der Personenidentität und
Sinnesdaten werden im Blue Book jeweils an der Frage aufgehängt, ob Formu_____________
14
Friedrich Waismann: Wittgenstein und der Wiener Kreis, hg. von Brian McGuinness, in:
Wittgenstein: Werkausgabe, Band 3, a.a.O., S. 49 f.
Joachim Schulte
190
lierungen wie „Nur was ich sehe, wird wirklich gesehen“ den Standpunkt des
Solipsisten artikulieren können. Die Antwort ist stets negativ, was für den
Solipsisten natürlich enttäuschend ist. Dabei dienen die Bemerkungen Wittgensteins, obwohl sie philosophisch überaus interessant sein mögen, nie der
Widerlegung des Solipsisten. Sie zeigen nur, daß er nicht sagen kann, was er
sagen will. Ein hübsches Beispiel ist die folgende Manuskriptstelle:
Denke dir, ein Anderer, etwa ein Schmeichler, nähme dir den solipsistischen Gedanken vorweg und sagte dir: „Nur was du siehst, ist wirklich gesehen.“ Da würdest du
verlegen sein und etwa sagen: „Ich hatte auch so einen Gedanken, aber es stimmt
doch nicht ganz, wie du es sagst.“15
Das für den Solipsisten Peinliche besteht darin, daß der Schmeichler, sofern
er sagen kann, was er sagen will, gleichzeitig zum Ausdruck bringt, daß die
Dinge auch anders liegen könnten, denn dann könnten ICH und DU ihre
Stellen vertauschen. Wenn er hingegen nicht sagen kann, was er sagen will,
dann kann es der Solipsist auch nicht, denn sinnvoll sind ihre Sprachen nur
insofern, als sie ineinander übersetzbar sind.
Diese zusammenfassenden Bemerkungen genügen vielleicht, um dem Solipsisten gewisse Konturen zu verleihen, aber zugleich dürften sie zeigen, daß
er im Grunde gar kein wirklich individuelles Gesicht bekommen soll. Er vertritt einen Typus, aber auch in dieser Rolle kann er durchaus im Fliegenglas
zappeln. Der Grund für sein Zappeln – die auslösende Irritation – ist jetzt
etwas genauer erkennbar geworden. Er liegt darin, daß der Solipsist glaubt,
etwas Bestimmtes sagen zu wollen und sagen zu können, aber immer wieder
erfahren muß, daß es ihm nicht gelingt.
Hier möchte ich zwei Dinge betonen: Erstens wird der Solipsist an keiner
Stelle direkt widerlegt. Das ist auch besser so. Denn wenn er sich widerlegen
ließe, hätte er eine klar artikulierbare These, die er argumentativ vertreten
könnte. Es wäre dann womöglich nicht mehr treffend, ihn mit einer im Fliegenglas zappelnden Fliege zu vergleichen. Mein zweiter Punkt wird in manchen Ohren weniger angenehm klingen: Wittgenstein läßt keinen Zweifel
daran, daß der Idealist und der Realist nicht besser dran sind als der Solipsist.
Dort, wo Wittgenstein summarisch von Realisten, Idealisten und Solipsisten
spricht, werden sie stets auf dieselbe Ebene gestellt. Im Grunde genießt der
Solipsist eine Vorzugsbehandlung, denn seinen gewundenen Wegen folgt
Wittgenstein wenigstens manchmal, während der Idealist sehr viel blasser
bleibt und der Realist gar keine philosophische Statur hat.
Wittgenstein interessiert sich für diese Typen, nicht weil sie etwas an und
für sich Aufschlußreiches zu sagen hätten, sondern weil sie zappeln und sagen
wollen, was sie nicht sagen können. In einem gewissen Sinn können sie daher
auch nicht unrecht haben, denn dazu müßten sie überprüfbare Urteile aus_____________
15
MS 156b, a.a.O., S. 48r-48v.
Solipsist in der Fliegenglocke
191
sprechen und nicht nur Vorurteilen Luft machen. An einer bedenkenswerten
Manuskriptstelle aus der Zeit des Blue Book schreibt Wittgenstein:
Wenn ich sage: „Nur was ich sehe, ist wirklich“, so bediene ich mich bereits, ohne es
zu wissen, einer vom Gewöhnlichen verschiedenen Ausdrucksart. […] Ich bin schon
der Versuchung, sie auf die solipsistische Weise zu gebrauchen, gefolgt. Und deshalb
brauche ich eigentlich nichts mehr zu sagen, und was ich sage, ist wie das, was der Realist sagt, wenn er sagt: „Was ich sehe, ist ebenso wirklich wie was du siehst, nur daß
eben ich es jetzt sehe und nicht du.“ Was eigentlich gar nichts sagt, außer daß es eine
Sprachform betont.
Der Solipsist sieht seine Position als unangreifbar an. „Es ist doch klar, daß meine Erfahrung die einzig wirkliche ist; es kann doch gar nicht anders sein.“ Gewiß nicht,
wenn du die Sprache so gebrauchst. Du gebrauchst sie nämlich schon so, du plädierst
nicht erst für diesen Gebrauch. Die Versuchung zu diesem Gebrauch ist da; und du
bist ihr schon gefolgt.
Es könnte doch – in gewissem Sinne – gar nicht sein, daß der Solipsist (Idealist oder
Realist) unrecht hätte //daß ein so klar Überzeugter unrecht hätte//.16
Daß man sich gegen die Gleichbehandlung von Solipsisten und Realisten
wehren möchte, kann daran liegen, daß man den Realismus des Alltags mit
philosophischen Formen des Realismus verwechselt. Der Realismus des Alltags ist der Common sense, der, wie Wittgenstein betont, etwas völlig anderes
ist als die Common-sense-Philosophie17. Der wirkliche Common sense ist
vom (philosophischen) Realismus genauso weit entfernt wie vom Idealismus.
Es gibt keine Common-sense-Lösung eines philosophischen Problems18.
Common sense und Philosophie bewegen sich sozusagen in verschiedenen
Dimensionen. Zu einem Meinungsstreit zwischen ihnen kann es nicht kommen.
Abschließend möchte ich diese Skizze mit der Metapher des Fliegenglases
in Verbindung bringen. Wenn philosophische Positionen wie Realismus,
Idealismus und Solipsismus gleich pathologisch sind, drängen sich zwei Fragen auf. Erstens, von welchem Standpunkt aus soll die Therapie der zappelnden Fliege durchgeführt werden? Kann dies selbst wieder ein philosophischer
Standpunkt sein? Ein neutraler Standpunkt? Oder der Standpunkt des alltäglichen gesunden Menschenverstands? Zweitens: Wohin führt der Ausweg der
Fliege, die aus dem Fliegenglas befreit wird? In die Philosophie oder in die
Welt des Alltags?
Diese Fragen kann ich nicht beantworten, obwohl sie – als Fragen – dazu
angetan sind, ein bestimmtes und gelegentlich wohl auch erhellendes Licht
auf Wittgensteins Denken zu werfen. Ich glaube, er argumentiert nie von
_____________
16
MS 156a, S. 37r-38r.
17
Wittgenstein: Blue Book, a.a.O., S. 49.
Ebd., S. 58.
18
Joachim Schulte
192
einem außerphilosophischen Alltagsstandpunkt aus. Das wäre ganz uncharakteristisch und nicht mit dem Gedanken zu vereinbaren, daß philosophische
Probleme keine Common-sense-Lösung zulassen. Dagegen klingen einige
Dinge, die er sagt, so, als führte mancher Ausweg aus dem Fliegenglas tatsächlich hinaus in die außerphilosophische Welt. Hier denke ich vor allem an
Bemerkungen, die den ganzen Menschen in den Vordergrund rücken: Nur
vom lebenden Menschen (und was ihm ähnlich ist) könne man sagen, es habe
Empfindungen, sei bei Bewußtsein usw.19 Nicht der verletzten Hand spricht
man Trost zu, sondern dem Leidenden20. Und so fort. Es gibt eine Reihe von
Bemerkungen, die diese Tendenz haben.
Diese Bemerkungen gehören zu dem Fliegenglas-Modell, das den Ausweg
betont und das Fliegenglas intakt läßt. Der Ausweg kann hier wirklich aus der
Philosophie herausführen. Sie ist das Fliegenglas, und die gerettete Fliege läßt
die Philosophie ebenso hinter sich wie das Glas. Aber wir kennen ein weiteres
Modell, in dessen Rahmen der Philosoph durch Zur-Ruhe-Kommen die Fliegenglocke loswird und zu zappeln aufhört. Der Standpunkt, den der Therapeut bezieht, ist kein neutraler oder externer Standpunkt, sondern der Standpunkt der Fliege. Die Therapie verfährt, wenn man so will, dialektisch: Der
Fliege wird vorgeführt, was sie denkt, was sie in Anspruch nimmt und mit
welchen Mitteln sie sich ausdrückt. Wenn sie auf diese Weise von – nicht aus,
sondern von – der Fliegenglocke befreit werden kann, bleibt sie vielleicht Philosophin, wenn auch als beruhigte Vertreterin ihres Fachs. Darin liegt vielleicht etwas Utopisches – aber warum sollten utopische Gedanken Wittgenstein fremd gewesen sein?21 Er schreibt ja, es sei sein Ziel in der Philosophie,
der Fliege aus dem Fliegenglas herauszuhelfen. Das könnte heißen, daß der
Ausweg aus der Philosophie in die Philosophie hineinführt – eventuell in eine
Philosophie ohne Fliegengläser.
_____________
19
20
21
Vgl. Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, a.a.O., § 281.
Ebd., § 286.
Zum utopischen Element in Wittgensteins Denken siehe den 4. Abschnitt meines
Aufsatzes: Wittgenstein – Our Untimely Contemporary, in: Ilkka Niiniluoto / Risto Vilkko
(eds.): Philosophical Essays in Memoriam Georg Henrik von Wright, in: Acta Philosophica
Fennica, Vol. 77 (2005), S. 59-78.
Handeln ohne Überlegen
Andrea Kern
1. Die Fähigkeiten-These
Daß jemand eine Fähigkeit gut beherrscht, kann man unter anderem daran
erkennen, daß er bei dem, was er tut, nicht nachdenken muß.1 Jemand, der
gut Tennis spielt, muß sich, wenn der Ball auf seine Seite geschlagen wird,
nicht fragen, wo er den Ball als nächstes hinspielen soll oder wie er den Schläger dabei halten soll oder wie er seine Beine stellen soll, etc. Jemand, der gut
Tennis spielen kann, kann vielmehr all das richtig machen, ohne daß er vorher
Überlegungen darüber anstellen muß, was zu tun in dieser oder jener Situation richtig ist. Und ganz so liegen die Dinge in den meisten Bereichen unseres
alltäglichen Tuns. Wenn wir uns morgens Kaffee kochen oder unsere Zähne
putzen oder mit dem Fahrrad zur Universität fahren oder mit unserem Auto
in einer Parklücke einparken, dann tun wir all das auf eine Weise, die nicht
darauf beruht, daß wir Überlegungen darüber angestellt haben, wie man das,
was wir nun tun wollen, richtig macht. Wir tun es einfach.2
Wenn diese Beobachtung richtig ist, dann hat dies offenkundig Konsequenzen für unser Verständnis dessen, was es heißt, ein rationales Wesen zu
sein. Denn jemand, der sich morgens einen Kaffee kocht, seine Zähne putzt,
mit dem Fahrrad zur Universität fährt oder mit dem Auto in einer Parklücke
einparkt, ist nach unserem Verständnis wesentlich dadurch charakterisiert,
daß er die Fähigkeit hat, rational zu sein. Und diese Fähigkeit, d.h. die Fähigkeit, rational zu sein, worin auch immer sie sonst noch besteht, hat gewiß
etwas damit zu tun, daß man über das, was man tut, nachdenken kann und
das, was man tut, aus Gründen tun kann, die einem sagen, was zu tun richtig
ist. Wie aber kann beides zusammengehen? Wie kann es einerseits richtig sein,
daß ein Großteil unseres Handelns dadurch charakterisiert ist, daß wir handeln, ohne zu überlegen, und es doch andererseits richtig sein, daß wir rationale Wesen sind?
_____________
1
2
So heißt es entsprechend bei Aristoteles: „[D]ie Kunstfertigkeit überlegt nicht mehr
hin und her“, in: Aristoteles: Physik, übersetzt von H. G. Zekl, Hamburg 1987, 199b
S. 28.
Vgl. u.a. L. Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, Frankfurt a. M. 1977, § 211.
Andrea Kern
194
Philosophen, die in der Tradition von Aristoteles stehen, wie etwa Gilbert
Ryle oder Michael Thompson, und Philosophen, die in der Tradition von
Wittgenstein stehen, wie Hans Julius Schneider oder John McDowell, eint der
Gedanke, daß die Blindheit, mit der Menschen in weiten Bereichen ihres
Lebens handeln, nicht nur nicht im Widerspruch zu ihrer Rationalität steht,
sondern eine Bedingung derselben ist. Die Blindheit menschlichen Handelns
ist ihnen zufolge nicht einfach ein kontingenter Aspekt des menschlichen
Lebens, sondern ein notwendiges Element seiner Rationalität. Menschliches
Leben könnte nicht rational sein, wenn es nicht (auch) blind wäre. Aristoteles
drückt dies unter anderem so aus, daß er sagt, menschliches Handeln sei Sache einer „hexis“.3 Wittgenstein drückt das so aus, daß er sagt, menschliches
Handeln sei Sache eines „Könnens“,4 einer „Gepflogenheit“, einer „Praxis“.5
Und Hans Julius Schneider hat diesen Gedanken zu der Behauptung radikalisiert, dass selbst das, was wir „Wissen“ nennen, als ein „Sonderfall des Könnens“ zu begreifen sei.6
Das gemeinsame Gegenbild, gegen das Philosophen beider Traditionen
angehen, ist die Idee vom Menschen als einem Denker, der als Denker all
seinem Tun zugrunde liegen soll. Hubert Dreyfus hat dieses Bild vom Menschen jüngst den „Mythos des Mentalen“ genannt.7 Stattdessen wollen die
Autoren der beiden genannten Traditionen sagen, daß der Erwerb und Besitz
von Fähigkeiten, vermittels derer der Mensch in der Lage ist, unmittelbar, d.h.
ohne Überlegen zu handeln, konstitutiv dafür sind, daß er über die Dinge
nachdenken und aufgrund von Überlegungen handeln kann. „Nicht das Wissen erklärt das Können“, so heißt es bei Schneider, „sondern auf der elementaren Ebene erklärt das Können die ersten Stufen des Wissens.“8 In grundlegender Instanz, so die Idee, ist der Mensch ein Subjekt, das die Fähigkeit hat,
etwas zu tun, und nicht ein Subjekt, das über etwas nachdenkt. Nennen wir
das im folgenden die Fähigkeiten-These. Was aber besagt sie genau? Und
warum sollte sie richtig sein?
Wie wir im folgenden sehen werden, ist genau dies alles andere als klar:
So groß oftmals Einhelligkeit unter den Autoren der beiden genannten Traditionen mit Bezug auf die Fähigkeiten-These herrscht, so wenig Klarheit be_____________
3
4
5
6
7
8
Aristoteles: Die Nikomachische Ethik, übersetzt von O. Gigon, München 1991 (1967),
1103a S. 16.
L. Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, a.a.O., § 150.
Ebd., § 199.
H. J. Schneider: Beruht das Sprechenkönnen auf einem Sprachwissen?, in: S. Krämer / E.
König (eds.): Gibt es eine Sprache hinter dem Sprechen?, Frankfurt a. M. 2002, S. 135.
H. Dreyfus: Overcoming the Myth of the Mental: How Philosophers can profit from the Phenomenology of Everyday Expertise, in: Proceedings and Addresses of the American Philosophical Association, vol. 79, no. 2 (Nov. 2005), S. 47.
H. J. Schneider: Beruht das Sprechenkönnen auf einem Sprachwissen?, a.a.O., S. 135.
Handeln ohne Überlegen
195
steht mit Bezug auf ihre Deutung. Ich werde im folgenden zeigen, daß wir
(mindestens) vier Lesarten der Fähigkeiten-These voneinander unterscheiden
können, bei denen es nicht um Unterschiede im Detail geht, sondern um
Unterschiede in der Substanz der Theorie. Dabei werde ich die vier Lesarten
so darstellen, daß zugleich das systematische Problem deutlich wird, auf das
alle vier Lesarten versuchen zu antworten. Dabei werde ich zeigen, daß keine
der drei ersten Lesarten in der Lage ist, dieses Problem zu lösen, und daher
auch die Einwände, die hier jeweils wechselseitig gegen die einzelnen Lesarten
vorgebracht werden, zu Recht bestehen. Ich werde dann eine vierte Lesart
entwickeln, von der ich zeigen werde, daß sie in der Tat in der Lage ist, das
systematische Problem, das der Fähigkeiten-These zugrunde liegt, zu lösen.
Erst diese Lesart, so möchte ich behaupten, gibt der Fähigkeiten-These ihr
ganzes Gewicht.
2. Rationalität und Regeln
Rationalität ist das Vermögen, sein Handeln durch Gründe zu bestimmen, die
einem sagen, was zu tun in einer bestimmten Situation richtig ist. Wer das
Vermögen der Rationalität hat, ist in der Lage, nicht nur einfach das Richtige
zu tun, sondern das Richtige deswegen zu tun, weil er es als das Richtige erkannt hat. Darin unterscheiden sich rationale Wesen von a-rationalen Wesen.
A-rationale Wesen können das Richtige nur tun, doch sie können es nicht als
das Richtige erkennen und deswegen tun, weil sie es als das Richtige erkannt
haben oder es ihnen doch wenigstens als das Richtige erschienen ist.
Nehmen wir einmal an, diese Erläuterung von Rationalität sei weitestgehend unkontrovers und bildet die gemeinsame Grundlage aller Theorien
des Geistes. Was wir somit verstehen müssen, ist, was es heißt und wie es
möglich ist, von einem Subjekt zu sagen, daß es etwas deswegen richtig macht,
weil es das, was es macht, als das Richtige erkannt hat. Dies wirft genauer zwei
Fragen auf: erstens die Frage, was es heißt und wie es möglich ist, daß ein
Subjekt eine bestimmte Handlung als die Richtige erkennt; und zweitens die
Frage, was es heißt und wie es möglich ist, daß eine solche Erkenntnis erklärt,
weshalb jemand genau das tut, was er als richtig erkennt.
Eine erste und in der Tradition der Philosophie nicht wenig verbreitete
Vorstellung davon, wie dies möglich sein kann, sieht folgendermaßen aus:
Um verstehen zu können, wie jemand eine bestimmte Handlung als die Richtige erkennen und aufgrund dieser Erkenntnis diese Handlung vollziehen
kann, müssen wir annehmen, daß es Regeln gibt, die in allgemeiner Weise,
d.h. unabhängig von einer bestimmten Situation, sagen, was zu tun richtig ist.
Rationalität wäre dann unter anderem das Vermögen der Kenntnis dieser
Regeln. Jemand, der das Vermögen der Rationalität besitzt, wäre als jemand
196
Andrea Kern
zu verstehen, der ein Wissen um diese Regeln hat und sein Wissen um diese
Regeln zur Grundlage seines Verhaltens machen kann, etwa zur Grundlage
von Akten der Erkenntnis oder des Handelns. Um dies tun zu können, so die
Idee, muß er die entsprechende Regel auf die jeweilige Situation, in der er sich
befindet, anwenden, so daß man dann sagen kann, sein Handeln werde durch
die Regel angeleitet oder auch durch die Regel begründet. Sich rational zu verhalten
heißt nach dieser Auffassung, nach der Vorstellung einer Regel zu handeln, unter die
man sein Verhalten subsumiert, indem man die Regel auf eine bestimmte
Situation anwendet. Nennen wir das die rationalistische Vorstellung von Rationalität.
Ein Bild dieser Art ist es, das häufig Kant zugeschrieben wird, insbesondere von jenen Autoren, die der Aristotelisch-Wittgensteinianischen Tradition
zugehören und sich kritisch von diesem Bild absetzen möchten. Es eint die
Autoren der Aristotelisch-Wittgensteinianischen Tradition, daß sie diese Vorstellung von Rationalität zurückweisen. Nun soll uns im folgenden nicht die
Frage interessieren, ob es tatsächlich richtig ist, Kant mit dieser rationalistischen Vorstellung von Rationalität zu identifizieren. Was ich im folgenden
lediglich zeigen möchte, ist, daß auch die sogenannte rationalistische Auffassung von Rationalität notwendigerweise auf die Idee einer Fähigkeit angewiesen ist, deren Ausübung nicht auf Überlegen beruht, sondern es dem Subjekt
erlaubt, unmittelbar das zu tun, was es aufgrund dieser Fähigkeit tun kann.
Das heißt, auch diese Auffassung von Rationalität, nach der Rationalität im
Anwenden von situationsunabhängigen Regeln besteht, ist auf eine bestimmte
Version der Fähigkeiten-These angewiesen, und zwar nicht nolens volens,
sondern ganz ausdrücklich, wie wir das im folgenden u.a. bei Kant sehen
können. Sich dies klar zu machen, ist deswegen von Bedeutung, weil damit
deutlich wird, daß die kritische Pointe der Aristotelisch-Wittgensteinianischen
Tradition nicht einfach darin bestehen kann – wie dies manchmal irrtümlicherweise angenommen wird –, daß sie überhaupt auf die Idee einer Fähigkeit
rekurriert, um menschliches Verhalten zu erläutern. Ihre kritische Pointe muß
vielmehr darin bestehen, wie sie von der Idee einer Fähigkeit in ihrer Erläuterung menschlichen Verhaltens Gebrauch macht.
3. Die „rationalistische“ Lesart der Fähigkeiten-These
Nach der rationalistischen Auffassung besteht rationales Verhalten in der
Anwendung von situationsunabhängigen Regeln auf konkrete Situationen.
Ein Subjekt, das sich rational verhält, muß in der Lage sein, Regeln, deren
Gehalt situationsunabhängig bestimmt ist, auf konkrete Situationen richtig
anzuwenden. Das heißt, es muß in der Lage sein, zu unterscheiden, ob ein
bestimmtes Verhalten in einer gegebenen konkreten Situation unter eine be-
Handeln ohne Überlegen
197
stimmte gegebene Regel fällt. Wie aber kann das Subjekt dies richtig entscheiden? D.h. wie kann das Subjekt entscheiden, ob die gegebene konkrete Situation ein Fall einer bestimmten gegebenen Regel ist oder nicht? Daß wir hier
eine echte Frage haben, mit Bezug auf die es etwas zu entscheiden gibt, liegt
dabei nicht etwa daran, daß Regeln gelegentlich ungenau oder unklar sind,
sondern daran, daß wir es mit einer prinzipiellen logischen Kluft zu tun haben: Es ist die Kluft zwischen allgemeiner Regel und konkretem Fall: Wie
spezifisch eine Regel auch immer formuliert sein mag, d.h. wie genau und
detailliert sie auch die Bedingungen beschreiben mag, unter denen sie zur
Anwendung kommt, stets ist es so, daß die Frage, ob die Regel in einer konkreten Situation zur Anwendung kommt oder nicht, sich als eine echte Frage
stellt. Dies liegt daran, daß eine Regel, deren Gehalt situationsunabhängig
bestimmt ist, nichts von dem enthält und enthalten kann, was wir beschreiben, wenn wir eine konkrete Situation beschreiben, die in unendlich vielen
Hinsichten individuell bestimmt ist. Die Merkmale, die wir beschreiben, wenn
wir eine konkrete Situation als solche beschreiben, unterscheiden sich daher
prinzipiell von dem, was wir beschreiben, wenn wir eine Regel beschreiben,
deren Gehalt unabhängig von jeder konkreten Situation bestimmt ist. Wenn
aber das so ist, dann heißt dies, daß weder die gegebene Regel als solche noch
die gegebene Situation als solche eben diese Frage beantworten können: d.h.
die Frage, ob eine bestimmte gegebene Situation unter eine bestimmte gegebene Regel fällt oder nicht.
Die Frage, ob eine bestimmte konkrete Situation unter eine gegebene Regel fällt oder nicht, ist innerhalb der rationalistischen Auffassung menschlichen Verhaltens eine echte Frage. Daher muß diese Auffassung nun zeigen,
wie das Subjekt diese Frage beantworten kann. In der Einleitung zu jenem
Abschnitt der Kritik der reinen Vernunft, der den Titel „Von der transzendentalen Urteilskraft überhaupt“ trägt, erörtert Kant ausdrücklich dieses Problem.
Kant bezeichnet hierbei den Verstand als das Vermögen der Regeln und fragt
sich, wie ein Verstandessubjekt in der Lage ist, diese Regeln, über die es verfügt, in konkreten Situationen anzuwenden. Kants negative Auskunft, die
zugleich eine positive Einsicht enthält, lautet: Die Frage der Anwendung der
Regeln kann keine Sache der allgemeinen Logik sein. Denn wäre es eine Sache
der allgemeinen Logik, dann müßte diese allgemein zeigen, wie man unter die
Regeln des Verstandes subsumieren kann. Da sie dies aber nicht anders denn
abermals durch eine Regel tun könnte, würde sie unser anfängliches Problem
nur verschieben, nicht aber lösen. Denn auch von dieser Regel, deren Aufgabe es sein soll, uns zu zeigen, wie wir die Regeln des Verstandes anzuwenden
haben, stellt sich die Frage, woher wir wissen können, wie wir sie anzuwenden
haben, d.h. wie wir entscheiden können, ob etwas unter sie fällt oder nicht.
Daraus folgt, so Kant, daß das Problem der Anwendung der Regeln nicht
selbst Gegenstand einer Regel sein kann, da uns dies in einen unendlichen
Andrea Kern
198
Regreß von Regeln führen würde, deren jede das Problem der Anwendung
nur an eine weitere Regel verschieben, nicht aber lösen kann. Die positive
Einsicht, die Kant daraus zieht, lautet, daß wir, um verstehen zu können, wie
menschliches Verhalten rational im Sinne eines Anwendens von Regeln sein
kann, es nicht genügt, den Menschen nur als ein Subjekt zu beschreiben, das
über Regelwissen verfügt, sondern auch als ein Subjekt, das über eine Fähigkeit verfügt, die Kant „Urteilskraft“ nennt. Unter „Urteilskraft“ versteht Kant
allgemein das Vermögen, unter Regeln zu subsumieren, d.h. zu unterscheiden,
ob etwas unter einer gegebenen Regel stehe oder nicht.9 Wenn der Verstand
das Vermögen der Regeln im Sinne eines Regelwissens ist, dann müssen wir,
um verstehen zu können, wie die Verwirklichung dieser Regeln im menschlichen Verhalten möglich ist, auf die Idee einer Fähigkeit bezugnehmen, deren
Besitz und Ausübung nicht durch Regeln vermittelt ist, sondern vielmehr auf
„Übung“ beruht: eben die Fähigkeit zur Anwendung von Regeln. Jede allgemeine Regel, an welcher Stelle der Erläuterung wir auch immer sie einführen,
erfordert, so Kant, eben darum, weil sie eine Regel ist, aufs neue eine Unterweisung der Urteilskraft, und so zeigt sich, „daß zwar der Verstand einer
Belehrung und Ausrüstung durch Regeln fähig, Urteilskraft aber ein besonderes Talent sei, welches gar nicht belehret, sondern nur geübt sein will“.10
Um die Rationalität menschlichen Verhaltens zu erklären, genügt es also
nicht, anzunehmen, daß der Mensch durch Regeln belehrt wird. Wir müssen
darüber hinaus annehmen, daß er ein Vermögen hat, das vom Verstand wesentlich dadurch verschieden ist, daß es nicht durch Regeln belehrt, sondern
nur „durch Beispiele und wirkliche Geschäfte“ geübt werden kann.11 So kann
etwa ein Arzt, ein Richter oder ein Staatskundiger, wie Kant anführt, „viel
schöne pathologische, juristische oder politische Regeln im Kopfe haben“,
doch solange er bloß diese „Regeln im Kopfe“ hat, wird er nicht in der Lage
sein, vermittels dieser Regeln das zu tun, was in der jeweiligen Situation das
Richtige ist, sei dies in der Behandlung eines Kranken, in der Entscheidung
eines Rechtsstreits oder in der Lenkung der Staatsgeschäfte.12 Denn dann
kann er zwar „das Allgemeine in abstracto einsehen“, doch diese Einsicht als
solche genügt nicht, um in einer bestimmten Situation das zu tun, was die
Regeln von einem verlangen.13 Um in einer bestimmten Situation das zu tun,
was die Regeln von einem verlangen, muß man die Regeln auf die Situation
anwenden. Und um das zu tun, braucht man eine weitere Fähigkeit, d.h. eine
Fähigkeit, die zu der Kenntnis der Regeln noch hinzukommen muß, weil sie in
_____________
9
10
11
12
13
I. Kant: Kritik der reinen Vernunft, Frankfurt a. M. 1968, B 171.
Ebd., B 172.
Ebd., B 173.
Ebd.
Ebd.
Handeln ohne Überlegen
199
dem Vermögen der Regelkenntnis noch nicht enthalten ist: eben die Fähigkeit, zu unterscheiden, „ob ein Fall in concreto“ unter die Regel fällt oder
nicht.14
Gemäß dieser Auffassung besteht die logische Rolle der Idee einer Fähigkeit, deren Ausübung nicht durch Überlegungen vermittelt ist, darin, zu erklären, wie ein Subjekt in der Lage ist, die Regeln der Rationalität, über die es als
rationales Wesen verfügt, in der richtigen Weise auf verschiedene Situationen
anzuwenden und damit seine Rationalität zu verwirklichen. Die Frage der
Regelanwendung, da sie nicht durch eine weitere Regel geregelt sein kann,
muß durch eine „Fähigkeit“ beantwortet werden, eben jene Fähigkeit, die
Kant „Urteilskraft“ nennt. Für diese kann trivialerweise kein Anwendungsproblem bestehen, weil sie gerade durch das Anwenden von Regeln definiert
ist. Der Gegenstand jener fraglichen „Fähigkeit“, auf die wir bezugnehmen
müssen, um die Rationalität menschlichen Verhaltens erklären zu können,
sind nach der sogenannten rationalistischen Lesart eben jene Regeln, in deren
Verwirklichung nach dieser Auffassung Rationalität besteht und zu der diese
Fähigkeit dient, indem sie deren Anwendung gewährleistet.
4. Die „anti-rationalistische“ Lesart der Fähigkeiten-These
Es eint die Autoren der Aristotelisch-Wittgensteinianischen Tradition, daß sie
die rationalistische Auffassung von Rationalität und die darin implizierte Lesart der Fähigkeiten-These zurückweisen. Strittig zwischen den verschiedenen
Autoren ist jedoch, mit welchen Argumenten sie diese zurückweisen und wie
die entsprechende positive Konzeption menschlichen Verhaltens auszusehen
hat. Ich will im folgenden drei verschiedene Konzeptionen voneinander unterscheiden, die sich alle darin einig sind, daß die rationalistische Lesart falsch
ist, doch die aus ihrer Kritik jeweils andere Konsequenzen ziehen.
Betrachten wir zunächst die sogenannte „anti-rationalistische“ Position.
Sie kritisiert die rationalistische Lesart im wesentlichen mit einem phänomenologischen Argument: Das phänomenologische Argument besagt, daß der
rationalistischen Lesart ein falsches Verständnis der Phänomenologie unseres
Handelns zugrunde liegt. Es ist offenkundig, so die Idee, daß menschliches
Verhalten in seinen grundlegenden Zügen nicht in der Anwendung von Regeln besteht. Wenn wir handeln, etwa wenn wir Baseball oder Schach spielen,
dann ist das, was wir hier tun, nicht durch Regeln geleitet, sondern beruht in
den grundlegenden Fällen auf einer Fähigkeit, die Dreyfus im Anschluß an
Aristoteles „phronesis” nennt:
_____________
14
Ebd.
200
Andrea Kern
Phronesis shows that socialization can produce a kind of master whose actions do not
rely on habits based on reasons to guide him. Indeed, thanks to socialization, a person’s perceptions and actions at their best would be so responsive to the specific
situation that he could not be captured in general concepts. [...] So it seems clear that
rules needn’t play any role in producing skilled behavior.15
Fälle wie der folgende scheinen schlagende Beispiele für diese Lesart zu sein:
Jemand fährt jahrelang mit schlafwandlerischer Sicherheit exzellent Ski. Mühelos passiert er noch die schwerste Buckelpiste im eleganten Wedelschwung,
kein Tiefschnee kann ihn aus der Bahn werfen, vielmehr gleitet er mit umwerfender Leichtigkeit durch die Schneemassen, ohne auch nur ein einziges Mal
ins Stocken zu geraten. All dies gelingt ihm, ohne daß er dabei nachdenken
muß, was jeweils zu tun ist. Ja mehr noch, seine Könnerschaft drückt sich
gerade darin aus, daß er sein Skifahren nicht durch Überlegungen darüber
anleiten muß, wie zu fahren ist, sondern dass er unmittelbar – ohne Überlegen – das Richtige tut. Eines Tages beschließt er, Skilehrer zu werden. Dies
verlangt von ihm, daß er in der Lage ist, das, was er beim Skifahren tut, in
einzelne Bewegungsabläufe zu zerlegen, um so seinen Schülern in einzelnen
Schritten zeigen zu können, wie man Ski fährt, etwa, um ihnen zeigen zu
können, daß man bei einem Drehschwung zunächst Innenskibelastung aufnimmt, dann anferst und dann ruckartig die Skier hinten hochreißt, etc. Er
studiert also Ski-Lehrbücher, lernt sie auswendig und versucht nun, sein eigenes Skifahren durch das theoretisch Gelernte anzuleiten. Doch was geschieht
nun? Er macht einen Fehler nach dem anderen auf der Piste, er belastet den
falschen Ski, was er vorher nie tat, er neigt den Oberkörper beim Schwung
fälschlicherweise hangabwärts, was er vorher nie tat, er überkreuzt auf einmal
die Skispitzen, was ihm vorher nie passierte, er stürzt allenthalben, etc. Die
bewußte Aufmerksamkeit auf die einzelnen Bewegungsabläufe, die Anleitung
jedes einzelnen Schrittes durch eine bewußte Vorstellung davon, was nun an
dieser Stelle zu tun richtig ist, hat offenkundig einen zerstörerischen Effekt:
Es zerstört nachgerade seine Fähigkeit, Ski zu fahren.
Nach der anti-rationalistischen Lesart zeigt ein solches Beispiel, daß die
grundlegenden Vermögen, die unser Verhalten erklären, keine rationalen Vermögen sein können.16 Rationalität, so die Idee, ist nicht nur kein Bestandteil
unserer grundlegenden Verhaltensvollzüge, sondern kann diese schlimmstenfalls sogar zerstören. Der Sinn der fraglichen Fähigkeiten, auf die wir bezugnehmen müssen, um menschliche Subjektivität in angemessener Weise zu
begreifen, besteht folglich nicht darin, zu erklären, wie bestimmte Regeln
angewendet werden können, wie die rationalistische Lesart dies meint. Die
Fähigkeiten-These besagt nach dieser Lesart vielmehr, daß die grundlegenden
_____________
15
16
H. Dreyfus: Overcoming the Myth of the Mental, a.a.O., S. 51 u. 52.
Siehe u.a. H. Dreyfus: The Return of the Myth of the Mental, in: Inquiry, vol. 50, no. 4
(August 2007), S. 361.
Handeln ohne Überlegen
201
Fälle unseres Wahrnehmens, Erkennens und Handelns überhaupt nicht durch
Regeln charakterisiert sind, sondern a-rational sind.17 Menschliches Verhalten
hat nach dieser Lesart eine wesentlich a-rationale Grundlage. Rationalität
charakterisiert den Menschen nicht bis auf den Grund seiner Existenz, sondern ist ein Vermögen, welches in einem seinerseits a-rationalen Vermögen
gründet. Darin liegt nach dieser Lesart die Pointe der fraglichen Fähigkeiten:
Sie erklären die Grundlage menschlichen Verhaltens auf eine Weise, die unabhängig von jedem Bezug auf Regeln der Rationalität ist.
Nach der rationalistischen Lesart besteht die logische Rolle der fraglichen
Fähigkeiten darin, zu erklären, wie menschliche Subjekte ihre Rationalität
verwirklichen können, indem sie die Regeln der Rationalität auf konkrete
Situationen anwenden. Nach der sogenannten „anti-rationalistischen“ Lesart
besteht sie darin, so etwa Dreyfus, zu erklären, wie menschliche Subjekte
überhaupt ein Weltverhältnis haben können, auf welches dann aufbauend Regeln der Rationalität zur Anwendung kommen können.18
Nach der anti-rationalistischen Lesart übt also ein Mensch, der über einen
Baumstamm springt, ein und dieselbe Fähigkeit aus wie ein Tiger, der über einen
Baumstamm springt. Die fraglichen Fähigkeiten sind keine spezifisch
menschlichen, d.h. rationalen Vermögen, sondern beschreiben einen Aspekt
des Menschen, der in derselben Weise jedes Tier charakterisiert. Nach der
anti-rationalistischen Lesart müßte man sagen: Jedes Tier hat die fraglichen
Fähigkeiten ganz wie der Mensch, nur, daß im Fall des Tieres diese Fähigkeiten das Weltverhältnis des Tieres vollständig bestimmen, während im Fall des
Menschen die fraglichen Fähigkeiten die Grundlage dafür sind, daß der
Mensch noch eine weitere Weise entwickeln kann, sich auf die Welt zu beziehen: nämlich eine rationale Weise, in der das Verhältnis zur Welt nicht nur
durch Fähigkeiten, sondern überdies durch Regeln vermittelt ist.
Nach der rationalistischen Lesart der Fähigkeiten-These ist das Verhältnis
von Tier und Mensch ein anderes: Ihr zufolge beschreiben die fraglichen
Fähigkeiten keine Vermögen, die dem Tier wie dem Menschen gemeinsam sind.
Jene Fähigkeiten, von denen gemäß der Fähigkeiten-These behauptet wird, sie
seien für die menschliche Subjektivität konstitutiv, sind hier als spezifisch
menschliche Fähigkeiten verstanden. Wenn ein Tiger über einen Baumstamm
springt, dann übt er dabei ein Vermögen anderer Art aus als der Mensch es
tut, wenn dieser über einen Baumstamm springt. Der Mensch übt hierbei
Rationalität aus, der Tiger nicht.
_____________
17
18
Siehe u.a. ebd.
H. Dreyufs: Overcoming the Myth of the Mental, a.a.O., S. 59f.
Andrea Kern
202
5. Die „anti-anti-rationalistische“ Lesart der Fähigkeiten-These
Es gibt noch eine dritte Lesart der Fähigkeiten-These, die insbesondere unter
Wittgensteinianern weit verbreitet ist. Die dritte Lesart versteht sich als eine
Kritik sowohl der rationalistischen wie auch der anti-rationalistischen Lesart
der Fähigkeiten-These. D.h. ganz wie die anti-rationalistische Lesart hält auch
diese Lesart die rationalistische Lesart der Fähigkeiten-These für falsch, doch
aus einem anderen Grund. Die anti-rationalistische Lesart hält die rationalistische Lesart für falsch, weil diese davon ausgeht, das grundlegende Weltverhältnis des Menschen sei durch Rationalität bestimmt. Nach der dritten Lesart
ist die rationalistische Lesart hingegen falsch, nicht, weil sie Rationalität als
Grundlage annimmt, sondern weil sie ein falsches Verständnis von Rationalität und damit auch der fraglichen Fähigkeiten hat. Die rationalistische Lesart,
so hatten wir gesehen, versteht Rationalität als das Vermögen der Kenntnis
situationsunabhängiger Regeln, die ein Anwendungsproblem offen lassen,
von welchem sodann angenommen wird, daß die fraglichen Fähigkeiten es
lösen. Die dritte Lesart versteht die Fähigkeiten-These hingegen so:
Rationalität ist kein Vermögen von situationsunabhängig gegebenen Regeln, die man sich zunächst unabhängig von und vor dem einzelnen Verhaltensakt vorstellen kann und von denen dann zu fragen ist, wie sie in der jeweiligen Situation angewendet werden müssen. Rationalität ist vielmehr ein
Vermögen von Regeln, deren Gehalt allein dadurch bestimmt wird, daß man
sie in bestimmten Situationen in seinem Verhalten anwendet. Das Anwendungsproblem, das die rationalistische Lesart hat und mit der Idee der Fähigkeit zu lösen glaubt, gibt es daher nicht, da es den Gehalt der Regeln, die
rationales Verhalten leiten, nur in Situationen der Anwendung überhaupt
gibt.19
Die logische Rolle der fraglichen Fähigkeiten kann daher nicht die sein,
zu erklären, wie Regeln, die unabhängig von ihrer Anwendung vorgestellt
werden können, in je bestimmten Situationen angewendet werden müssen.
_____________
19
Einige Formulierungen bei John McDowell legen nahe, daß er ein Vertreter dieser
Position ist. Denn sein Hauptaugenmerk liegt erstens darauf, zu betonen, daß die Regeln, die unser Verhalten leiten, nicht situationsunabhängig vorgestellt werden können, und zweitens darauf, zu betonen, daß es genügt, diese Regeln prinzipiell vorstellen zu können, ohne daß jedoch eine aktuelle Vorstellung dem Handeln vorhergehen
muß. Die Betonung dieser beiden Aspekte jedoch, so werden wir gleich sehen, sind
nicht ausreichend, um das obige Dilemma zu lösen. Dies schließt es jedoch nicht aus,
daß sich McDowell auch als Vertreter der von mir am Ende vorgeschlagenen vierten
Lesart der Fähigkeiten-These verstehen läßt. Mein Eindruck ist, daß McDowell deswegen nicht eindeutig einzuordnen ist, weil er nicht sieht, daß eine therapeutische
Verwendung des Fähigkeiten-Begriffs nicht ausreichend ist, um das obige Dilemma
zu lösen, sondern dass wir hierfür eine Theorie der Fähigkeiten benötigen. Vgl. dazu
z.B. J. McDowell: What Myth?, in: Inquiry, vol. 50, no. 4 (August 2007).
Handeln ohne Überlegen
203
Das, so haben wir oben gesehen, ist auch die Grundidee der antirationalistischen Lesart. Für die anti-rationalistische Lesart bedeutet dies jedoch, wie wir gesehen haben, daß die grundlegende Form menschlichen Verhaltens nicht nur nicht als die Verwirklichung von situationsunabhängigen
Regeln verstanden werden kann, sondern überhaupt nicht als ein Verwirklichen von Regeln. Die grundlegende Form des Handelns ist weder als ein Vollzug zu verstehen, der durch die explizite Vorstellung einer Regel angeleitet
wird, noch als ein Vollzug, der implizit durch die Vorstellung einer Regel angeleitet wird.
Die dritte Lesart der Fähigkeiten-These möchte dagegen den Gedanken
verteidigen, daß die grundlegende Form menschlichen Verhaltens ein Ausüben von Rationalität ist. Zugleich möchte sie jedoch auch jenem Aspekt
dieses Verhaltens Rechnung tragen, der im Zentrum der anti-rationalistischen
Lesart steht: nämlich daß in den grundlegenden Fällen dem Verhalten keine Vorstellung
einer Regel vorhergeht, die dieses begründet. Wittgenstein drückt dies bekanntlich so
aus, daß er sagt, die grundlegende Form des Regelfolgens sei ein „blindes“
Regelfolgen: „Ich folge der Regel blind“. 20
Die dritte Lesart der Fähigkeiten-These wendet gegen die antirationalistische Lesart folglich ein, daß sie auf einem Fehlschluß beruht: die
anti-rationalistische Lesart glaubt, aus der unbestreitbaren Nicht-Reflexivität
oder Blindheit menschlichen Verhaltens schließen zu müssen, daß dieses in
seinen grundlegenden Fällen keine Ausübung von Rationalität sein kann. Die
dritte Lesart bestreitet dies. Sie möchte behaupten, daß die Nicht-Reflexivität
menschlichen Verhaltens seiner grundlegenden Rationalität keineswegs widerstreitet, sondern ein Ausdruck derselben ist. Wir wollen sie daher die antianti-rationalistische Lesart nennen. Die anti-anti-rationalistische Lesart glaubt
also, daß sich die beiden folgenden Sätze miteinander vereinbaren lassen:
(1) Menschliches Verhalten ist rational, d.h. es wird von Regeln geleitet.
(2) Menschliches Verhalten ist blind, d.h. ihm geht keine Vorstellung von
Regeln vorher.
Ich werde im folgenden behaupten, daß eine angemessene Theorie menschlichen Verhaltens sich darin zeigt, daß sie in der Lage ist, beide Behauptungen
miteinander zu vereinbaren. Wie ist es möglich, menschliches Verhalten als
rational und blind zugleich zu verstehen? Die rationalistische Lesart der Fähigkeiten-These glaubt, daß die erste Behauptung notwendigerweise eine
Leugnung der zweiten Behauptung zur Folge hat. Wenn menschliches Verhalten rational ist, dann folgt daraus, daß es nicht blind sein kann. Die antirationalistische Lesart glaubt genau dasselbe und sieht sich daher gezwungen,
die erste Behauptung zu bestreiten, d.h. die Rationalität menschlichen Verhal_____________
20
L. Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, a.a.O., § 219.
Andrea Kern
204
tens auf seiner grundlegenden Ebene Preis zu geben. Wenn menschliches
Verhalten blind ist, dann folgt daraus, daß es nicht rational sein kann. Die antianti-rationalistische Lesart hat nun dagegen den Anspruch, beide Behauptungen miteinander zu vereinbaren. Sie möchte verständlich machen, wie ein
Verhalten rational sein kann, ohne in der Vorstellung einer Regel zu gründen,
die ihm vorhergeht und es begründet.
Nach der anti-anti-rationalistischen Lesart können wir uns dies genau
dann verständlich machen, wenn wir den Gedanken aufgeben, demzufolge
Rationalität in einem Vermögen situationsunabhängiger Regeln besteht. Gibt
man dieses Verständnis von Rationalität auf, dann, so die Idee, liegt auch
keine Schwierigkeit darin, die Rationalität menschlichen Verhaltens mit seiner
Blindheit zu verbinden.21 Doch stimmt das? Betrachten wir hierfür genauer,
wie die anti-anti-rationalistische Lesart die Form menschlichen Verhaltens
erläutert: Damit ein Verhalten rational sein kann, so die Idee, ist es nicht nötig, daß jemand, bevor er handelt, die Vorstellung einer Regel hat, die ihn in
seinem Handeln leitet. Es genügt, daß er in der Lage ist, sein Handeln als
eines zu rekonstruieren, das unter eine Regel der Rationalität fällt. D.h. der
Handelnde muß die Regel, die sein Handeln leitet, nicht vor seinem Handeln
vorstellen, sondern es genügt, daß er die Fähigkeit hat, die Regel, an die er im
Moment seines Handelns nicht gedacht hat, nachträglich anzugeben. Nach diesem Verständnis von Rationalität besteht der logische Sinn der fraglichen
Fähigkeiten darin, zu erklären, wie ein Verhalten, das „blind“ vollzogen wird,
dennoch Ausdruck von Rationalität sein kann. Dies sollen die fraglichen Fähigkeiten deswegen erklären können, weil ihre Ausübung dadurch charakterisiert ist, daß sie unter eine Regel fällt, die der Handelnde zwar nicht vor
dem Verhaltensakt aktual vorgestellt hat, doch die er nach dem Verhaltensakt
vorstellen kann. Daß die Regel, unter die das Verhalten fällt, nicht aktual vor
ihrer Anwendung vorgestellt werden muß, darin liegt die „antirationalistische“ Pointe des Rekonstruktions-Modells. Daß sie jedoch nachträglich vorgestellt werden können muß, darin liegt zugleich ihre „rationalistische“ Pointe gegenüber der anti-rationalistischen Auffassung. Nach der antianti-rationalistischen Lesart ist die grundlegende Form menschlichen Verhaltens also kein explizites, sondern ein implizites Regelfolgen.
Der Anti-Rationalist findet diese Erläuterung nicht überzeugend. Nach
seiner Auffassung ist das menschliche Verhalten in einem radikaleren Sinne
„blind“. Der Anti-Rationalist bestreitet, daß die Fähigkeit zur Rekonstruktion
von Regeln konstitutiv für menschliches Verhalten ist. Wenn wir handeln,
dann handeln wir in den grundlegenden Fällen so blind, daß wir hier weder
_____________
21
Vgl. dazu u.a. J. McDowell, der schreibt: „I urge that even unreflective bodily coping,
on the part of rational animals, is informed by their rationality”, in: What Myth?, a.a.O.,
S. 338.
Handeln ohne Überlegen
205
vorher noch nachher Regeln „sehen“.22 Das zeigt das Beispiel des Skifahrers, der
genau solange Skifahren konnte, wie er nicht in der Lage war, die Regeln seines
Verhaltens anzugeben.
Lassen wir den Einwand des Anti-Rationalisten einmal für einen Moment
auf sich ruhen und fragen uns, ob denn die anti-anti-rationalistische Lesart,
wenn schon nicht die Blindheit, so doch wenigstens die Rationalität des
menschlichen Handelns erklären kann. Die anti-anti-rationalistische Lesart
will sagen, daß die Rationalität meines Verhaltens dann gesichert ist, wenn ich
in der Lage bin, die Regel, unter die es fällt, angeben zu können. Nun aber ist
klar, daß ich die Regel, unter die mein Verhalten fällt, nur dann nachträglich
angeben kann, wenn mein Verhalten tatsächlich unter eine Regel fällt. Wie aber
kann dies erklärt werden?
Für die rationalistische Lesart der Fähigkeiten-These ist unmittelbar klar,
wie sie die Übereinstimmung meines Verhaltens mit einer Regel erklären
kann: dadurch, daß ich mir die Regel vor dem Verhaltensakt vorgestellt und
diesen dann durch diese Vorstellung bestimmt habe. Wie aber kann das anti-antirationalistische Modell diese Übereinstimmung erklären? Und mehr noch:
Damit mein Verhalten rational ist, genügt es nicht, daß es einfach mit einer
Regel übereinstimmt. Denn diese Übereinstimmung könnte auch zufällig sein.
Und wenn sie nur zufällig ist, dann heißt dies, daß mein Verhalten nicht wirklich rational ist, sondern bloß so aussieht wie eines, das rational ist.
Aristoteles erinnert uns an diesen wichtigen Unterschied, wenn er zwischen einem Verhalten unterscheidet, das nur zufälligerweise mit bestimmten
(hier: grammatischen) Regeln übereinstimmt, und einem Verhalten, das deswegen mit diesen Regeln übereinstimmt, weil es seinen Grund in jenem Vermögen hat, das darin besteht, ein Verhalten gemäß dieser Regeln hervorzubringen. Er schreibt:
[M]an kann etwas grammatisch Korrektes tun auch durch Zufall und wenn es einem
ein anderer zeigt. Also ist man nur dann ein Grammatiker, wenn man etwas grammatisch Korrektes tut, und dies auf fachmännische Weise, das heißt: im Sinne der
Grammatik, die man sich angeeignet hat.23
Angewendet auf unsere Diskussion können wir also erst dann sagen, daß ein
Verhalten ein rationales Verhalten ist, und nicht einfach nur so aussieht wie ein
rationales Verhalten, wenn dies bedeutet, daß mein Verhalten durch ein Vermögen erklärt wird, das darin besteht, rationales Verhalten hervorzubringen.
Betrachten wir nun, wie das anti-anti-rationalistische Modell unser Verhalten
erklärt:
Das anti-anti-rationalistische Modell beschreibt unser Verhalten als das
Resultat zweier Vermögen, die logisch miteinander verknüpft sein sollen: den
_____________
22
23
Vgl. etwa H. Dreyfus: The Return of the Myth of the Mental, a.a.O., S. 360.
Aristoteles: Die Nikomachische Ethik, a.a.O., 1105a S. 22-27.
206
Andrea Kern
„blinden“ Fähigkeiten und einem Vermögen der Rationalität im Sinne eines
Vermögens der Vorstellung rationaler Regeln. Beide Arten von Vermögen
müssen vorhanden sein, und zwar so, daß sie logisch miteinander verknüpft sind,
wenn rationales Verhalten möglich sein soll. Zugleich aber soll es so sein, daß
man beide Vermögen unabhängig voneinander ausüben kann. Das heißt, die „blinden“ Fähigkeiten sollen so verfaßt sein, daß man sie ausüben kann, ohne zugleich sein Vermögen der Rationalität im Sinne eines Vermögens der Vorstellung rationaler Regeln auszuüben. Dies soll die Blindheit unseres Verhaltens
erklären. Nach dem anti-anti-rationalistischen Modell müssen wir also zwei
Arten von Vermögen, und zwar in je unterschiedlicher Weise ins Spiel bringen,
um unser Verhalten zu erklären. Während die „blinden“ Fähigkeiten unmittelbar unserem Verhalten zugrunde liegen und dieses erklären, ist das Vermögen der Rationalität nur mittelbar explanatorisch mit unserem Verhalten verknüpft. Das Vermögen der Rationalität kommt erst dann zum Zug, wenn die
„blinden“ Fähigkeiten schon ausgeübt wurden, auch wenn gelten soll, daß
letzteres nur möglich ist, wenn auch ersteres möglich ist. Die Ausübung des
Vermögens der Rationalität ist der Ausübung der „blinden“ Fähigkeiten nachgeordnet, auch wenn das Vorhandensein der „blinden“ Fähigkeiten vom Vorhandensein des Vermögens der Rationalität abhängig sein soll.
Wenn aber das so ist, dann heißt dies, daß das Vermögen der Rationalität
nicht in der Lage ist, das zu erklären, was seine eigene Voraussetzung ist:
nämlich daß mein Verhalten tatsächlich unter eine Regel fällt, deren Rekonstruktion dann Sache meines Vermögens der Rationalität ist. Denn wenn die
Ausübung des Vermögens der Rationalität der Ausübung der „blinden“ Fähigkeiten nachgeordnet ist, dann kann das Vermögen der Rationalität nicht
die Quelle meines Verhaltens sein. Das, was mein Verhalten erklärt, sind
meine „blinden“ Fähigkeiten, nicht die Regel, kraft derer es rational ist. Daraus aber folgt, daß die Übereinstimmung meines Verhaltens mit einer Regel
innerhalb dieses Modells nichts anderes als eine Sache des Zufalls sein kann.
Das anti-anti-rationalistische Modell hat keine Erklärung für die Rationalität
des Verhaltens. Wenn hier jemand etwas tut, das mit einer Regel übereinstimmt, dann geschieht dies zufällig.
6. Wittgensteins eigentliche „Einsicht“
Wir hatten oben behauptet, daß das eigentliche Argument für die antirationalistische Lesart darin besteht, daß sie bestreitet, daß man den Umstand,
daß wir in den grundlegenden Fällen unser Verhalten blind vollziehen, damit
vereinbaren kann, daß dieses Verhalten Ausdruck von Rationalität ist. Das
anti-anti-rationalistische Modell hat den Anspruch, beides miteinander zu
verbinden. Nun aber haben wir gesehen, daß dieses Modell vor der Schwie-
Handeln ohne Überlegen
207
rigkeit steht, genau das nicht erklären zu können, was es zu erklären gilt: nämlich daß unser Verhalten tatsächlich rational ist.
Machen wir uns klar: Das Dilemma, das wir oben beschrieben haben, besteht darin, daß wir nur die Wahl zu haben scheinen zwischen der Möglichkeit, entweder der Rationalität unseres Verhaltens Rechnung zu tragen, dann
aber die Blindheit desselben bestreiten müssen – das ist das rationalistische
Modell; oder aber der Blindheit unseres Verhaltens Rechnung zu tragen, dann
aber die Rationalität desselben bestreiten zu müssen – das ist das antirationalistische Modell. Der Versuch des anti-anti-rationalistischen Modells,
dieses Dilemma zu überwinden, so hat sich gezeigt, scheitert. Statt eine alternative dritte Möglichkeit zu eröffnen, sitzt dieses Modell, aus der Perspektive
des Rationalisten wie des Anti-Rationalisten, auf beiden Hörnen des Dilemmas zugleich: Auf der einen Seite kann es die Rationalität unseres Verhaltens
nicht erklären, sondern diese nur voraussetzen; auf der anderen Seite kann es
der Blindheit unseres Verhaltens nicht wirklich Rechnung tragen, weil es vom
Subjekt des Verhaltens verlangt, die Regeln seines Verhaltens, wenngleich
nicht im Moment des Verhaltens vor Augen zu haben, so doch immerhin
nachträglich rekonstruieren zu können.
Damit zeigt sich, daß sich das obige Dilemma nicht dadurch auflösen
läßt, daß man den Ort der Regeln – sie sind nicht außerhalb der Situation, sondern nur in der Situation gegeben – und den Zeitpunkt ihrer Vorstellung – sie
werden nicht vor dem Verhalten, sondern erst nach dem Verhalten vorgestellt
– verschiebt. Was wir benötigen, ist vielmehr eine Form der Erklärung, bei
der zwei Dinge miteinander identisch sind: Eine Erklärung unseres Verhaltens
durch die fraglichen Fähigkeiten mit einer Erklärung unseres Verhaltens
durch das Vermögen der Rationalität. Wonach wir suchen, ist also eine Erklärung, die beides zusammenbringt.
Für alle drei Lesarten der Fähigkeiten-These gilt dagegen, daß sie die fraglichen Fähigkeiten auf eine Weise verstehen, derzufolge diese keine vollständige
Erklärung der Rationalität menschlichen Verhaltens liefern. Eine vollständige
Erklärung haben wir in allen drei Lesarten erst dann, wenn wir diese Fähigkeiten mit einem weiteren Vermögen, nämlich dem Vermögen der Vorstellung
von Regeln, verknüpfen. Im zentralen § 199 der Philosophischen Untersuchungen,
auf den sich alle Autoren der Aristotelisch-Wittgensteinianischen Tradition
beziehen, schreibt Wittgenstein:
Es kann nicht ein einziges Mal nur ein Mensch einer Regel gefolgt sein. Es kann nicht
ein einziges Mal nur eine Mitteilung gemacht, ein Befehl gegeben, oder verstanden
worden sein, etc. – Einer Regel folgen, eine Mitteilung machen, einen Befehl geben,
eine Schachpartie spielen sind Gepflogenheiten (Gebräuche, Institutionen).
Und in § 202 heißt es dann: „Darum ist ,der Regel folgen’ eine Praxis.“
Was möchte Wittgenstein sagen, wenn er behauptet, das Folgen einer Regel
sei eine „Gepflogenheit“, eine „Praxis“? Ich möchte im folgenden eine vierte
Andrea Kern
208
Lesart der Fähigkeiten-These entwickeln, von der ich meine, daß sie die eigentliche Einsicht Wittgensteins zum Ausdruck bringt. Ich möchte zeigen,
daß die eigentliche Einsicht Wittgensteins in dem Gedanken besteht, daß der
Grundbegriff zur Erläuterung der Rationalität menschlichen Verhaltens nicht
die Idee einer Regel ist, von der dann zu fragen wäre, wie sie angewendet
werden kann, sondern die Idee einer bestimmten Art von Fähigkeit, die die
Rationalität menschlichen Verhaltens vollständig erklärt. Das, was wir benötigen, um zu verstehen, wie menschliches Verhalten rational sein kann, sind
nicht die Idee einer Regel plus die Idee einer „blinden“ Fähigkeit. Was wir
vielmehr benötigen, ist die Idee einer bestimmten Art von Fähigkeit, kraft
derer wir sagen können: Jemand, der solche Fähigkeiten ausübt, übt darin sein
Vermögen der Rationalität aus. Die Arbeiten von Hans Julius Schneider weisen meines Erachtens in diese Richtung. Programmatisch schreibt Schneider
hierzu:
Die konsequente Durchführung des pragmatischen Ansatzes verlangt die Einsicht,
dass die Zuschreibung einer Regelkenntnis auf der elementaren Stufe (...) nichts anderes heißt als die Zuschreibung der Handlungsfähigkeit.24
Das, was Schneider die „konsequente“ Durchführung des „pragmatischen
Ansatzes“ nennt, werde ich im folgenden die Identitäts-Lesart der Fähigkeiten-These nennen, um den zentralen Unterschied zu den sogenannten „inkonsequenten“ Lesarten zu markieren. Denn die Rationalität menschlichen
Verhaltens und seine Blindheit haben nach dieser Lesart nicht zwei verschiedene Quellen, sondern es ist ein und dieselbe Fähigkeit, die erklärt, weshalb
menschliches Verhalten in seinen grundlegenden Fällen blind und rational
zugleich ist.
7. Die Identitäts-Lesart der Fähigkeiten-These
Wir hatten oben mit Aristoteles den Fall, in dem jemand etwas Regelgerechtes
aus Zufall tut, von dem Fall unterschieden, in dem er dies deswegen tut, weil
er eine bestimmte Fähigkeit erworben hat, kraft derer er etwas tut, was mit
bestimmten Regeln übereinstimmt. Wenn jemand eine Fähigkeit hat, dann
heißt dies, daß er durch etwas charakterisiert ist, das die Erfüllung bestimmter
Regeln erklärt. Eine Fähigkeit, was auch immer sonst sie ist, ist eine bestimmte
Form der Erklärung eines richtigen Verhaltens. Daß jemand im Besitz einer
Fähigkeit ist, heißt, daß in den grundlegenden Fällen, in denen jemand etwas
tut, das mit den Regeln der Fähigkeit übereinstimmt, dies durch die Fähigkeit
erklärt wird.
_____________
24
H. J. Schneider: Beruht das Sprechenkönnen auf einem Sprachwissen?, a.a.O., S. 143f.
Handeln ohne Überlegen
209
Wir hatten oben behauptet, Skifahren sei eine Fähigkeit. Wenn dies so ist,
dann bedeutet dies, daß der Begriff des Skifahrens der Begriff einer bestimmten Form der Erklärung desjenigen Verhaltens ist, bei dem jemand das tut,
was unter den Begriff des Skifahrens fällt. Wenn ein Skifahrer auf der Piste
beim Rechtsschwung hinten anferst und die Skier ruckartig nach oben reißt,
dann, so wollen wir sagen, geschieht dies nicht aus Zufall, sondern deswegen,
weil er die Fähigkeit hat, Ski zu fahren, die dies erklärt. Stellen wir uns nun
dagegen einmal vor, der Begriff des Skifahrens bezeichne keine Fähigkeit,
sondern ein System von Verhaltensregeln. Als Beispiel haben wir hierfür die
Beschreibung des Fahrens eines parallelen Kurzschwungs gewählt. In einem
Standard-Lehrbuch wird das Fahren eines parallelen Kurzschwungs so beschrieben:
Mit einem explosiven Strecken der Beine, bei dem man sich betont vom talseitigen
Stock abstützt, wird der Schwung begonnen. Dabei ist Vorlage einzunehmen. Die
Skienden werden hochgerissen. Dabei kann man sogar etwas anfersen. Nahezu zeitgleich werden die Beine, aber nicht der Rumpf, schnell schwungwärts gedreht. Mit
Beginn der Schwungsteuerung wird sofort Außenskibelastung aufgenommen und das
Außenbein anhaltend gedreht. Der Rumpf wird betont über den Außenski geneigt
[...].25
Nun stellen wir uns vor, dies sei die Beschreibung eines Systems von Verhaltensregeln. Skifahren bestünde entsprechend darin, diese Regeln, sei es implizit oder explizit, anzuwenden. Nun fragen wir uns, ob diese Regeln vollständig erklären könnten, weshalb jemand etwas tut, das mit diesen Regeln
übereinstimmt. Gewiß nicht. Denn stellen wir uns vor, Jim, der gerade tatsächlich anferst, den Oberkörper, aber nicht den Rumpf hangaufwärts dreht,
kennt diese Regeln nicht. Wenn Jim diese Regeln nicht kennt, dann kann sein
Verhalten auch nicht durch diese Regeln erklärt werden. Nur Regeln, die man
kennt, kann man auch anwenden. Um Jims Verhalten durch die Regeln zu
erklären, müßten wir also voraussetzen, daß Jim die Regeln kennt. Stellen wir
uns also vor, Jim kennt diese Regeln. Würde dies vollständig erklären, weshalb
er das tut, was er tut? Nun, stellen wir uns vor, Jim ist eigensinnig und möchte
sich nicht vorschreiben lassen, wie er Skifahren soll. Er plant, nicht anzufersen
und auch den Oberkörper nicht hangaufwärts zu drehen. Zufälligerweise aber
liegt ein kleiner Stein genau in seiner Spur. Dies führt dazu, daß Jim – entgegen seinem Vorhaben – doch anferst, und zwar so, daß er zugleich den Oberkörper dabei etwas hangaufwärts dreht. Gewiß, Jim hat alles richtig gemacht:
Er ist so Ski gefahren, wie man richtig Ski fährt. Und doch wird dies hier
nicht durch die Regeln des Skifahrens erklärt, sondern durch einen gänzlich
zufälligen Faktor, nämlich den auf der Piste liegenden Stein. Damit also die
_____________
25
Deutscher Verband für das Skilehrerwesen e.V. (ed.): Skilehrplan 1, S. 78. Vgl. dazu
auch ausführlicher meine Ausführungen in A. Kern: Quellen des Wissens. Zum Begriff vernünftiger Erkenntnisfähigkeiten, Frankfurt a. M. 2006, S. 200ff.
210
Andrea Kern
Regeln des Skifahrens dies erklären könnten, müßten wir nicht nur annehmen, daß Jim diese Regeln kennt, sondern wir müßten überdies annehmen,
daß Jim diese Regeln als für sein Verhalten gültige Regeln anerkennt.
Wenn Skifahren ein System von Verhaltensregeln wäre, dann sähe eine
Erklärung der Tatsache, daß Jim anferst, etwa so aus:
(a) Jim ferst an, weil er die Regeln des Skifahrens kennt und diese als für sein
Verhalten gültige Regeln anerkennt.
Regeln, so zeigt das Beispiel, können bestenfalls Elemente einer Erklärung sein,
doch sie können keine vollständige Erklärung eines Verhaltens liefern. Wenn der
Begriff des Skifahrens der Begriff eines Systems von Verhaltensregeln wäre,
dann würde die Tatsache, daß jemandes Verhalten unter diesen Begriff fällt,
für sich noch keine Erklärung dieser Tatsache enthalten, sondern eine solche
Erklärung würde stets mehr verlangen: die Kenntnis der Regeln und deren
Anerkennung.
Anders dagegen ist dies, wenn der Begriff des Skifahrens der Begriff einer
Fähigkeit ist. Folgen wir Aristoteles, dann hieße dies, daß jemand nur dann
Ski fährt, d.h. etwas tut, das unter den Begriff des Skifahrens fällt, wenn er die
Fähigkeit dazu hat. Denn der Begriff des Skifahrens hätte dann nicht nur
einen deskriptiven Sinn, insofern er dazu dient, zu beschreiben, was jemand tut.
Er hätte zugleich einen erklärenden Sinn. Wenn wir sagen, daß Jim Ski fährt,
würden wir hiermit nicht nur beschreiben, was Jim gerade tut, sondern wir
würden zugleich eine Erklärung dafür geben, weshalb er gerade hinten anferst, den Oberkörper, aber nicht den Rumpf hangaufwärts dreht, etc. Das,
was erklärt, weshalb Jim gerade hinten anferst, etc., ist die Tatsache, daß er die
Fähigkeit ausübt, Ski zu fahren. Wenn jemand diese Fähigkeit ausübt, dann ist
es kein Zufall, wenn er hinten anferst, etc. Hinten anzufersen ist ein Element
der Ausübung dieser Fähigkeit. Eine Erklärung dieser Tatsache sähe dann
einfach so aus:
(b) Jim ferst an, weil er Ski fährt.
Der Begriff des Skifahrens wäre folglich ein Begriff, der, indem er beschreibt,
was jemand tut, zugleich das, was derjenige tut, erklärt. Zu sagen, was jemand
tut, und zu sagen, warum er das tut, was er tut, wäre hier ein und dasselbe. Was
für eine Art von Erklärung ist das?
Stellen wir uns vor, jemand fährt Ski und fällt plötzlich zu Boden. Wenn
er zu Boden fällt, geschieht offenkundig etwas, das nicht mit dem Begriff des
Skifahrens übereinstimmt, also auch nicht durch ihn erklärt werden kann.
Doch ist es logisch mit ihm verknüpft: nämlich als ein Fall der Abweichung von
diesem Begriff. Solche Fälle nennt Aristoteles Fälle der Privation. Wenn jemand einen Kuchen bäckt, dann geschieht hier auch etwas, das nicht mit dem
Begriff des Skifahrens übereinstimmt, doch das, was hier geschieht, ist nicht
Handeln ohne Überlegen
211
logisch mit dem Begriff des Skifahrens verknüpft. Anders dagegen, wenn
jemand auf der Piste stürzt. Wenn wir ein Ereignis als einen „Sturz auf der
Piste“ beschreiben – und nicht etwa sagen, daß sich hier jemand hinsetzt,
oder einen Kopfsprung macht, oder seinen Rücken massiert – dann setzt dies
voraus, daß wir es in den Zusammenhang der Fähigkeit, Ski zu fahren, einordnen, mit Bezug auf welche dieses Ereignis eine Privation darstellt: d.h. es
ist ein Ereignis, dessen Beschreibung die Bezugnahme auf den Begriff des
Skifahrens voraussetzt, ohne selbst unter diesen Begriff zu fallen und durch
diesen erklärt zu werden. Wir können nicht sagen: „Jim stürzt auf der Piste,
weil er Ski fährt“. Doch daß wir überhaupt sagen können, daß Jim auf der
Piste stürzt, setzt voraus, daß wir ihn als jemanden beschreiben, der Ski fährt.
Seine Fähigkeit, Ski zu fahren, erklärt nicht, weshalb er auf der Piste stürzt.
Doch seine Fähigkeit, Ski zu fahren, ist eine logische Voraussetzung dafür,
daß er als jemand beschrieben werden kann, der auf der Piste stürzt.26
Das, was erklärt, weshalb er stürzt, sind etwa Dinge wie ein Steinchen auf
der Piste, ein ihm den Weg versperrender anderer Skifahrer, eine Eisplatte,
etc. Mit Bezug auf seine Fähigkeit, Ski zu fahren, die den Fall erklärt, in dem
er genau das tut, was mit der Fähigkeit übereinstimmt, sind die Faktoren, die
den Fall der Privation erklären, kontingent. Es sind keine Faktoren, deren
Vorliegen für die Fähigkeit notwendig sind. Es sind Faktoren, die kontingenterweise vorliegen und derart sind, daß sie das Subjekt an der Ausübung seiner
Fähigkeit, die es andernfalls ausgeübt hätte, hindern. Fälle der Privation werden
durch Hindernisse erklärt, Fälle der Übereinstimmung mit der Fähigkeit
durch die Fähigkeit selbst. Aristoteles drückt das so aus, indem er sagt:
[D]erselbe Begriff [eines Vermögens, A.K.] erklärt die Sache und die Privation, nur
nicht auf dieselbe Art und Weise [...]. [D]enn der Begriff ist Begriff des einen an sich,
Begriff des anderen aber gewissermaßen in akzidentellem Sinne. Nur durch Verneinung und Wegnahme erklärt der Begriff das Gegenteil.27
Nur durch „Verneinung und Wegnahme“ werden die Fälle der Abweichung
erklärt, sagt Aristoteles. Wir können das so ausdrücken: Die Fälle der Abweichung werden dadurch erklärt, daß in einem solchen Fall genau jene Bedingungen „weggenommen“ sind, die im positiven Fall vorhanden sind und die
Ausübung der Fähigkeit erlauben. Wir hatten oben gefragt, was für eine Art
von Erklärung die Erklärung durch eine Fähigkeit ist. Die Möglichkeit von
Fällen des Scheiterns macht deutlich, daß die Fälle, die die Fähigkeit erklärt,
dadurch charakterisiert sind, daß sie mit einer Regel übereinstimmen, an de_____________
26
27
Die These ist natürlich nicht so zu verstehen, daß es hier nicht auch alternative Fähigkeiten geben kann, die die logische Voraussetzung eines Stürzens auf der Piste sein
können, etwa die Fähigkeit zu gehen. D.h. auch jemand, der nicht Skifahren kann,
kann auf einer Piste stürzen, aber nur dann und nur deswegen, wenn und weil er eine
andere Fähigkeit hat, zu der ein solcher Sturz eine Privation darstellt.
Aristoteles: Metaphysik, übersetzt von F. F. Schwarz, Stuttgart 1970, 1046b S. 13-15.
Andrea Kern
212
ren Erfüllung man auch scheitern kann. Die Fälle, die mit ihr übereinstimmen
und durch diese erklärt werden, sind folglich als Fälle des Gelingens zu beschreiben: eben als Fälle, in denen die Ausübung einer Fähigkeit gelingt, die
auch hätte scheitern können. Die Erklärung durch eine Fähigkeit ist also eine
normative Erklärung. Sie erklärt das, was sie erklärt, dadurch, daß sie es als etwas darstellt, das so ist, wie es gemäß der Fähigkeit sein soll.
8. Fähigkeiten und Situationen
Eine Erklärung durch eine Fähigkeit ähnelt in einer gewissen Hinsicht der
Erklärung durch ein Gesetz: Sie erklärt etwas Einzelnes durch etwas Allgemeines. Nun gibt es freilich verschiedene Erläuterungen dessen, was ein Gesetz ist, von denen wir jedoch im Moment absehen können. Denn wichtig für
uns nur ist, sich klar zu machen, daß eine normative Erklärung etwas nicht
dadurch erklärt, daß sie das, was geschieht, als logisch notwendig darstellt. Sie
erklärt etwas nicht dadurch, daß sie es als etwas darstellt, von dem logisch
ausgeschlossen ist, daß etwas anderes hätte geschehen können. Im Gegenteil.
Zum einen hatten wir ja eben gesehen, daß es nicht logisch ausgeschlossen ist,
daß jemand, der Ski fährt, auf der Piste stürzt und also etwas tut, das nicht so
ist, wie es hätte sein sollen. Eine Erklärung durch eine Fähigkeit ist eine normative Erklärung.28
Zum anderen sind Fähigkeiten mit den Situationen, in denen sie ausgeübt
werden, nicht derart verknüpft, daß es für jede Situation gerade eine und nur
eine Handlung gibt, die zu vollziehen richtig wäre. Wenn jemand Ski fährt,
dann kann es in ein und derselben Situation eine Vielzahl von Handlungen
geben, die mit der Fähigkeit, Ski zu fahren, in Übereinstimmung sind: in ein
und derselben Situation kann es richtig sein, einen Parallelschwung zu machen, zu wedeln oder im Pflug die Piste hinunter zu fahren. Daß jemand, der
wedelt, etwas tut, das gemäß der Fähigkeit des Skifahrens richtig ist, heißt
nicht, daß in derselben Situation nicht auch etwas anderes hätte richtig sein
können. Oder stellen wir uns einen Tennisspieler vor: Die Fähigkeit, Tennis
zu spielen, enthält Regeln, die vorgeben, wie Tennis zu spielen ist. Doch richtig Tennis zu spielen, heißt nicht, daß es in jeder Situation eine einzige richtige
Handlung gibt, die die Regeln der Fähigkeit vorgeben. Es kann in ein und
derselben Situation richtig sein, den Ball mit der Vorhand zu nehmen oder
mit der Rückhand, einen Ball Volley zu spielen oder ihn als Longline zu
schlagen. Natürlich gibt es sehr viele Situationen, in denen es gemäß der Fä_____________
28
Zur Normativität vernünftiger Fähigkeiten und der mit ihnen verknüpften Art von
Erklärung vgl. ausführlicher meine Darstellung in A. Kern, Quellen des Wissens, S. 212 –
247.
Handeln ohne Überlegen
213
higkeit, Tennis zu spielen, ein grober Fehler wäre, in einer solchen Situation den
Ball mit der Rückhand zu nehmen, statt mit der Vorhand, etc. Und doch gilt
auch für Roger Federer, daß es Situationen gibt, in denen er mehrere Möglichkeiten hat, seine Fähigkeit richtig auszuüben.
Wenn man etwas tut, das gemäß der Fähigkeit richtig ist, dann ist das keine Sache der logischen Notwendigkeit. Selbst dann nicht, wenn es in der
Situation tatsächlich nur eine einzige richtige Handlung gibt. Wenn Roger
Federer weiß, daß ein Passierschlag in die rechte hintere Ecke des gegnerischen Feldes der einzig richtige Ball ist, den er jetzt zu schlagen hat, dann ist
dies nichts, das er durch einen logischen Schluß herausbekommen hat. Roger
Federer hat nicht geschlossen: Gegeben diese Regel – etwa, daß man, wenn
der Gegner in seinem Feld vorne links steht, rechts an ihm vorbeischlagen
soll –, gegeben, daß der Vordersatz erfüllt ist, folgt daraus, daß ich den Ball in
die rechte hintere Ecke schlagen soll. Dies liegt daran, daß Regeln, die Fähigkeiten charakterisieren, wesentlich situationsabhängig sind, woraus folgt, daß
man sie nicht als Teil eines logischen Schluß repräsentieren kann. Der Grund
dafür ist der erklärende Charakter von Fähigkeiten. Wenn dasjenige Verhalten, das unter eine Fähigkeit fällt, dadurch definiert ist, daß es durch die
Fähigkeit erklärt wird, dann bedeutet dies, daß man die Regeln von Fähigkeiten
nur dadurch erläutern kann – etwa die Regeln des Skifahrens, Tanzens, oder
Schwimmens –, daß man das beschreibt, was derjenige tut, der diese Fähigkeit
ausübt. Wenn A-tun eine Fähigkeit ist, dann gehört es wesentlich zum A-tun,
daß man es kraft der entsprechenden Fähigkeit tut. Zu sagen, worin eine
bestimmte Fähigkeit besteht, verlangt, daß man sich auf bestimmte Fälle der
Ausübung dieser Fähigkeit als Beispielfälle für die Fähigkeit bezieht, an denen
man sich in einer solchen Beschreibung orientiert. Die grundlegende Erläuterung einer Fähigkeit besteht folglich in einem Satz der folgenden Art: Die
Fähigkeit, A zu tun, besteht darin, das zu tun, was derjenige tut, der diese Fähigkeit
exemplarisch ausübt.
Daraus folgt, daß bestimmte Merkmale der Situation, eben jene, die für
ihre Verwirklichung notwendig sind, ein wesentlicher Teil der Beschreibung
von Fähigkeiten sind. Dies begründet den zentralen Gedanken, den ausnahmslos alle Vertreter der Aristotelisch-Wittgensteinianischen Tradition
teilen, demzufolge die Regeln, die unser Verhalten leiten, nicht situationsunabhängig beschreibbar sind. D.h. bestimmte Merkmale der Situation sind
nicht einfach äußerlich mit den Regeln verknüpft, sondern Teil der Beschreibung der Regeln selbst. Wenn wir die Regeln unseres Verhaltens als Regeln
von Fähigkeiten verstehen, dann macht dies begreiflich, weshalb das so ist.
Andrea Kern
214
9. Das Wissen um die Fähigkeit
Man möchte an dieser Stelle vielleicht einwenden, daß der Aristotelische Gedanke, demzufolge der Begriff einer Fähigkeit durch eine Beschreibung von
Fällen der Ausübung der Fähigkeit erläutert wird, offensichtlich nicht richtig
ist, wie die obige Erläuterung des Fahrens eines parallelen Kurzschwungs
beweist. Denn hier wird offenkundig nicht ein bestimmter Fall der Ausübung
der Fähigkeit beschrieben, sondern es werden Regeln angegeben, die sagen,
wie man Ski fährt. Doch dieser Einwand beruht auf einem Mißverständnis.
Richtig ist, daß hier in der Tat nicht beschrieben wird, wie Jim gerade einen
parallelen Kurzschwung macht. Vielmehr wird beschrieben, was man tut,
wenn man einen Kurzschwung macht. Die Aristotelische These besagt nun
folgendes: Wenn diese Beschreibung als die Beschreibung einer Fähigkeit zu
verstehen ist (und eben nicht als ein System von Verhaltensregeln), dann
bedeutet dies, daß die Bezugnahme auf Fälle der Ausübung dieser Fähigkeit
eine Voraussetzung dieser Beschreibung ist. Dies schließt nicht aus, sondern
ein, daß man die Fähigkeit auch so beschreiben kann, daß man von solchen
Fällen ihrer Ausübung abstrahiert und das, was diesen Fällen gemeinsam ist, als
Regel formuliert. Entscheidend ist hier der Gedanke, daß die Beschreibung
der Regeln einer Fähigkeit abhängig ist von Fällen der Ausübung der Fähigkeit,
d.h. sie ist gegenüber einer Beschreibung von Fällen der Ausübung der Fähigkeit logisch nachträglich. Aus diesem Grund, darauf hat Schneider in seinen Arbeiten nachdrücklich hingewiesen, ist es auch falsch, menschliches Verhalten
als eine Form der Anwendung impliziter Regeln zu beschreiben. Wenn
menschliches Verhalten in der Ausübung vernünftiger Fähigkeiten besteht,
dann ist es weder eine Form der impliziten noch der expliziten Regelanwendung. Denn, wie Schneider exemplarisch mit Bezug auf die Sprache schreibt:
Im Fall der Sprache [....] sind alle Regelformulierungen nicht nur nachträglich, sondern auch prinzipiell lückenhaft, weil sie nichts Vorgegebenes explizit machen, an
dem sich ablesen ließe, wann der Prozeß des „nach außen Bringens“ abgeschlossen
ist.29
Die Behauptung, daß der Begriff des Skifahrens der Begriff einer Fähigkeit
ist, steht also nicht im Kontrast zu der Behauptung, daß es Regeln gibt, die
sagen, wie man richtig Ski fährt, sondern gibt diesen Regeln ihren richtigen
„Ort“: Sie besagt, daß nicht bestimmte Regeln die Grundlage des Verhaltens
desjenigen sind, der Ski fährt, sondern die Fähigkeit, Ski zu fahren, die man,
wenn man die Fähigkeit aus einer abstraktiven Perspektive betrachtet, in Gestalt von Regeln beschreiben kann. Darin liegt nach der Identitäts-Lesart der
Fähigkeiten-These der richtige Kern der anti-rationalistischen Lesart: Daß wir
in den grundlegenden Fällen unseres Verhaltens weder vorher noch nachher
_____________
29
Schneider: Beruht das Sprechenkönnen auf einem Sprachwissen?, a.a.O., S. 145.
Handeln ohne Überlegen
215
eine Regel vorstellen, der wir gefolgt sind. Die anti-rationalistische Lesart mißdeutet jedoch diesen Umstand. Sie deutet ihn als Ausdruck dafür, daß unser Verhalten in seinen grundlegenden Fällen kein Ausdruck von Rationalität ist.
Nach der Identitäts-Lesart hingegen ist das Verhalten desjenigen, der Ski
fährt, ein Ausdruck von Rationalität. Wie ist das zu verstehen?
Damit ein Verhalten rational ist, so hatten wir gesagt, muß es von Regeln
geleitet sein. Die Identitäts-Lesart erlaubt es nun, diesen Gedanken begreiflich
zu machen, ohne dabei annehmen zu müssen, daß das Subjekt sich hierbei
eine Regel vorstellt. Um diesen Gedanken begreiflich zu finden, müssen wir
lediglich annehmen, daß Skifahren nicht einfach irgendeine Fähigkeit ist,
sondern eine selbstbewußte Fähigkeit. D.h. es ist eine Fähigkeit, deren Besitz
einschließt, daß das Subjekt eine Vorstellung von der Fähigkeit hat. Dann können
wir verstehen, wie jemand, der eine solche Fähigkeit ausübt, dabei von den
Regeln dieser Fähigkeit geleitet werden kann, ohne annehmen zu müssen, daß
er jemals einen Akt vollzieht, in dem er sich die Regeln dieser Fähigkeit vorstellt. Um dies zu verstehen, müssen wir uns klar machen, was es heißt, eine
selbstbewußte Fähigkeit zu haben, und das heißt, wir müssen uns klar machen, welcher Art jene Vorstellung ist, die man von einer solchen Fähigkeit
hat.
Die Vorstellung, die man von einer selbstbewußten Fähigkeit hat, so haben wir gesagt, ist ein Aspekt der Fähigkeit selbst. Wenn Skifahren eine
selbstbewußte Fähigkeit ist, dann heißt dies, daß jemand, der Skifahren kann,
genau dadurch und genau deswegen, weil er Skifahren kann, eine Vorstellung
davon hat, wie man Ski fährt. Seine Vorstellung davon, wie man Ski fährt, ist
nichts Zusätzliches, das er sich überdies noch angeeignet hat, sondern diese
Vorstellung hat er genau dadurch bekommen, daß er gelernt hat, Ski zu fahren. Wenn aber das so ist, d.h. wenn die Vorstellung der Fähigkeit etwas ist,
das zur Fähigkeit selbst gehört, dann heißt dies, daß es diese Vorstellung der
Fähigkeit auf genau dieselbe Weise gibt wie die Fähigkeit. Wie aber gibt es
Fähigkeiten?
Der Satz „Jim kann Ski fahren“ kann wahr sein, auch wenn Jim gerade
nicht Ski fährt. Gewiß: Aussagen über Fähigkeiten können nur wahr sein,
wenn es auch wahre Aussagen über Akte gibt, in denen diese Fähigkeiten hier
und jetzt ausgeübt wird. Wenn Jim niemals Ski fährt, macht es keinen Sinn zu
sagen, er habe die Fähigkeit, Ski zu fahren. Aussagen über Fähigkeiten und
Aussagen über Akte, die unter sie fallen, sind offenkundig wechselseitig miteinander verknüpft. Doch im Unterschied zu Aussagen über einzelne Akte
des Skifahrens, die sich stets auf einen bestimmten Zeitpunkt beziehen, haben
Aussagen über die Fähigkeit, Ski zu fahren, keinen Zeitbezug. Während es
richtig ist, zu sagen, daß Jim heute, morgen oder gestern Ski fährt, hat Jim die
Andrea Kern
216
Fähigkeit, Ski zu fahren, nicht gestern, heute oder morgen.30 Und genau dasselbe gilt dann auch für die Vorstellungen, die mit selbstbewußten Fähigkeiten
verknüpft sind. Daß jemand, der Ski fahren kann, eine Vorstellung davon hat,
wie man Ski fährt, heißt nicht, daß er hier und jetzt einen Akt vollzieht, in dem
er seine Fähigkeit vorstellt. Die Vorstellung, die er von seiner Fähigkeit hat,
ist genauso zeitlos wie die Fähigkeit selbst.
Daß jemand eine zeitlose Vorstellung von seiner Fähigkeit hat, kann sich
dabei auf vielfältige Weise zeigen. Nach dem, was wir in § 7 gesagt haben,
muß dies jedoch stets bedeuten, daß er in der Lage ist, bestimmte Akte der
Ausübung der Fähigkeit als Beispielfälle für die Fähigkeit zu erkennen. Daß
jemand eine Vorstellung von seiner Fähigkeit hat, muß also stets bedeuten,
daß er in der Lage ist, bestimmte Akte der Ausübung der Fähigkeit genau so
unter die Fähigkeit zu bringen, daß er sie dabei als exemplarisch für die Fähigkeit erkennt. Wenn Skifahren eine selbstbewußte Fähigkeit ist, dann heißt
dies, daß jemand, der Skifahren kann, genau dadurch, daß er Skifahren kann,
auf Fälle der Ausübung der Fähigkeit als Beispielfälle für die Fähigkeit bezugnehmen und denken kann: „So fährt man Ski!“.
Und genau darum hat jemand, der diese Fähigkeit ausübt, auch genau eine solche Vorstellung von sich: Jemand, der Ski fährt, fährt genau so Ski, daß
er dabei weiß, daß das, was er tut, ein Beispiel für Skifahren ist. Wenn jemand
etwas tut, das unter eine selbstbewußte Fähigkeit fällt, dann heißt dies, daß er
eine Fähigkeit ausübt, die man nur so ausüben kann, daß man in dem, was
man tut, zugleich weiß, was man tut. Handeln und Denken sind hier eins. Daß
Handeln und Denken hier eins sind, heißt, daß Handeln und Denken hier
keine zwei verschiedenen Akte beschreiben, die in irgendeinem Sinn aufeinander folgen, sondern zwei Seiten eines einzigen Akts sind. Schneider drückt
diesen Gedanken so aus, indem er sagt:
[D]ie Zuschreibung von Wissen als auch die Zuschreibung einer Orientierung an Regeln [sind] auf der elementaren Stufe als Zuschreibungen von Handlungskompetenzen zu verstehen.31
_____________
30
31
Dies schließt nicht aus, daß jemand, der eine Fähigkeit hat, diese zu einem bestimmten Zeitpunkt erworben hat, und es ist damit auch nicht ausgeschlossen, daß er sie
verlieren kann. Der Besitz von Fähigkeiten kann eine bestimmte Dauer haben. Als ich
jung war, konnte ich Klavier spielen. Heute kann ich es nicht mehr. Ich müßte es erneut lernen. Doch wenn man eine Fähigkeit erwirbt, dann durch jemanden, der schon
im Besitz dieser Fähigkeit ist, und in diesem Sinn ist die Fähigkeit also schon immer
„da“. Und wenn man eine Fähigkeit verliert oder eine Fähigkeit gar „ausstirbt“, dann
geschieht dies nicht durch etwas, das sich durch die Fähigkeit erklären ließe, sondern
verlangt eine andere Erklärung: etwa, weil die Fähigkeit nicht mehr ausgeübt wurde,
oder weil sie nicht mehr weitergegeben wurde. Fähigkeiten sind zeitlos in dem Sinne,
daß es nicht zur ihrem Wesen gehört, einen Anfang oder ein Ende zu haben.
H. J. Schneider: Beruht das Sprechenkönnen auf einem Sprachwissen?, a.a.O., S. 144.
Handeln ohne Überlegen
217
Allerdings halte ich diese und ähnliche Formulierungen Schneiders für nicht
ganz unproblematisch, da sie zweideutig sind:32 Man kann die Behauptung,
daß die Orientierung an Regeln als Handlungskompetenz zu verstehen sei,
einmal im Sinne der hier vorgeschlagenen Identitäts-Lesart auffassen. Dann
soll damit gesagt werden, daß das Handeln kein Akt ist, der in einem ihm
vorhergehenden Akt der Vorstellung einer Regel fundiert ist, sondern einer
Fähigkeit entspringt, deren Ausübung selbstbewußt ist. Man kann diese Behauptung aber auch so verstehen, daß damit nicht gesagt werden soll, daß
Denken und Handeln hier eins seien, sondern stattdessen, daß der grundlegende Fall des Handelns einer sei, bei dem das Subjekt nicht weiß, was es
tut und warum es das tut, was es tut. Dann würde man sie im Sinne der antirationalistischen Lesart verstehen. Wenn ich Schneider richtig verstehe, ist das
ganz gegen seine Absicht. Um dieses Mißverständnis zu verhindern, d.h. um
den „pragmatischen Ansatz“ tatsächlich „konsequent“ durchzuführen, ohne
in die Falle der anti-rationalistischen Lesart zu gehen, ist es so wichtig, den
Begriff einer selbstbewußten Fähigkeit als Grundbegriff zu entwickeln. Denn
dann können wir sagen: Wer eine selbstbewußte Fähigkeit ausübt, handelt
nicht, ohne zugleich zu wissen, was er tut und warum er es tut: Er weiß, daß
das, was er tut, ein Beispiel für eben jene Fähigkeit ist, die das, was er tut,
erklärt.
Wir hatten eingangs gesagt, daß der Begriff eines vernünftigen Tuns von
uns verlangt, begreiflich zu machen, erstens, was es heißt und wie es möglich
ist, daß ein Subjekt einen bestimmten Vollzug als den Richtigen erkennt, und
zweitens, was es heißt und wie es möglich ist, daß eine solche Erkenntnis
erklären kann, weshalb jemand genau das tut, was er als richtig erkennt. Wenn
wir menschliches Tun als die Ausübung einer selbstbewußten Fähigkeit verstehen, dann können wir, so zeigt sich nun, beide Fragen zugleich beantworten. Selbstbewußte Fähigkeiten liefern uns sowohl eine Erklärung dafür, wie
jemand erkennen kann, was zu tun in einer bestimmten Situation richtig ist,
als auch dafür, wie jemand genau das tun kann, was er als richtig erkennt.
Denn wenn menschliches Handeln in der Ausübung einer selbstbewußten
Fähigkeit besteht, dann erklärt der selbstbewußte Charakter dieser Fähigkeiten, weshalb jemand, der eine solche Fähigkeit besitzt, in der Regel erkennt,
was zu tun in einer bestimmten Situation richtig ist. Und weil die Erkenntnis
dessen, was richtig ist, ihren Grund in nichts anderem als in der Fähigkeit
selbst hat, erklärt dies zugleich, weshalb jemand, der genau dadurch das Rich_____________
32
Vgl. dazu auch folgende Formulierung Schneiders: „Die Praxis des Vor- und Nachmachens, des Korrigierens und der Analogiebildung muss existiert haben, nicht aber
‚dahinterliegende’ Regeln und ein unartikuliertes Wissen von ihnen.“ (ebd., S. 146).
Auch hier ist es zweideutig, ob Schneider nur bestreiten will, daß das Handeln in einem Regelwissen gründet, oder ob er bestreiten will, daß das Handeln mit einem Wissen um das Richtige verknüpft ist.
218
Andrea Kern
tige erkennt, weil er eine bestimmte vernünftige Fähigkeit hat, in der Regel
auch genau das tut, was er als richtig erkennt. Beides, sowohl das Erkennen
wie auch das Handeln, haben dann also genau denselben Grund: eben die
fragliche Fähigkeit, die ihr gemeinsamer Grund ist. Daraus folgt das, was wir
oben schon ausgedrückt haben, als wir sagten, das Erkennen und das Handeln würden hier nicht zwei voneinander unabhängige Akte darstellen, von
denen man die Frage aufwerfen kann, wie der eine Akt den anderen erklären
kann. Erkennen und Handeln sind als zwei Seiten eines einzigen Aktes zu
verstehen, die beide durch die fragliche Fähigkeit erklärt werden.
Wir hatten oben gesagt, daß man nicht sagen könnte, was Skifahren wäre,
wenn niemand jemals Ski gefahren wäre. Wir können das nun genauer ausdrücken: Was Skifahren ist, wissen in erster Instanz diejenigen, die Ski fahren.
D.h. die erste Instanz, in der es das Wissen vom Skifahren gibt, ist diejenige,
in der es unmittelbar praktische Konsequenzen hat, d.h. in der es diejenigen
anleitet, die dabei sind, Ski zu fahren. Das Wissen ums Skifahren ist in den
grundlegenden Fällen praktisches Wissen, d.h. ein Wissen, das eine handlungsleitende Rolle spielt. Dies besagt natürlich nicht, daß jemand, der nicht
Ski fahren kann, nicht wissen kann, was Skifahren ist. Viele Fernsehzuschauer
der winterlichen Weltcup-Rennen können nicht Skifahren, doch sie wissen
natürlich genau, was das ist, was sie da anschauen, und sie können auch beurteilen, ob jemand gut oder schlecht Ski fährt. Die These, daß FähigkeitsWissen in erster Instanz praktisches Wissen ist, besagt nicht, daß das Wissen
ums Skifahren nicht auch theoretisch sein kann, sie besagt jedoch, daß dieses
theoretische Wissen ums Skifahren logisch abhängig ist davon, daß es praktisches Wissen vom Skifahren gibt.
10. Vernünftige Fähigkeiten
Wir haben oben den Begriff einer bestimmten Art von Fähigkeit entwickelt.
Nennen wir Fähigkeiten, die wesentlich selbstbewußt sind, vernünftige Fähigkeiten. Wenn wir über den Begriff einer vernünftigen Fähigkeit im oben erläuterten Sinn verfügen, dann können wir genau das begreiflich machen, was
bislang wie ein Rätsel aussah: nämlich wie menschliches Verhalten in den
grundlegenden Fällen blind sein kann, ohne dessen Rationalität bestreiten zu
müssen. Wir können nun behaupten, daß die beiden Sätze
(1) Menschliches Verhalten ist rational, d.h. es wird von Regeln geleitet.
(2) Menschliches Verhalten ist blind, d.h. ihm geht keine Vorstellung von
Regeln vorher.
miteinander vereinbar sind. Denn der Begriff einer vernünftigen Fähigkeit
erlaubt es uns, begreiflich zu machen, wie ein Verhalten von Regeln geleitet
Handeln ohne Überlegen
219
sein kann, ohne daß ihm eine Vorstellung von Regeln vorhergeht. Dies heißt
nicht, daß jemand, der eine vernünftige Fähigkeit hat, keine Vorstellung von
dem hat, was er tun soll. Doch es heißt, daß die Vorstellung, die er hat, einen
besonderen Charakter hat: Es ist eine Vorstellung seiner Fähigkeit, die selbst
keinen Akt bezeichnet, sondern einen Aspekt seiner Fähigkeit. Die Vorstellung, die erklärt, wie er von den Regeln der Fähigkeit geleitet werden kann,
ist keine Vorstellung, die er vor dem Handeln hat. Es ist auch keine Vorstellung, die er nach dem Handeln hat. Es ist vielmehr eine zeitlose Vorstellung,
die er in seinem Handeln aktualisiert.
Damit erklärt die Fähigkeit, Ski zu fahren, in einem Zug, weshalb das, was
das Subjekt tut, rational in dem Sinne ist, daß das Subjekt hierbei von bestimmten Regeln geleitet wird, und zugleich blind in dem Sinne ist, daß es
hierbei keinen Akt vollzieht, in dem es sich eine Regel vorstellt. Denn nun
können wir sagen, daß rationales Handeln nicht darin besteht, daß der Skifahrer vor oder nach dem Drehschwung eine aktuale Vorstellung der Regel hat,
unter die sein Handeln fällt, sondern darin, daß er eine zeitlose Vorstellung von
eben jener Fähigkeit hat, die ihn in seinem Handeln leitet und die er in seinem
Handeln aktualisiert.
Wenn menschliches Verhalten tatsächlich so verfaßt ist, wie wir vorschlagen, d.h. in der Ausübung vernünftiger Fähigkeiten besteht, dann macht dies
unmittelbar begreiflich, weshalb der Skifahrer, der eines Tages versucht, sich
vor jedem Schwung die Regel vorzustellen, die diesen Schwung beschreibt,
nicht mehr gut Ski fährt. Die Vorstellung des Skifahrens in Gestalt von Regeln, so haben wir gesehen, beschreibt keinen für die Fähigkeit des Skifahrens
wesentlichen Akt. Sie beschreibt vielmehr einen Akt, der der Fähigkeit logisch
nachträglich ist. Statt dazu beizutragen, die Fähigkeit zu bestimmen, setzt ein
solcher Akt schon voraus, daß es die Fähigkeit des Skifahrens gibt. Und genau
deswegen, weil ein solcher Akt gar nicht zur Fähigkeit als solcher gehört, läßt
dies Spielraum für die Tatsache, daß ein solcher Akt – in bestimmten Situationen, bei bestimmten Menschen – nachgerade zerstörerisch auf die Fähigkeit
wirken kann. Wer Skifahren kann, muß sich vor seinen Schwüngen keine
Regel vorstellen, die ihm sagt, was er tun soll. Stellt sich jemand dann doch
eine solche Regel vor, dann tut er etwas, was nicht zur Fähigkeit als solcher
gehört. Und alles, was nicht zur Fähigkeit als solcher gehört, kann prinzipiell
ein Hindernis für die Ausübung derselben sein.
11. Blind und rational
Wenn wir unserem Vorschlag folgen, demzufolge jene Fähigkeiten, die die
Blindheit menschlichen Verhaltens erklären, identisch mit vernünftigen Fähigkeiten sind, dann können wir sagen, daß menschliches Handeln von Grund
220
Andrea Kern
auf sowohl rational als auch blind zugleich ist. Denn dann kann man weder
sagen, die fraglichen Fähigkeiten seien eine Bedingung von Rationalität, noch,
sie seien mit Rationalität logisch verknüpft. Der Grund dafür ist, daß Rationalität nach dieser Lesart gar kein von diesen Fähigkeiten verschiedenes Vermögen ist, das in einem wie auch immer gearteten Verhältnis zu diesen stehen
könnte. Rationalität ist vielmehr ein Merkmal dieser Fähigkeiten selbst.
Glaubt man hingegen, Rationalität sei ein von den fraglichen Fähigkeiten
verschiedenes Vermögen der Vorstellung von Regeln, dann kann man die beiden
obigen Sätze nicht miteinander verbinden. Es ist diese „rationalistische“ Prämisse, wie wir sie nennen wollen, die alle drei oben diskutierten Lesarten
teilen und die eine Lösung des Dilemmas unmöglich macht. Der Begriff einer
vernünftigen Fähigkeit, wie wir ihn oben entwickelt haben, sollte zeigen, wie
wir diese Prämisse aufgeben können, ohne etwas von dem zu verlieren, was
für unser Verständnis menschlicher Subjektivität wesentlich ist.
Diltheys ursprüngliche Einsicht.
Verstehen ist Verstehen von Ausdruck
Matthias Schloßberger
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts führte der Versuch einer erkenntnistheoretischen Grundlegung der historischen und philologischen Wissenschaften zu der bekannten Unterscheidung von Erklären und Verstehen. Im
philosophischen Sprachgebrauch bezeichnet der dem Begriff Erklären gegenübergestellte Begriff Verstehen seitdem eine besondere Form der Erkenntnis.
Worin diese besondere Form der Erkenntnis bestehen soll, ist jedoch seit der
Einführung der Unterscheidung umstritten. Ich möchte im folgenden zeigen,
dass derjenige Autor, auf den die Unterscheidung maßgeblich zurückgeht,
Wilhelm Dilthey, dem Begriff Verstehen einen Sinn gegeben hat, der im weiteren Verlauf der Geschichte des Begriffs zunächst durch die neukantianischen Alternativdeutungen, dann durch die Vereinnahmung seitens der Hermeneutik und der Geschichtswissenschaft und schließlich durch die
sogenannte Erklären-Verstehen-Kontroverse der 70er Jahre und die Diskussion über die Unterscheidung von Ursachen und Gründen verdrängt wurde
und dafür argumentieren, dass es gute Gründe gibt, an Diltheys ursprünglichem Begriff des Verstehens festzuhalten. In einem ersten Schritt werde ich
den Beitrag von Diltheys Vorläufern diskutieren, in einem zweiten Schritt
herausarbeiten, was der eigentliche Gehalt des Begriffs Verstehen bei Dilthey
ist, um dann in einem dritten Schritt zu zeigen, dass dieser Gehalt auch bei
vielen Autoren verloren gegangen ist bzw. nicht mehr erkannt wird, die gegenüber naturalistischen und positivistischen Versuchen einer Einebnung der
Unterscheidung von Erklären und Verstehen die Besonderheit des Verstehens verteidigen.
Für Dilthey ist Verstehen der Name derjenigen Form von Erkenntnis, die
uns Seelisches erfahren lässt. Im Sinne dieser Begriffsbestimmung erfolgt die
Unterscheidung von Verstehen und Erklären: „Die Natur erklären wir, das
Seelenleben verstehen wir.“1 An diese Unterscheidung schließt sich dann die
_____________
1
Wilhelm Dilthey: Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie (1894), in: ders.:
Gesammelte Schriften, Band 5, Leipzig 1924, S. 139-240, hier S. 144.
Matthias Schloßberger
222
Unterscheidung von Natur- und Geisteswissenschaften an. In den Naturwissenschaften erklären wir, in den Geisteswissenschaften verstehen wir.
Von fundamentaler Bedeutung für die Intention von Diltheys Unterscheidung ist, dass es sich beim Verstehen und Erklären primär nicht um
besondere Methoden handelt, sondern um verschiedene Zugangsweisen, die
einmal den Naturwissenschaften, einmal den Geisteswissenschaften zugeordnet werden. Die „Unterscheidung in Natur- und Geisteswissenschaften“ ist
„von dem Unterschiede des Inhaltes, nicht von dem der Erkenntnisweise,
bestimmt“.2 Es ist ein sehr eingeschränkter Begriff von Natur, den Dilthey
hier zu Grunde legt: Die Naturwissenschaften haben es in dieser Perspektive
immer mit res extensa zu tun. Der Naturwissenschaftler interessiert sich lediglich für die Wirkungen, die Körper auf Körper haben. Diese Wirkungen sind
unter gleichen Bedingungen immer dieselben, sie lassen sich daher als Gesetze
beschreiben, die empirisch überprüft werden können. Die Vorgehensweise
der Naturwissenschaften ist insofern verallgemeinernd, das Prinzip der Erklärung ist immer: Ursache und Wirkung, genannt Kausalität.
Beschränkt man den Gegenstandsbereich einer Wissenschaft auf Körper,
dann bleibt das Verständnis des Seelischen ausgeschlossen. Dass wir überhaupt die Erfahrung eigenen wie fremden Seelenlebens machen können, ist
mit dem Begriffsapparat der Naturwissenschaften, die nur die Wirkungen von
Körpern auf Körper kennen, nicht darstellbar, geschweige denn erklärbar.
Diltheys Überlegungen setzten an diesem Problem an. Weil es in den historischen und philologischen Wissenschaften letztlich immer um das Verständnis
fremden Seelenlebens geht, ist, so Dilthey, ein anderer Begriff von Wissenschaft nötig, denn es muss ja eine Bestimmung der besonderen wissenschaftlichen Methode erfolgen, wie fremdes Seelenleben verstanden werden kann.
Dilthey machte es sich aus dieser Motivlage heraus zur Aufgabe, eine erkenntnistheoretische Grundlegung der Geisteswissenschaften zu leisten. Seine
Frage lautete: Wie ist historische Erkenntnis möglich? Es war für ihn dabei
selbstverständlich, dass es darum geht, das Fühlen, Wollen, Denken derjenigen Menschen zu verstehen, denen sich die historische Forschung zuwendet.
Also musste seine Frage lauten: Wie können wir überhaupt etwas von fremdem Seelenleben wissen, was sind überhaupt die Bedingungen der Möglichkeit dafür, dass wir etwas von den Überzeugungen, Absichten und Gefühlen
Anderer wissen können? Dilthey hat sich diese Fragen vorgenommen und ist
dann zu der Überzeugung gekommen, dass es ganz verschiedene Zugangsweisen sind, mit denen wir uns den zu erforschenden Gegenständen zuwenden können. Die Naturwissenschaften beschäftigen sich mit Physischem, die
Geisteswissenschaften hingegen mit Psychischem.
_____________
2
Wilhelm Dilthey: Beiträge zum Studium der Individualität (1895/96), in: ders.: Gesammelte
Schriften, Band V, Einleitung in die Philosophie des Lebens, a.a.O., S. 241-316, hier S. 252.
Diltheys ursprüngliche Einsicht. Verstehen ist Verstehen von Ausdruck 223
In dieser Gegenüberstellung von Natur- und Geisteswissenschaften liegt
etwas Problematisches, das Dilthey bereits selbst gesehen hat. In der Psychologie (verstanden als Wissenschaft vom Bewusstsein), die sich eigentlich mit
dem Psychischen beschäftigt, wird das Psychische in der Regel wie etwas
Physisches behandelt und erforscht. Umgekehrt gibt es Naturwissenschaften,
wie die vergleichende Verhaltensforschung oder die evolutionäre Anthropologie, die verstehende Wissenschaften sind und sich nicht oder nur sekundär
darum kümmern, wie sich z. B. das Arbeiten des Gehirns durch bildgebende
Verfahren erklären lässt.
Dilthey hat im Laufe seines Schaffens zahlreiche Versuche – genauer gesagt: neue Anläufe – unternommen, der Frage nachzugehen, wie wir etwas
von fremden Seelenleben wissen können. Dabei favorisierte er in „Der Einleitung in die Geisteswissenschaften“ (1878) und anderen frühen Texten zunächst noch ganz von dem Paradigma der Naturwissenschaften ausgehend
eine Lösung, die man als Analogieschluss vom fremden mir ähnlichen Körper
auf seelische Vorgänge bezeichnen kann. Später erkannte er dann klar, dass
diese Erklärung zirkulär ist. In den Arbeiten, die in den geplanten 2. Band der
„Einleitung in die Geisteswissenschaften“ einfließen sollten, aber erst nach
seinem Tod 1927 unter dem Titel „Der Aufbau der geschichtlichen Welt in
den Geisteswissenschaften“ von Bernhard Groethuysen herausgegeben wurden, entwickelte er die Idee, dass Verstehen keinen Umweg über die Wahrnehmung von Körpern gehen muss, sondern direkt am Ausdrucksverhalten
ansetzt, und als unmittelbare, d.h. nicht von anderen ableitbare Erfahrung
gedacht werden muss.3
Vorläufer: Verstehen bei Friedrich August Wolf und
Johann Gustav Droysen
Bevor es darum geht, wie in den Diskussionen nach Dilthey der Begriff Verstehen in der Regel in einem deutlich von Dilthey abweichenden Sinn verwendet wird,4 soll gezeigt werden, wie der Begriff „Verstehen“ bereits vor
_____________
3
4
Vgl. Matthias Schloßberger: Die Erfahrung des Anderen. Gefühle im menschlichen
Miteinander, Berlin 2005, Kap. 3: Weder Einfühlung noch Analogieschluß, S. 77-108. Der
Gedanke einer unmittelbaren Erfahrung des Anderen, die am Ausdrucksverhalten ansetzt, wurde nach Dilthey systematisch von Max Scheler weiterentwickelt, allerdings
spielt der Begriff Verstehen bei ihm keine terminologisch bedeutende Rolle mehr.
Vgl. die Materialsammlung, die Karl-Otto Apel zusammengestellt hat: Karl-Otto
Apel: Das Verstehen. Eine Problemgeschichte als Begriffsgeschichte, in: Archiv für Begriffsgeschichte. Bausteine zu einem historischen Wörterbuch der Philosophie, Band
1, Bonn 1955, S. 142-199. Leider thematisiert Apel überhaupt nicht, was für strategische Annahmen hinter bestimmten Umdeutungen stehen, die der Begriff „Verstehen“
Matthias Schloßberger
224
Dilthey eine ausgezeichnete Bedeutung bekommen hat.5 Schon vor Droysens
berühmter „Historik“ wurde in der Hermeneutik mitunter zwischen Verstehen und Erklären unterschieden, so z.B. bei Friedrich Ast6 und Friedrich
August Wolf, allerdings in einer anderen Weise als später bei Droysen, dessen
Unterscheidung der Unterscheidung von Geistes- und Naturwissenschaften
korrespondiert.
Friedrich August Wolf, an dessen Ausführungen ich mich ausschließlich
halte, bestimmt das Wesen der Hermeneutik wie folgt:
Die Hermeneutik oder Erklärungskunst lehrt uns, die Gedanken eines Andern aus ihren Zeichen zu verstehen und zu erklären. Man versteht Jemanden, der uns Zeichen
giebt, dann, wenn diese Zeichen in uns eben dieselben Gedanken und Vorstellungen
und Empfindungen, und in eben der Ordnung und Verbindung hervorbringen, wie
sie der Urheber selbst in der Seele gegenwärtig hatte.
Denkt man an spätere Versuche, den Begriff der Hermeneutik zu bestimmen,
dann fällt eines auf: Es geht hier auch um das Problem des Fremdverstehens
überhaupt, nicht bloß um eine Lehre, wie Sprache bzw. Schrift oder andere
Kunstwerke auszulegen sind. Wolf unterscheidet zwischen Verstehen und
Erklären, um diesen Unterschied zu markieren, d.h. den Unterschied zwischen dem Problem des Fremdverstehens überhaupt und der besonderen
Fähigkeit, das verstandene Fühlen und Denken eines Anderen in einen Zusammenhang zu bringen und zu interpretieren:
Wenn das Erklären der Zeichen so viel ist, als die Ideen und Empfindungen eines
Andern aufzustellen, so kann es im Gemüthe selbst geschehen, oder durch eine wirkliche mündliche oder schriftliche Erklärung. Im ersten Fall versteht man, im zweiten
Fall erklärt man. Jenes muss zum Grunde liegen; wir müssen vorher die Ideen deutlich
fassen. Niemand kann interpretari, nisi subtiliter intellexerit. Allein auch nicht immer
wird es der Fall seyn, dass der, welcher versteht, sich deutlich machen könne durch
Erklärung.
Deutlicher noch wird der Gedanke in folgender Passage, in der Wolf schreibt,
die Hermeneutik fordere zweierlei:
verstehen und erklären. Verstehen heisst, etwas gerade so fassen, wie es der Andere gefasst hat. Dies ist intelligere und geschieht es mit einer besonderen Feinheit, so heisst
es subtilitas intelligendi. Zum subtilen, ganz gründlichen Verstehen muss ich den Gedanken völlig so auffassen, wie der Andere. Hiezu ist aber eine bloße Uebersetzung
_____________
5
6
erfahren hat, und kann so auch nicht sichtbar machen, welche Probleme und Fragestellungen sich verschoben haben bzw. verschwunden sind.
Vgl. in allgemeiner Perspektive: Joachim Wach: Das Verstehen. Grundzüge einer Geschichte
der hermeneutischen Theorie im 19. Jahrhundert, 3 Bände, Tübingen 1926-1933.
Friedrich Ast: Grundlinien der Grammatik, Hermeneutik und Kritik, Landshut 1808.
Diltheys ursprüngliche Einsicht. Verstehen ist Verstehen von Ausdruck 225
nicht ausreichend. Erklären heisst den einzig wahren Sinne eines Satzes mit seinen
Gründen und Beweisen aufstellen.7
Was Wolf hier als Erklären beschreibt, fällt bei den meisten Autoren ebenfalls
unter den Begriff Verstehen, wobei der Unterschied zwischen den beiden
Phänomenen nicht nur begrifflich, sondern auch sachlich oft verloren geht
wie später gezeigt wird. Nicht so bei Dilthey, bei ihm findet sich der Unterschied der Sache nach und wird auch begrifflich benannt, jedoch anders als
bei Wolf. Dilthey spricht von elementarem und höherem Verstehen, um deutlich
zu machen, dass wir zunächst verstehen müssen, dass da überhaupt ein Anderer ist, der etwas fühlt, um dann fragen zu können, warum er dieses und jenes
fühlt. Um dies an einem Beispiel zu erläutern: Bevor wir verstehen können,
dass ein kleines Kind traurig ist, weil es sein Spielzeug verloren hat, müssen
wir verstanden haben, dass es traurig ist, denn nur dann können wir nach dem
warum fragen.
Eine andere Unterscheidung von Erklären und Verstehen findet sich bei
Johann Gustav Droysen. Dilthey konnte in seinem Versuch einer erkenntniskritischen Grundlegung der Geisteswissenschaften bereits auf verschiedene
Vorgaben zurückgreifen, die Droysen in seiner 1858 zum ersten mal erschienenen „Historik“ gemacht hatte. Vielleicht ist Droysen auch der erste gewesen, der an die Begriffe Erklären und Verstehen zwei zu unterscheidende
Formen des Erkennens geknüpft hat: d.h. der erste, der die beiden Begriffe
der Unterscheidung von Natur- und Geisteswissenschaften korrespondieren
lässt. Allerdings unterscheidet Droysen noch drei Formen der Erkenntnis:
Nach den Objekten und nach der Natur des menschlichen Denkens sind die drei
möglichen wissenschaftlichen Methoden: die (philosophisch oder theologisch) spekulative, die physikalische, die historische. Ihr Wesen ist: zu erkennen, zu erklären, zu
verstehen.
Was bedeutet nun Verstehen für Droysen? Warum ist es das „Wesen der
historischen Methode“ forschend zu verstehen? Zunächst fragt Droysen nach
den Bedingungen, die vorausgesetzt werden müssen: „Die Möglichkeit des
Verstehens besteht in der uns kongenialen Art der Äußerungen, die als historisches Material vorliegen.“ Die Rede von kongenialen Äußerungen verweist
auf zweierlei: zum einen muss mir derjenige, den ich verstehe, irgendwie ähnlich sein, zum anderen müssen seine Äußerungen nachvollzogen werden. Was
verstanden wird, muss selbst erlebt werden:
Die Möglichkeit des Verstehens ist dadurch bedingt, dass die geistig-sinnliche Natur
des Menschen jeden inneren Vorgang zu sinnlicher Wahrnehmbarkeit äussert, in jeder
Aeusserung innere Vorgänge spiegelt. Wahrgenommen erregt die Aeusserung, sich in
_____________
7
Friedrich August Wolf’s Vorlesungen über die Alterthumswissenschaft, Erster Band, Vorlesung über die Encyclopädie der Alterthumswissenschaft, hrsg. von J. D. Gürtler, Leipzig 1831,
die Zitate: S. 272, 274, 293.
226
Matthias Schloßberger
das Innere des Wahrnehmenden projizierend, den gleichen inneren Vorgang. Den
Schrei der Angst vernehmend, empfinden wir die Angst des Schreienden u. s. w.8
Verstehen bedeutet für Droysen nicht ein bloßes Wissen, was der Andere
gedacht oder gefühlt hat, sondern einen Vorgang, in dem die Qualität des
fremden Fühlens und Denkens selbst erlebt wird. Diese Form des Wissens,
die einem quasi unmittelbar das fremde Bewusstseinserlebnis vergegenwärtigt,
setzt Ähnlichkeit zwischen dem, der versteht, und dem, der verstanden wird,
voraus. Ohne dies näher auszuführen, nimmt Droysen hier einen Gedanken
in Anspruch, der zu seiner Zeit so etwas wie eine alltagsmetaphysisch geteilte
Grundüberzeugung war. Wilhelm von Humboldt hat sie in seiner Abhandlung Über die Aufgabe des Geschichtschreibers (1822) so ausgedrückt:
Jedes Begreifen einer Sache setzt als Bedingung seiner Möglichkeit in dem Begreifenden schon ein Analogon des nachher wirklich Begriffenen voraus, eine vorhergängige,
ursprüngliche Übereinstimmung zwischen dem Subjekt und Objekt.
Der hier formulierte hermeneutische Zirkel ist noch ganz anthropologisch zu
verstehen: Menschen können sich verstehen, weil sie sich ähnlich sind:
Wo zwei Wesen durch eine gänzliche Kluft getrennt sind, führt keine Brücke der Verständigung von einem zum andern, und um sich zu verstehen, muß man sich in einem
andern Sinn schon verstanden haben.9
Auf der eine Seite erscheint Droysens These attraktiv, dass Verstehen mehr
ist als bloßes Wissen von den Gedanken und Gefühlen Anderer: Wenn wir
von einem Dritten erzählt bekommen, dass einem Anderen dieses oder jenes
zugestoßen ist, und wir seinem Bericht vertrauen, so haben wir ein sehr abstraktes Wissen von dem, was dem Anderen zugestoßen ist, und dem, was er
gefühlt und gedacht hat. Ganz anders verhält es sich, wenn wir vor dem Andern stehen und unmittelbar erleben, d.h. mit den eigenen Sinnen wahrnehmen, was er denkt und fühlt, oder wenn wir uns die Situation des nicht unmittelbar anwesenden Anderen so vergegenwärtigen, als ob wir unmittelbar von
Angesicht zu Angesicht sein Schicksal erleben und an ihm teilnehmen würden. Zweifellos gibt es diesen Unterschied. Aber auf der anderen Seite erweist
sich Droysens Beschreibung, wie wir das Fühlen und Denken des Anderen
verstehen können, als problematisch: „den Schrei der Angst vernehmend“
fühlen wir nicht dieselbe Angst, wie derjenige, den es zu verstehen gilt. In den
Fällen, in denen wir dieselbe bzw. eine ähnliche Angst fühlen, handelt es sich
nicht um Verstehen, sondern um ein Form von Gefühlsansteckung, die noch
_____________
8
9
Johann Gustav Droysen: Historik: Historisch-kritische Ausgabe, hrsg. von Peter Leyh,
Band 1: Rekonstruktion der ersten vollständigen Fassung der Vorlesungen (1857). Grundriß der
Historik in der ersten vollständigen Fassung der Vorlesungen (1857/58) und in der
letzten gedruckten Fassung (1882), Stuttgart-Bad Cannstatt 1977, die Zitate: § 14, S.
424, § 8-10, S. 423.
Wilhelm von Humboldt: Über die Aufgabe des Geschichtschreibers [1822], in: ders.: Ausgewählte Schriften, Berlin 1917, S. 19-43, hier S. 32.
Diltheys ursprüngliche Einsicht. Verstehen ist Verstehen von Ausdruck 227
nichts mit Verstehen zu tun hat, weil nur ein mehr oder weniger ähnliches
Gefühl vorliegt, das aber nicht von der Erfahrung begleitet werden muss:
dieses Gefühl ist eigentlich das Gefühl eines Anderen.10
Wie immer auch der genaue Sinn dieser Passage zu verstehen ist. Der Zusammenhang zwischen Ausdruck und Erlebnis, den Droysen beschreibt, ist
ohne Zweifel vorhanden. Das Nachmachen der fremden Ausdrucksbewegung
kann ein dem Gefühl des Anderen ähnliches Gefühl erzeugen. Eigentliches
Verstehen aber würde verlangen, das Gefühl des Anderen zu erfahren im
Bewusstsein des Anderen als Anderen. Ohne Droysen namentlich zu nennen,
hat Nietzsche treffend das Problem von Droysens Beschreibung analysiert:
Mitempfindung. – Um den Anderen zu verstehen, das heisst um sein Gefühl in uns
nachzubilden, gehen wir zwar häufig auf den Grund seines so und so bestimmten Gefühls zurück und fragen zum Beispiel: warum ist er betrübt? – um dann aus dem selben Grunde selber betrübt zu werden; aber viel gewöhnlicher ist es, dies zu unterlassen und das Gefühl nach den Wirkungen, die es am Anderen übt und zeigt, in uns zu
erzeugen, indem wir den Ausdruck seiner Augen, seiner Stimme, seines Ganges, seiner Haltung (oder gar deren Abbild in Wort, Gemälde, Musik) an unserem Leibe
nachbilden mindestens bis zu einer leisen Ähnlichkeit des Muskelspiels und der Innervation). Dann entsteht in uns ein ähnliches Gefühl, in Folge einer alten Association von Bewegung und Empfindung, welche darauf eingedrillt ist, rückwärts und vorwärts zu laufen.11
Das Verstehen läuft leer und bleibt bei sich. Verstehen des Anderen verlangt
mehr als bloße Mitempfindung oder Ansteckung.
Dilthey: Erlebnis – Ausdruck – Verstehen
In den „Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie“
(1894) stellt Dilthey zum ersten Mal die Bedeutung des Verstehens deutlich
heraus. Verstehen ist für Dilthey Auffassen von Psychischem, von Eigenpsychischem wie von Fremdpsychischem – wobei die Rede vom Fremdpsychischen in einem umfänglichen Sinn gemeint ist und alles Lebendige umfasst,
sofern es beseelt ist. Dilthey unterscheidet eine erklärende oder konstruktive
Psychologie, die versucht, die Erscheinungen des Seelenlebens in Kausalzusammenhänge aufzulösen und dann Schritt für Schritt zu konstruieren, indem
einzelne Elemente isoliert und in ihrer Wirkung aufeinander untersucht werden, von einer beschreibenden und zergliedernden Psychologie, die von den
erlebten Zusammenhängen ausgeht, und von einem Ganzen ausgehend analysiert bzw. zergliedert.
_____________
10
11
Die Verwechslung von Gefühlsansteckung und Verstehen des Anderen ist klar herausgearbeitet bei: Max Scheler: Wesen und Formen der Sympathie, Bonn 1923, S. 112-115.
Friedrich Nietzsche: Morgenröthe 142, in: KSA 3, München 1980, S. 133.
Matthias Schloßberger
228
Eine Psychologie, so Dilthey, die alle Vorgänge des Seelenlebens erklären
möchte, indem sie die Konstitution des Seelischen aus körperlichen Bestandteilen, die kausal aufeinander wirken, hervorgehen lässt, wird auf diesem Wege niemals zum Bewusstsein, niemals zum Erlebniszusammenhang kommen,
weil sie in ihren Begriffen das, was sie erklären will und immer schon in Anspruch nimmt, nicht ausweisen kann: „Durch bloße Hypothesen wird aus
psychischen Elementen und den Prozessen zwischen ihnen das Selbstbewußtsein abgeleitet.“ Da in den Begriffen der Naturwissenschaft, die nur die Wirkungen von Körpern auf Körper kennt, die Erfahrung von Geistigem bzw.
Seelischem nicht fassbar ist, bietet sich für diese Erfahrung ein eigener Name
an: Verstehen – und korrelierend der Begriff Geisteswissenschaften:
Nun unterscheiden sich zunächst von den Naturwissenschaften die Geisteswissenschaften dadurch, daß jene zu ihrem Gegenstand Tatsachen haben, welche im Bewußtsein als von außen, als Phänomene und einzeln gegeben auftreten, wogegen sie in
diesen von innen, als Realität und als ein lebendiger Zusammenhang originaliter auftreten.12
Mit anderen Worten: Die Erfahrung von Psychischem muss als ursprünglich
gegeben angenommen werden. Sie lässt sich aus keiner anderen Erfahrung
ableiten.
Die Naturwissenschaft, so Dilthey in den „Beiträgen zum Studium der
Individualität“ (1895), kann immer nur den Kausalzusammenhang von Körpern erklären, d.h. sie behandelt immer nur „die physische Repräsentation in
Gehirn und Nervensystem“. Einen „lückenlosen Zusammenhang des ganzen
physischen Geschehens nach Gesetzen“ kann sie nur durch die rein hypothetische Annahme erreichen, dass „alle seelischen Äquivalente nur Begleiterscheinungen sind, deren physische Äquivalente dem Naturlauf eingeordnet
werden können“. Selbstverständlich sei mit dem Unterschied von Natur- und
Geisteswissenschaften keine Unterscheidung zweier Klassen von Objekten
gemeint. Es ist dasselbe Objekt, das wir einmal als physischen Körper, einmal
als geistiges, beseeltes Objekt betrachten können. Im einen Fall erklären wir,
im anderen Fall verstehen wir.13
_____________
12
13
Dilthey: Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie, a. a. O., S. 143.
Es ist ein fundamentales Mißverständnis von Diltheys Denken, wenn man wie z. B.
Lessing in den Geisteswissenschaften die Wissenschaften vom Menschen (und des
vom menschlichen Geist Geschaffenen) sieht und so die Abgrenzung zu den Naturwissenschaften als denjenigen Wissenschaften zieht, die sich mit allem beschäftigen,
was unabhängig vom menschlichen Geist entstanden ist. Vgl. Hans-Ulrich Lessing:
Der Zusammenhang von Leben, Ausdruck und Verstehen. Diltheys späte hermeneutische
Grundlegung der Geisteswissenschaften, in: Gudrun Kühne-Bertram / Frithjof Rodi
(eds.): Dilthey und die hermeneutische Wende in der Philosophie. Wirkungsgeschichtliche Aspekte seines Werkes, Göttingen 2008, S. 57-77, hier S. 73. Für Dilthey sind die Geisteswissenschaften die Wissenschaften vom Lebendigen überhaupt: Leben versteht Leben.
Für Dilthey gilt: Wir verstehen auch andere Lebewesen nur, weil sie in ihrem Verhal-
Diltheys ursprüngliche Einsicht. Verstehen ist Verstehen von Ausdruck 229
Sofern es nicht um die eigenen psychischen Gehalte, sondern um diejenigen von Anderen geht, hat Dilthey zunächst noch die Notwendigkeit gesehen, wie eingangs bereits angedeutet, den Umweg über die Wahrnehmung des
fremden Körpers zu nehmen:
Im Unterschied von den Naturwissenschaften entstehen Geisteswissenschaften, weil
wir genötigt sind, in tierische und menschliche Organismen ein seelisches Geschehen
zu verlegen. Von dem, was in unserer inneren Wahrnehmung uns gegeben ist, übertragen wir in sie auf Grund ihrer Lebensäußerungen ein Analogon.14
Dilthey argumentiert hier noch ganz von cartesianischen Prämissen ausgehend: Weil in der cartesianischen Tradition das Psychische mit dem identifiziert wird, was im Bewusstsein erlebt wird, muss das Verstehen des Fremdpsychischen von ganz anderer Art sein als das Verstehen des Eigenpsychischen: es muss indirekt und mittelbar sein. Vom cartesianischen Standpunkt der unmittelbaren Selbstgegebenheit des Psychischen ausgehend kann
das Verstehen des Anderen nur durch ein Hineinverlegen der eigenen psychischen Gehalte in den Anderen, durch Einfühlung, oder – abstrakter –
durch Analogieschlüsse geleistet werden.
Eine Erklärung dieser Art steht bekanntlich vor großen Problemen. Denn
es ist völlig unklar, was ein ego, das noch nicht die Erfahrung eines alter ego
gemacht hat, dazu motivieren sollte, einen Körper qua Einfühlung oder Analogieschluss zu beseelen. Und selbst wenn dies auf wundersame Weise möglich wäre: würde die Erfahrung des Anderen in einem Hineinverlegen der
eigenen psychischen Gehalte in den Körper des Anderen bestehen, so würden wir letztlich immer nur uns selbst verstehen, niemals aber den Anderen in
seiner Individualität.
Auch wenn Diltheys bisher diskutierte Arbeiten die aufgezeigten Probleme aufweisen, bleibt eine wichtige Leistung festzuhalten: Verstehen meint
nicht nur, das, was ein Anderer fühlt oder denkt, zu verstehen, sondern ineins
die Erfahrung des Anderen, den es zu verstehen gilt: Verstehen ist der Vorgang, „in welchem wir aus sinnlich gegebenen Zeichen ein Psychisches, dessen Äußerung sie sind, erkennen“. Ein Psychisches erkennen, heißt: die Erfahrung zu machen: da ist ein anderes ich, ein anderes Lebewesen, fremde
Subjektivität. Bevor man sich der Aufgabe des hermeneutischen bzw. kunstmäßigen Verstehens stellen kann, d.h. der Auslegung und Interpretation von
„dauernd fixierten Lebensäußerungen“,15 muss zunächst die Erfahrung des
Anderen gemacht werden, muss die intersubjektive Sphäre der other minds
erreicht werden. Bevor größere Zusammenhänge verstanden werden können,
_____________
14
15
ten einen Ausdruck zeigen. Verstehen ist also nur dann möglich, wenn die Struktur
des Seelenlebens ähnlich ist.
Dilthey: Beiträge zum Studium der Individualität (1895/96), a. a. O., S. 248 f.
Wilhelm Dilthey: Die Entstehung der Hermeneutik (1900), in: ders.: Gesammelte Schriften
Band VII, a.a.O., S. 317-338, hier S. 318 f.
230
Matthias Schloßberger
müssen die einzelnen Gehalte verstanden werden. Bevor man die Frage stellt,
warum einer traurig ist, muss man verstanden haben, dass er traurig ist. In der
weiteren Geschichte der Hermeneutik im 20. Jahrhundert wurde Verstehen
häufig als Verstehen von Sinn und Bedeutung bzw. als Verstehen von Gründen bestimmt. In einer so verstandenen Hermeneutik geht nicht nur eine
wichtige Dimension von Diltheys Begriff des Verstehens verloren, sondern
seine zentrale Bedeutung.
In seiner erstmals 1927 aus dem Nachlass edierten Arbeit „Der Aufbau
der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften“ findet sich ein neuer
Anlauf, in dem die cartesianischen Prämissen der früheren Arbeiten überwunden werden. Der entscheidende neue Gedanke besteht darin, Erlebnis
und Ausdruck konsequent als zwei Aspekte eines Sachverhaltes zu verstehen.
Dilthey sieht deutlich die Grenzen einer introspektiven Selbsterkenntnis, weil
auch das Selbstverstehen am Ausdruck ansetzt. D.h. in der Regel sind Fremdund Selbstverstehen ganz ähnlich. Wir verstehen auch unsere eigenen Gemütsbewegungen nur, insofern sie im Verhalten erkennbar sind. Was wir
einmal waren, so Dilthey, erfahren wir, wenn wir uns mit uns selbst wie mit
einem Anderen beschäftigen.
Dilthey spricht von einer Trias Erlebnis – Ausdruck – Verstehen um die
These, dass alles Verstehen am Verhalten ansetzt, zu erläutern und sieht so
den Gegenstandsbereich der Geisteswissenschaften klar definiert:
So ist überall der Zusammenhang von Erleben, Ausdruck und Verstehen das eigene
Verfahren, durch das die Menschheit als geisteswissenschaftlicher Gegenstand für uns
da ist. Die Geisteswissenschaften sind so fundiert in diesem Zusammenhang von Leben, Ausdruck, Verstehen. Hier erst erreichen wir ein ganz klares Merkmal, durch
welches die Abgrenzung der Geisteswissenschaften definitiv vollzogen werden kann.
Eine Wissenschaft gehört nur dann den Geisteswissenschaften an, wenn ihr Gegenstand uns durch das Verhalten zugänglich wird, das im Zusammenhang von Leben,
Ausdruck und Verstehen fundiert ist.16
Von der Urtatsache des Psychischen bzw. des Lebendigen ausgehend erschließen sich dann weitere Typen von Erfahrung, die nur innerhalb der Geisteswissenschaften behandelt werden können. Nur für Lebewesen gibt es Bedeutung, Werte, Gründe: Historisches Verstehen ist das Verstehen von
Wirkungszusammenhängen. Es unterscheidet sich von den Kausalzusammenhängen der Natur insofern, als „nach der Struktur des Seelenlebens Werte
erzeugt und Zwecke realisiert“ werden.17
Was meint Dilthey nun, wenn er von Ausdruck in dem ausgezeichneten
Sinn der Trias von Erlebnis – Ausdruck – Verstehen spricht? Ausdruck meint
hier nicht, dass ein Inneres nach Außen tritt, wenn man unter Innerem res
_____________
16
17
Wilhelm Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, in: ders.:
Gesammelte Schriften, Band VII, a.a.O., S. 79-188, hier S. 87.
Ebd., S. 153.
Diltheys ursprüngliche Einsicht. Verstehen ist Verstehen von Ausdruck 231
cogitans und unter Äußerem res extensa versteht. Innen und Außen sind hier
allenfalls Metaphern für zwei Perspektiven auf eine Sache. Wäre dem nicht so,
d.h. gäbe es ein X, für das mal dieser mal jener Ausdruck verwendet wird (z.B.
in Abhängigkeit eines bestimmten kulturellen Umfeldes), dann wäre alles
Ausdrucksverhalten nichts anderes als nonverbale Sprache. Natürlich gibt es
Ausdrucksverhalten in nonverbalen Zeichensystemen, die genauso wie verbale Zeichensysteme funktionieren. Kopfschütteln bedeutet in manchen Kulturen „Ja“, in anderen „Nein“. Aber nicht jedes Ausdrucksverhalten lässt sich
als Zeichensprache verstehen. Es gilt hier, nicht konventionellen und konventionellen Ausdruck zu unterscheiden.18 Wenn das Verstehen von Ausdruck
den ursprünglichsten Modus von Intersubjektivität bezeichnet, d.h. wenn im
Verstehen von Ausdruck die Erfahrung eines alter ego gemacht wird, dann
hat dies weitreichende Konsequenzen für eine Theorie der Intersubjektivität,
die nach allen möglichen Formen der Begegnung im Bewusstsein des Anderen als Anderen fragt: Der Sphäre intersubjektiven Verstehens qua Sprache ist
für Dilthey eine Sphäre des intersubjektiven Verstehens von Ausdrucksverhalten vorgelagert. Jede Theorie der Intersubjektivität, die erst mit der Sprache ansetzt, wäre also zu allgemein, da sie die für Menschen typische Form
der Intersubjektivität nicht ausweist. Schließlich könnte man sich auch Wesen
denken, die qua Sprache kommunizieren, aber kein Ausdrucksverhalten zeigen. Allerdings wäre es schwer vorstellbar, wie es möglich sein soll, dass diese
Wesen, wenn sie nicht immer schon sprechen können, eine Sprache lernen
bzw. in eine Sprache hineinsozialisiert werden.
Die fundamentale Bedeutung des Ausdrucks in Diltheys Theorie wird
vielleicht noch deutlicher, wenn man die verschiedenen Formen des Verstehens analysiert. Dilthey unterscheidet ein elementares Verstehen und ein höheres
Verstehen: Im elementaren Verstehen findet ein Rückgang auf das Ganze des
Lebenszusammenhangs nicht statt. Sein Grundverhältnis „ist das des Ausdrucks zu dem, was in ihm ausgedrückt ist“.19 Ein Beispiel für einen Fall elementaren Verstehens ist der einfache Fall der Wahrnehmung eines Gemütszustandes: Im Lachen des Kindes sehe ich seine Fröhlichkeit. Es ist diese
_____________
18
19
Vgl. meinen Aufsatz: Über die Bedeutung der Kategorie des Ausdrucks für die Philosophische
Anthropologie, in: Accarino / Schloßberger (eds.): Expressivität und Stil. Helmuth Plessners
Sinnes- und Ausdrucksphilosophie (Internationales Jahrbuch für Philosophische Anthropologie, Band 1), Berlin 2008, S. 209-218, sowie meine Rekonstruktion: Die Erfahrung
des Anderen, a. a. O. In den letzten Jahren gibt es von ganz verschiedenen Seiten ausgehend eine starke Renaissance des Themas. Vgl. für die Tradition der Philosophischen Anthropologie und der Lebensphilosophie: Norbert Meuter: Anthropologie des
Ausdrucks. Die Expressivität des Menschen zwischen Natur und Kultur, München 2006; für
die Tradition der Phänomenologie: Dan Zahavi: Expression and Empathy, in: M. Ratcliffe / D. Hutto (eds.): Folk Psychology Re-Assesed, S. 25-40.
Wilhelm Dilthey: Das Verstehen anderer Personen und ihrer Lebensäußerungen (1910), in:
ders.: Gesammelte Werke, Band VII, a.a.O., S. 207 f.
Matthias Schloßberger
232
Erfahrung, in der der Andere überhaupt erst als alter ego wahrgenommen
wird. Habe ich diese Erfahrung gemacht, kann ich das weitere Verhalten
beobachten und nach den Gründen der Fröhlichkeit fragen. Ich kann das
Verhalten eines Anderen in immer größeren Zusammenhängen bis hin zu
einer ganzen Lebensgeschichte sehen. Höheres Verstehen setzt elementares
Verstehen voraus: „Das Verfahren beruht auf dem elementaren Verstehen,
das gleichsam die Elemente für die Rekonstruktion zugänglich macht“.20 Das
Verstehen von Texten, das historische Verstehen ist höheres Verstehen, aber:
es ist immer fundiert in elementarem Verstehen.
Verstehen nach Dilthey
Diltheys Unterscheidung von Erklären und Verstehen war ausgesprochen
erfolgreich. Zwar ist sie immer wieder in Frage gestellt worden, aber letztlich
haben – so mein Eindruck – diejenigen, die sie verteidigt haben, mit guten
Gründen recht behalten. Allerdings ist, so möchte ich im folgenden zeigen,
der eigentliche Sinn, den Dilthey dem Begriff Verstehen gegeben hatte, verloren gegangen.
Eine erste Umdeutung fand bei den Neukantianern statt. Wilhelm Windelband hatte in seiner berühmten Rede „Geschichte und Naturwissenschaft“
noch vor Diltheys „Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie“, die im selben Jahr 1894 erschien, nach dem prinzipiellen Unterschied
zwischen Natur- und Geisteswissenschaften gefragt. Einteilungsprinzip, so
Windelband, sei der formale Charakter der jeweiligen Erkenntnisziele:
Die einen suchen allgemeine Gesetze, die anderen besondere geschichtliche Tatsachen: in der Sprache der formalen Logik ausgedrückt, ist das Ziel der einen das generelle apodiktische Urteil, das der anderen der singulare, assertorische Satz.
Diese Unterscheidung fixierte Windelband begrifflich, als er die naturwissenschaftlichen Disziplinen als nomothetische und die historischen als idiographische
bezeichnete. Obgleich Windelband immer wieder erwähnt wird, wenn es um
die Unterscheidung von Erklären und Verstehen geht, kommen beide Begriffe bei ihm überhaupt nicht vor.21
Heinrich Rickert nahm dann in seiner Methodenschrift „Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft“ eine Windelbands Unterscheidung nomothetisch/idiographisch aufgreifende neue Bestimmung der Begriffe Erklären und
Verstehen vor, die explizit gegen Dilthey gerichtet war. Auch für ihn zeichnen
sich die Naturwissenschaften dadurch aus, dass sie kausal erklärend Wirkun_____________
20
21
Ebd., S. 212
Wilhelm Windelband: Geschichte und Naturwissenschaft (1894), in: ders.: Präludien, Zweiter
Band, Tübingen 1924, S. 136-161, das Zitat S. 144.
Diltheys ursprüngliche Einsicht. Verstehen ist Verstehen von Ausdruck 233
gen der Körperwelt untersuchen. Rickert versuchte jedoch die Unterscheidung von Natur und Geist (wie er in der Unterscheidung von Natur- und
Geisteswissenschaft zum Ausdruck kommt) durch die Unterscheidung Natur
und Kultur bzw. Natur- und Kulturwissenschaft zu ersetzen. Dahinter steckte
begriffspolitische Absicht. Rickert wollte den Begriff der Geisteswissenschaften nicht als Gegenbegriff zu dem der Naturwissenschaft gelten lassen. Gegen
Dilthey wandte er ein, dass man das Psychische doch auch als Natur betrachten könne. So kam er zu dem Schluss, dass sich die verschiedenen Wissenschaften in einer Hinsicht unterscheiden, die sich nicht auf die Unterscheidung von Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft abbilden lasse: Die
Methodenlehre, so Heinrich Rickert, hat vielmehr zu beachten,
daß die einen Disziplinen es mit der wert- und sinnfreien Natur zu tun haben, die sie
unter allgemeine Begriffe bringen, die anderen dagegen die sinnvolle und wertbezogene Kultur darstellen und sich deshalb mit dem generalisierenden Verfahren nicht begnügen.22
In der Sphäre der Kultur haben die Objekte einen Sinn bzw. eine Bedeutung,
in der Sphäre der Natur hingegen muss alles sinn- und bedeutungslos sein. In
der Perspektive, in der die Naturwissenschaften ihre Objekte betrachten, gibt
es keine Werte. Rickerts Unterscheidung war insofern sehr erfolgreich, als sie
von Max Weber übernommen wurde und bis heute in den Sozialwissenschaften wirkungsmächtig ist.23 Im Grunde wurde bereits hier die in den 70er und
80er Jahren geführte Debatte um die Unterscheidung von Gründen und Ursachen vorweggenommen.24 Ein typisches Beispiel aus der Ursachen-versusGründe-Debatte zeigt die Ähnlichkeit der Problemlage: Wenn die Handlung
einer Person erklärt werden soll, dann ist in der Perspektive einer Naturwissenschaft, die nur die Wirkungen von Körpern auf Körper kennt, allein die
Abfolge bestimmter physiologischer Zustände des Körpers interessant. Ein
Zustand verursacht kausal den nächsten etc. In dieser Perspektive können die
Gründe, die eine Person zu einer Handlung veranlassen bzw. während einer
Handlung diese vorantreiben oder unterbrechen, begrifflich nicht gefasst
werden. Möglicherweise motivieren sie den Hirnforscher, nicht beliebige
Hirnzustände zu untersuchen, sondern ganz bestimmte, z.B. diejenigen, die
angenehmen oder unangenehmen Erlebnissen korrespondieren, aber die reine
_____________
22
23
24
Heinrich Rickert: Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, Vorwort zur sechsten und
siebten Auflage, Tübingen 1926, S. XI. Vgl. auch: ders.: Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften,
3. u. 4. verbesserte und ergänzte Auflage, Tübingen 1921.
Max Weber: Ueber einige Kategorien der verstehenden Soziologie (1913), in: ders.: Gesammelte
Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1922, S. 403-450.
Vgl. z.B. die Arbeiten von Davidson und von Wright: Donald Davidson: Handlung
und Ereignis, Frankfurt a. M. 1985; Georg Henrik von Wright: Erklären und Verstehen,
Königstein im Taunus 1974.
234
Matthias Schloßberger
Sicht auf einen physiologischen Zustand, d.h. einen Körper, wird niemals mit
einer Wertung, d.h. mit Sinn oder Bedeutung verbunden sein. Weil unser
Fühlen, Wollen, Denken mit Sinn und Bedeutung verknüpft ist, sprechen wir
von Gründen. Sobald wir die Perspektive des Selbst- oder Fremdverstehens
verlassen und die unseren Handlungen korrespondierenden Körperzustände
untersuchen, gibt es aber weder Sinn noch Bedeutung noch Gründe. Jeder
Versuch, in einem körperlichen Zustand, z.B. demjenigen, der einem Handlungsentschluss korrespondiert, den Handlungsentschluss selbst zu sehen, ist
zirkulär: Jeder Hirnforscher muss, bevor er untersucht, wie eine Folge von
körperlichen Zuständen eine Handlung ergibt, eine Kenntnis von dieser
Handlung haben. Diese Kenntnis muss vorgängig sein. Auf keinen Fall läßt
sich diese Kenntnis verstehen, wenn man nur mit dem Prinzip von Ursache
und Wirkung operiert. Den Grund einer Handlung zu verstehen ist etwas
völlig anderes als die Kausalkette von physiologischen Zuständen zu rekonstruieren. Ein für Gründe blinder Hirnforscher könnte sehr wohl seiner Arbeit nachgehen, aber sie wäre für ihn selbst sinnlos, da er nicht wüsste, was er
eigentlich macht. So richtig es ist darauf zu beharren, dass Gründe verstanden
und Ursachen erklärt werden – im Vergleich mit Diltheys Begriff des Verstehens zeigt sich ein entscheidender Verlust. Die bloße Unterscheidung von
Ursachen und Gründen bzw. von Natur und Kultur ist blind gegenüber der
ontologischen Unterscheidung von Lebendigem und Nichtlebendigem. Wie
im folgenden gezeigt werden soll, nehmen diejenigen, die den Begriff Verstehen nur für die Sphäre der Gründe, nicht aber für die Sphäre des Psychischen
verwenden wollen, etwas in Anspruch, das sie nicht ausweisen können. Die
Rede von Gründen verweist auf die Sphäre der Intersubjektivität, denn nur
im intersubjektiven Gespräch kann sinnvoll von Gründen die Rede sein:
Gründe sind immer Gründe von jemand. Wer von Gründen spricht, muss
also zunächst klären, wie sich Intersubjektivität konstituiert, d.h. wie die Erfahrung des Anderen möglich ist. Diltheys Begriff des Verstehens erweist sich
als attraktiv, weil er ebendies leistet. Verstehen ist Verstehen von Psychischem und bedeutet so immer auch die Erfahrung des Anderen zu machen.
Einer der bekanntesten Versuche, einen vom Ursache-Wirkungs-Prinzip
der Naturwissenschaften unterschiedlichen Typ von Erfahrung namens Verstehen in Frage zu stellen, stammte von Theodore Abel: Letztlich handle es
sich beim Verstehen anderer Personen, so Abel, um eine Folge von Analogieschlüssen vom eigenen Verhalten auf das Verhalten Anderer: „The operation
Verstehen is performed by analyzing a behaviour situation in such a way [...]
that it parallels some personal experience of the interpreter.“ Abel gibt folgendes Beispiel: Es ist kalt und ich sehe, wie mein Nachbar von seinem
Schreibtisch aufsteht, ins Freie geht und Holz hackt, um dann seinen Kamin
zu heizen. Also gehe ich davon aus, dass mein Nachbar gefroren hat, weil
ich in einer ähnlichen Situation ebenso gehandelt hätte. Abel sieht daher im
Diltheys ursprüngliche Einsicht. Verstehen ist Verstehen von Ausdruck 235
Verstehen der Geisteswissenschaften keine Methode, die unserem Wissen
etwas hinzufügen würde, das wir nicht schon aus eigener Erfahrung kennen
würden: „The operation of Verstehen does not, however, add to our store of
knowledge already validated by personal experience.“ 25
Karl-Otto Apel hat Versuche wie denjenigen Abels, die Tatsache eines eigenen Typs von Erfahrung namens Verstehen zu leugnen, scharf kritisiert:
Die intersubjektive Verständigung, so Apel, kann durch keine Methode objektiver Wissenschaft ersetzt werden: Wir reden in einer intersubjektiv geteilten
Sprache über die Dinge, die uns umgeben. Jeder Naturwissenschaftler, der die
Gesetze der kausal geschlossenen Körperwelt untersucht, bedient sich der
Begriffe einer intersubjektiv geteilten Sprache. Er nimmt also etwas in Anspruch, das er dem eigenen Selbstverständnis gemäß nicht in Anspruch nehmen kann.26 So treffend Apels Kritik ist, sie trifft noch nicht das eigentliche
Missverständnis Abels. Wenn Abel annimmt, dass ein von Analogieschlüssen
geleitetes Verstehen unserem Wissen nichts hinzufügt, dann übersieht er zwei
grundsätzliche Probleme. Zum einen geht es nicht nur darum, dass wir unser
Wissen in einer intersubjektiv geteilten Sprache kommunizieren, sondern es
geht auch um die Bedingungen der Intersubjektivität selbst. Verstehen meint
auch die Erfahrung des Anderen zu machen. Diese kann durch keinen Analogieschluss geleistet werden. Analogieschlüsse auf das Verhalten Anderer sind
nur möglich, wenn der Andere schon als Anderer erkannt ist. Die ursprüngliche Erfahrung des Anderen kann aber nicht durch einen Schluss gemacht
werden, jeder Versuch einer Erklärung in dieser Richtung ist in einem
schlechten Sinn zirkulär. Zum anderen lässt sich aber auch das Selbstverstehen nicht im Sprachspiel der erklärenden Wissenschaften beschreiben. Jedes
Erlebnis, das als physisches Ereignis beschrieben wird, ist, beschrieben als
physisches Ereignis, nur noch ein physisches Ereignis.
Auch ist zu bedenken, dass sich das Verstehen von Gemütszuständen –
Diltheys elementares Verstehen – in einem hermeneutischen Zirkel vollzieht,
der vom hermeneutischen Zirkel des Textverstehens verschieden ist. Unser
Verstehen von Worten, die Gefühle bezeichnen, bewegt sich, so Charles
Taylor, „unausweichlich in einem hermeneutischen Zirkel“: Ein Wort wie z.B.
Scham verweist auf eine beschämende bzw. demütigende Situation. Es lässt
sich nur unter Bezug auf Begriffe erklären, die
wiederum nicht ohne Bezug auf Scham verstanden werden können. Um diese Begriffe
zu verstehen, müssen wir uns mit einer bestimmten Erfahrung auskennen, wir müssen
eine bestimmte Sprache verstehen, nicht nur die der Worte, sondern auch eine bestimmte Sprache der wechselseitigen Aktion und Kommunikation.
_____________
25
26
Theodore Abel: The operation called Verstehen, in: The American Journal of Sociology,
1948, S. 211-218, hier S. 218.
Karl-Otto Apel: Transformation der Philosophie, Band II, Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft, Frankfurt a. M. 1973, S. 101-127.
Matthias Schloßberger
236
Die Sprache der Gefühle einer uns fremden Kultur können wir nur verstehen, wenn wir uns in den Anderen hineinversetzen.27 Taylor will uns sagen:
Um ein Gefühl wie Scham zu verstehen, müssen wir mit dem Gefühl bereits
bekannt sein, wir müssen zumindest ein ähnliches Gefühl aus eigener Erfahrung kennen. Etwas vollkommen Fremdes können wir nicht verstehen. Soweit leuchtet Taylors Argument ein. Ob es jedoch sinnvoll ist, das Verstehen
von Gefühlen als ein Sich-in-den-Anderen-Versetzen zu beschreiben, ist eher
fragwürdig. Denn es ist nicht ganz klar, was diese Redeweise genau bedeuten
soll: Versteht man die Redeweise wortwörtlich, dann findet nämlich gar kein
Verstehen des Anderen statt. Versetze ich mich an die Stelle des Anderen,
dann verstehe ich lediglich mich selbst an der Stelle des Anderen.
Entscheidend ist hier aber ein anderer Gedanke: Der hermeneutische
Zirkel, der vorliegt, wenn Gemütszustände verstanden werden, verweist auf
das Verstehen einer Bedeutung, die jenseits der Bedeutung von kontingenten
Zeichen in einer Sprache liegt. Die Bedeutung eines Wortes wird noch nicht
allein durch seinen Gebrauch in der Sprache verständlich. Die Regeln einer
Sprache bleiben unverständlich bzw. sinnlos ohne die Erfahrung, die sprachlich artikuliert werden soll. Insofern ist es problematisch, den Begriff des
Verstehens einseitig an das Verstehen von Texten (Hermeneutik) bzw. von
propositionalen Ausdrücken (sprachanalytische Philosophie) zu binden. In
der berühmten Formulierung von Gadamer heißt es: „Sein, das verstanden
werden kann, ist Sprache“.28 Der Satz wäre richtig, wenn ihm ein Begriff von
Sprache zu Grunde liegen würde, der die enge Definition der Sprache in
Hermeneutik und analytischer Sprachphilosophie transzendiert und jene
Sprache des Ausdrucks miteinbezöge, in der Zeichen und Bezeichnetes untrennbar verbunden sind. Die Traurigkeit und der trauernde Ausdruck lassen
sich nicht voneinander trennen. Wir könnten uns nicht mehr verstehen, wenn
es sich in allen Fällen des Ausdrucksverstehens so verhalten würde wie bei
Gesten, die wie das Kopfschütteln, in der einen Kultur so und in der anderen
anders kodiert sind.
Zurecht wurde gegen die Idee des hermeneutischen Zirkels der Texthermeneutik eingewandt, dass es sich doch eigentlich um eine hermeneutische
Spirale handle. Das Verstehen einer einzelnen Passage eines Textes setzt das
Verstehen des ganzen Textes voraus und umgekehrt. Aber: wiederholte Lektüre führt zu einem immer neuen (vielleicht tieferen) Verstehen, weshalb es
sich strenggenommen nicht um einen Zirkel, sondern um eine Spirale han_____________
27
28
Charles Taylor: Erklärung und Interpretation in den Wissenschaften vom Menschen, Frankfurt
a. M. 1975, S. 166 f.
Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1960, S. 450.
Diltheys ursprüngliche Einsicht. Verstehen ist Verstehen von Ausdruck 237
delt.29 Ähnlich verhält es sich, wenn es um das Verstehen von Gemütszuständen geht: um den Anderen zu verstehen, muss ich das Gefühl, das ich verstehe, schon kennen. Dennoch verändert sich unser Verstehen ständig, wir lernen die Anderen zu verstehen und verstehen so immer etwas Neues, so wie
wir auch lernen (müssen) uns selbst zu verstehen.
Die sprachanalytische Philosophie und die jüngere Hermeneutik seit Gadamer haben viel zu dem Nachweis beigetragen, dass der naturalistische und
positivistische Versuch, die Unterscheidung von Erklären und Verstehen
einzuebnen, scheitert. Aber die starke (vielleicht zu einseitige Orientierung) an
der Sprache hat dazu geführt, dass Problem der Intersubjektivität zu unterschätzen. Erst wenn wir die Erfahrung Anderer gemacht haben, können wir
die intersubjektive Bühne der Sprache betreten und erst in der Sphäre der
Sprache sind Gründe als Gründe verstehbar. Dilthey hatte dieses Problem
klar erkannt, als er zwischen elementarem und höherem Verstehen unterschied. Erst müssen wir ein alter ego als alter ego erkennen, indem wir einen
Gemütszustand verstehen,30 dann können wir seine Handlungen, seine Gründe, seine Aussagen verstehen. Erst machen kleine Kinder die Erfahrung: da
vor mir ist ein Anderer, der dieses oder jenes fühlt, will, beabsichtigt, und erst
dann können die Worte des Anderen als Worte des Anderen aufgefasst und
verstanden und die Personalpronomina sinnvoll verwendet werden.
_____________
29
30
Vgl. Dieter Teichert: Erinnerung, Erfahrung, Erkenntnis. Untersuchungen zum Wahrheitsbegriff der Hermeneutik Gadamers, Stuttgart 1991, 154-158.
Die Redeweise ‚den Gemütszustand eines Anderen zu verstehen‘ meint nicht, den
sinnlichen Zustand eines Anderen zu verstehen. Wenn jemand Zahnschmerzen hat,
dann verstehe ich nicht das sinnliche Gefühl (den „Schmerz“), sondern dass der Andere an seinen Zahnschmerzen leidet, d.h. dass er dieses sinnliche Gefühl als
schmerzhaft erlebt. Die Sprache verschleiert diese Unterscheidung, weil wir, wenn wir
von „Schmerzen“ sprechen, zwei verschiedene Sachen meinen: einmal das sinnliche
Gefühl als sinnliches Gefühl, das andere mal das sinnliche Gefühl so wie wir es auffassen – angenehm oder unangenehm etc.
Kein Etwas, aber auch nicht ein Nichts.
Nachdenken über Empfindungen und Gefühle
im Anschluss an Wittgenstein
Christoph Demmerling
Im normalen Wachleben erleben wir immer irgendetwas und auch in Situationen, in denen wir nicht mit einer Vielzahl von Wahrnehmungen und Handlungsanforderungen konfrontiert sind, spüren wir etwas, beschäftigt uns etwas
und geht uns etwas ‚durch den Kopf’. Handelt es sich dabei um Vorgänge, die
auf einer inneren Bühne spielen, eingesperrt in die Seelenkammern einzelner
Individuen? Diese Vorstellung und die mit ihr einhergehende Unterscheidung
zwischen körperlichen und geistigen Phänomenen ist in der Geschichte der
abendländischen Philosophie ebenso verbreitet wie im Rahmen der im Alltagsleben gängigen vortheoretischen Annahmen über die psychischen bzw.
geistigen Zustände anderer Lebewesen.
Um sich auf die körperliche Seite eines Menschen zu beziehen, benutzt
man in der philosophischen, aber auch in der alltäglichen Rede häufig das
Wort „außen“, mit dem Wort „innen“ hingegen bezieht man sich auf die
Seele des Menschen oder seinen Geist. „Außen“ bedeutet soviel wie „in der
Welt verkörpert“, „raum-zeitlich-lokalisierbar“, mit „innen“ hingegen bezieht man sich auf nicht (notwendigerweise) in der Welt Verkörpertes oder
raum-zeitlich Lokalisierbares. Empfindungen, Gefühle, aber auch Gedanken gelten in diesem Sinne als Phänomene, die einer Innenwelt zugehören.
Immer wieder wird im Rahmen der Innenweltvorstellung davon ausgegangen,
dass es sich bei Gedanken und Gefühlen um subjektive Phänomene, ja sogar
um private Zustände von Individuen handelt, auf die man zurückgreifen
muss, wenn man sich die Verhaltensweisen und Handlungen von Individuen
verständlich machen möchte.
Der vorliegende Beitrag skizziert eine Alternative zu dieser mentalistischen Position, indem er sich mit verschiedenen Überlegungen auseinandersetzt, die Wittgenstein dem Zusammenhang von Sprache, Gefühl und Empfindung gewidmet hat. Auf den ersten Blick sieht es so aus, als würde
Wittgenstein eine ungebrochen ‚lingualistische’ Auffassung vertreten, der
zufolge Gedanken, Gefühle oder Empfindungen sprachliche Fähigkeiten im
Sinne notwendiger Bedingungen voraussetzen. Ein zweiter Blick macht indessen schnell deutlich, dass es ganz so einfach nicht ist und Wittgenstein keine
Christoph Demmerling
240
krude Sprachabhängigkeitsthese vertritt. Er vertritt ebenfalls keine logisch
behavioristische Sicht der Dinge, der zufolge Gedanken, Wünsche oder Gefühle auf das Sprachverhalten reduziert werden können, welches mit ihnen
einhergeht.1 Psychische oder geistige Phänomene sind ein Teil der Wirklichkeit, auch wenn es sich nicht im selben Sinne wie bei raumzeitlich lokalisierbaren Objekten in der Außenwelt um Gegenstände handelt. Diese Phänomene sind nicht ‚in’ uns, weder im Geist noch im Gehirn, so wie die
Gegenstände im Raum sind. Meine Auffassung lautet: Psychische und geistige
Phänomene sind Weisen unseres Welt- und Selbstbezugs, die sich in Form von Symbolen
sowie in leiblichen Vollzügen materialisieren. Mit diesen Weisen des Welt- und Selbstbezugs verhalten sich Personen zu sich und zu anderen, mit ihnen situieren Personen sich in
der Welt.
In einem ersten Schritt erläutere ich Wittgensteins Sicht des Verhältnisses
von Sprache und innerer Erfahrung primär unter sprachphilosophischen
Gesichtspunkten (I). Im zweiten Teil diskutiere ich mit den Arbeiten Hans
Julius Schneiders einen Vorschlag aus der neueren Diskussion, der an Wittgensteins Verständnis des Inneren anknüpft. (II). Der letzte Abschnitt folgt
der durch Schneiders Wittgenstein-Lektüre vorgegebenen Linie, plädiert aber
für eine stärkere Berücksichtigung phänomenologischer Gesichtspunkte, die
erforderlich sind, um ein zureichendes Verständnis derjenigen Phänomene zu
entwickeln, die immer wieder einer Innenwelt zugeschlagen werden (III).2
Mein Interesse gilt dabei in erster Linie Empfindungen und Gefühlen.
I. Das Problem einer privaten Sprache und die Unterscheidung
von Innen und Außen
Die bedeutendsten Ausführungen Wittgensteins zur Frage nach dem Verhältnis von Sprache und innerer Erfahrung finden sich im Zusammenhang mit
seinen Überlegungen zur Unmöglichkeit einer Privatsprache. Wittgensteins
_____________
1
2
Eine behavioristische Lesart pflegt zum Beispiel die Rekonstruktion von Gottfried
Seebaß: Das Problem von Sprache und Denken, Frankfurt a. M. 1981, S. 380 ff.
Es ist nicht der erste Anlauf, den ich unternehme, um das Verhältnis zwischen der
Sprache und den so genannten inneren Zuständen zu bedenken. Vgl. Christoph
Demmerling: Denken – Überlegungen zum Verhältnis von Sprache und inneren Zuständen, in:
G.W. Bertram / D. Lauer / J. Liptow / M. Seel (eds.): Die Artikulation der Welt. Über
die Rolle der Sprache für das menschliche Denken, Wahrnehmen und Erkennen, Frankfurt a. M.
2006, S. 31-47; ders.: Brauchen Gefühle eine Sprache? Überlegungen zur Philosophie der Psychologie, in: H. Landweer (ed.): Struktur und Funktion der Gefühle, Berlin 2007, S. 19-33;
ders.: Implizit und Explizit. Überlegungen zum Verstehensbegriff im Anschluss an Heidegger und
Brandom, in: B. Merker (ed.): Verstehen nach Heidegger und Brandom. Phänomenologische Forschungen, Beiheft 3, Hamburg 2009, S. 61-78. Überlegungen aus diesen Texten sind in
modifizierter Form auch in den vorliegenden Aufsatz eingegangen.
Kein Etwas, aber auch nicht ein Nichts
241
Hauptbeispiel in diesem Zusammenhang sind Empfindungen wie Schmerzen.
Das so genannte Privatsprachenargument hat eine kaum überschaubare Menge exegetischer Literatur hervorgebracht, zum Teil ganz unterschiedliche
Deutungen erfahren. Inzwischen gehört es zu den Gemeinplätzen der Diskussion um Wittgenstein, dass die Literatur zum Argument eher in die Irre
führt als orientiert.3
In Wittgensteins Überlegungen geht es unter anderem um die Frage, ob
eine Sprache möglich ist, die nur von einer einzigen Person verstanden (und
gebraucht) werden kann. Wittgenstein denkt hier nicht an den Fall, in dem
eine Sprache zufälligerweise nicht geteilt wird (das wäre der Fall Robinsons,
der auf seiner einsamen Insel einfach keine Gelegenheit hat, seine Sprache mit
jemandem zu teilen in dem Sinne, dass Robinson aktuell keine Möglichkeit
hat, mit jemandem ein Gespräch zu führen), sondern er denkt an den Fall, in
dem eine Sprache aus prinzipiellen Gründen nicht geteilt werden kann, weil
sich ihre Ausdrücke auf private Erlebnisse beziehen, auf Erlebnisse, die nur
demjenigen bekannt sind, der diese Erlebnisse hat. In diesem Sinne ist eine
Sprache genau dann privat, wenn die Bezugsgegenstände der Ausdrücke, die
jemand verwendet, anderen nicht bekannt sind.
Eine zentrale Passage, in der sich Wittgenstein mit dieser Thematik auseinandersetzt, ist der § 258 der Philosophischen Untersuchungen. Hier stellt er sich
eine Person vor, welche über das Auftreten bestimmter ihrer Empfindungen
ein Tagebuch führt. Eine ihrer Empfindungen bezeichnet diese Person mit
dem als Namen verwendeten sprachlichen Zeichen „E“. Sobald die Empfindung auftritt, notiert die Person ein „E“ in ihrem Tagebuch. Tritt die Empfindung zum Beispiel am Montag, Mittwoch und Freitag auf, verzeichnet die
Person am Montag, Mittwoch und Freitag ein „E“ in ihrem Tagebuch. Die
Überlegung Wittgensteins läuft darauf hinaus, dass die betreffende Person
über keine Kriterien verfügt, die es ihr erlauben, zu entscheiden, ob sie den
Ausdruck „E“ in der richtigen Weise verwendet. Er schreibt: „Man möchte
hier sagen: richtig ist, was immer mir als richtig erscheinen wird. Und das
heißt nur, daß hier von ‚richtig’ nicht geredet werden kann.“4
Die Idee von einer privaten Sprache und von sprachlichen Ausdrücken,
die nur einer unmittelbaren und inneren Erfahrung zugängliche Objekte bezeichnen und zu denen diejenigen, welche diese Erfahrung machen, einen
_____________
3
4
Vgl. dazu Stewart Candlish: Wittgensteins Privatsprachenargumentation, in: E. v. Savigny
(ed.): Wittgensteins Philosophische Untersuchungen, Berlin 1998, S. 143-165, S. 143; eine
knappe Skizze der Debatte um das Privatsprachenargument findet sich bei Thomas
Blume: Wittgensteins Schmerzen. Ein halbes Jahrhundert im Rückblick, Paderborn 2002. Eine
ausführlichere Übersicht über die Fragen und Argumente, welche die neuere Debatte
bestimmen, enthält das Buch von Severin Schroeder: Das Privatsprachenargument. Wittgenstein über Ausdruck und Empfindung, Paderborn 1997.
Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, Oxford 1953, § 258.
Christoph Demmerling
242
privilegierten Zugang haben, ist ein maßgebliches Element im Rahmen der
Innen-Außen-Vorstellung, mit der sich Wittgenstein vor allem in seinem
letzten Lebensjahrzehnt immer wieder auseinandergesetzt hat. Die wesentliche Zielrichtung dieser Überlegungen besteht darin, deutlich zu machen,
dass geistige oder psychische Phänomene nicht als Gegenstände oder Vorgänge im Inneren von Sprechern aufgefasst werden sollten, von denen die
Verhaltensweisen der Sprecher als äußere Vorgänge künden. Wer die Auffassung ablehnt, dass sich im Inneren eines Menschen nur diesem einsichtige
Prozesse und Vorgänge abspielen, ganz gleich, ob es sich um Gedanken,
Wahrnehmungen bzw. Sinnesdaten, Gefühle oder Empfindungen handelt,
gerät schnell in den Verdacht, eine behavioristische Position zu vertreten, der
zufolge es keine inneren Erfahrungen gibt, sondern lediglich Verhaltensweisen und Handlungsdispositionen.
Wittgensteins Überlegungen dürfen jedoch nicht in diesem Sinne verstanden werden, zumal man schnell deutlich machen kann, dass behavioristische Positionen allenfalls eine Hälfte des Innen-Außen-Bildes verabschieden,
indem sie die Dimension des Inneren destruieren, während es Wittgenstein
um die Destruktion des gesamten Bildes und aller mit ihm verbundenen Vorstellungen geht. Im Zusammenhang mit der Rede über geistige bzw. psychische Phänomene weist der Behaviorismus lediglich die Vorstellung von einer
Innenwelt zurück, behält aber den Rekurs auf äußere Kriterien bei. Dem
Behavioristen zufolge hat das Innere keine Funktion, es lässt sich auf Verhalten reduzieren und kann vollständig mit Hilfe physischer Prädikate beschrieben werden. Wittgenstein zeichnet ein differenzierteres Bild der Sachlage.
In einer zentralen Passage aus den Philosophischen Untersuchungen lässt er
jemanden sagen: „Aber du wirst doch zugeben, daß ein Unterschied ist, zwischen Schmerzbenehmen mit Schmerzen und Schmerzbenehmen ohne
Schmerzen“ Die Antwort lautet: „Zugeben? Welcher Unterschied könnte
größer sein!“ Darauf bemerkt der Gesprächspartner: „Und doch gelangst du
immer wieder zum Ergebnis, die Empfindung selbst sei ein Nichts.“ Der
Angesprochene schließlich bemerkt dazu: „Nicht doch. Sie ist kein Etwas,
aber auch nicht ein Nichts!“ Der Passus schließt mit der Bemerkung: „Das
Ergebnis war nur, daß ein Nichts die gleichen Dienste täte, wie ein Etwas,
worüber sich nichts aussagen läßt. Wir verwarfen nur die Grammatik, die sich
uns hier aufdrängen will.“5
Wittgenstein richtet sich zum einen gegen mentalistische Konzeptionen
des Inneren, denen zufolge sich Ausdrücke wie „Enttäuschung“ oder
„Schmerz“ in dem Sinne auf Vorgänge im Inneren beziehen, in dem sich
Ausdrücke wie „Tisch“ auf Gegenstände in der äußeren Welt beziehen. Deshalb sagt er, Schmerzen seien kein Etwas. Obwohl kein Etwas, sind Schmer_____________
5
Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, a.a.O., § 304.
Kein Etwas, aber auch nicht ein Nichts
243
zen auch kein Nichts, womit Wittgenstein sich gegen behavioristische Konzeptionen richtet, denen zufolge sich psychische Phänomene vollständig im
Rückgriff auf Verhaltensweisen und Dispositionen erläutern lassen. Es ist
nicht ganz leicht auszumachen, welcher Stellenwert dem Inneren in Wittgensteins Sicht beizumessen ist, wovon eine Vielzahl divergierender Interpretationen zeugt.6 Klarheit besteht einzig über den Weg, der Wittgenstein zufolge
einzuschlagen ist, wenn man zu einem angemessenen Verständnis des Inneren gelangen möchte. Der Weg ist ein sprachkritischer Weg, da es darum geht,
die Grammatik zu verwerfen, die sich im Zusammenhang mit der Verwendung
von Empfindungsausdrücken aufdrängt.
Was den Stellenwert des Inneren betrifft, so kann man immerhin soviel
sagen: Innere Vorgänge wie Schmerzen, gleiches gilt für alle affektiven Phänomene, insbesondere auch für Gefühle, stellen – wie Wittgenstein manchmal
sagt – natürliche und primitive Reaktionen dar, die in der Interaktion eines
Organismus mit seiner Umwelt entstehen. Bei Wesen, die über eine Sprache
verfügen und auf komplexe Weise mit anderen sprachfähigen Wesen interagieren, erhalten die betreffenden Reaktionen durch expressive und dialogische Artikulation sowie durch die Einbettung in eine sprachliche Umgebung
als psychologische Prädikate einen Gehalt, der identifiziert und re-identifiziert
werden kann. Dasjenige, was große Teile der Philosophie der Neuzeit in die Innenwelt
von Subjekten verlegt haben, siedelt Wittgenstein in der Sprache an. Erst durch seine Verbindung mit Sprachspielen erhält das Innere seine charakteristische Kontur und Schärfe.
Die Sprache verleiht dem Inneren Gehalt und Substanz, indem Bedeutsamkeitsbezüge
hergestellt und aufgespannt werden.
Man kann die grundsätzliche Zielrichtung, die hinter Wittgensteins Überlegungen steckt, als Versuch einer Externalisierung des Inneren charakterisieren. Es wird allerdings nicht in die Außenwelt verlagert oder in Verhaltensweisen aufgelöst, sondern in die Sprache verschoben. Für diese Strategie gibt es
ein Vorbild in einem anderen Zusammenhang. Zu erinnern ist an die Psychologismuskritik Freges im Kontext der Frage, worin eigentlich die Geltung
logischer Sätze besteht. Als „psychologistisch“ in einem allgemeinen Sinne
gelten Positionen, denen zufolge die Art und Weise, in der Menschen die
Welt erfahren, von subjektiven Denk- und Erfahrungsbedingungen abhängen,
die sich im Prinzip mit den Mitteln der Psychologie empirisch untersuchen
lassen. Im engeren Sinne werden alle Versuche die Logik in der Psychologie
zu begründen als „psychologistisch“ bezeichnet.
_____________
6
Um nur wenige Arbeiten zu nennen, verweise ich auf Joachim Schulte: Erlebnis und
Ausdruck. Wittgensteins Philosophie der Psychologie, München 1987; Hans-Johann Glock:
Innen und Außen. ‚Eine ganze Wolke von Philosophie kondensiert zu einem Tröpfchen Sprachlehre’, in: E. v. Savigny / O. Scholz (eds.): Wittgenstein über die Seele, Frankfurt a. M. 1993,
S. 233-252.
Christoph Demmerling
244
Halten wir ein Zwischenergebnis fest: Eine mentalistische Position wird
von Wittgenstein dezidiert abgelehnt. Und die auf den ersten Blick naheliegende Alternative des Behavioristen macht sich Wittgenstein ebenfalls nicht
zu Eigen. Wittgensteins Hinweise auf die Rolle der Sprache bzw. von Sprachspielen legen nun nahe, die von ihm anvisierte Konzeption in einem ‚lingualistischen’ Sinne zu verstehen. Aber auch diese Etikettierung ist nicht hilfreich,
da sie an der Sache vorbeigeht. Um die durch die Spuren von Mentalismus,
Behaviorismus und Lingualismus eingefahrenen Bahnen zu verlassen, diskutiert der nächste Abschnitt einen Rekonstruktionsvorschlag der einschlägigen
Überlegungen Wittgensteins, den Hans Julius Schneider in mehreren seiner
Arbeiten entwickelt hat.7
II. Das Innere als Sprachspiel?
Schneider hat verschiedene Anläufe unternommen, um einen Vorschlag zum
Verständnis von Wittgensteins Position zu erarbeiten, sofern diese über eine
bloße Kritik am Mentalismus hinausgeht. Wenn Menschen über psychische
oder geistige Vorgänge reden, dann beziehen sie sich auf nichts, was in ihrer
Innenwelt vor sich geht. Wenn sich die Wörter, die wir dafür benutzen, um
uns vermeintlich auf etwas in der Innenwelt zu beziehen, nicht in einem wörtlichen Sinne auf Gegenstände beziehen, dann müssen sie anders verstanden
werden und haben eine andere Funktion als jene des Gegenstandsbezugs.
Ausgangspunkt der Überlegungen Schneiders ist Wittgensteins Kritik an einer
Namenstheorie bzw. Abbildtheorie der Bedeutung. Eine solche Theorie habe
Wittgenstein im Tractatus vertreten. Da Schneider im Unterschied zu vielen
anderen Interpreten Wittgensteins der Auffassung ist, dieser habe sich gar
nicht so sehr an Bildern und ihrer Funktion orientiert, sondern vielmehr an
der musikalischen Notenschrift, spricht er von einem Notationsmodell der Sprache und schreibt:
Wie die Ordnung der Noten in einer Partitur der Ordnung der Töne in einer Aufführung des zugehörigen Werkes entspricht, so soll die Ordnung der sprachlichen Ausdrücke im Satz der Ordnung der Gegenstände in der Welt entsprechen.8
_____________
7
8
Ich beziehe mich in erster Linie auf Hans Julius Schneider: ’Den Zustand meiner Seele
beschreiben’ – Bericht oder Diskurs?, in: W. R. Köhler (ed.): Davidsons Philosophie des Mentalen, Paderborn 1997, S. 33-51; ders.: Mentale Zustände als metaphorische Schöpfungen, in: W.
Kellerwessel / T. Peuker (eds.): Wittgensteins Spätphilosophie. Analysen und Probleme,
Würzburg 1998, S. 209-226; ders.: Reden über Inneres. Ein Blick mit Ludwig Wittgenstein
auf Gerhard Roth, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 53/4 (2005), S. 743-759;
ders.: Religion, Berlin 2008.
Hans Julius Schneider: Religion, a.a.O., S. 67; zur Rolle des Notationsmodells in Wittgensteins Denken vgl. Hans Julius Schneider: Satz – Bild – Wirklichkeit. Vom Notations-
Kein Etwas, aber auch nicht ein Nichts
245
Im Rahmen dieses Modells besteht die wichtigste (um nicht zu sagen: die
einzige) Funktion der Sprache darin, Gegenständen und Sachverhalten zu
entsprechen. Orientiert man sich am Sprachgebrauch der empirischen Wissenschaften wie der frühe Wittgenstein, mag sich ein derartiges Modell aufdrängen. Wie der spätere Wittgenstein weist auch Schneider den Allgemeinheitsanspruch dieses Modells zurück, auch wenn es in Teilbereichen durchaus
seine Berechtigung haben mag.
Eine Antwort auf die Frage nach der Reichweite des Notationsmodells
hängt von dem Gegenstandsbereich ab, in Bezug auf den es zur Anwendung
kommen soll. Im Kontext eines (natur-)wissenschaftlichen Sprachspiels über
raumzeitlich lokalisierbare Gegenstände in der Außenwelt bereitet es keine
großen Schwierigkeiten, die Ausdrücke der Sprache als Namen für Gegenstände aufzufassen. Ganz anders stellt sich die Lage jedoch dar, sofern man
sich über Themen der Ethik, Psychologie, Religion oder Mathematik verständigt. Auf diesen Gebieten wird – wie Schneider geltend macht – nicht einfach
über etwas geredet, weil kein im einfachen Sinne wahrnehmbares Etwas im
Sinne eines raumzeitlich lokalisierbaren Gegenstandes dingfest zu machen
ist.9
Es ist überaus plausibel, zwischen der Art und Weise zu unterscheiden, in
der wir die Sprache gebrauchen, wenn wir über die Außenwelt bzw. Gegenstände in der Außenwelt reden, und der Art und Weise, in der wir sie verwenden, wenn wir uns über Themen der Ethik, Psychologie, Religion und Mathematik verständigen. Die Redebereiche der Ethik, Psychologie, Religion
und Mathematik sind zwar im Einzelnen sehr unterschiedlich, teilen sich aber
das gemeinsame Merkmal, dass das Nichtgegenständliche eine größere Rolle
spielt als im Kontext der Rede über die Außenwelt. Im Folgenden soll es vor
allem um die Rede über Inneres gehen.
Das Innere, so macht Schneider geltend, habe seinen Ort nur in Sprachspielen, wobei es allerdings falsch sei, es darum als „bloß verbal“ zu bezeichnen.10 Schneiders Versuch, den Gegensatz zwischen „sprachlich konstruiert“
und „nicht nur verbal“ zu überwinden, ist in systematischer Perspektive alternativlos. Es geht darum, den ja auch von Wittgenstein immer wieder akzentuierten Zusammenhang von Sprachspielen und Lebensformen einer feinkörnigen Explikation zuzuführen. Schneider stützt seine Überlegungen mit Hilfe
einer Theorie der syntaktischen Metapher.11 Er bewegt sich damit ganz auf
_____________
9
10
11
system zur Autonomie der Grammatik im Big Typescript, in: S. Majetschak (ed.): Wittgensteins
‚große Maschinenschrift’. Untersuchungen zum philosophischen Ort des Big Typescripts (TS 213) im
Werk Ludwig Wittgensteins, Frankfurt a. M. u.a. 2006, S. 79-98.
Vgl. dazu vor allem Hans Julius Schneider: Religion, a.a.O., S. 65 ff.
Vgl. Hans Julius Schneider: Mentale Zustände als metaphorische Schöpfungen, a.a.O., S. 225.
Ausführlich entwickelt und diskutiert wird diese Konzeption in verschiedenen Aufsätzen Schneiders. Vgl. zum Beispiel Hans Julius Schneider: ’Syntaktische Metaphern’ und
Christoph Demmerling
246
der sprachkritischen Linie Wittgensteins, der ja im § 304 der Philosophischen
Untersuchungen im Zusammenhang mit der Rede von inneren Zuständen wie
Schmerzen darauf hinweist, es gehe darum, die Grammatik zu verwerfen, die
sich hier aufdränge. Ohne die Leistungsfähigkeit des Konzepts der syntaktischen Metapher im Allgemeinen in Zweifel ziehen zu wollen, bin ich nicht
sicher, ob damit ein geeignetes Instrumentarium für ein angemessenes Verständnis der Rede über Inneres zur Verfügung gestellt wird. Um die Auffassung zu etablieren, dass eine angemessene Rekonstruktion des Inneren nur
gelingen kann, wenn man demonstriert, wie Sprachspiel und Lebensform
ineinandergreifen, scheint mir der Rekurs auf Einsichten aus der phänomenologischen Tradition aussichtsreicher zu sein als der Rückgriff auf eine Theorie
der Metapher.
Dass Empfindungen wie Schmerzen nicht bloß verbal sind, würde ich als
Hinweis darauf verstehen, dass im Fall eines Schmerzes mehr relevant ist als
die Verwendung von sprachlichen Ausdrücken. Im Fall von Schmerzen
macht man eine Erfahrung, man spürt etwas von sich. Neben der bezugsorientierten Deutung von Substantiven sind es ja gerade solche Erfahrungen,
aufgrund derer sich mentalistische Sichtweisen aufdrängen. Schneider hat eine
nichtmentalistische Deutung von Ausdrücken für Inneres vor Augen, die sich
nicht dem Vorwurf ausliefert, behavioristisch zu sein. Eine derartige Auffassung kann man im Grunde aber nur dann plausibel machen, wenn es gelingt,
die Rolle beispielsweise des Spürens zu explizieren und in die eigenen Überlegungen zu integrieren.
Denken wir beispielsweise an die Erfahrung eines stechenden oder ziehenden Schmerzes. Stechen oder Ziehen sind nicht im selben Sinne körperliche Phänomene wie die Entzündung eines Zahns oder die Dehnung eines
Bandes. Stechen oder Ziehen könnte man auch als Bewusstseinsphänomene
ansehen und sie somit als etwas Mentales auffassen. Aber auch das ist eine
Auffassung, welche die Sache nicht trifft. Wer davon spricht, dass ein
Schmerz sticht oder zieht, spricht über seine Erfahrung des Schmerzes, darüber wie sich ihm der Schmerz darstellt. Wer über Schmerzen spricht, der
redet weder über physiologische Prozesse noch auch über geistige Phänomene. Schneider versteht Redeweisen wie die angeführten im Sinne eines Übergangs vom Körperlichen zum Seelischen.12
Der Begriff des Seelischen ist allerdings alles andere als ein eindeutiger
Begriff. Gelegentlich wird er im selben Sinne verwendet wie die Ausdrücke
„Geistiges“ oder „Inneres“. Er wird aber vereinzelt auch gebraucht, um in
_____________
12
ihre begrenzende Rolle für eine systematische Bedeutungstheorie, in: Deutsche Zeitschrift für
Philosophie 41/3 (1993), S. 577-486.
Vgl. Hans Julius Schneider: ’Den Zustand meiner Seele beschreiben’ – Bericht oder Diskurs?,
a.a.O., S. 40 ff.
Kein Etwas, aber auch nicht ein Nichts
247
einer ‚trialistischen’ Perspektive dualistische Verständnisse von Körper und
Geist zu unterlaufen und auf Phänomene hinzuweisen, die sowohl eine körperliche wie auch geistige Seite haben.13 Schneiders Überlegungen würde ich
in diesem Sinne verstehen. Ziehen oder Stechen sind – wie Empfindungen
und Gefühle im Allgemeinen – Phänomene, die sowohl eine körperliche wie
auch eine geistige Seite haben und deshalb aus dem dualistischen Klassifikationsschema herausfallen. Auf die Frage nach der Charakterisierung von Phänomenen, die eine körperliche und eine geistige Seite haben und nach einer in
diesem Zusammenhang nützlichen Terminologie komme ich zurück.
Im Zusammenhang von Überlegungen zum diskursiven Charakter der
Rede über Inneres unterscheidet Schneider ganz grundsätzlich zwei unterschiedliche Arten von Fällen: zum einen Fälle, in denen einem etwas einfällt,
was auf eine bestimmte Weise auch vor dem Einfall bereits da ist: ein Name,
eine Telefonnummer, eine Melodie.14 Anders verhält es sich, wenn jemandem
eine neue Melodie einfällt oder eine neue Idee kommt. Diese Fälle machen
deutlich, dass wir über Ereignisse wie Einfälle oder Empfindungen nicht nach
Belieben verfügen können. Solche Ereignisse haben – und das gilt für Empfindungen in einem höheren Ausmaß als für Überzeugungen – häufig Widerfahrnischarakter. Sie geschehen uns und werden nicht, jedenfalls nicht zur
Gänze aktiv herbeigeführt. Dass uns solche Ereignisse heimsuchen, lässt sich
als ein Indiz dafür ansehen, dass sie nicht, jedenfalls nicht auf der ganzen
Linie sprachlich erzeugt sein können. Folglich kann es sich nicht um Phänomene handeln, deren Existenz sich ausschließlich der Sprache verdankt. Denn
etwas, was wir erzeugen, kann uns nicht widerfahren. Es sind zwar sprachliche Mittel, durch welche wir die angesprochenen Phänomene erfassen, was
aber kein Grund ist, sie als etwas anzusehen, was durch die Sprache erzeugt
wird.
Schneider vertieft seine Überlegungen durch Analysen zur Auflösung des
Leib-Seele-Problems im Anschluss an Wittgenstein.15 Die Wörter, mit denen
wir uns vermeintlich auf etwas Inneres beziehen, erhalten ihren Sinn dadurch,
dass wir sie im Rahmen einer sozialen Praxis dazu verwenden, um uns in
verschiedener Hinsicht zu charakterisieren. Diese Gebrauchspraxis lässt semantische Verhältnisse einer bestimmten Art entstehen. Wenn jemand zum
Beispiel davon spricht, dass ihn etwas bedrückt, er Schmerzen hat, löst dies
ein bestimmtes Verhalten bei anderen aus. Es erfolgen Nachfragen, Bekun_____________
13
14
15
Vgl. dazu die kurzen Bemerkungen bei Carl Friedrich Gethmann und Thorsten Sander: Anti-Mentalismus, in: M. Gutmann / D. Hartmann / M. Weingarten / W. Zitterbarth (eds.): Kultur, Handlung, Wissenschaft, Weilerswist 2002, S. 91-108, S. 94.
Vgl. Hans Julius Schneider: ’Den Zustand meiner Seele beschreiben’ – Bericht oder Diskurs?,
a.a.O., S. 44 f.
Hans Julius Schneider: Reden über Inneres. Ein Blick mit Ludwig Wittgenstein auf Gerhard
Roth, a.a.O.; ders.: Religion, a.a.O., S. 78 ff.
Christoph Demmerling
248
dungen der Anteilnahme, wobei alle möglichen Reaktionen denkbar sind. Die
Auslösung eines Verhaltens der Anteilnahme, überhaupt irgendeines Verhaltens, kann man so verstehen, dass man sagt, Bedrückung oder der Schmerz
eröffnen einen sozialen Raum, innerhalb dessen auf eine bestimmte Weise
miteinander umgegangen wird. Die Umgangsweisen können vielfältig sein, so
ist nicht nur Anteilnahme, sondern auch Ignoranz denkbar. Aber es gibt eben
Umgangsformen und Bekundungen, die besser zur Bekundung von Bedrückung oder Schmerz passen als andere, wobei die Reaktionen auf Bedrückungs- oder Schmerzbekundungen dann ihrerseits wieder bestimmte Reaktionen nach sich ziehen, so dass ein soziales Gewebe entsteht, in welches der
Umgang mit den betreffenden Bekundungen eingelassen ist.
Schneider akzentuiert die soziale Dimension, in die der Rückgriff auf das
Innere von vornherein gestellt ist. Mit Hilfe einer sozialen Externalisierung
des Inneren soll auch der in der neueren Philosophie verbreitete Perspektivendualismus bezogen auf Geist und Körper vermieden werden, da sich mit
diesem immer wieder der Eindruck verbinde, das Bewusstsein sei ein Rätsel.16
Dieses Rätsel besteht darin, die postulierten Verbindungen zwischen einer
unterstellten Innen- und Außenperspektive bzw. zwischen Bewusstsein und
postulierten neuronalen Korrelaten im Rahmen verschiedener Varianten von
Identitätstheorien nicht erklären zu können. Das vermeintliche Rätsel lasse
sich auflösen, wenn man die Vorstellung von einem Innenraum beiseite
schiebe und Sprachhandlungen an die Stelle eines solchen Raumes treten
lasse.
Nun ist es richtig, dass dadurch, dass Empfindungen in der Sprache verortet werden, viele Probleme des Innen-Außen-Bildes vermieden werden
können. Aber die Explikation von Empfindungen als sozialen und sprachlichen Praktiken klammert die Dimension des Erlebens weitgehend aus, die
zum Beispiel in den Diskussionen um den Begriff des phänomenalen Bewusstseins eine wichtige Rolle spielt und erst einmal auch nicht von der Hand
zu weisen ist. Schneiders Kritik an der Vorstellung, es würde besondere phänomenale Gegenstände geben, ist sicher berechtigt. Es stellt sich jedoch die
Frage, was wir erfahren, wenn wir etwas erleben. Selbst wenn man unterstellt,
dass zu diesen Erfahrungen keine speziellen Gegenstände gehören, sondern
sie einen Zusammenhang mit sozialen und sprachlichen Praktiken aufweisen,
sind wir – und dies gilt insbesondere für Gefühle – auf eine besondere Weise
involviert und betroffen. Die Erfahrung von etwas betroffen zu werden stellt
_____________
16
Die Rede vom Rätsel des Bewusstseins ist in der Philosophie zu einem Gemeinplatz
avanciert. Zu den ernsthaften Hintergründen vgl. Peter Bieri: Was macht Bewußtsein zu
einem Rätsel?, in: T. Metzinger (ed.): Bewußtsein. Beiträge aus der Gegenwartsphilosophie, Paderborn 1995, S. 61-77; vgl. auch Michael Pauen: Das Rätsel des Bewusstseins, Paderborn
1999.
Kein Etwas, aber auch nicht ein Nichts
249
für einen Ansatz, der auf die Sprache fixiert ist, eine Herausforderung dar, die
es zu meistern gilt.
III. Jenseits der Sprache?
Einen Anknüpfungspunkt für das Unterfangen, die angeführte Herausforderung anzunehmen, bieten zwei neuere Arbeiten von Gunter Gebauer und
Anna Stuhldreher.17 Diese Arbeiten gehören in den Kontext einer Rezeption
der Philosophie Wittgensteins, die den gesamten Ansatz primär unter anthropologischen Gesichtspunkten betrachtet. Die Auseinandersetzung mit Wittgensteins Philosophie der Psychologie nimmt in diesem Zusammenhang
einen besonderen Stellenwert ein. Aus ihr lassen sich Konturen zu einer Sicht
auf Empfindungen und Gefühle herausarbeiten, die weder mentalistisch,
noch behavioristisch oder sprachzentriert im Sinne des Lingualismus ist.
Empfindungen und Gefühle stellen sich ein, ohne dass ihnen eine Absicht oder ein Plan unsererseits vorausgegangen wäre. Empfindungen und
Gefühle sind in der Regel nicht das Ergebnis einer absichtlichen Handlung,
auch wenn sie sich in Handlungszusammenhänge einbetten lassen, die ihnen
eine bestimmte Kontur verleihen und durch welche sie diesen oder jenen
Verlauf nehmen. Auch Wittgenstein akzentuiert den Umstand, dass Gefühle
uns zunächst einmal auf eine mehr oder weniger naturhafte Weise ereilen.
Empfindungen und Gefühle können als Reaktionen angesehen werden, mit
denen sich Organismen zu ihrer Umwelt und insbesondere zu Veränderungen
in ihrer Umwelt oder durch ihre Umwelt bedingt verhalten. Wer im Dunkeln
Schritte oder andere nicht näher klassifizierbare Geräusche hört, fährt zusammen und hat Angst. Schritte und Geräusche rufen die Angst hervor. Die
Angst ist kein Ergebnis planvollen und absichtlichen Handelns. Außerdem
stellt sie sich unabhängig davon ein, dass wir über eine Sprache verfügen. Aus
dem Umstand, dass die Angst vor der Sprache da ist, folgt aber nicht, dass sie
im naturbelassenen ‚Keller’ eines Organismus anzusiedeln ist, auf welchen
sich dann bei Wesen, die über eine Sprache verfügen, ein Stockwerk linguistischer Kompetenzen aufbaut.18 Richtig ist wohl, dass bei sprachlichen Wesen
_____________
17
18
Gunter Gebauer / Anna Stuhldreher: Das Sprachspiel der Emotionen, in: H. Landweer /
U. Renz (eds.): Klassische Emotionstheorien. Von Platon bis Wittgenstein, Berlin-New York
2008, S. 613–634; Gunter Gebauer: Wittgensteins anthropologisches Denken, München
2009, S. 181 ff.
Diese Vorstellung wird manchmal als „layer cake“-Modell bezeichnet; vgl. dazu Christoph Demmerling: Implizit und explizit. Überlegungen zum Verstehensbegriff im Anschluss an
Heidegger und Brandom, a.a.O., S. 73. Zum Bild von Keller und Stockwerk und zur Kritik daran vgl. auch die kürzlich erschienene und für meine Überlegungen in jeder Hin-
Christoph Demmerling
250
auch die Empfindungen, bei denen es sich um nichtsprachliche Phänomene
handelt, in sprachliche Umgebungen eingebettet sind, durch welche sie als
Ganze zu etwas anderem werden.
Wittgenstein spricht an verschiedenen Stellen von Empfindungen als
‚primitiven’ Reaktionen.19 Primitiv sind Empfindungen in dem Sinne, dass sie
keine Denktätigkeiten oder Handlungsaktivitäten voraussetzen, mit ihnen
wird eben einfach auf etwas reagiert. Wittgenstein selbst charakterisiert diese
primitiven Reaktionen als ‚vorsprachliche Verhaltungsweisen’:
Was aber will hier das Wort „primitiv“ sagen? Doch wohl, daß die Verhaltungsweise
vorsprachlich ist: daß ein Sprachspiel auf ihr beruht, daß sie das Prototyp einer Denkweise ist und nicht das Ergebnis des Denkens.20
Diese Bemerkung ist explizit gegen lingualistische Konzeptionen gerichtet:
Empfindungen sind vorsprachliche Verhaltensweisen. Trotzdem hängen sie
mit der Sprache zusammen, was durch die Ergänzung deutlich wird, welche
darauf aufmerksam macht, dass Sprachspiele auf Verhaltensweisen beruhen.
Zwischen Verhaltensweisen und Sprachspielen gibt es Verbindungen: vorsprachliche Verhaltensweisen sind Grundlagen von Sprachspielen, durch
welche die Empfindung modelliert wird. Im Umfeld der zitierten Stelle
spricht Wittgenstein sogar davon, dass es sich bei Sprachspielen, die an Empfindungen anknüpfen oder mit Empfindungen zusammenhängen, um den
„Ausbau des primitiven Benehmens“ handelt.21 Diese Bemerkung lässt sich
so verstehen, dass der Gebrauch einer Sprache zu einer Ausdifferenzierung
des primitiven Benehmens führt. Die Rekonstruktion von Gebauer und
Stuhldreher weist in diese Richtung, da sie darauf aufmerksam macht, inwiefern sich durch den Gebrauch der Sprache Gefühle und Empfindungen insofern verändern, als aus dem instinktiven Verspüren und Erfassen Muster
gebildet werden, die dazu führen, den Gefühlen Gestalt und Kontur zu verleihen. Ohne dass der Begriff bei Gebauer und Stuhldreher eine Rolle spielen
würde, bietet es sich an, in diesem Zusammenhang von einer Artikulation zu
sprechen: Der Sprachgebrauch im Zusammenhang mit Empfindungen und
Gefühlen verleiht diesen durch Gliederung eine Gestalt.
Mit dem Begriff der Artikulation möchte ich auf folgenden Sachverhalt
hinweisen: Mit der Sprache lernen wir nicht nur Laute zu artikulieren oder
Zeichen zu gebrauchen, die uns dann primär dazu dienen, uns auf etwas in
_____________
19
20
21
sicht instruktive Arbeit von Matthias Jung: Der bewusste Ausdruck. Anthropologie der Artikulation, Berlin 2009, zum Beispiel 21.
Vgl. dazu auch die Rekonstruktion von Gunter Gebauer / Anna Stuhldreher: Das
Sprachspiel der Emotionen, a.a.O., S. 629 f.; Gunter Gebauer: Wittgensteins anthropologisches
Denken, a.a.O., S. 182 ff., an deren Vorschlägen ich mich orientiere.
Ludwig Wittgenstein: Zettel, in: Werkausgabe Band 8, Frankfurt a. M. 1984, 259-443, §
541.
Vgl. ebd., § 545.
Kein Etwas, aber auch nicht ein Nichts
251
der Welt zu beziehen, sondern mit der Sprache erwerben wir die maßgeblichen Muster unseres Welt- und Selbstverständnisses. Muster, mit Hilfe derer
sich uns die wesentlichen Aspekte der Welt und unserer selbst erschließen.22
Dadurch, dass wir etwas sagen und mit der Sprache Handlungen vollziehen,
wird allererst der Rahmen eröffnet, innerhalb dessen wir uns auf etwas beziehen können. Dies wird auf besondere Weise deutlich, wenn wir über uns
selbst sprechen, über jene Belange, die man gemeinhin in einer Seele oder
Innenwelt verortet und die man – anders als raumzeitlich lokalisierbare Gegenstände in der Außenwelt – niemals direkt zu fassen bekommt oder wahrnehmen kann. Wenn jemand über seine Gefühle spricht, repräsentiert er
nichts, was in ihm vorgeht, sondern er artikuliert etwas, was dadurch, dass es
artikuliert wird, ausdrücklich gemacht werden kann. Indem man für ein Gefühl nach den passenden Worten sucht und sie findet, es in ein Muster oder
eine Geschichte einbettet, verleiht man dem Gefühl einen identifizierbaren
Inhalt, der mit anderen Inhalten in bestimmten Beziehungen steht bzw. in
bestimmte Beziehungen gesetzt werden kann. Mit dem Artikulationsbegriff
lässt sich deutlich machen, dass das Innere nicht einfach unmittelbar da und
gegeben ist, dass es aber auch nicht in einem einfachen Sinne gemacht oder
konstruiert ist. Als Artikulation bezeichne ich den Prozess, in dem einfache
Empfindungen und Reaktionen mit den Mitteln der Sprache in einen Raum
des Verstehens hineingestellt und zum Gegenstand von Explikationsbemühungen werden. So werden Gefühle verständlich. In diesem durch Artikulation eröffneten Raum gewinnen die spontanen und unwillkürlichen, einfachen
Empfindungen und Regungen ihren Platz, indem sie als Bestandteile eines
komplexen Welt- und Erlebniszusammenhangs erfahren werden.
Freilich darf man sich den Prozess der Artikulation nicht durchgängig als
eine aktive Leistung vorstellen. Im Fall von Wesen, die über eine Sprache
verfügen, stellen sich Prozesse der Artikulation in vielen Fällen ‚unwillkürlich’
ein und die Strahlen der Sprache reichen bis in die einfachsten Empfindungen
hinein, ohne dass diese darum selbst bereits etwas Sprachliches wären.
Schmerzen zum Beispiel sind nichts Sprachliches, obwohl Schmerzen für
sprachliche Wesen immer schon und von vorneherein in sprachliche Umgebungen eingebettet sind. Ich bezeichne diesen Umstand als apriorisches Perfekt
der Artikulation. Im Sinne dieses apriorischen Perfekts gibt es für sprachliche
Wesen kein Reich jenseits der Sprache, was aber nicht heißt, dass alle Phänomene im Leben sprachfähiger Wesen sprachliche Phänomene sind. Ohnehin
ist die Sprache lediglich das prominenteste und expliziteste Medium der Arti_____________
22
Mit diesem Begriff schließe ich an Überlegungen an von Charles Taylor: Bedeutungstheorien, in: ders.: Negative Freiheit, Frankfurt a. M. 1988, S. 53-117; zu den systematischen
Möglichkeiten, welche der Begriff bietet, vgl. auch Matthias Jung: Der bewusste Ausdruck, a.a.O.; diese Arbeit enthält eine Vielzahl bedenkenswerter Überlegungen, setzt
sich mit Wittgenstein in diesem Zusammenhang allerdings nur am Rande auseinander.
252
Christoph Demmerling
kulation, aber auch Gestik und Mimik, Tanz und Musik, um nur einige auf
der Hand liegende Beispiele zu nennen, können als Artikulationsmedien angesehen werden. Auf diffuse Weise bedeutsame Gehalte der Erfahrung, werden
im Rahmen eines Artikulationsmediums aufgegriffen, wodurch sie explizit in
eine semantische Dimension einrücken und explizierbar werden.
Ein Beispiel mag an dieser Stelle dienlich sein. Aggressionsaffekte findet
man bei sprachlosen ebenso wie bei der Sprache fähigen Wesen und es ist
unstrittig, dass nicht nur erwachsene Menschen, sondern auch Tiere sich
aggressiv verhalten können. Komplexe Differenzierungen der Aggression in
Zorn, Ärger, Wut, Hass, Neid und Empörung werden jedoch erst durch die
Einbettung der Aggression in eine sprachliche Umgebung eröffnet. Die Art
der Aggression, die sich einstellt, wenn man etwa daran gehindert wird, eigene
Pläne zu verfolgen (es stellt sich Ärger ein), unterscheidet sich von der Aggression, welche sich einstellt, wenn man der Auffassung ist, dass ein anderer
hat, was man selber nicht hat, aber verdienen würde, während der andere es
nicht verdient (hier ist die Rede vom Neid). Differenzierungen wie die zwischen Ärger und Neid oder anderen Aggressionsaffekten setzen differenzierte
Einstellungen zur Welt, zu den Eigenschaften und Handlungen anderer Menschen voraus; Einstellungen, die sich ohne eine Sprache, mit Hilfe derer propositional strukturierte Gedanken formuliert werden können, nicht einnehmen lassen.
Bereits mit dem Auftauchen von Aggressionsaffekten machen Lebewesen
präkognitive und präreflexive Erfahrungen, in denen sich ihnen die Welt,
oder besser: eine Situation in binnendiffuser Bedeutsamkeit präsentiert. Einzelne Aspekte der Situation können in diesem Zusammenhang noch nicht
voneinander abgehoben werden. Etwas ist auf eine lediglich diffuse Weise
bedeutsam, macht betroffen und zieht bestimmte Reaktionen nach sich. Hinsichten der Bedeutsamkeit und mit ihnen Aspekte der Situation können erst
dort ausdifferenziert werden, wo ein Medium zu Verfügung steht, mit Hilfe
dessen die Situation explizit gemacht werden kann wie beispielsweise mit den
Mitteln der Sprache. Durch die Fähigkeit, etwas auf explizite Weise zu artikulieren, lassen sich vielfältige Bedeutsamkeitshinsichten von Situationen voneinander unterscheiden wie das Aggressionsbeispiel zeigt. Der Ärger bei der
Verfolgung eigener Pläne aufgehalten zu werden (etwa anlässlich der Verspätung eines Zuges, der uns zu einer wichtigen Verabredung bringen soll), ist
eine andere Art von Aggression als die Empörung über die Missachtung einer
Norm durch jemand anderen (zum Beispiel anlässlich der mangelnden Loyalität eines Mitarbeiters). Wesen, die über eine Sprache verfügen, operieren
immer schon mit solchen Differenzierungen und erfahren die qualitative
Dimension der Aggression als etwas, was durch sprachliche Artikulation in
einen Raum des Verstehens eingebettet ist.
Kein Etwas, aber auch nicht ein Nichts
253
Anlässlich des Beispiels ist zu konstatieren, dass viele Rekonstruktionen
der Argumente Wittgensteins die Rolle der Sprache zu Recht akzentuieren.
Die Analysen zu Empfindungen und Gefühlen im Kontext der Überlegungen
Wittgensteins bleiben jedoch häufig unbefriedigend, weil die vielfältigen Aspekte sowie die unterschiedlichen Dimensionen des Erlebens nur unzureichend in Betracht gezogen werden. Wittgenstein war daran gelegen, das Verhältnis zwischen sprachlichen Ausdrücken und Empfindungen zu klären, die
feinkörnige Beschreibung von Gefühlen stand nicht im Mittelpunkt seines
Interesses. Die Rezeption der Philosophie Wittgensteins verläuft und verlief
weitgehend unabhängig von der weit verzweigten Diskussion innerhalb der
Philosophie der Gefühle. Möchte man für diese Debatte Kapital aus den
Überlegungen von Wittgenstein schlagen, tut man gut daran, den sprachphilosophischen und gefühlstheoretischen Diskussionsstrang miteinander zu
verbinden.
Ich will an meine Bemerkungen zu Phänomenen erinnern, die man so beschreiben kann, als hätten sie sowohl eine körperliche wie auch eine geistige
Seite. Statt von „seelischen Phänomenen“ zu sprechen, ziehe ich es vor, Phänomene der skizzierten Art als leibliche Phänomene zu bezeichnen. Den
Begriff des Leibes verwende ich nicht als ein Synonym für den Ausdruck
„Körper“. Betrachtet man etwas als Körper, dann betrachtet man dieses Etwas als einen Gegenstand in einer objektivierenden Perspektive, als etwas,
was sich messen und wiegen lässt und einen bestimmten Platz in der physischen Welt einnimmt. Der Leib hingegen lässt sich als Medium personaler
Existenz, als eine Voraussetzung für die Weltbezüge personaler Wesen ansehen. Alles, was uns angeht, sammelt sich im leiblichen Dasein. Wo Personen
sind, ist der Leib immer schon da. Um von vornherein dem Missverständnis
entgegenzutreten, es würde den Leib auf gleiche oder ähnliche Weise wie den
Körper geben (es gibt keinen Leib neben dem Körper) schlage ich vor, den
Ausdruck als Substantiv zu vermeiden und statt dessen vom leiblichen Spüren
oder Befinden zu reden, denn nichts anderes ist „der Leib“. Er ist kein mystischer Doppelgänger, kein ätherischer Zwilling des Körpers.
Gefühle sind leibliche Phänomene. Die Angst vor dem Geständnis, welche einem die Kehle zuschnürt, die nagenden Bisse des Neides sind leiblich
gespürte Phänomene. Man kann nicht sagen, man habe Angst oder hege
Neid, spüre das aber nicht und es gebe keine leibliche Manifestation dieser
Gefühle. Gefühle sind Weisen des In-der-Welt-Seins oder des Sich-zur-WeltVerhaltens als Weisen des leiblichen Spürens. Es ist vor allem die phänomenologische Tradition innerhalb der deutschsprachigen Philosophie, in der
häufig terminologisch zwischen „Leib“ und „Körper“ unterschieden wird. Bei
näherem Hinsehen überrascht es, wie viele unterschiedliche, zum Teil einander ausschließende Leibphilosophien und -verständnisse der Leib-KörperUnterscheidung in der phänomenologischen Tradition verbreitet sind. Mein
Christoph Demmerling
254
Vorschlag orientiert sich im Wesentlichen an den Überlegungen von Hermann Schmitz, der den Begriff des Leibes wie folgt einführt:
Jedermann macht die Erfahrung, daß er nicht nur seinen eigenen Körper mit Hilfe
der Augen, Hände u. dgl. sinnlich wahrnimmt, sondern in der Gegend dieses Körpers
auch unmittelbar […] etwas von sich spürt: z.B. Hunger, Durst, Schmerz, Angst, Wollust, Müdigkeit, Behagen. Im Gegensatz zu den anderen modernen Sprachen besitzt
die deutsche zwei Worte, die es leicht machen, den gemeinten Unterschied zu benennen: ,Körper’ und ‚Leib’.23
Leib, so eine Wendung, die man bei Schmitz oft finden kann, sei dasjenige,
was man von sich selber spüre, ohne seine Sinne oder Hände zur Hilfe zu
nehmen, wohingegen der Körper als dasjenige aufgefasst wird, was man von
sich selbst sieht oder tastet und was im Prinzip auch von zweiten oder dritten
Personen gesehen und getastet, gemessen und gewogen werden kann. Auch
wenn diesem Vorschlag bestimmte Schwierigkeiten anhaften24, wird mit dem
Leibbegriff bzw. mit der Kategorie des leiblichen Spürens ein Instrument zur
Verfügung gestellt, welches es erlaubt, ein Verständnis unserer Rede über
Inneres zu etablieren, das die dualistischen Voraussetzungen der Bewusstseinsphilosophie abstreift, ohne einer behavioristischen, mentalistischen oder
lingualistischen Reduktion den Weg zu bereiten.25
Schmitz verfolgt im Grunde ein ganz ähnliches Ziel wie der mit Schneider gelesene Wittgenstein. Beide Ansätze lassen sich jedoch mit einem jeweils
für sie spezifischen Problem konfrontieren. Mit phänomenologischen Analysen verbinden sich häufig verfehlte Unmittelbarkeitsansprüche, sprachanalytische Zugriffsweisen stehen immer wieder in der Gefahr am Ende, wenn auch
ungewollt, bei einer lingualistischen Position zu landen. Vergegenwärtigen wir
uns, wie Schneider den Status des Inneren charakterisiert:
_____________
23
24
25
Hermann Schmitz: System der Philosophie II.1. Der Leib, Bonn 1965, S. 5.
Kritische Überlegungen zu Schmitz habe ich ausgearbeitet in Anna Blume /
Christoph Demmerling: Gefühle als Atmosphären. Grenzen und Reichweite der neuen Phänomenologie, in: H. Landweer (ed.): Struktur und Funktion der Gefühle, a.a.O., S. 113-133; vgl.
auch Christoph Demmerling: Gefühle, Sprache und Intersubjektivität. Überlegungen zum Atmosphärenbegriff der neuen Phänomenologie, in: K. Andermann / U. Eberlein (eds.): Gefühle
als Atmosphären. Beiträge der Neuen Phänomenologie zur philosophischen Emotionstheorie, Berlin
2010 (im Erscheinen).
Streng genommen ist die Erläuterung der Unterscheidung von Leib und Körper mit
Hilfe der Differenzierung zwischen der Perspektive erster und der Perspektive dritter
Personen ergänzungsbedürftig. Die Perspektive erster Personen kann über das eigenleibliche Spüren hinausgehen und sich auch auf die sinnlich vermittelte Wahrnehmung
des eigenen Körpers erstrecken. So kann man Teile des eigenen Körpers sehen oder
betasten. Außerdem lässt sich auch der Körper anderer als Subjekt leiblicher Vollzüge
erfahren, wenn man ihn – zum Beispiel in der personalen Interaktion – nicht objektivistisch, sondern ‚quasi-erstpersönlich’ oder in der Perspektive zweiter Personen betrachtet. Diesbezügliche Überlegungen hoffe ich zu gegebener Zeit ausarbeiten zu
können.
Kein Etwas, aber auch nicht ein Nichts
255
Das Seelische erkennen wir nicht, indem wir besondere Gegenstände aufsuchen, sondern indem wir schauen, wie die einschlägigen Sprachspiele funktionieren […] Zu betrachten wären demnach soziale Episoden, in die lebendige Menschen verstrickt sind.
Eine genauere Untersuchung verlangt hier nicht das Isolieren eines phänomenalen
Gegenstandes, sondern die Betrachtung von Geschichten, in denen Ausdrücke wie
‚Schmerz’ oder ‚Trauer’ gebraucht werden.26
Richtig ist, dass es in die Irre führt, besondere phänomenale Gegenstände zu
postulieren, aber zum ‚Seelischen’ gehören nicht nur die Geschichten, in denen Ausdrücke für Empfindungen und Gefühle gelernt werden, sondern es
handelt sich um Weisen des Weltbezugs, welche sich nicht nur sprachlich,
sondern auch leiblich manifestieren und die Bedeutsamkeit einer Situation
ausmachen.27 So ist es zum Beispiel für den Weltbezug von Gefühlen charakteristisch, eine qualitative Dimension aufzuweisen, wie neuere Vorschläge
zum Verständnis affektiver Intentionalität zeigen.28
Die Überlegungen von Schmitz machen wie im Übrigen ja auch die Analysen von Wittgenstein oder Schneider deutlich, dass Gefühle antiindividualistisch aufzufassen sind und nicht als Gebilde, die in die Innenwelten oder
Seelenkammern einzelner Subjekte eingesperrt sind. Gefühle sind nicht im
Kopf, nicht im Gehirn, auch nicht im Herzen oder Bauch. Gefühle gehören
auf eine bestimmte Weise in die Welt. Man kann die Gefühle anderer erkennen und die Gefühle anderer können auf die je eigene Befindlichkeit einwirken. Die überindividuelle Dimension von Gefühlen und auch der überindividuelle Zugang bzw. die Möglichkeit eines nicht-subjektiven Zugangs zu
ihnen, hängt mit der Sprache zusammen. Der Zusammenhang zwischen Gefühlen, dem Zugang zu ihnen und der Sprache bedeutet aber nicht, dass die
im Kontext von Gefühlen relevanten leiblichen Vollzüge auf Geschichten
und sprachliche Unterscheidungen reduziert werden könnten. Ein entscheidender Schritt zu einem angemessen Verständnis der in die Innenwelt abge_____________
26
27
28
Hans Julius Schneider: Religion, a.a.O., S. 90.
Auch Schneider beschäftigt sich mit der Frage nach dem Leib. Aber das leibliche
Spüren ist für Schneider primär unter dem Gesichtspunkt relevant, mit welchen
sprachlichen Fortsetzungshandlungen sich an die verschiedenen Phänomene leiblichen Gewahrens anschließen lässt. Leibliches Gewahrsein wird als implizites Wissen
von bestimmten Inhalten aufgefasst, welches sich nicht vollständig mit begrifflichen
Mitteln zum Ausdruck bringen lässt. Ich bin mir nicht sicher, ob die Rolle leiblicher
Vollzüge damit ausreichend gewürdigt wird, wenn sie primär als Grundlage des
Sprachhandelns aufgefasst werden. Vgl. Hans Julius Schneider: Die Leibbezogenheit des
Sprechens. Zu den Ansätzen von Mark Johnson und Eugene T. Gendlin, in: Synthesis Philosophica 10 (1995), S. 81-95; ders.: Zwischen den Zeilen. Wittgenstein und Gendlin über die
nicht-regelhafte Seite der Sprachkompetenz, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie (1997),
45/4, S. 415-428.
Vgl. Jan Slaby: Gefühl und Weltbezug. Die menschliche Affektivität im Kontext einer existentialistischen Konzeption von Personalität, Paderborn, 2008; ders.: Affective intentionality and the
feeling body, in: Phenomenology and the Cognitive Sciences 7 (2008), S. 429-444.
Christoph Demmerling
256
drängten Phänomene könnte getan werden, wenn der Zusammenhang von
leiblichen Vollzügen und sprachlichen Fähigkeiten eingehender expliziert
würde. Die Erörterung dieses Zusammenhangs gehört zu den wichtigsten
Aufgaben einer phänomenologisch aufgeklärten Sprachanalyse und einer
sprachanalytisch aufgeklärten Phänomenologie.
Sprachspiele, körperliche Verhaltensweisen und leibliches Spüren lassen
sich nicht voneinander abspalten oder aufeinander reduzieren, sondern sind
ineinander verwoben. Das leibliche Spüren und Erleben ist zunächst einmal
ein materielles Phänomen jenseits von Diskursen, welches sich gegenüber der
Sprache widerständig verhält. Aber leibliches Spüren und Diskurs greifen
ineinander. Sprachspiel und Leiblichkeit gehören zusammen und der Artikulationsbegriff lässt sich als ein wichtiges Instrument zur Ausarbeitung dieses
Zusammenhangs verwenden.29 Durch Artikulation wird etwas aufgegriffen,
was auf eine bestimmte Weise da ist und doch nicht (ganz) da ist: eben kein
Etwas und auch nicht ein Nichts.
_____________
29
Vgl. dazu auch die Arbeit von Matthias Jung: Der bewusste Ausdruck, a.a.O., für den der
Begriff der Artikulation ebenfalls ein zentraler Schlüssel zum Verständnis der Zusammengehörigkeit von körperlichen und geistigen Prozessen ist.
Das Nicht-Sagbare als Quelle der Kreativität
E.T. Gendlins Philosophie des Impliziten und die Methode
Thinking at the Edge („TAE“)
Heinke Deloch
Die Methode Thinking at the Edge wird eingesetzt, um Menschen gezielt dabei
zu unterstützen, eigene, originäre Denkansätze zu entwickeln. Durch Einbeziehung des persönlichen Erlebens konkreter fachlicher Situationen werden
systematisch neuartige Sichtweisen und Begriffsverwendungen entwickelt.
Ähnlich der Vorgehensweise in therapeutisch unterstützten Veränderungsprozessen werden Widersprüche als mögliche Quelle der Veränderung gezielt
gesucht. Dabei scheint die Methode Thinking at the Edge selbst auf einem Paradox zu gründen: sie fordert auf zu einem Denken, wo Worte noch fehlen –
und hat zum Ziel, das noch Unsagbare zu sagen.
Im Folgenden werde ich einige zentrale sprachphilosophische Annahmen
vorstellen, die der Methode Thinking at the Edge zugrunde liegen. Die Bedeutung der Methode, so wie ich sie hier verstehe, liegt dabei nicht nur in der
Möglichkeit, systematisch zu eigenständigem Denken anzuleiten. Sie kann
darüber hinaus als Chance verstanden werden, unseren herkömmlichen Begriff des Denkens im Sinne logisch-rationaler Verstandesoperationen zu erweitern durch einen Begriff des experientiellen Denkens. Damit wäre Thinking at
the Edge als eine Methode zu verstehen, die es erlaubt, eine neuartige Weise
des Denkens zu erlernen, ein Denken, bei dem ich mich selbst als Denkende/r systematisch mit einbeziehe.
i. Thinking at the Edge - eine Methode des experientiellen Denkens
Die Methode Thinking at the Edge (deutsch: Denken, wo Worte noch fehlen,
im folgenden abgekürzt mit TAE) wurde in den 90er Jahren von dem Philosophen und Psychologen E.T. Gendlin in Zusammenarbeit mit der Psychologin Mary Hendricks entwickelt. In den Folgejahren wurde TAE zu einer 14
258
Heinke Deloch
Schritte umfassenden Methode weiter ausgearbeitet.1 Als Ausgangspunkt der
Entwicklung von TAE kann der von E.T. Gendlin in diesem Zeitraum an der
University of Chicago regelmäßig gegebene Kurs „Theory Construction“
betrachtet werden. Neben einer Einführung in Logik und Philosophie war es
Ziel des Kurses, den Studentinnen und Studenten eine Unterstützung darin
zu geben, eigenständige Forschungsbeiträge zu entwickeln. Mit TAE sollte es
möglich werden, Dinge zu denken und zu sagen, die so bislang noch nicht
gedacht und gesagt worden waren.2
Beim Thinking at the Edge geht es um eine Art des Denkens, die ich hier
auch als experientielles Denken3 bezeichnen möchte. Wie ich noch zeigen
werde, zeichnet sich dieses Denken durch seinen Bezugspunkt im eigenen
Erleben aus.
Das experientielle Denken unterscheidet Gendlin von dem vorherrschenden Begriff des Denkens in kleinsten, gleichförmigen Einheiten:
What we call „thinking“ seems to require unitized things which are assumed to be either clearly identical or clearly separate, which can be next to each other but cannot
interpenetrate, let alone have some more complex pattern.4
Gendlin nennt dieses Denkmodell das „klassische westliche Einheitenmodell“
(„classical Western unit model“, ebd.) oder das „atomistische Einheitenmodell“. Es lässt sich bis hin zu Platon zurückverfolgen und findet beispielsweise
_____________
1
2
3
4
Beteiligt waren dabei Kye Nelson, Teresa Dawson, Nada Lou, vgl. M. Hendricks:
From the Editor, in: The Folio 19 (2000-2004), S. ii.
TAE eignet sich für die Erstellung und Begleitung wissenschaftlicher Arbeiten. In
Deutschland wird die Methode in Workshops für Studenten und Dozenten gelehrt
(derzeit an der Hochschule für Öffentliche Verwaltung, Kehl und der LudwigMaximilians-Universität, München); sie wird auch verwendet, um einzelne wissenschaftliche Projekte zu begleiten. Besonders interessant ist die Methode auch für alle
anderen Bereiche kreativen Arbeitens; etwa für Entwicklungsabteilungen in Unternehmen und für Gestaltende aller Art. Seit zwei Jahren wird die Methode auch im Bereich der Beratung eingesetzt, etwa für die Begleitung von Selbständigen bei der Entwicklung von Geschäftskonzepten.
Mary Hendricks verwendet den Begriff „to think generatively“, was mit „fruchtbarem
Denken“ übersetzt werden kann (Hendricks: From the Editor, a.a.O., S. vi). Kye Nelson
bezeichnet es auch als grundlegendes Denken („thinking fundamentally“; dies.: Thinking fundamentally, unpublished paper). Ich bevorzuge den Begriff experientiell, da er
die Erlebensqualität des Denkens hervorhebt und die Arbeit mit den körperlich spürbaren Anteilen als kennzeichnendes Merkmal der Methode TAE gelten kann. Der
Begriff „experientiell“ (engl. "experiential“) wurde von Gendlin in den 60er und 70er
Jahren verwendet, um seine Art der Psychotherapie als „experiential psychotherapy“
von anderen Formen der Psychotherapie zu unterscheiden. Den Begriff „experiential“
leitet Gendlin ab vom Begriff des „experiencing“, den er als englische Übersetzung
von Diltheys Begriff des Erlebens gewählt hatte (vgl. dazu G. Stumm / J. Wiltschk /
W. Keil: Grundbegriffe der Personzentrierten und Focusing-orientierten Psychotherapie und Beratung, Stuttgart 2003, S. 103).
Gendlin: Introduction to ‘Thinking at the Edge’, in: The Folio 19 (2000-2004), S. 2.
Das Nicht-Sagbare als Quelle der Kreativität
259
einen klaren Ausdruck in dem von B. Russell eingeführten logischatomistischen Wissenschaftsbegriff. Dieser beruht auf der Vorstellung, die
Realität könne erfasst und vollständig beschrieben werden durch Schaffung
einer logisch perfekten Sprache. In einer solchen idealen Sprache „gäbe es für
jedes einfache Objekt nur ein einziges Wort. Was nicht einfach ist, würde
durch Kombinationen aus Wörtern für einfache Dinge ausgedrückt...“.5 Russell behauptet, eine solche Sprache würde es ermöglichen, die Verwirrungen
unserer unscharfen alltagssprachlichen Unterscheidungen zu überwinden und
„logische Atome“ zu identifizieren, die gleichzusetzen wären mit dem, „was
es in der Welt wirklich gibt.“ (ebd., S. 184 und 250).
Wie Gendlin darlegt, durchdringt das logisch-atomistische Denken unsere
gesamte Sprache; auch unsere technischen Errungenschaften beruhten auf
diesem Modell. Dennoch gebe es immer wieder Sachverhalte, die mit diesem
Modell nicht gesagt und gedacht werden könnten, etwa dann, wenn vermeintlich verschiedene Gegenstände auf eine komplizierte Art miteinander identisch zu sein schienen. Anstatt jedoch zu versuchen, die verwickelten Zusammenhänge präzise zu entfalten, hörten wir normalerweise an einem
solchen Punkt zu denken auf.6 Darüber hinaus beschreibe ein solches atomistisches Denken nur maschinenartige, unbelebte Prozesse adäquat, nicht aber
lebendige.7 Zwar erlaube uns das „unitmodel“ durch logische Operationen zu
erstaunlichen Einsichten und Möglichkeiten zu gelangen, dennoch helfe es
uns nicht dabei, die zugrunde gelegten Einheiten selbst zu kreieren: „Logic is
helpless to determine its own starting position.“8 Die einmal etablierten Kategorien würden außerdem als Abbilder der Realität begriffen, so dass ein „Darüberhinausdenken“ schwer falle. In vielen Fällen komme es gar zu einer
Verwechslung der geschaffenen Konzepte mit der Realität selbst.9 Beim Denken gehe es in solchen Fällen nur noch um ein fruchtloses Kombinieren der
eingeführten Begriffe, nicht aber um eine lebendige Auseinandersetzung mit
der Welt, in der wir leben (ebd.).
Welcher Begriff von Wissenschaft und welche Vorstellung von Denken
würden es uns jedoch ermöglichen, wieder zu einem frischen, einem lebendigen Denken zu gelangen? Will man nicht, wie Th. S. Kuhn ironisch bemerkt,
darauf warten, dass die Hauptvertreter der etablierten Theorien aussterben
und mit der jüngeren Generation neue Begriffe eingeführt werden, so ist es
_____________
5
6
7
8
9
Russell: Die Philosophie des logischen Atomismus, München 1976, S. 197.
Vgl. Gendlin: Introduction, a.a.O., S. 2.
Vgl. Gendlin / Johnson: Proposal for an international group for a first person science, New
York 2004.
Gendlin: Introduction, a.a.O., S. 7.
Vgl. Gendlin: Focusing: The Body Speaks Form the Inside, Boston 2007.
Heinke Deloch
260
erforderlich, die herrschende Denkweise durch ein neues Modell und andere
Methoden des Denkens zu ergänzen.10
Die Frage, die Gendlin interessiert, und die der Methode TAE zugrunde
liegt, ist: wie kommen wir dazu, Neues zu denken?
Where does a scientist get a new hypothesis? They never tell you. (Audience laughter).
Gendlin: Once in a while someone will write, "Oh, I developed the double helix from
a dream." Or somebody will say, "I got this in the shower."11
Entgegen postmoderner Annahmen, dass alles, was wir denken können, allein
ein Ergebnis unserer kulturellen und sprachlichen Sozialisation sei, stellt
Gendlin die These auf, die Sprache selbst trage eine Kreativität in sich, die
„mehr-als-logisch“ sei.12 Gendlin beruft sich in diesem Punkt auf Wittgensteins Sprachphilosophie, derzufolge das Funktionieren unserer Sprache sich
nicht von festen Regeln einfangen oder vollständig beschreiben lässt, sondern
Sprache vielmehr permanent in der Lage ist, neue Gebrauchsweisen zu entwickeln und die herrschenden logischen Strukturen zu durchbrechen.13 Das
Sprechen selbst versteht Gendlin als körperlichen Prozess, wobei er den Körper als situativ begreift14. So ist beispielsweise die Wissenschaftlerin auch
körperlich in ihre Forschungssituation eingebunden und dieses körperliche
Involviertsein ermöglicht erst das Kommen ihrer Worte. Gendlin legt ein
phänomenologisches Modell vor, das diese Verwicklung der Beobachterin mit
dem Beobachtungsgegenstand konzeptualisiert.15 Die darin entwickelten
grundlegenden Begriffe gehen vom Lebendigen aus. Sie sind prozesshaft und
unterstellen keine separat gedachten Einheiten: “Instead of analyzing separated objects, one defines different kinds of experiential processes“16. Das Sprechen über die Forschungssituation wird dementsprechend nicht als ein Abbilden des Beobachteten gedacht, sondern, sofern es sich in Resonanz befindet
mit dem Erleben der Situation durch die Forschende, als ein Vorantragen,
Entwickeln der Forschungssituation als ganzer (vgl. dazu Abschnitt iii.).
_____________
10
11
12
13
14
15
16
Vgl. Th. S. Kuhn: The Structure of Scientific Revolution, Chicago 1962.
Gendlin: Focusing, a.a.O.
Gendlin: The New Phenomenology of Carrying Forward, in: Continental Philosophy Review
37 (2004), S. 128.
Vgl. Gendlin: Introduction, a.a.O., S. 2; ders.: The New Phenomenology of Carrying Forward,
a.a.O., S. 129; ders.: Thinking beyond Patterns: Body, Language, and Situations, in: den
Ouden / Moen (eds.): The Presence of Feeling in Thought, New York 1991, A-1.
Vgl. dazu Schneider: The Situatedness of Thinking, Knowing and Speaking: Wittgenstein and
Gendlin, in: Levin (ed.): Language beyond Postmodernism. Saying and Thinking in Gendlin’s
Philosophy, Evanston 1997.
Gendlin: A Process Model, New York 1997.
Gendlin / Johnson: Proposal, a.a.O., S. 1.
Das Nicht-Sagbare als Quelle der Kreativität
261
Die Methode TAE wurde entwickelt, um die oben erwähnte kreative Seite der Sprache, die es uns erlaubt, immer wieder neue Gedanken zu formulieren, auf systematische Weise zu unterstützen. Dies geschieht, indem auf das
persönliche, oft nur schwer artikulierbare Erleben konkreter Problemsituationen Bezug genommen wird.17 Die Methode Thinking at the Edge ist besonders
dann von Interesse, wenn bestehende Probleme nicht mehr innerhalb der
vorherrschenden Paradigmen aufgelöst werden können bzw. wenn etablierte
Paradigmen derart verfestigt sind, dass sie der Formulierung neuer Einsichten
im Wege stehen (s.u.). Sie ist auch nützlich, wenn es darum geht, einen eigenen, originären Standpunkt angesichts der Vielfalt vorhandener Positionen zu
artikulieren. Logisches und experientielles Denken werden dabei im Rahmen
von Thinking at the Edge nicht als konträr aufgefasst; vielmehr werden sie als
Vorgehensweisen betrachtet, die zu unterschiedlichen Ergebnissen führen.
Abhängig von ihren unterschiedlichen Funktionen werden logisches und
experientielles Denken im TAE-Prozess zu verschiedenen Zeitpunkten eingesetzt. So wird das experientielle Denken besonders intensiv im Anfangsstadium praktiziert, wenn es um die Entfaltung eines neuartigen Sprachgebrauchs
geht, während das logische Denken erst später im Prozess für die Theoriebildung eingesetzt wird (zu den Phasen des TAE-Prozesses vgl. Abschnitt v-vii,
die einzelnen Schritte sind nachlesbar in Gendlin: Introduction, a.a.O.). Diese
Verknüpfung von experientiellem und logischem Denken macht die Besonderheit der Methode Thinking at the Edge aus.
Angesichts dieser neuartigen Denkweise, die sogar den Anspruch erhebt,
eine moderne Form des praktischen Philosophierens zu sein18, stellen sich
unter anderem folgende Fragen: Unterliegen der Methode Thinking at the Edge
Annahmen über einen dunklen, metaphysischen Bereich des Unsagbaren, das
wie durch ein Wunder sagbar wird (vgl. Abschnitt ii)? In welchem Zusammenhang stehen Erleben und Sprache, so dass eine Bezugnahme auf das
Erleben als Voraussetzung kreativen Sprechens gelten kann (iii)? Was ist
unter einer solchen „Bezugnahme auf das Erleben“ zu verstehen (iv)? Wie
werden diese philosophischen Annahmen in konkrete methodische Schritte
umgesetzt (v-vii)?
ii. Das Nicht-Sagbare Denken und Sagen: Ein absurder Versuch?
Die Methode Thinking at the Edge setzt genau an jenem Punkt an, wo üblicherweise unsere Vorstellung vom Denken, aufhört: an jener Stelle, wo wir
nicht mehr weiter wissen, d.h. wo wir auch nicht mehr klar sprechen kön_____________
17
18
Vgl. Gendlin: Introduction, a.a.O., S. 4.
Ebd., S. 4.
Heinke Deloch
262
nen.19 Beim „Denken, wo Worte noch fehlen“ geht es gerade nicht darum,
das Augenmerk auf das zu legen, was wir bereits wissen und sagen können,
sondern auf das, was noch nicht gesagt werden kann. Das Wörtchen „noch“
kündigt dabei an, dass an diesem Punkt mehr gewusst, mehr gesagt werden
könnte.
Damit scheint die Methode von einem Bereich des Kognitiven zu handeln, der uns zwar irgendwie zugänglich ist, jedoch nicht sprachlich. Handelt
es sich damit um einen Bereich, der, wie etwa Wittgenstein in seiner frühen
Philosophie für das Mystische unterstellt, sich nur zeigen, über den man jedoch nicht sprechen könne?20
Würde aber die Annahme eines solchen kognitiven Bereichs des NichtSagbaren nicht einen Rückfall bedeuten hinter die sprachphilosophischen
Einsichten des letzten Jahrhunderts? Wittgenstein selbst hatte sich in seinem
späteren Werk gegen einen Mentalismus ausgesprochen, der unterstellt, das
Seelische sei ein prinzipiell von unserer Sprache unabhängiger Bereich, der im besten Fall - sprachlich benannt werden könnte. In diesem Zusammenhang formuliert Wittgenstein ebenfalls seine Kritik an der Vorstellung, das
Meinen sei ein unabhängig vom Sprechen stattfindender mentaler Vorgang,
der sich auf einen ebensolchen, unabhängig vom Sprechen wahrnehmbaren
mentalen Inhalt, das Gemeinte, beziehe. Mit seiner Untersuchung des Wortgebrauchs von „meinen“ zeigt Wittgenstein hingegen, dass das Gemeinte
durch den Kontext der Äußerung und die sprachlichen Anschlusshandlungen
identifizierbar wird.21 Demzufolge ist das, was gemeint ist, nicht als ein von
_____________
19
Wie Gendlin bemerkt dauerte es mehrere Wochen, bis schließlich die Studentinnen
und Studenten seines Kurses verstanden hatten, dass die übliche Vorstellung des
Denkens beim „Denken, wo Worte noch fehlen“, umgekehrt wurde und dass nicht
dasjenige zählte, was klar gesagt werden konnte, sondern dasjenige, was lediglich unklar, vage, schwammig... geäußert werden konnte (ders.: Introduction, a.a.O., S. 1).
20
Vgl.: Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus, Frankfurt a. M. 1984, 6.522. Seinen
Versuch, eben das zu sagen, was sich nicht sagen lässt, veranschaulicht Wittgenstein mit dem Bild einer Leiter, die der Leser, nachdem er sie benutzt habe, wegwerfen solle.
21
Ob etwa jemand, der auf einen Gegenstand zeigt und zugleich einen Begriff äußert,
die Form oder die Farbe des Gegenstands meint, ist nicht durch einen bestimmten
inneren Vorgang gekennzeichnet, der in diesen Situationen vorliegt, sondern durch
die Umstände der Wortverwendung: „d.h.... das, was vor und nach dem Zeigen geschieht...“ (Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, Frankfurt a. M. 1984, §35) Die
Vorstellung, das Meinen sei so etwas wie eine geistige Tätigkeit, die sich auf einen Gegenstand, das Gemeinte beziehe, rührt von einem Missverstehen der „Oberflächengrammatik“ dieser Wörter: „meinen“ wird grammatikalisch an der gleichen Stelle im
Satz verwendet, wie andere Tätigkeitswörter auch, und die Rede von dem, was ich
meinte, ist gegenständlicher Art. Wie H.J. Schneider ausführlich gezeigt hat, liegen
hier syntaktische Metaphern vor, d.h. die Übertragung von Satzstrukturen (etwa der
gegenständlichen Rede) auf Kontexte anderer – hier: nicht gegenständlicher – Art.
Das Nicht-Sagbare als Quelle der Kreativität
263
der Sprechsituation entkoppelter mentaler Gegenstand zu verstehen, sondern
die Sprechsituation und das Geäußerte selbst sind Kriterium für das, was
gemeint ist.22
John Searle, der sich im Rahmen seiner Sprechakttheorie auf Wittgensteins Sprachphilosophie stützt, folgert daraus, dass man „alles, was man
meinen, auch sagen kann.“23 Nach Searles Prinzip der Ausdrückbarkeit ist
alles, was irgendwie als sinnvoll begriffen werden kann, zugleich auch sagbar.24
Muss folglich die Methode des „Denkens, wo Worte noch fehlen“, als ein
absurder Versuch betrachtet werden, das Unsägliche sagen zu wollen und auf
diese Weise einer dunklen Metaphysik, die wir dachten, mit Hilfe der Sprachkritik hinter uns gelassen zu haben, Tür und Tor zu öffnen? Ist diese Vorgehensweise Ausdruck einer verbohrten Philosophie, die nicht einsehen will,
dass die Grenzen unserer Sprache auch die Grenzen unserer Welt sind (Wittgenstein: Tractatus, a.a.O., 5.6)? Wer ihr folgt, müsste sich dann darauf gefasst
machen, sich „Beulen“ zu holen, beim Anrennen gegen die (nicht akzeptierten) Grenzen unserer Sprache.25 Es ist an dieser Stelle also zu fragen: in welcher Hinsicht ließe sich sinnvollerweise von einer Situation des Denkens, wo
Worte noch fehlen, sprechen?
Die durch Wittgensteins Mentalismuskritik vermittelte, wichtige Einsicht
besteht darin, dass Sprache nicht funktionieren könnte, wenn Bedeutungen
etwas strikt Privates, für Dritte Unsichtbares und Unzugängliches wären. Zu
fragen ist aber, wie die Aussage, Wortbedeutungen würden durch ihre Einbettung in sprachliche und nicht-sprachliche, soziale Handlungsweisen konstituiert, zu verstehen ist. Bedeutet dies wiederum, dass Bedeutungen etwas strikt
Soziales haben? Und haben ein Wort, eine Tat, eine Situation immer nur genau diejenige Bedeutung, die ihnen durch die bestehende regelhafte Praxis
verliehen wird? Mit anderen Worten: sind Bedeutungen immer schon durch
_____________
22
23
24
25
(Schneider: Mentale Zustände als metaphorische Schöpfungen, in: Kellerwessel / Peuker
(eds.): Wittgensteins Spätphilosophie, Würuburg 1998). Wittgenstein drückt dies folgendermaßen aus: „Wo unsere Sprache uns einen Körper vermuten lässt, und kein Körper ist, dort, möchten wir sagen, sei ein Geist.“ (Wittgenstein 1984a: §36).
Dazu gehören auch die weiteren Umstände der Sprechsituation, etwa die nachfolgende Klarstellung meiner Intention in Sätzen wie: „ich wollte damals sagen....“ (vgl.
Wittgenstein 1984a: §660).
Searle: Sprechakte, Frankfurt a. M. 1997, S. 34.
Schneider zeigt: Searles Sprachphilosophie unterstellt dabei, das Gemeinte sei etwas,
das schon vor der Äußerung fertig vorhanden war und worauf sich die Äußerung bezieht (Schneider 2003: 3). Dies sei jedoch eine „von Philosophen in Umlauf gebrachte Fiktion“, denn es sei nicht möglich, Bedeutungen unabhängig vom sprachlichen
Ausdruck zu erfassen. „Über Bedeutung zu sprechen, heißt, wie schon gesagt, über
Zeichen unter dem Aspekt ihres Gebrauchs zu sprechen.“ (ebd.).
Vgl. Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, a.a.O., § 119.
Heinke Deloch
264
ihre sozialen Kontexte vollständig festgelegt und damit allgemeiner Natur?
Oder lässt sich auch sinnvoll von einer Ebene der noch unklaren, noch nicht
festgelegten, ja vielleicht sogar individuellen Bedeutung sprechen?26
Blicken wir zunächst noch einmal zurück auf sein Frühwerk, in welchem
Wittgenstein von einem Bereich des Kognitiven spricht, bzgl. dessen unsere
Sprache zu kurz zu greifen scheint und wir nicht hinkommen mit unserer
sprachlichen Ausdrucksfähigkeit, unseren zur Verfügung stehenden sprachlichen Mitteln. Wittgenstein nennt diesen Bereich „das Mystische“ (Wittgenstein: Tractatus, a.a.O., 6.522). Dabei gilt für Wittgenstein zunächst all das als
unaussprechlich, was sich nicht mit empirischen oder logischen, sprich: naturwissenschaftlichen Sätzen, ausdrücken lässt (ebd., 6.53). Hier gilt somit die
strikte Alternative: „Was sich überhaupt sagen lässt, lässt sich klar sagen“ und
„... was jenseits der Grenze liegt, wird einfach Unsinn sein.“ (ebd., S. 9). Welche Lebensbereiche sind es, die hier unaussprechlich erscheinen? Wittgenstein
geht es, wenn er im Tractatus vom Mystischen spricht, nicht um „logische
Fragen in einem bloß technischen oder ‚akademischen’ Sinn“, sondern um
„Tiefsinniges und Lebensbedeutsames“27. Insofern Fragen wie etwa die nach
dem Sinn des Lebens nicht mit empirischen oder logischen Sätzen zu beantworten sind, scheint es verständlich, dass Wittgenstein derartige Überlegungen als unaussprechlich bezeichnen muss. Gehen wir jedoch von seiner späteren Philosophie aus, so lässt sich zeigen, dass jener Bereich des
Lebensbedeutsamen durch Schaffung entsprechender sozialer Verwendungszusammenhänge genauso zur Sprache gebracht werden kann wie empirische
Fragestellungen. Demnach wären beispielsweise Dichtung und Kunst, Gottesdienste und Psychotherapie als Praktiken und Zusammenhänge zu verstehen, die als Artikulationsformen des Lebensbedeutsamen dienen können.
In welcher Weise lassen sich aber beispielsweise diese Praktiken verstehen
als Versuche des „Denkens, wo Worte noch fehlen“? Sind sie nicht vielmehr
Beweis für die Gültigkeit des Prinzips der Ausdrückbarkeit, demzufolge sich
alles, was man meinen kann, auch sagen lässt?
Wäre Searles Prinzip der Ausdrückbarkeit tatsächlich so zu verstehen,
dass für jeden Ausdruck A ein alternativer, präziser Ausdruck E angegeben
_____________
26
27
Wir alle verstehen das Wort „Mutter“. Doch ist die Bedeutung des Wortes „Mutter“
vollständig durch unsere gesellschaftliche Gebrauchsweise dieses Begriffs festgelegt?
Gibt es nichts, was darüber hinaus weist? Gibt es keinen Spielraum oder keine persönliche Färbung im Verständnis dieses Wortes? Natürlich, scheint man antworten zu
wollen, bedeutet das Wort „Mutter“ für jeden auch etwas ganz Individuelles. Es
könnte daher durchaus plausibel sein, zwischen einem Allgemeinverständnis dieser
Begriffe und einem individuellen Verständnis zu unterscheiden. Auf den ersten Blick
mag es so aussehen, als leugne Wittgenstein in seinem Spätwerk diese Ebene der individuellen Bedeutungen.
Schneider: Das Prinzip der Ausdrückbarkeit, a.a.O., S. 1.
Das Nicht-Sagbare als Quelle der Kreativität
265
werden könnte, der mit A zusammen fällt, so wäre das Prinzip, wie Schneider
bemerkt, tautologisch. Es würde dann heißen:
Für die Bedeutung des Ausdrucks A und jeden Sprecher S ist, wann immer S die Bedeutung von A meint, ein Ausdruck E möglich derart, dass E ein exakter Ausdruck
oder eine exakte Formulierung der Bedeutung von A ist.
Dies aber würde bedeuten:
Was immer sich in einem präzisen Sinne meinen lässt, das muss etwas sein, das bereits
präzise formuliert wurde.28
Dies aber würde bedeuten, dass wir tatsächlich in unserer Sprache gefangen
wären und es unmöglich wäre, jemals etwas Neues, etwas Eigenes oder Originelles zu sagen. Dies käme einer Negierung der schöpferischen Kraft unserer
Sprache gleich.
Ließe sich aber umgekehrt, sinnvollerweise behaupten, dass Bedeutungen
einerseits durch regelhafte Verwendungsweisen von Wörtern konstituiert
werden, gleichzeitig aber auch von einer Bedeutung gesprochen werden kann,
die noch nicht ausdrückbar sei? Können wir also sinnvollerweise von einem
Fall des Meinens sprechen, bei dem das Gemeinte eine noch unklare Bedeutung hat, d.h. wo uns eine Bedeutung, wie H.J. Schneider sagt, bloß „vage
vorschwebt“ und wir „sprachlich herumfuchteln“ (ebd.)?
Mit anderen Worten: Wie können wir, ausgehend von Wittgensteins Bedeutungsbegriff, sinnvollerweise von einer Situation sprechen, in der wir etwas sagen wollen, es aber noch nicht sagen können?
Um diese Frage zu beantworten, müssen wir einen Schritt zurück treten
und auf das Verhältnis von Sprache und Welt blicken. Unsere Sprache, unsere
Handlungsweisen, unsere Kultur geben uns einen Rahmen, innerhalb dessen
wir Ordnung und Struktur erleben – und dennoch können sie nie das Leben
als ganzes umfassen und regeln. Immer wieder entstehen neue Situationen,
die eines neuen Umgangs bedürfen. Immer wieder werden wir uns daher
bewusst, dass unsere sprachlichen und nicht-sprachlichen Regelsysteme von
uns zu bestimmten Zwecken geschaffen sind, aber auch im Laufe der Zeit der
Revision bedürfen – in dem Maße, wie sich die Lebensbedingungen und die
gesetzten Zwecke verändern. Dies gilt für alle Bereiche des Lebens und Handelns, nicht nur für Fragen des „Lebensbedeutsamen“, sondern auch für
empirische, logische und andere wissenschaftliche Fragestellungen. Alle Bereiche, die in Zusammenhang mit der menschlichen Kultur und den von
Menschen geschaffenen Symbolsystemen stehen, unterliegen einem solchen
„Zwang“ zur Veränderung.29
Jüngstes Beispiel dafür ist die Finanzkrise: wir sind gezwungen, andere
Handlungsoptionen innerhalb unseres Wirtschaftssystems zu finden und aus
_____________
28
29
Ebd., S. 3.
Vgl. Wittgenstein: Über Gewißheit, Frankfurt a. M. 1984, § 96-99.
Heinke Deloch
266
diesem Grunde blicken wir zurück auf die Vergangenheit und ordnen vergangenes Denken und Handeln neu ein: die Kategorien der verlässlichen Investition, der sicheren Geldanlage, des Risikos, etc. sind demgemäß wieder neu zu
definieren. Was zuvor als sicher und Erfolg versprechend galt, gilt nun als
bedrohlich. Wir sind an einem Punkt, an dem die herkömmlichen Kategorien
und Denkweisen zur Charakterisierung der aktuellen Situation und vor allem
– für die Suche nach einem Weg hinaus aus dieser Situation, nicht ausreichen
oder sich sogar als falsch erwiesen haben. Die neuen Inhalte, die hier artikuliert werden sollen, sind freilich noch nicht sprachlich verfasst. Das, was wir
meinen, wenn wir versuchen, in derartigen Umbruchsituationen Worte zu
finden, ist noch nicht klar sagbar.
Eine Situation, in der wir mit dem herkömmlichen sprachlichen Ausdrucksweisen nicht mehr sagen können, was wir gerne sagen würden, nennt
Gendlin „the edge“. Es handelt sich genauer gesagt, um die Schnittstelle
zwischen dem, was bereits „expliziert“, d.h. gesagt und verstanden ist, und
dem, was noch nicht gesagt und verstanden ist. Gendlin nennt dies auch „the
implicit“ (das „Implizite“) oder „the implicit intricacy“ (die „implizite Verwickeltheit“) oder „the implied meaning“ (die „implizite Bedeutung“)30. Entgegen unserer üblichen Haltung, in Situationen des „Herumtastens“, die noch
vagen Äußerungen zu entwerten, fordert Gendlin uns auf zu sehen und zu
würdigen, was alles in einer solchen Situationen vorhanden ist: So bin ich als
Person da, in mitten meiner Situation, und ich verbinde vielleicht eine gewisse
Hoffnung mit dem Thema, um das es geht, vielleicht verfolge ich auch eine
undeutliche Spur, etwas, das vielversprechend scheint... und es ist alles da, was
ich jemals gelernt habe (ebd., S. 130). Dies alles ist vorhanden, nur nicht in
einer Form, in der es unmittelbar durch logisches Denken weiter verarbeitet
werden kann. Es zeigt sich in einer „Verwickeltheit“, einer komplexen Situation („unseparated multiplicity“, ebd., S. 138) – und dennoch ist dies nicht
einfach eine Unordnung, ein Durcheinander. Gendlin spricht von einer sehr
feinen Ordnung des Impliziten, die vielleicht noch nicht ganz klar ist, die sich
aber entfalten ließe (ebd., S. 130.).
Das Implizite, Neue, das sich mittels der vorhandenen Kategorien nicht
sagen lässt, ist notwendigerweise an die Erlebensperspektive von Subjekten
gebunden. Es ist zunächst als etwas Körperliches wahrnehmbar, etwa als eine
Art Unbehagen, eine Nervosität, eine Euphorie... Und hier, in dieser Erkenntnis, findet sich bei Gendlin eine entscheidende Erweiterung des Wittgenstein’schen Bedeutungsbegriffs (vgl. auch Abschnitt iii). Gendlins These
lautet: Aufgrund seiner vielfältigen Erfahrungen in einem Fachgebiet oder
Lebensbereich hat das Subjekt ein körperlich spürbares Empfinden für das,
was neben den bereits formulierten Erkenntnissen von Bedeutung ist, aber
_____________
30
Gendlin: The New Phenomenology, a.a.O., S. 131 und 132.
Das Nicht-Sagbare als Quelle der Kreativität
267
noch nicht gesagt werden kann. Gendlin nennt dieses unklare körperliche
Empfinden „felt sense“ („sinnhaftes Gefühl“ oder „gespürte Bedeutung“):
Worauf ich mich beziehe, ist die Schicht des Unbewussten, die wahrscheinlich als
nächstes an die Oberfläche kommt. Dies wird zuerst körperlich gespürt, ist noch nicht
bekannt oder geöffnet, noch nicht im „Vorbewussten“. Für diese Schicht hatte Freud
keinen Begriff. Ebenso wenig gibt es dafür einen Begriff in der normalen Sprache.
Wir nennen es nun einen „Felt Sense“.31
Gendlin illustriert dies am Beispiel eines Piloten, der einen Flug aufgrund der
Wetterlage absagt, obwohl man laut Wetterbericht hätte fliegen können. Ohne dass der Pilot genau sagen könnte, warum er dem Wetter nicht traut, hat er
doch ein ungutes Gefühl, eine Ahnung, dass es nicht gut wäre zu fliegen.32
Angenommen, das Wetter änderte sich tatsächlich, so wäre es von unschätzbarem Wert, wenn der Pilot artikulieren könnte, was genau ihn vom Fliegen
abgehalten hat.33 Mit dem herkömmlichen Sprachgebrauch, den etablierten
meteorologischen Kategorien ist dies nicht möglich. So erscheint die Einschätzung des Piloten als irrational, unverständlich. Die Artikulation des
„Neuen“, das ihn davon abhält zu starten, würde es erfordern, eben jenem
„unguten Gefühl“, jener Ahnung, d.h. jenem bislang nicht präzise artikulierbaren Bezugspunkt nachzugehen, der als solcher noch nicht verstanden ist.
Das Finden von Worten, die bislang fehlen, wäre dabei nicht zu verstehen als
ein Abbilden eines bislang verborgenen Wissens, sondern als Weiterführung
oder sogar Weiterentwicklung dessen, was als bedeutungsvoll erlebt wird:
New phrasing is possible because language is always implicit in human experiencing
and deeply inherent in what experiencing is. Far from reducing and limiting what one
implicitly lives and wants to say, a fresh statement is physically a further development
of what one senses and means to say.34
_____________
31
32
33
34
Gendlin: Focusing. Technik der Selbsthilfe bei der Lösung persönlicher Probleme, Salzburg 1987,
S. 37.
Gendlin: Introduction, a.a.O., S. 2.
Es wird von verschiedenen Wissenschaftlern berichtet, dass ihrer Artikulation neuer
Theorien ein solches Stadium des bewussten körperlichen Spürens vorher ging, z.B.
Michael Brown, Nobelpreisträger in Chemie, oder Stanley Cohen, Nobelpreisträger in
Medizin, vgl. Fensham & Marton: What happened to intuition on science education?, in: Research in Science Education 22 (1992), S. 114-122.
Gendlin: Introduction, a.a.O., S. 5. Das, was implizit ist bzw. war, kann immer erst
rückblickend identifiziert werden, nämlich dann, wenn es expliziert wurde und damit
Teil des begrifflichen Denkens geworden ist. Gendlin begreift das Implizite daher
auch als Teil einer internen Relation zwischen implying (Implizieren) und occurring
(Eintreten). „Intern“ heißt dabei: beide Relata sind nicht unabhängig voneinander
identifizierbar: so ist das, was eintritt, immer erst identifizierbar als Entfaltung von
etwas Impliziten, das Implizite dagegen ist immer nur identifizierbar im Hinblick auf
seine Äußerung, das Eingetretene (vgl. dazu auch Hendricks: From the Editor, a.a.O., S.
iii).
Heinke Deloch
268
Damit wird deutlich: Beim Thinking at the Edge geht es nicht um eine Gegenüberstellung von Empirischem und Metaphysischem oder von Sichtbarem
und Unsichtbarem, sondern von dem mit dem herrschenden Sprachgebrauch
Sagbaren und dem noch nicht Sagbaren.
Mit letzterem sind bedeutungsvolle Erlebensanteile gemeint, die aufgrund
der herrschenden Denk- und Sprachkonventionen bislang nicht adäquat in
Worte gefasst werden können. Besonders deutlich wird dies in Umbruchoder Zukunftssituationen, in denen wir um Worte ringen für das, was wir
aufgrund unserer komplexen Erfahrungen als bedeutsam erleben, was aber
mit den etablierten sprachlichen Routinen bislang nicht sagbar ist.35
Es stellt sich nun die Frage, wie genau die Relation von Sprache und Erleben von Gendlin gedacht wird, so dass einerseits beide nie strikt zu trennen
sind und doch aus dem Erleben heraus neue Bedeutungen entstehen können.
iii. Zum Verhältnis von Bedeutung und Erleben bei Gendlin
In seiner Dissertation Experiencing and the Creation of Meaning (Evanston 1962),
untersucht Gendlin das Verhältnis von Sprache und dem eigenen, persönlichen Erleben. Beide, Sprache und Erleben, stehen, so Gendlin, in einem
inneren Zusammenhang: Worte, Phrasen, Dinge, Menschen – alles, was im
weitesten Sinne als Symbol fungieren kann, hat nur dann eine Bedeutung,
wenn es in Beziehung zu unserem Erleben steht.36 In dieser Hinsicht ist die
Bedeutung selbst eine Dimension des Erlebens. Dieser Zusammenhang wird
auch mit dem Ausdruck „felt sense“ (zunächst als „felt meaning“ bezeichnet,
ebd.) betont, der übersetzt werden kann mit „erlebte“ oder „gefühlte Bedeutung“ oder „erlebter“ bzw. „gefühlter Sinn“. Wenn Gendlin von „Erleben“
spricht, meint er keine begrifflich unterschiedenen Inhalte unserer Wahrnehmung, sondern unseren nie abreißenden Erlebensfluß, dem wir uns jederzeit
innerlich zuwenden können (ebd., S. 3). Sprachliche – und andere - Symbolisierungen betrachtet Gendlin nicht als eigenständige und vom Erleben trennbare Vorgänge, wie es die Rede von den Funktionen der Symbolisierung und
des Erlebens nahe legt. Er schlägt daher vor, von den symbolischen Funktio_____________
35
36
Wie Gendlin zeigt, gilt dies genau genommen, immer dann, wenn wir von unserem
persönlichen Erleben her sprechen, da dieses immer mehr, immer genauer, immer
präziser ist, als sozial etablierte Redeweisen über Gefühle, Bedürfnisse, Erwartungen
etc. (vgl. Gendlin: Process Model, a.a.O., S. 217f).
„We cannot even know what a concept „means“ or use it meaningfully without the
„feel“ of its meaning. No amount of symbols, definitions, and the like can be used in
the place of the felt meaning. If we do not have the felt meaning of the concept, we
haven’t got the concept at all – only a verbal noise.“ (Gendlin: Experiencing and the
Creation of Meaning, Evanston 1962, S. 5f).
Das Nicht-Sagbare als Quelle der Kreativität
269
nen des Erlebens zu sprechen (ebd., S. 97). Als Symbol kann alles dienen, was
die Rolle eines Symbols einnehmen kann (auch Personen, Dinge, Situationen...), also nicht nur Zeichen (ebd., S. 90). Die Bezugnahme auf das Erleben
anhand von Symbolen betrachtet Gendlin nicht als Repräsentation oder Abbildung. Vielmehr sind die Symbolisierungen zu verstehen als mehr oder
weniger stimmige „Antworten“ auf das Erleben, die dieses selbst – im Fall der
Stimmigkeit – weiter voran tragen (Gendlin nennt dies „carrying forward“).
Ebenso „antwortet“ das Erleben auf alles Symbolische, auch wenn dies nicht
immer bewusst ist. Erleben und seine Symbolisierungen werden als Aspekte
einer „responsive order“ verstanden.37
Indem er grundlegende phänomenologische Begriffe zur Beschreibung
einer solchen „responsive order“ prägt, entwirft Gendlin eine Alternative zum
atomistischen Wissenschaftsparadigma, das Untersuchungsgegenstände wie
beispielsweise die menschliche Psyche in empirisch messbare Zustände und
Vorgänge unterteilt und diese von den verwendeten sprachlichen Kategorien
entkoppelt. Gleichzeitig entwirft Gendlin ein Gegenmodell zum postmodernen Verständnis eines den Untersuchungsgegenstand konstituierenden Charakters der Sprache. So versteht die „Philosophie des Impliziten“ Sprache
immer schon als im Erleben inbegriffen, gleichwohl das Erleben als stets über
die Sprache hinausgehend.38 Mit anderen Worten: Sprachliche Kategorien
spielen zwar immer schon eine Rolle im Erleben, doch sie legen es nicht fest.
Das Erleben ist immer reichhaltiger, immer mehr, als sich durch die Begriffe
sagen lässt. Unsere begriffliche Auseinandersetzung mit der Welt kann deshalb nur als eine weitere Differenzierung unseres Erlebens gelten, das, insofern wir als lebendige Organismen in ständiger Auseinandersetzung mit der
Welt befindlich sind, stets umfassender ist:
Your body is not a machine, rather a wonderfully intricate interaction with everything
around you, which is why it „knows“ so much just in being. ... The different cultures
don’t create us. They only add elaboration. The living body is always going beyond
what evolution, culture and language have already built.39
Gendlins phänomenologische Beschreibungen der Begriffe „Körper“ und
„Umwelt“ sind prozessorientiert: der Körper ist kein von der Umwelt losgelöstes Ding, das durch kausale Wechselwirkungen in Interaktion gerät, sondern Körper und Umwelt werden als Aspekte desselben Prozesses gedacht.
_____________
37
38
39
Vgl. Gendlin: The New Phenomenology, a.a.O., S. 128.
Vgl. Gendlin: Experiencing and the Creation of Meaning, a.a.O.; ders.: Thinking beyond
Patterns, a.a.O., S. 4.
Gendlin: Focusing, New York 2003, S. viiif.
270
Heinke Deloch
Body and en (gemeint ist hier: En#2, d.h. Gendlins zweiter Begriff von „environment“) are one event, one process. For example, it is air-coming-into-lungs-and-blood
cells. Either way it is one event, viewed as en or as body.40
In these definitions process is first. We don’t assume the „body“ and the „environment“ and then put them together.41
Veränderungen der Umwelt bedeuten insofern im selben Moment bereits eine
Veränderung des Körpers. Dieser ist daher immer in Veränderung begriffen.
Jede Lebenssituation zugleich trägt die Möglichkeit eines Entfaltungsschrittes
in sich: „The body is always sketching and probing a few steps further. Your
ongoing living makes new evolution and history happen – now.”42
Jedoch läuft dieser Entwicklungsprozess nicht notwendigerweise ab. Unsere begrifflichen Vorstellungen und kulturellen Muster können vielmehr zum
Hindernis einer solchen natürlichen, organismischen Entwicklung werden.
Verfestigen sich unsere Lebenszusammenhänge und –vorstellungen sowie
unsere Vorstellungen von der Welt, so nehmen wir nicht mehr am aktuellen
Veränderungsprozess teil.43 Gendlin nennt diesen „Zustand“ auch „pausing“:
anstatt mit unserem Handeln und Denken unsere Situation voranzubringen,
verharren wir in immer gleichen Handlungs- und Denkschleifen (Gendlin: A
Process Model, a.a.O., VIIB f.)12.). Er betrachtet die meisten unserer heutigen
hoch symbolischen Lebenszusammenhänge und Tätigkeiten als entkoppelt
von organismischen Prozessen und deren Wahrnehmung.44 Fehlt dieser Bezug zum Erleben, so hantieren wir mit leeren Worthülsen und unser Denken
verliert seine Lebendigkeit, bis es schließlich ganz verödet: „... that way thin_____________
40
41
42
43
44
Gendlin unterscheidet vier verschiedene Umweltbegriffe (vgl. ders.: Process Model,
a.a.O., Kap.1).
Beide Zitate: Ebd., S. 1 und 5.
Gendlin: Focusing, a.a.O.
In der Psychotherapie wird dabei von strukturgebundenem Verhalten gesprochen; es
handelt sich um Gewohnheiten, die wir aufgrund strikter Vorstellungen von uns
selbst und unserer Umwelt ausüben, ohne sie an Veränderungen anzupassen oder negative Auswirkungen durch Verhaltensänderungen abzufangen. Rogers unterscheidet
dabei verschiedene Stufen der Strukturgebundenheit, vom strikt strukturgebundenen
Verhalten hin zur „fully functioning person“, die in gutem Kontakt zum eigenen Erleben steht und flexibel auf Veränderungen reagieren kann (Rogers: Klientenzentrierte
Psychotherapie [1980], in: Rogers / Schmid (eds.): Person-zentriert, Mainz 1991).
Gendlin spricht deshalb auch von „thinned actions“. Dies bedeutet, dass mit vielen
unserer heutigen Tätigkeiten kein organismisches Erleben mehr einher geht (ders.: A
Process Model, a.a.O., S. 228). Er meint damit Handlungen und Routinen unseres urbanen, bildungsbürgerlichen Lebens, von denen die meisten eher symbolischer denn
körperlicher Natur sind (ebd., VIIIAb). Zwar können zeitgenössische kulturelle Verhaltensmuster als Verwicklungen vieler impliziter Handlungsmöglichkeiten betrachtet
werden, jedoch geht mit ihnen meist kein individuelles, körperlich spürbares Wachstum einher. Obwohl wir also in einem Kontext reichhaltiger Möglichkeiten/Bedeutungsräume leben, sind unsere Handlungen, vom körperlichen Erleben her
betrachtet, eher mager, oder, wie Gendlin sagt, „ausgedünnt“ (ebd., VIIB f.)12).
Das Nicht-Sagbare als Quelle der Kreativität
271
king dies“45. Leider ist es diese „ausgedünnte“ Version des Denkens, die heute an vielen Schulen und Universitäten praktiziert wird.46
Dies jedoch bedeutet nicht, dass ein lebeindiges Denken unmöglich geworden wäre: Überall, wo der Mensch über Erfahrung verfügt, ist er auch
organismisch eingebunden. Im Falle hoch symbolischer Tätigkeiten, deren
Einübung zum Teil sogar eine bewusste Ausblendung des persönlichen Erlebens verlangt, kann es jedoch einen längeren Prozess der Bewusstmachung
erfordern, bis der Bezug zum Erleben wieder wahrgenommen und ihm auch
vertraut werden kann47:
One can easily think of thousands of doings and sayings that will not carry forward
one's bodily being in the situation. It is difficult, and a new creation to do and/or say
what is implied, and will carry forward (or "meet") the situation. Thus it is easy to see
how definite this implying is, even when we don't yet know what to say or do.48
Ein lebendiges, die Situation voran tragendes Sprechen, geschieht also nicht
von allein; es erfordert eine besondere Anstrengung. Gelingt es, so wird wieder zu einem körperlich spürbaren Prozess: die richtigen Worte fallen uns ein,
frische Sätze kommen – im Sinne von Antworten auf die als bedeutungsvoll
erlebte Situation. Indem die neu gefundenen sprachlichen Formulierungen ein
neuartiges Verständnis der Situation ermöglichen, verändern sie diese im
selben Moment und ermöglichen dadurch wiederum neue Explikationen. Aus
diesem Grunde kann etwa das Erleben einer an ein bestimmtes Paradigma
gebundenen Problemsituation zum Ausgangspunkt für eine frische, genauere
Wahrnehmung der Situation und für die Entwicklung immer neuer begrifflicher Zusammenhänge und Prämissen werden, wie es im Rahmen der Methode TAE vorgesehen ist. Im folgenden wird geschildert, was genau unter einer
Bezugnahme auf das Erleben in diesem Zusammenhang gemeint ist.
_____________
45
46
47
48
Gendlin: In having more than one shape, the truth is more, but it isn’t a shape, Transcript,
Keynote Address, Psychology of Trust and Feeling Conference, Stony Brook, New
York 2006.
„Der Gegenstand „Kreativität“ ist innerhalb der akademischen Philosophie ein
Sprengsatz. Sie ist sich dessen nur untergründig bewusst, aber alles, was philosophisch
über das Phänomen Kreativität zu ergründen ist, läuft im Ergebnis auf eine Kritik exakt jener Methoden hinaus, mit denen gearbeitet wird.“ (S. Mahrenholz: Kritik des
Denkens, Kreativität als Herausforderung für Erkenntnis und Rationalitätskonzepte, in: Abel
(ed.): Kreativität, Sektionsbeiträge des XX. Deutscher Kongress für Philosophie, Berlin
2005, Bd. I, S. 53).
Gendlin hat, im Rahmen seiner Forschung zu psychotherapeutischen Veränderungsprozessen, eine Technik hierfür entwickelt. Das „Focusing“ soll es jedem Menschen
ermöglichen, gezielt auf sein eigenes Erleben Bezug zu nehmen und Symbolisierungen
dafür zu finden. In 6 Schritten wird dabei gelernt, wie das Erleben in die Betrachtung
konkreter Lebensfragen einbezogen werden kann (vgl. Gendlin: Focusing, a.a.O.).
Gendlin: A Process Model, a.a.O., VIIB f.11.
Heinke Deloch
272
iv. Die unmittelbare Bezugnahme auf das Erleben
als Ausgangspunkt der Methode TAE
Im Hinblick auf das Wechselspiel von Symbolisierungen und Erleben unterscheidet Gendlin 7 verschiedene funktionale Beziehungen.49 Eine dieser Relationen zwischen Symbolen und Erleben ist die „unmittelbare Bezugnahme
auf das Erleben“ („direct reference“). Sie stellt zugleich den Ausgangspunkt
des experientiellen Denkens und der Methode TAE dar.
Als „Bezugnahme auf das Erleben“ versteht Gendlin einen Vorgang, bei
dem die Aufmerksamkeit auf das eigene, körperliche Fühlen angesichts eines
bestimmten Themas, einer Situation, einer Handlung oder eines Begriffes –
genauer: angesichts jeglicher Form von Symbolisierung - gerichtet wird (ebd.,
S. 92). Um diese Aufmerksamkeit halten zu können, braucht es ein Symbol,
das dieses bestimmte Fühlen hervorhebt oder kennzeichnet. Dieses Symbol
kann, muss aber nicht sprachlicher Natur sein. Alltagssprachliche Äußerungen, mit denen wir oftmals eine Bezugnahme auf unser Erleben ausdrücken
sind: „dieses da...“ oder „das, was ich tun wollte“ oder, „das, worum es mir
geht...“. Die benutzten Symbole fungieren dabei wie ein hinweisender Zeiger
auf das Gefühlte; sie bilden es nicht inhaltlich ab. Unsere vorläufigen Wörter
und die Situation, sind wie ein Anker, der uns an jener Stelle festhält, die wir
nicht verlieren wollen, wo wir noch mehr zu sagen, zu tun oder, allgemeiner,
zu symbolisieren haben.
Um einen Bezugspunkt im Erleben zu finden, an dem wir dieses „Mehr
als...“ spüren können, werden beim experientiellen Denken Fragen bearbeitet,
die auf das Erleben der konkreten Situation als komplexes Ganzes abheben,
beispielsweise: „Wie erleben ich diese Situation, als Ganzes, körperlich?“50
Ein „felt sense“ ist angesichts eines bestimmten Themas in den meisten Fällen nicht einfach da. Mit den Fragen wird ein Rahmen geschaffen, der das
Entstehen einer inneren Achtsamkeit unterstützt, so dass auch die meist eher
undeutlichen körperlichen Reaktionen wahrnehmbar werden:
A felt sense is usually not just there, it must form. You have to let it form by attending
inside your body. When it comes, it is at first unclear, fuzzy... it can come into focus
_____________
49
50
Gendlin: Experiencing and the Creation of Meaning, a.a.O
Vgl.: Gendlin: Focusing-orientierte Psychotherapie, München 1987, S. 37f. Da diese direkte
Fragestellung nicht immer hilfreich ist, können weitere, vorbereitende Fragen gestellt,
etwa: Wo in meinem Betätigungsfeld gibt es eine Situation, angesichts derer ich den
Eindruck habe, dass etwas Wichtiges nicht gesagt werden kann? An welchen Punkten
verspüre ich ein starkes Interesse, eine Neugier, einen Drang, etwas zu äußern, das ich
bislang aber nur vage, diffus ausdrücken kann? Was liegt mir im Moment besonders
am Herzen? Was beschäftigt mich besonders? (Deloch / Feuerstein: Konzeptentwicklung
mit TAE, Arbeits- und Protokollblätter, Deutsche Focusing Gesellschaft, Gengenbach 2009, unveröffentliches Lehrmaterial).
Das Nicht-Sagbare als Quelle der Kreativität
273
and change. A felt sense is the body’s sense of a particular problem or situation... It
feels meaningful, but not known. It is body-sense of meaning.51
Fragen Sie sich beispielsweise jetzt: „Wie geht es mir beim Lesen dieses Textes?“ und achten Sie dabei auch auf das, was körperlich spürbar ist. Das für
das Bedeutungsverstehen relevante Erleben ist dabei nicht so einfach und klar
erkennbar, wie z.B eine Kälteempfindung oder ein uns bekanntes Gefühl wie
Wut oder Freude. Der „felt sense“ ist „leiser“, weniger deutlich, etwas, das
wir nicht gleich mit einer bekannten Vokabel fassen und beschreiben können.52
Eine solche Vorgehensweise ist im akademischen und nicht-akademischen
Alltag eher ungewöhnlich: so besteht die übliche Denkweise darin, komplexe
Sachverhalte in verständliche, klar abgegrenzte Teilbereiche zu zergliedern
und für diese durch begründetes Aneinanderreihen und Folgern Erkenntnisse
zu formulieren. Beim herkömmlichen logisch-rationalen Denken gilt: Was
immer gedacht und gesagt wird, soll klar ausgedrückt werden können, ansonsten wird man verdächtigt, „auf dem Holzweg“ zu sein.
Beim experientiellen Denken geht es dagegen zunächst darum, einen
Blickwinkel auf die (fachliche) Situation so einzustellen, dass die Komplexität
und „Verwickeltheit“ des Themas als Ganzes in Augenschein genommen und
die herrschende Verwirrung und Unklarheit sowie die vagen Ahnungen und
Intuitionen als solche bewusst stehen gelassen werden. Dies ermöglicht eine
gezielt herbei geführte kontemplative Pause, welche die gewohnten, schnellen
Denkroutinen unterbricht: „It is a different activity, which makes a „pause“ in
the usual activity. The different activity is sensing the whole thing, as a whole”
(ebd., S. 229).
Das unmittelbare Bezugnehmen auf das eigene Erleben hat dabei zwei
scheinbar widersprüchliche Merkmale, die auch als „(fest-)halten“ („holding“)
und „kommen lassen“ („letting“) beschrieben werden: es geht darum, die
fachliche Situation als Ganze bewusst in der Aufmerksamkeit zu halten und
zugleich ein sinnhaftes Gefühl für die fachliche Situation entstehen zu lassen:
In direct referent formation one both keeps the situation the same, and one also lets it
change. One keeps it the same by holding the relevance, the point, the sense of the
whole thing, the same. It is this situation (and all that is involved in it), which I wish to
sense as a whole. I hold on to this relevance. But also, I await the coming of a new
kind of feel, the felt sense of the whole business. I can only let it come, I can’t make
it. In letting it come, I allow my body-feel to stir, to move, to do whatever it does independently of my deliberate control, while I do employ my deliberate control to keep
the situation, the relevance.53
_____________
51
52
53
Gendlin: Focusing, a.a.O., S. 11.
Zum Unterschied zwischen „felt sense“ und Emotionen vgl. ebd., S. 95ff. .
Gendlin: A Process Model, a.a.O., S. 233.
Heinke Deloch
274
Das nicht kategorisierende Verweilen bei der Situation als Ganzer und das
Hinachten auf unklare, vage Empfindungen ist eine Tätigkeit, die ein großes
Maß an Offenheit, Geduld und Experimentierfreude verlangt. Die Methode
Thinking at the Edge ist daher nicht nur als Instrument zur Erzeugung neuartiger Ideen und Produkte zu verstehen, sondern kann als Teil einer didaktischen Bewegung betrachtet werden, die der Bildungsforscher G. Claxton
charakterisiert durch ihr Bestreben, „positive Lerndispositionen“ zu entwickeln. Diese zielen ab auf das Lernen in einer bestimmten psychischen Verfasstheit, die beschrieben wird als „verinnerlicht, entspannt, offen, aufmerksam und vorsichtig vorantastend“.54 Interessant sind also nicht nur die
Ergebnisse von TAE-Prozessen, sondern interessant ist auch die Art und
Weise, wie diese Ergebnisse entstehen und wie die Subjekte den Entstehungsprozess erleben: Im Unterschied zu den üblichen Kreativitätstechniken
wird Neuheit hier nicht erzielt durch zufällige Assoziationen und Zufallstechniken, sondern durch ein systematisches Rekurrieren auf die in einem bestimmten Gebiet gemachten Erfahrungen und das damit verbundene, auch
unterschwellige Erleben. Indem dieses immer wieder eingeladen wird und
gezielt Raum bekommt, können Sichtweisen, Haltungen, Ideen, Produkte...
entwickelt werden, die in engem Zusammenhang zu den eigenen Erfahrungen
stehen und diese für weitere Erkenntnisse und Entwicklungen nutzen. Die
Methode TAE kann deshalb auch nur dort angewandt werden, wo bereits
Erfahrungen in einem bestimmten Themen- oder Lebensbereich gemacht
wurden: „what we enter is „thick“ from years of experience“.55
v. Mit Worten mehr sagen, als die Worte bislang sagen können:
die 1. Phase des Thinking at the Edge
Besteht einmal die oben beschriebene auf das Thema als Ganze gerichtete
körperliche Aufmerksamkeit, so wird es möglich, Wörter zu finden, die eine
treffende Neubeschreibung der aktuellen fachlichen Situation geben.
_____________
54
55
Claxton: Thinking at the edge: developing soft creativity, in: Cambridge Journal of Education
36 (2006), S. 360, siehe auch Martindale: Biological bases of creativity, in: R.J. Sternberg
(ed.): Handbook of creativity, Cambridge, S. 137-152. Claxton macht darauf aufmerksam,
dass derartige didaktische Ansätze auf eine epistemische Kultur hinwirken wollen, die
vielerlei Aspekte beinhaltet: neben pädagogischen Fragen auch den Sprachgebrauch
zwischen Studierenden und Lehrenden, formale und informelle Arten des Lobs und
der Kritik, Managementpraktiken, etc. (ebd.).
Kye Nelson: Starting TAE from a strong position, in: The Folio 19 (2000-2004), S. 27-33.
Das Nicht-Sagbare als Quelle der Kreativität
275
Im ersten Schritt des TAE-Prozesses werden Anweisungen gegeben56, auf
körperliche Empfindungen, seien sie noch so vage oder unauffällig, zu achten
und bei diesen zu verweilen. In einem weiteren Schritt werden aus diesem
Zustand der Aufmerksamkeit heraus Wörter gesucht, die sich in Resonanz
zur körperlichen Empfindung befinden. Ob eine solche Resonanz vorliegt,
wird nicht argumentativ erklärt, sondern erspürt. Die so gefundenen Wörter
werden benutzt, um eine neuartige, eigene Perspektive auf das gewählte Thema zu formulieren. Der entstandene Text wird anschließend zu einem Kernsatz verdichtet, aus dem ein Schlüsselbegriff ausgewählt wird. Beide gelten als
„Platzhalter“ für die Verwickeltheit und Komplexität dessen, was ich angesichts des Themas zu sagen habe.
Nun ist der gewählte Schlüsselbegriff, der im Folgenden durch weitere,
genauere Begriffe paraphrasiert wird, meist keine sprachliche Neuschöpfung.
Wie aber ist es möglich, mit alten Worten Neues zu sagen? Worin besteht die
Besonderheit, die eingeforderte und angekündigte Kreativität? Jene Worte, die
aus dem Erleben heraus geäußert werden, erscheinen, angesichts des gewählten Themas, oftmals als ungewöhnlich, irritierend, vielleicht sogar widersinnig. Sie in diesen Kontext einzubringen, gleicht einem metaphorischen
Sprachgebrauch.57 Die Methode TAE zielt ab auf jenes kreative Potential des
Sprechens, das uns ermöglicht, immer wieder neue Ausdrucksweisen zu finden, auch dann, wenn wir auf ein bereits vorhandenes Vokabular zurückgreifen.58 Es handelt sich um eine Fähigkeit, die wir uns nicht erst aneignen müs_____________
56
57
58
Üblicherweise wird die Methode in Workshops vorgestellt und angeleitet. Dabei
bilden jeweils zwei Personen eine Arbeitspartnerschaft und begleiten sich wechselseitig anhand von Arbeits- und Protokollblättern durch den Prozess. Dabei gibt es stets
eine AktuerIn und eine BegleiterIn; die BegleiterIn liest die Anleitungen vor und protokolliert alles, was die AkteurIn sagt. Auf diese Weise entstehen erste Textfragmente
in Form von Gesprächsprotokollen, die dann durch Eigenarbeit individuell präzisiert
und ergänzt werden.
Gendlin: Experiencing and the Creation of Meaning, a.a.O, Kap III, B, 1.
Insofern jeglicher Sprachgebrauch eine Antwort auf eine neue Situation darstellt, hat
Sprache immer kreative Aspekte, d.h. ist der Sprachgebrauch in den wenigsten Fällen
einfach als mechanische Wiederholung zu betrachten. Schneider schlägt daher vor, die
Unterscheidung von wortwörtlichem und metaphorischem Wortgebrauch zugunsten
der Unterscheidung von „üblichen“ und „neuen“ Ausdrucksweisen aufzugeben
(Schneider: Das Prinzip der Ausdrückbarkeit, a.a.O., S. 5f). Die Tatsache, dass wir
manchmal Dinge sagen, die wir so bisher nicht sagen konnten, ist also kein Grund,
anzunehmen, hier geschähe etwas Unzulässiges oder im dunklen Sinne Metaphysisches. Umgekehrt sollten wir jedoch dort aufmerksam werden, wo sprachliche Strukturen und Ausdrucksweisen rigide wiederholt werden, und eine natürliche Fortsetzung
der kreativen sprachlichen Ausdrucksfähigkeit unterbleibt: In derartigen Situationen
kann durch Einbeziehung unseres individuellen Erlebens, der natürliche, organismische Prozess der Entfaltung unseres Sprechens und Denkens wieder möglich gemacht
werden.
Heinke Deloch
276
sen, da sie in unserem menschlichen Leib verwurzelt ist: „This capacity of
language is rooted in the human body as reflexively sensed from inside.“ Das
Kombinieren der Worte beim Sprechen ist damit ein Akt, den wir in der Regel nicht vollständig bewusst steuern:
Our body physically rearranges the same old words, so that they come to us already
arranged in new phrases and sentences. This is so in all ordinary speech, not only in
fresh thinking.59
Das Kommen der Worte vergleicht Gendlin mit dem Kommen der Tränen,
des Schlafes, des Orgasmus (ebd.). Dies ist seiner Phänomenologie zufolge
nicht verwunderlich, denn Gendlin begreift die Sprache als implizit in all
unseren leiblichen Regungen, auch im Schlafen, in den Muskelbewegungen.
Der Körper aber ist stets genauer, feiner, differenzierter als unsere sprachlichen Unterscheidungen: er kann auf einer neuartigen Verwendungsweise
eines Ausdrucks bestehen, die bislang noch nicht gefunden wurde: „we often
need to find our way beyond the cultural forms.“ (ebd.).
Die Methode TAE lädt dazu ein, bewusst solche kreativen sprachlichen
Schritte kommen zu lassen. Gendlin beruft sich dabei auf Wittgensteins
Sprachphilosophie:
... Wittgenstein showed that the capacity of language far exceeds the conceptual patterns that inhere in it. He demonstrated convincingly that what words can say is quite
beyond the control of any concept, pre-existing rule, or theory of language. ... Building on this, we have developed in TAE a new use of language that can be shown to
most anyone who senses something that cannot yet be said.60
Auch wenn also Wortbedeutungen, wie Wittgenstein gezeigt hat, vor dem
Hintergrund von Regeln zu verstehen sind, so bedeutet dies nicht, dass die
Regeln den Gebrauch der Wörter vollständig beschreiben, geschweige denn
festlegen. Wittgenstein selbst gibt Beispiele eines bedeutungsvollen Regelbruchs, d.h. des von der gewöhnlichen Verwendungsweise abweichenden
Wortgebrauchs. So können wir, indem wir die Wörter gebrauchen, ihre Verwendungsweise abändern oder – wie Wittgenstein sagt – „we make up the
rules as we go along“ (PU § 83).
Die kreative Erweiterung des Sprechens sprengt also gerade nicht den
Rahmen sinnvoller Rede. Vielmehr beruht unser Sprachvermögen auf derart
kreativen Akten. Ein bewusster Regelbruch bzw. das Schaffen neuer Redewendungen, werden der einzelnen SprachverwenderIn jedoch oft erst dann
möglich, wenn bewusst wird, dass es etwas Bedeutsames gibt, das mithilfe des
herrschenden Sprachgebrauchs nicht ausgedrückt werden kann. Die etablierten Kategorien scheinen dann regelrecht zu verhindern, was gesagt werden
soll. Die erste Phase der Methode TAE wird daher zusammenfassend be_____________
59
60
Gendlin: The New Phenomenology, a.a.O., S. 128 und 132.
Gendlin: Introduction, a.a.O., S. 2.
Das Nicht-Sagbare als Quelle der Kreativität
277
schrieben als „Breaking the language barrier“, d.h. es geht darum, die vorherrschenden Sprachgewohnheiten zu durchbrechen. Ziel ist, ausgehend vom
eigenen Erleben des Themas neue Ausdrucksweisen zu finden, die auch quer
liegen können zu den bestehenden sprachlichen Unterscheidungen. Harbert
Rice umschreibt diese Aufgabe treffenderweise als „using words in order to
get beyond words.“.61
Um sich von den herrschenden Kategorien zu lösen, werden in der 1.
Phase des Prozesses neben einer Anleitung zum körperlichen Erspüren des
Themas noch weitere Angebote gemacht: in Schritt 2 wird dazu aufgefordert,
Widersprüche im gewählten Themenbereich zu finden (so kam eine Studentin
zu dem Schluß: Zweisprachigkeit bedeutet, zwei Sprachen zu beherrschen
und sie nicht zu beherrschen; eine andere Studentin kam zu dem Schluß:
Ironie trennt und verbindet Menschen). In Schritt 3 und 4 werden die Anwender aufgefordert, für ihren Schlüsselbegriff neue, spezifischere Verständnisse zu entwickeln und sie von bestehenden Verwendungsweisen, vom herrschenden Diskurs, abzugrenzen (so führte die eben angeführte Studentin den
Sprachgebrauch Zwischensprachigkeit ein und grenzte diesen Begriff vom
etablierten Begriff der Zweisprachigkeit ab).
Die neu entwickelten sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten sind nicht als
willkürliche Definitionen zu betrachten. Vielmehr stehen sie in unmittelbarer
Resonanz zum sinnhaften Gefühl des eigenen Anliegens. Dabei stellen sie
weder ein Abbild dieses sinnhaften Gefühls dar, noch eine Nachahmung.62
Einerseits tragen sie die in dem Gefühl enthaltene Bedeutung in sich, andererseits entfalten sie diese weiter, präzisieren, ändern sie:
In one important sense, then, the resulting symbolization does symbolize the original
felt meaning. In another sense it specifies it, adds to it, goes beyond it, or reaches only
part of it – in short, changes it.63
Im Falle eine stimmige Symbolisierung für das sinnhafte Gefühl gefunden
wird und dieses sich verändert, ist diese Veränderung selbst körperlich spürbar. Gendlin bezeichnet eine solche Veränderung als „felt shift“; damit geht
oftmals eine Erleichterung einher, wie z.B. ein Lachen, ein tiefes Durchatmen
oder Tränen, die kommen. Die gefühlte Veränderung gilt als Zeichen für eine
gelungene Symbolisierung des sinnhaften Gefühls und damit für eine gelungene Entfaltung im Sinne der lebensfördernden Richtung. Die während der
_____________
61
62
63
Vgl. Rice: Language Process Notes, New York 2008.
„Comprehension is a process in which the product somehow includes or comrehends
the original felt meaning, but is not any longer identical with it. The term comprehension, then, reminds us that in order to understand (...) we must encompass (...) the
original felt meaning, by means of many more meanings. To encompass with many
more meanings is to change, to specify, to form aspects, to create – as well as to stay
true to – the original.“ (Gendlin: Experiencing and the Creation of Meaning, a.a.O, S. 121).
Ebd., S. 120.
278
Heinke Deloch
einzelnen Prozessschritte gefundenen Symbolisierungen sind oft in ihren
Bedeutungen für Außenstehende wenig verständlich oder zusammenhängend:
der Zusammenhang, der hier eine Rolle spielt, ist ein innerer, aus dem Erleben kommender. Besonders in den ersten beiden Prozessphasen werden
oftmals auch poetische oder sehr phantasievolle Formulierungen erarbeitet.
Erst in der dritten Phase geht es darum, begriffliche Zusammenhänge so
transparent darzustellen, dass sie auch für Außenstehende verständlich werden.
vi. In beispielhaften Episoden Muster finden:
die zweite Phase des Thinking at the Edge
Ausgehend von den neuen Begriffsverwendungen, die durch das experientielle
Denken in der ersten Phase des Prozesses entwickelt wurden, können in den
abschließenden Schritten (10-14) logische Beziehungen hergestellt werden.
Bevor es jedoch um die logischen Zusammenhänge der Begriffe geht, wird in
einer Zwischenphase (Phase 2) erarbeitet, welche neuartigen Zusammenhänge
inhaltlich formuliert werden könnten. Diese Phase wird auch überschrieben
als „Making Patterns from Facets“. Genauer geht es darum, ausgehend von
Situationen, die für den Themenbereich als relevanten erlebt werden, neuartige Muster oder Zusammenhänge zu formulieren. Man könnte sagen, hier
wird getestet, wie neue regelhafte Verwendungssituationen der als relevant
erkannten Begriffe oder Ausdrücke aussehen könnten und ob die anhand von
Einzelfällen identifizierten Zusammenhänge auch für andere Situationen
stimmen.
Die Vorgehensweise in dieser Phase besteht in drei Schritten: 1. das
Sammeln von Fallbeispielen, die für das, was ich artikulieren möchte, als relevant erlebt werden64 (Schritt 6); das probeweise Aufstellen neuer Zusammenhänge zwischen einzelnen relevanten Aspekten der jeweiligen Fallbeispiele
(Schritt 7) und das „Kreuzen“ der Beispiele und ihrer Muster. Dabei wird wie
bei einem Perspektivwechsel von einem Fallbeispiel und das hier zutreffende
Muster auf das nächste Fallbeispiel geblickt, mit dem Ziel, neuartige Zusammenhänge zu erkennen.
_____________
64
Als Fallbeispiel kann dabei alles gelten, was ich als paradigmatisch für das Noch-Zu
Sagende erlebe; so wählte z.B. eine Philologin ein bestimmtes Gedicht eines Schriftstellers als Fallbeispiel, weil sich in dem Gedicht etwas für sie zeigte, was sie im Rahmen ihrer zu entwickelnden Konzeption begrifflich fassen wollte. Ein Pharmakologe
wählte einen bestimmten Laborversuch als Fallbeispiel, in dem für ihn etwas sichtbar
wurde, was im der etablierten Theorie keinen Platz fand. Eine Psycholinguistin wählte
dagegen eine persönlich oftmals erlebte Alltagssituation, in der zwei Menschen ein unterschiedliches Verständnis von Ironie hatten, um eine Ambivalenz im Erleben von
Ironie in Worte fassen zu können.
Das Nicht-Sagbare als Quelle der Kreativität
279
vii. Eine Theorie erschaffen:
die dritte Phase des Thinking at the Edge
Die in der zweiten Phase erarbeiteten Grundbegriffe und Zusammenhänge
werden, nach einem Zwischenschritt des experientiellen Schreibens über das
Thema, für die Theoriekonstruktion in der dritten Phase wieder aufgegriffen.
Zunächst geht es darum, logische Beziehungen zwischen drei zu wählenden
Hauptbegriffen herzustellen.
Anschließend werden zwischen den neu geschaffenen begrifflichen Beziehungen durch einschränkende Bedingungen notwendige Relationen formuliert. Auf diese Weise entstehen klare Begriffsdefinitionen. Die Folgeschritte
bestehen darin, auch alle anderen wichtigen Begriffe in die Theorie zu integrieren, indem sie, durch die Formulierung weiterer logischer Beziehungen
(jeweils ausgehend von den gewählten Hauptbegriffen), in das Begriffsnetz
aufgenommen werden. Dabei wird stets der jeweilige neue Begriff als eine
Kombination der bislang eingeführten Begriffe ausgedrückt.
Ziel ist dabei nicht die Erschaffung neuartiger strukturgebundener
Denkweisen aufgrund rigider logischer Beziehungen, sondern das Formulieren von Zusammenhängen, die sich selbst immer weiter verändern: Entsprechend führt Gendlin einen neuen Begriff der „Form“ ein:
The word „forms“ has changed in working here. ... In their old meaning the forms
could only force consistency, or break and leave us in limbo.
Hier ist dagegen ein prozessorientiertes, wachstumsorientiertes Verständnis
von Formen gemeint:
They (forms) can work implicitly without making what follows consistent with themselves. Instead, their implicit work can change them. ... Indeed, we can say of all
formed things in advance, that they imply more than can be consistent with their seeming form or definition.65
Auch wenn das am Erleben orientierte Formulieren sprachlicher Zusammenhänge es ermöglicht, zu neuartigen Sichtweisen zu gelangen, so ist der Bereich
des impliziten Wissens nicht als Ganzes explizierbar. Vielmehr entsteht mit
jeder weiteren sprachlichen Differenzierung ein erlebbares „Mehr“ an Erkenntnis. Auch dieses ist nicht vollständig sprachlich einholbar, kann jedoch
zum Ausgangspunkt weiterer sprachlicher Differenzierungen werden. Somit
ermöglicht TAE, das Denken wo Worte noch fehlen, zwar einerseits, Dinge
zu sagen, die so noch nicht gesagt werden konnten; gleichzeitig schafft es ein
Bewusstsein für weitere Bereiche des Noch-Nicht-Sagbaren, die in späteren
Schritten expliziert werden können. Es handelt sich somit um einen unabschließbaren Prozess, der immer weiter fortgesetzt werden kann.
_____________
65
Gendlin: Thinking beyond Patterns, a.a.O., S. 32.
Heinke Deloch
280
Die Veränderung, das Wachstum der neu geschaffenen Theorie, ist folglich im Theoriebegriff selbst vorgesehen. Die Logik dient dabei der systematischen Erweiterung und immer weiteren Verfeinerung der Theorie und steht
dieser nicht im Wege. Die Theorie selbst wird bei Gendlin zum momentanen
Ausdruck eines Denkprozesses, sie ist selbst wandlungsfähig und prozessorientiert; Widersprüche, Unstimmigkeiten sind für die Theorie keine Bedrohung, sondern laden ein zu immer weiterer Verfeinerung und Präzisierung.
Gendlins Theorieverständnis kann als zutiefst demokratisch bezeichnet werden: jedes in einem bestimmten Fachbereich erfahrene Individuum ist potentieller „Theorybuilder“ und wird ermutigt, seine eigenen Erfahrungen ernst zu
nehmen und bestehende Denkansätze durch neue zu ergänzen. Für dieses
Vorhaben braucht es einen geschützten Raum66, in dem zunächst die Wahrnehmung des eigenen Erlebens der fachlichen Situation ermöglicht werden
kann. Ungehindert bestehender Kategorien soll es dem einzelnen ermöglicht
werden, ausgehend vom individuellen Erleben relevante Begriffe zu prägen
und bedeutungsvolle Zusammenhänge zu formulieren. Die einmal entstandene Theorie darf jedoch nicht den Status einer unerschütterlichen Wahrheit
erlangen, sondern soll durch beständige Suche nach Widersprüchen und Ungereimtheiten immer weiter entwickelt werden. Das zunächst metaphysisch
anmutende „Nicht-Sagbare“ entpuppt sich dabei als dasjenige, was wir individuell als bedeutungsvoll erleben und schrittweise entfalten können. Eine gesellschaftliche Relevanz freilich werden die neu formulierten Zusammenhänge
erst dann haben, wenn auch andere sie als bedeutungsvoll erleben können.
Die 14 Schritte der Methode TAE können als Hilfestellung dienen, um
das Noch-Nicht-Sagbare innerhalb eines uns wohl bekannten Themas oder
Arbeitsgebiets systematisch zu entfalten. Sie sind jedoch nicht notwendigerweise zu durchlaufen67: wurde erst einmal verstanden, worum es bei einem
am Erleben orientierten Denken geht, so sind viele verschiedene, individuelle
Vorgehensweisen möglich.
_____________
66
67
Ein solcher Raum ist nur dann vorhanden, wenn die anderen Teilnehmer eine personzentrierte Gesprächshaltung einnehmen, die es dem anderen ermöglicht, seine
noch unfertigen Gedanken ungestört zu verfolgen. Eine solche Gesprächshaltung
wird in den Workshops üblicherweise zunächst eingeübt (vgl. Deloch / Feuerstein:
Konzeptentwicklung mit TAE, a.a.O).
Vgl. Gendlin: Introduction, a.a.O.
Das Nicht-Sagbare als Quelle der Kreativität
281
Übersicht: Die Schritte im TAE-Prozess68
Schritte 1-5: Aus dem Erleben der Idee Worte kommen lassen /
Durchbrechen der Sprachbarriere
1.
2.
3.
4.
5.
Bezug zum impliziten Wissen herstellen: die Idee greifbar machen
Eine Formulierung jenseits der üblichen Logik finden
Die Unzulänglichkeit des üblichen Wortgebrauchs feststellen
Den eigenen Wortgebrauch spezifizieren
Frei schreiben und neuen Kernsatz formulieren
Schritte 6-9: In beispielhaften Episoden Muster finden
6.
7.
8.
9.
Episoden sammeln
Muster innerhalb der Episoden heraus arbeiten
Episoden kreuzen
Frei schreiben
Schritte 10-14: Eine Theorie erschaffen
10.
11.
12.
13.
14.
Zentrale Begrifflichkeiten suchen und miteinander verbinden
Inhärente Verbindungen zischen den Begriffen suchen
Feststehende Termini wählen und miteinander verschränken
Die Theorie außerhalb des eigenen Themengebiets anwenden
Die Theorie erweitern und im eigenen Themengebiet anwenden
_____________
68
Nach Gendlin / Hendricks: TAE Steps, in: The Folio 19 (2000-2004), S. 9-24.
„Wir fühlen uns sozusagen für die Bewegung verantwortlich“ Hilfreiche Anregungen Wittgensteins
für die moderne Handlungstheorie
Ralf Stoecker
Die letzten Jahre waren nicht leicht für die philosophische Handlungstheorie.
Eines ihrer größten Rätsel, das Problem der Willensfreiheit, war zwar in aller
Munde und wurde unter großer öffentlicher Anteilnahme hin und her gewälzt, aber nicht Philosophen waren die Protagonisten, sondern Naturwissenschaftler, Neurobiologen und Psychologen, die nicht selten für sich in Anspruch nahmen, das uralte Problem, an dem sich Generationen von Denkern
die Zähne ausgebissen hatten, endlich gelöst zu haben, und zwar mit teilweise
spektakulären Resultaten, insbesondere dem, dass wir ganz und gar unfrei und
folglich auch für nichts, was wir tun, verantwortlich seien. Die Leichtigkeit,
mit der diese Autoren von den angestammten philosophischen Diskussionsfeldern Besitz ergriffen, war demütigend für die Philosophie, umso mehr, als
sie sich häufig keine große Mühe gaben, besonders differenziert und subtil zu
argumentieren oder die einschlägige philosophische Literatur zur Kenntnis zu
nehmen. So war es ein Akt der Ehrenrettung, dass sich eine Reihe von Philosophen ans Werk machten, die Schwächen, Fehler und Missverständnisse der
vermeintlichen Lösungen des Freiheitsproblems offen zu legen.
Die meisten philosophischen Stellungnahmen kommen aus dem Umfeld
der materialistisch orientierten Philosophie des Geistes (beispielsweise von
Ansgar Beckermann, Peter Bieri und Michael Pauen) und reihen sich ein in
eine lange Tradition kompatibilistischer Lösungsvorschläge, die mindestens
bis auf John Locke zurückgeht. Kennzeichnend für diese Stellungnahmen ist
es gewöhnlich, dass sie den naturwissenschaftlichen Forschungsergebnissen
ein großes Stück entgegenkommen, um dann am Ende trotzdem zu bezweifeln, dass die radikalen Schlussfolgerungen gerechtfertigt sind. Daneben gibt
es aber eine andere, ebenfalls analytisch orientierte philosophische Tradition,
die sich auf das Spätwerk Ludwig Wittgensteins und dessen Verständnis des
Wollens, Denkens und Handelns beruft. Aus ihrer Sicht entsteht das Freiheitsproblem überhaupt erst, weil beide Seiten eine gemeinsame Voraussetzung teilen, die sie besser aufgeben sollten. Worin diese Voraussetzung besteht, hat in kaum zu überbietender Klarheit Hans Julius Schneider in seinem
Ralf Stoecker
284
Artikel „Reden über Inneres“ deutlich gemacht.1 In einer ausführlichen Auseinandersetzung mit Bieris Explikation des Leib-Seelen-Problems, führt
Schneider vor, inwiefern dieses Problem auf einem Missverständnis unserer
Sprache beruht, unserer Praxis, den ‚Zustand meiner Seele zu beschreiben‘,
wie Schneider es im Titel eines anderen Artikels nennt2, um anschließend
deutlich zu machen, dass dieselben Überlegungen auch auf die Konzeption
des Geistes bei Gerhard Roth zutreffen, einem der führenden neuen Freiheitsskeptiker.3 Wenn wir ein angemessenes Verständnis unseres „Innenlebens“ anstreben, so Schneider, dann sollten wir uns an Wittgenstein orientieren, denn dann entstehen manche der modernen Probleme gar nicht erst oder
zumindest nicht in der Form, in der sie in den letzten Jahren diskutiert wurden.
In meinem Beitrag möchte ich diesem Rat Schneiders folgen, allerdings
nicht so sehr in Bezug auf „Inneres“, sondern auf den zentralen Gegenstandsbereich der Handlungstheorie. Die Frage, was Handlungen sind, bildet
nicht nur den Kern der Handlungstheorie, sie ist auch nach wie vor umstritten. Ich möchte also versuchen, aus Wittgensteins Schriften Anregungen
dafür zu gewinnen, wie man sie beantworten sollte. Da das „Innere“ für unsere Handlungen eine wichtige Rolle spielt, werde ich dabei auch Gelegenheit
haben, Schneiders Adaption Wittgensteins zu rekapitulieren.
1.
Jeder Versuch, Wittgenstein ernsthaft für eines der Themen der modernen
Philosophie in Anspruch zu nehmen, steht vor der grundsätzlichen Schwierigkeit, dass manche Passagen in Wittgensteins Spätwerk ein eher düsteres,
skeptisches Bild der Philosophie zeichnen, zum Beispiel die folgenden:
Ich sitze mit einem Philosophen im Garten; er sagt zu wiederholten Malen „Ich weiß,
daß das ein Baum ist“, wobei er auf einen Baum in unserer Nähe zeigt. Ein Dritter
kommt vorbei und hört das, und ich sage ihm: „Dieser Mensch ist nicht verrückt: Wir
philosophieren nur.“4
_____________
1
2
3
4
Hans J. Schneider: Reden über Inneres, in: Hans-Peter Krüger (ed.): Gehirn als Subjekt?,
Berlin 2007. In kurzer, thetischer Form hat Schneider seine Position schon Mitte der
Neunzigerjahre in einem Kommentar zu Gerhard Roth skizziert: Wie kommt Geistiges
zur Sprache?, in: Ethik und Sozialwissenschaften 6 (1995).
Hans J. Schneider: ‚Den Zustand meiner Seele beschreiben’ – Bericht oder Diskurs?, in: Wolfgang Köhler (ed.): Davidsons Philosophie des Mentalen, Paderborn 1997.
Schneider bezieht sich auf den Artikel: Worüber dürfen Hirnforscher reden – und auf welche
Weise?, in: Hans-Peter Krüger (ed.): Gehirn als Subjekt, a.a.O.
Ludwig Wittgenstein: Über Gewißheit, Frankfurt a. M. 1970, § 467
„Wir fühlen uns sozusagen für die Bewegung verantwortlich“
285
Die Ergebnisse der Philosophie sind die Entdeckung irgend eines schlichten Unsinns
und Beulen, die sich der Verstand beim Anrennen an die Grenze der Sprache geholt
hat.5
Denn die philosophischen Probleme entstehen, wenn die Sprache feiert.6
Schon diese kleine Auswahl deutet darauf hin, dass Wittgenstein offenkundig
der Meinung war, dass die Philosophie nur zu unsinnigen Ergebnissen führt,
irgendwie hervorgerufen durch ein Missverständnis unserer Sprache. Wenn
das aber seine Position war, dann fragt es sich, inwiefern er uns in der Philosophie, beispielsweise in der Handlungstheorie, weiterhelfen kann, oder ob
wir bei ihm bestenfalls den Rat erwarten können, die Philosophie ganz sein zu
lassen.
Interessanterweise klingen nicht alle Aussagen Wittgensteins zur Philosophie so negativ:
Die Philosophie ist ein Kampf gegen die Verhexung unseres Verstandes durch die
Mittel unserer Sprache.7
Was ist dein Ziel in der Philosophie? – Der Fliege den Ausweg aus dem Fliegenglas
zeigen.8
Philosophie, so wie wir das Wort gebrauchen, ist ein Kampf gegen die Faszination,
die die Ausdrucksformen auf uns ausüben.9
Der Philosoph behandelt eine Frage; wie eine Krankheit.10
In diesen Zitaten schwingt nichts davon mit, dass die Philosophen bloß Unsinn treiben. Im Gegenteil, der Philosophie kommt offenkundig eine positive,
aufklärerische, therapeutische, ja sogar kämpferische Rolle zu. Sie kann Besessenheit heilen und rettungslos Verirrten wieder auf den rechten Weg helfen.
Der Grund für diese Differenz ist offensichtlich. Wittgenstein unterscheidet zweierlei Philosophie: einerseits die herkömmliche, die vor seiner
Zeit betrieben wurde, und andererseits die „Philosophie, so wie wir das Wort
gebrauchen“, wie es oben in dem Zitat aus dem Braunen Buch heißt. Ganz
explizit findet sich die Unterscheidung in einem Manuskript aus dem Nachlass:
Der Mensch mit „gesundem Menschenverstand“, wenn er einen früheren Philosophen liest, denkt (und nicht ohne Recht): „lauter Unsinn!“ wenn er mich hört, so
_____________
5
6
7
8
9
10
Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, in: Schriften 1, 4. Aufl., Frankfurt a. M. 1980,
[PU] § 119.
Ebd., PU § 38.
Ebd., PU § 109.
Ebd., PU § 309.
Wittgenstein: Eine Philosophische Betrachtung – das sogenannte Braune Buch, in: Schriften 5,
Frankfurt a. M. 1970
Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, a.a.O., PU § 255.
Ralf Stoecker
286
denkt er: „lauter fade Selbstverständlichkeiten!“. Wieder mit Recht. Und so hat sich
der Aspekt der Philosophie geändert.11
Nur die alte Philosophie war also in den Zitaten zu Anfang dieses Abschnitts
gemeint. Was Wittgenstein uns folglich anbietet ist der Übergang von der
falschen, traditionellen zur richtigen, neuen Philosophie – auch wenn die
Aussicht auf „fade Selbstverständlichkeiten“ zunächst wenig einladend erscheint. Am Beispiel der Handlungstheorie möchte ich im nächsten Abschnitt
versuchen, diesen Übergang zu vollziehen.
2.
Als eigenständige philosophische Disziplin ist die Handlungstheorie erst Mitte
des 20. Jahrhunderts entstanden, also nach Wittgensteins Tod. Allerdings war
sie, nicht zuletzt wegen des maßgeblichen Einflusses von G.E.M Anscombe
und Gilbert Ryle, stark durch Wittgenstein geprägt. Von Wittgenstein stammt
auch ein typisches Beispiel für eine Handlung, das dann im folgenden immer
wieder aufgenommen und diskutiert worden ist:
Aber vergessen wir eines nicht: wenn ‚ich meinen Arm hebe‘, hebt sich mein Arm.
Und das Problem entsteht: was ist das, was übrigbleibt, wenn ich von der Tatsache,
daß ich meinen Arm hebe, die abziehe, daß mein Arm sich hebt?12
In gewisser Weise ist die Handlungstheorie viel handfester als die Philosophie
des Geistes, denn normalerweise, wenn jemand etwas tut, geschieht auch
etwas in der Welt, beispielsweise hebt sich ein Arm. Aber natürlich ist nicht
alles, was geschieht, eine Handlung. Handlungen haben ein besonderes
Merkmal, etwas Charakteristisches, dass sie von anderen Geschehnissen unterscheidet. Wenn man also wissen möchte, was Handlungen sind, liegt es
nahe, nach diesem Unterscheidungsmerkmal zu suchen, demjenigen, „was
übrig bleibt, wenn ich von der Tatsache, daß ich meinen Arm hebe, die abziehe, daß mein Arm sich hebt“.
In der Handlungstheorie gab es eine ganze Reihe von Vorschlägen, worin
dieses Spezifikum liegen könnte, aber spätestens seit den siebziger Jahren hat
sich eine Position durchgesetzt, die sich auch schon auf das philosophische
Handlungsverständnis vor Wittgenstein berufen konnte. Ihr zufolge ist es
charakteristisch für Handlungen, dass sie auf bestimmte Weise zu Stande
kommen. Es ist ihre Genese, die sie von anderen, ‚bloßen‘ Geschehnissen
abhebt. Dabei lassen sich sehr grob zwei verschiedene Ansätze unterscheiden.
Dem ersten Ansatz zufolge sind Handlungen etwas, das nicht einfach stattfindet, sondern das jemand tut, betreibt, wonach er trachtet, was er zu be_____________
11
12
Manuskript 219, in: Wittgensteins Nachlass. The Bergen Electronic Edition, S. 6.
Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen. a.a.O., PU § 623.
„Wir fühlen uns sozusagen für die Bewegung verantwortlich“
287
werkstelligen versucht. Wir greifen ein in die Welt, um sie zu verändern. Das
Spezifische am Handeln ist also, dass wir etwas dafür tun um zu handeln.
Doch dieser Vorschlag ist, wie Wittgenstein zeigt, nicht befriedigend, denn:
„Wenn ich meinen Arm hebe, versuche ich meistens nicht, ihn zu heben.“13
Es stimmt einfach nicht, dass man immer etwas tun muss, um zu handeln, zum Beispiel dass man es immer versuchen muss: „’Ich will unbedingt
dieses Haus erreichen.’ Wenn aber keine Schwierigkeit da ist, kann ich da
trachten, unbedingt das Haus zu erreichen?“14
Man kann etwas nur dann versuchen, wenn einem Schwierigkeiten, Unwägbarkeiten oder ein Mangel an Fähigkeiten im Weg stehen. Wenn das Haus
auf einem Berggipfel steht, man vor einem Kampfhund davonläuft oder einen
Schlaganfall erlitten hat, dann kann man versuchen, das Haus zu erreichen,
aber nicht dann, wenn man gesund und munter in der Gartenpforte steht und
nur ein paar Schritte bis zur Haustür machen muss.
Aber muss man nicht zumindest das Haus erreichen wollen? Das ist der
Ausgangspunkt des zweiten und viel prominenteren Vorschlags, das Spezifikum des Handelns in der Handlungsgenese zu lokalisieren. Handlungen sind
ihm zufolge dadurch charakterisiert, dass sie Ursachen im Innenleben des
Handelnden haben, in seiner Psyche. Handlungen sind etwas, das geschieht,
weil wir es wollen, weil wir es beabsichtigen, uns dazu entschlossen haben,
usw. Dieses Handlungsverständnis zieht sich durch die Geschichte der Philosophie bis heute. So schreibt beispielsweise John Steward Mill in seinem System of Logic von 1874: „Now what is an action? Not one thing, but a series of
two things: the state of mind called volition, followed by an effect.”15 Und
zumindest auf den ersten Blick scheint es geradezu trivial zu sein, dass sich
Handlungen durch ihre psychischen Antezedentien von anderen Ereignissen
unterscheiden.
Auch Wittgenstein sieht die Suggestivtät dieses Vorschlags: „Geschieht
denn nicht die gewollte Bewegung des Körpers geradeso, wie jedes Ungewollte in der Welt, nur daß sie vom Willen begleitet ist?“16 Allerdings betont er,
dass nicht irgendeine mentale Ursache ausreicht, um aus einem Geschehen
eine Handlung zu machen. Insbesondere reicht es seines Erachtens nicht aus,
dass dem Handelnden etwas an dem Geschehen liegt, dass er einen Wunsch
hat, dass es geschieht: „Aber sie ist nicht nur vom Wunsch begleitet! Sondern
vom Willen.“ Denn:
Wünschen ist nicht tun. Aber, Wollen ist tun. […] Der Wunsch geht dem Ereignis voran, der Wille begleitet es. Angenommen, ein Vorgang würde meinen Wunsch beglei-
_____________
13
14
15
16
Ebd., PU § 622.
Ebd., PU § 623.
John Steward Mill: A System of Logic, New York 81874, S. 51.
Wittgenstein: Tagebücher 1914-1916, in: Schriften 1, a.a.O., 4.11.1926.
Ralf Stoecker
288
ten. Hätte ich den Vorgang gewollt? […] Schiene dieses Begleiten nicht zufällig im
Gegensatz zu dem gezwungenen des Willens?17
Aus heutiger Sicht ist Wittgensteins Behauptung, dass Wünsche nicht das
Spezifikum des Handelns bilden könnten, unorthodox. Die Standardkonzeption in der modernen Handlungstheorie, die maßgeblich auf das Werk Donald Davidsons zurückgeht, unterscheidet sich gerade darin von der traditionellen Sichtweise beispielsweise Mills, dass sie Handlungen nicht als das
Resultat eines Willensaktes, sondern von Wünschen (Davidson spricht von
„pro attitudes“) versteht, in Kombination mit Meinungen darüber, wie sich
die Wünsche umsetzen ließen.18
Wittgenstein antizipiert in den zitierten Textpassagen allerdings auch drei
Vorbehalte, die immer wieder gegen diese Standardkonzeption vorgebracht
werden. Erstens scheint das Modell, demzufolge Handlungen durch Wünsche
und Meinungen des Handelnden verursacht werden, diesen zur Passivität zu
verurteilen. Er scheint bloß der Schauplatz einer kausalen Abfolge zu sein, die
durch sein Inneres zu seinen Handlungen führt. So wie eine Reizung der
Leber dazu führen kann, dass sich die Haut gelb verfärbt, so kann eben auch
eine Reizung des mentalen Innenlebens zu äußeren Reaktionen führen. Hinsichtlich seiner Handlungen aber, möchte man meinen, muss eine Person eine
aktivere Rolle spielen.
Zweitens passt das zeitliche Nacheinander zwischen Wunsch und Verwirklichung schlecht dazu, wie wir gewöhnlich eine Handlung aus Wünschen
erklären. Wir sagen beispielsweise nicht, jemand schalte den Fernseher an,
weil er irgendwann zuvor die Nachrichten sehen wollte, sondern weil er sie
jetzt sehen möchte. Es gibt also eine Spannung zwischen einerseits der Annahme, dass das für Handlungen charakteristische psychische Geschehen den
Handlungen vorhergeht, sie bewirkt, und andererseits der Gleichzeitigkeit
zwischen der Handlung und dem sie erklärenden Wunsch in unseren alltäglichen Handlungserklärungen.
Nun könnte man versuchen, diese Spannung dadurch aufzulösen, dass
man akzeptiert, dass der Wunsch zeitgleich mit der Handlung bestehen müsse. Dann aber stellt sich besonders deutlich das dritte Problem, das darin liegt,
eine befriedigende Erläuterung der Beziehung zwischen Wunsch und Handlung zu geben, die verständlich macht, weshalb man Handlungen durch Wünsche erklären kann. Insbesondere dann, wenn es sich nicht einfach um aufeinanderfolgende Glieder einer Kausalkette handeln soll, fragt es sich,
inwiefern die Wünsche trotzdem geeignet sind, ein Geschehen in der Welt
erklärlich zu machen. Wie kann es kommen, dass die Welt so häufig unseren
_____________
17
18
Ebd.
Vgl. Donald Davidsons: Actions, Reasons, and Causes, in: ders.: Essays on Actions and
Events, Oxford 22001.
„Wir fühlen uns sozusagen für die Bewegung verantwortlich“
289
Wünschen entspricht (dass beispielsweise ein Arm hochgeht), ohne dass die
Wünsche dies verursachen?!
Der Wille hat gegenüber dem Wunsch den Vorteil, dass er, wie Wittgenstein es ausdrückt, ein Tun ist. Man kann ihn sich wie eine Art inneres Einwirken, wie ein Drängen vorstellen. Wir kennen das alle: Manchmal muss
man sich dazu durchringen, etwas zu tun, man braucht dann Willenskraft, um
zu handeln. Deshalb ist der Vorschlag, das Vorliegen eines Willens als Spezifikum des Handelns anzusehen, nicht dem ersten Vorwurf ausgesetzt, den
Handelnden zum passiven Spielfeld eines kausalen Geschehens zu machen.
Gerade das Beispiel des Ringens zeigt zudem auch, wie sich die zweite und
dritte Schwierigkeit auflösen ließen. Man muss sich das Funktionieren des
Willens nur so ähnlich wie ein Steuern vorstellen, das ja auch synchron mit
dem Gesteuerten abläuft und sich außerdem durchaus kausal verstehen lässt.
Allerdings steht auch diese Konzeption vor großen Schwierigkeiten. Erstens
sind die üblichen Beschreibungen des Willens zutiefst metaphorisch; sie versehen den Handelnden mit einem inneren Doppelgänger, einem Homunkulus, der stark oder schwach ist und sich möglicherweise gegenüber anderen
inneren Akteuren (den Trieben, dem schwachen Fleisch, dem inneren
Schweinehund) durchsetzen muss. In Wirklichkeit gibt es diesen inneren
Doppelgänger natürlich nicht. Also fragt es sich, was hinter dieser bildlichen
Redeweise steckt.
Die zweite Schwierigkeit geht auf Gilbert Ryle zurück, der die Annahme,
dass ein Willensakt für Handlungen notwendig sei, für zirkulär hielt. Wenn
man die Aktivitäten des Willens als etwas ansieht, was eine Person tut, so
Ryle, dann muss man sich unmittelbar fragen lassen, ob dieses Tun selbst eine
Handlung ist oder nicht. Ist es keine Handlung, dann ist es unverständlich,
wie ein solches Tun trotzdem Handlungen generieren kann: Wie kann eine
Person ein aktiver Handelnder sein, wenn sie dem eigenen Willen passiv ausgesetzt ist?! Sind die Aktivitäten des Willens aber selbst Handlungen, dann
müssen auch sie wiederum gewollt sein, das heißt sie müssen selbst das Produkt anderer Willensaktivitäten sein, ad infinitum.
Letztlich führen alle der hier nur sehr kurz skizzierten Antworten auf die
Frage, was das Spezifische an Handlungen ist, in das Dilemma, entweder
Handeln durch ein anderes Handeln erklären zu wollen, was irgendwie zirkulär und unbefriedigend ist, oder dem aktiven Charakter des Handelns nicht
gerecht werden zu können.
Ralf Stoecker
290
3.
Bislang habe ich Wittgensteins Anmerkungen zum Verhältnis zwischen Wollen, Wünschen und Handeln primär dazu benutzt, auf einige der Standardschwierigkeiten in der modernen Handlungstheorie hinzuweisen. Noch steht
allerdings das Versprechen oder zumindest die Hoffnung im Raum, bei Wittgenstein auch Hilfe für die Lösung dieser Probleme zu finden, so wie Hans
Schneider dies für die Philosophie des Geistes gezeigt hat. Tatsächlich glaube
ich, dass die Lösungen auch in ganz ähnliche Richtungen weisen.
Wie gesagt, Wittgenstein unterscheidet zwischen der alten, therapiebedürftigen und seiner neuen therapeutischen Philosophie, deren Kunst darin
besteht, die traditionellen Philosophen aus ihrem Bann, ihrer Verhextheit zu
befreien, ihnen den Ausweg aus dem Fliegenglas zu weisen, den sie, verhaftet
im alten Denken, nicht alleine finden können. Wittgenstein beschreibt dies an
einer Stelle sehr anschaulich:
Der erste Schritt ist der ganz unauffällige. Wir reden von Vorgängen und Zuständen
und lassen ihre Natur unentschieden! […] (Der entscheidende Schritt im Taschenspielerkunststück ist getan, und gerade er schien uns unschuldig.)19
Auch Schneider20 beruft sich auf diesen immens wichtigen Paragraphen, in
dem Wittgenstein in wenigen Sätzen nicht nur deutlich macht, warum er kein
Behaviorist ist, sondern was so schief an den allermeisten Formulierungen des
Leib-Seele-Problems bis heute ist: Sie problematisieren, wie sich Psychisches
und Physisches zueinander verhalten, ohne zuvor zu klären, was das eigentlich ist, das hier psychisch und physisch ist, auf welchen Gegenstandsbereich
sich diese Prädikate beziehen. Schneider kommt deswegen überzeugend zu
dem Schluss: „An Roths Text zeigt sich, wie aktuell Wittgensteins Diagnose
ist, es seien falsche Verdinglichung wie die Rede von den ‚Vorgängen und
Zuständen‘, die uns in die Irre führten.“21
Auch in der Handlungstheorie lässt sich ein ähnlicher Taschenspielertrick
konstatieren. Er hängt zunächst mit einem anderen Fehler zusammen, auf
den Wittgenstein ebenfalls häufig hinweist: „Eine Hauptursache philosophischer Krankheiten – einseitige Diät: man nährt sein Denken mit nur einer Art
von Beispielen.“22
Ich habe schon erwähnt, dass Wittgensteins Beispiel des Armhebens in
der Handlungstheorie immer wieder aufgenommen wurde. Aber auch darüber
hinaus gibt es in der Handlungstheorie eine Tendenz, sich auf eine bestimmte
Art von Handlungen zu konzentrieren, auf aktive Handlungen, die eng mit
_____________
19
20
21
22
Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, a.a.O., PU § 308.
Schneider: Reden über Inneres, a.a.O., S. 232.
Ebd., S. 237.
Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, a.a.O., PU § 593.
„Wir fühlen uns sozusagen für die Bewegung verantwortlich“
291
Körperbewegungen verbunden sind. Prominente Beispiele sind etwa: das
Pumpen von Wasser (G.E.M. Anscombe), das Anknipsen eines Lichtschalters
(Donald Davidson), das Erschießen eines Menschen (Alvin Goldman, Judith
Jarvis Thomson). Wegen dieser einseitigen Beispiel-Diät vergisst man aber
leicht, dass unser Leben auch noch aus ganz anderen Handlungen besteht:
Handlungen des Geschehenlassens, z.B. wenn man jemanden an der Kasse
vorlässt, des Unterlassens, z.B. wenn man die Fenster nicht putzt, mentale
Handlungen, etwa wenn man sich einen Vortragstitel überlegt, umfassende
Handlungen wie Philosophie studieren und kollektive Handlungen wie die,
miteinander zu telefonieren.
Diese vielfältigen Handlungen in das Prokrustesbett der Standardtheorie
zu zwängen, ist nicht ganz leicht. Besonders deutlich ist dies beim Unterlassen
und Geschehenlassen. Für Unterlassungen ist es beispielsweise charakteristisch, dass etwas nicht geschieht, also fragt es sich, inwiefern man eine Unterlassung trotzdem als ein Geschehen mit einer besonderen Genese ansehen
kann, wie es die Standardkonzeption verlangt. Und wenn man etwas geschehen lässt, geschieht zwar etwas, was allerdings fehlt ist sozusagen der Anstoß
durch den Handelnden. (Ich lasse die ältere Dame an der Kasse zwar vor,
aber ich schiebe sie nicht vor.) Natürlich gibt es Versuche, diese Problemfälle
in die Standardkonzeption zu integrieren, beispielsweise dadurch, dass man
auch das Nichtgeschehen als eine Art von Geschehen auffasst, als ein ‚negatives Ereignis‘, und entsprechend das Nichthindern als eine Form kausaler
Verursachung. Aber das sind verzweifelte Versuche („Heute ist dreierlei in
meinem Garten passiert: ein Hase ist vorbei gehoppelt, kein Adler ist gelandet
und das Gänseblümchen hat sich nicht in einen Tiger verwandelt“), die sich
auf die einseitige Diät von Handlungs-Beispielen zurückführen lassen, in
denen es immer nur darum geht, dass Menschen irgendwie an der Welt herummanipulieren. Nur so kommt man auf die Idee, auch dann, wenn es jemand beispielsweise unterlässt, die Scheiben zu putzen, müsse es ein Geschehen (nur eben ein schattenhaftes, negatives) geben, das diese Person
irgendwie hervorruft. Viel attraktiver wäre es, wenn man statt dessen erklären
könnte, warum es eine Handlung ist, wenn jemand es unterlässt, die Scheiben
zu putzen, ohne auf solche dubiosen Entitäten wie negative Ereignisse zurückgreifen zu müssen.
Es gibt aber noch einen weiteren Grund, weshalb es einem in der Handlungstheorie so schwer fällt, mit diesen Beispielen fertigzuwerden. Wir sind
einer Vorstellung verhaftet, die uns, wie Hans Schneider vorgeführt hat, auch
in der Philosophie des Geistes leicht in die Irre führt: der allzu blauäugigen
Annahme, dass es die vordringliche Aufgabe von Sätzen ist, auf irgendetwas
in der Welt zu verweisen. Wittgenstein kommt auf diese Vorstellung im Rahmen seiner Diskussion von Schmerzen und Schmerzbenehmen zu sprechen
(PU § 304). Sein imaginärer Gesprächspartner stellt ihn vor die Wahl, entwe-
Ralf Stoecker
292
der zuzugestehen, dass es nicht bloß Schmerzbenehmen, sondern darüber
hinaus auch Schmerzen gäbe (was die Philosophie vor die Probleme stellt,
den besonderen subjektiven Charakter der Schmerzen zu erklären) oder zu
behaupten, dass es nichts anderes als Schmerzbenehmen gibt, dass die
Schmerzen über das Benehmen hinaus ‚nichts‘ seien (was ihn zum Behavioristen machen würde). Wittgenstein jedoch verweigert sich dieser Alternative:
„Sie sind kein Etwas, aber auch nicht ein Nichts!“, und erklärt stattdessen, wie
ein dritter Weg aussieht:
Das Paradox verschwindet nur dann, wenn wir radikal mit der Idee brechen, die Sprache funktioniere immer auf eine Weise, diene immer dem gleichen Zweck: Gedanken
zu übertragen – seien dies nun Gedanken über Häuser, Schmerzen, Gut und Böse,
oder was immer.23
„Schmerz“ ist ein Substantiv, so wie „Haus“ oder „Maus“. Wir können es
auch ganz ähnlich gebrauchen, zum Beispiel indem wir Attribute darauf anwenden („ein heftiger Schmerz“, „ein hässliches Haus“), Lokalisierungen
vornehmen („Im Haus ist eine Maus, die hat einen heftigen Schmerz in der
Pfote“), Identitätsaussagen treffen („Das ist dieselbe Maus wie vorhin“, „Das
ist derselbe Schmerz wie gestern“) oder quantifizieren („Alle Schmerzen sind
wie weggeblasen“, „Alle Häuser sind wie ausgestorben“). Also liegt es nahe,
Schmerzen so wie Mäuse oder Häuser zum Inventar der Welt zu zählen. Und
dann fragt es sich natürlich, wie die Schmerzen dort genau hineinpassen. Sind
die Schmerzen in der Maus, wie die Maus im Haus ist? Wie kommt es, dass
wir die Schmerzen in der Maus nicht so wahrnehmen können wie die Maus
im Haus, selbst dann nicht, wenn wir in die Maus hineinschauen? Oder können wir die Schmerzen vielleicht doch wahrnehmen, weil es in Wirklichkeit
Bestandteile des Gehirns sind? Und wieso muss die Maus nicht ebenfalls in
sich hineinschauen und weiß trotzdem genau, dass sie Schmerzen in der Pfote
hat? – All diese Standardrätsel aus der Leib-Seele-Debatte gehen, Wittgenstein
zufolge, auf die Prämisse zurück, dass es der Sinn von Sätzen über Schmerzen
ist, über die Existenz von Schmerzen zu berichten (‚Gedanken über Schmerzen zu übertragen‘), so wie es der Sinn von Sätzen über Mäuse sei, über deren
Existenz zu berichten. Aber diese Prämisse ist falsch. Sprache, so Wittgenstein, funktioniert nicht nur auf diese eine Weise, woraus nicht etwa folgt,
dass sie nur auf eine andere Weise, sondern dass sie auf ganz unterschiedliche
Weise funktioniert. Akzeptiert man das aber, dann öffnen sich Wittgenstein
zufolge vielfältige Möglichkeiten für die Auflösung traditioneller philosophischer Rätsel, die auf ein Missverständnis des Gebrauchs unserer Sprache
zurückgeführt werden könnten.
_____________
23
Ebd., PU § 304.
„Wir fühlen uns sozusagen für die Bewegung verantwortlich“
293
4.
Zumindest in Bezug auf die Philosophie des Geistes und Handlungstheorie
gibt es meines Erachtens drei immer radikalere Optionen, Wittgensteins Strategie zu folgen und die notorischen Rätsel sprachkritisch aufzulösen, wobei
ich nicht sicher bin, welche davon Schneider vorzieht.24 Erstens kann man
Ontologie betreiben und zwischen verschiedenen Kategorien von Entitäten
unterscheiden, auf die man sich sprachlich beziehen kann: Häuser, würde
man dann sagen, sind konkrete materielle Gegenstände, Gut und Böse sind
Abstrakta, und Schmerzen Ereignisse. Da es das traditionelle Kennzeichen
unterschiedlicher Kategorien ist, dass eine Substitution eines Ausdrucks der
einen Kategorie durch einen Ausdruck der anderen Kategorie in bestimmten
Sätzen nicht nur zu falschen, sondern zu sinnlosen Aussagen führt (einen
Kategorienfehler bildet), ließe sich auf diese Weise möglicherweise diagnostizieren, dass manche philosophische Fragen unsinnig sind. Vielleicht ist ja die
Vermutung, der Schmerz sei im Gehirn der Maus, nicht sinnvoller als die
Annahme, der Schmerz habe einen langen, grauen Schwanz.
Auch in der Handlungstheorie hat es Debatten darüber gegeben, zu welcher Kategorie Handlungen gehören, insbesondere ob man sie eher als raumzeitlich lokalisierte Ereignisse oder als Sachverhalte auffassen sollte. Viel
spannender finde ich aber die zweite durch Wittgenstein inspirierte Vorgehensweise: Vielleicht sollten wir uns ganz von der Vorstellung verabschieden,
dass sich hinter jedem Substantiv im Satz irgendetwas verbirgt, egal von welcher Kategorie. Schneider nennt das schöne Beispiel der Redewendung, dass
man jemanden „im Stich lässt“.25 Sie klingt so, als sei sie eine Ortsbeschreibung, aber natürlich ist die Rückfrage unsinnig, wo denn der Stich sei, in dem
man jemanden gelassen hat. Auch wenn uns die Etymologie belehren kann,
dass sich das Wort „Stich“ früher tatsächlich auf etwas, nämlich das Zustechen bei Ritterspielen, bezogen hat (ähnlich dem: im Regen stehen lassen), so
hat es mittlerweile jede Eigenständigkeit verloren. Obwohl es sinnvoll ist zu
sagen, man habe jemanden im Stich gelassen, bezieht sich das Wort „Stich“ in
diesem Satz auf nichts.
Unser psychologisches Vokabular wie auch unser Reden über Handlungen funktioniert zweifellos viel selbstständiger als das Wort „Stich“ in „im
Stich lassen“. Aber es könnte trotzdem sein, dass man es am besten dadurch
expliziert, dass man erläutert, was über jemanden gesagt wird, der beispielsweise Schmerzen hat oder eine Handlung vollzieht, und nicht dadurch, dass
man etwas sucht, auf das sich die Substantive wie „Schmerz“ und „Handlung“ beziehen. Unterstützt wird diese Position durch die Feststellung, dass
_____________
24
25
Der einschlägige Aufsatz hier ist Schneider: Den Zustand meiner Seele beschreiben, a.a.O.
Ebd., S. 37.
294
Ralf Stoecker
wir normalerweise zwei verschiedene Möglichkeiten haben, uns über Seelisches zu unterhalten: mit Substantiierungen und ohne. Wir können sagen: „Er
hat Schmerzen“ oder „Es tut ihm etwas weh", „Sie hat den Wunsch, nachhause zu gehen“ oder „Sie möchte nachhause gehen“. Wittgensteins und
Schneiders Plädoyers laufen darauf hinaus, in der jeweils zweiten Redeweise
und nicht in der ersten den Schlüssel zum Verständnis der Psyche zu suchen.
Nicht Schmerzen und Wünsche sollten wir untersuchen, sondern dasjenige,
was wir von einer Person sagen, wenn wir behaupten, ihr tue etwas weh oder
sie wolle etwas.
In der Handlungstheorie ist es noch viel einleuchtender, sich nicht auf die
Substantivierungen zu konzentrieren, als in Bezug auf Schmerzen oder Wünsche, denn die allermeisten alltäglichen Handlungssätze kommen ohne ein
Nomen für die Handlung aus. „Kain hat Abel getötet“ ist ein normaler Handlungssatz, ganz anders als „Kain hat einen Tötungsakt an Abel vollzogen“.
Warum also sollte man sich den Kopf darüber zerbrechen, welche Geschehnisse Handlungen sind und inwiefern auch Unterlassungen eine geisterhafte
Art von Geschehnissen sein können, wenn die kritische Reflexion unserer
Sprachpraxis zeigt, dass es uns in Handlungssätzen gar nicht darum geht, über
Handlungen als Entitäten in der Welt zu berichten?!
Nach meiner Überzeugung passt also der Weg, den Wittgenstein für die
Philosophie des Geistes gewiesen hat, auch für die Handlungstheorie. Wenn
wir darüber reden, dass jemand handelt, dann ist es ein Missverständnis zu
glauben, dass wir hier eine Beziehung herstellen zwischen einer Person und
ihrer Handlung. Um es plakativ auszudrücken: Handlungen spielen für die
Handlungstheorie keine Rolle.
Damit aber stellt sich unmittelbar die Frage, worum es uns dann geht,
wenn wir von jemandem sagen, er handele. Bislang haben wir nur ein negatives Resultat erreicht und scheinen zudem von einer positiven Explikation des
Handelns weiter entfernt zu sein denn je. Denn schließlich ist es nach wie vor
unbestreitbar, dass zumindest häufig, wenn auch vielleicht nicht immer, etwas
geschieht, wenn jemand handelt. Insbesondere bewegt sich der Körper. Wenn
diese Körperbewegung aber keine Handlung sein soll, in welchem Verhältnis
steht sie dann zum menschlichen Handeln? Und wie steht es mit der auf den
ersten Blick so selbstverständlichen Annahme, dass unsere Handlungen das
Resultat psychischer Faktoren (Absichten, Entscheidungen, etc.) sind? Zum
einen können Handlungen schwerlich Resultate sein, wenn es sie streng genommen gar nicht gibt, zum anderen hat Wittgensteins Strategie ja auch dazu
geführt, dass die mentalen Antezendentien der Handlungen philosophisch zu
bröckeln beginnen. Damit scheint aber nach der wittgensteinianischen Destruktion seelischer Entitäten durch Schneider und meiner analogen Elimination der Handlungen nichts mehr übrig zu sein, um unsere robusten, alltägli-
„Wir fühlen uns sozusagen für die Bewegung verantwortlich“
295
chen Redeweisen über Handlungen und ihre Gründe und Motive verständlich
machen zu können.
5.
Nach meiner Überzeugung befinden wir uns trotzdem auf dem richtigen
Weg. Der erste Schritt besteht darin, sich die vermeintliche Destruktion der
mentalen Handlungsantezedentien genauer anzuschauen. Wittgenstein und
Schneider vertreten ja, wie gesagt, nicht die Ansicht, dass es unser Seelenleben
gar nicht gibt, sie empfehlen nur, es als eine besondere Form der Charakterisierung von Personen aufzufassen. Natürlich ist es sinnvoll, von einem Menschen zu sagen, er wolle nachhause gehen, auch wenn man skeptisch gegenüber der Nominalisierung dieser Redeweise ist. Wittgenstein schreibt
beispielsweise:
Warum will ich ihm außer dem, was ich tat, auch noch eine Intention mitteilen? –
Nicht, weil die Intention auch noch etwas war, was damals vor sich ging. Sondern weil
ich ihm etwas über mich mitteilen will, was über das hinausgeht, was damals geschah.26
(PU 658)
Dasselbe gilt auch für unser Handlungsvokabular. Auch hier müssen wir
fragen, was darunter zu verstehen ist, wenn man von jemandem sagt, er handele – von Kain zum Beispiel, er habe Abel getötet –, obwohl wir uns dagegen verwahren, sofort zu der Frage überzugehen, worin die Handlung bestanden habe, Abel zu töten. Und abermals, scheint mir, lautet die Antwort: Wir
sagen etwas über eine Person aus.
Die entscheidende Frage ist jetzt aber natürlich, was es denn ist, das wir
über die handelnde Person sagen. In den Reflexionen aus den Tagebüchern,
aus denen ich schon zitiert habe, findet sich eine ebenso einfache wie spektakuläre Antwort auf diese Frage: „Wir fühlen uns sozusagen für die Bewegung
verantwortlich.“27
Damit hat Wittgenstein meines Erachtens den Kern menschlichen Handelns getroffen, und zwar in zweierlei Hinsicht. Erstens bietet er eine Lösung
für das Problem an, wie man das Geschehen, das häufig mit Handlungen
verbunden ist, in eine Handlungstheorie einbinden kann, wenn man nicht
mehr davon ausgehen möchte, dass dieses Geschehen die Handlung ist. Die
Antwort lautet: Zu handeln ist relational. Wer handelt, steht in einer Beziehung zu etwas. Dieses Etwas ist allerdings keine Handlung, sondern (in erster
Näherung) ein Geschehen, zum Beispiel eine Körperbewegung, häufig aber
auch ein Geschehen außerhalb des Körpers. Wenn man sagt, dass Kain Abel
_____________
26
27
Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, a.a.O., PU § 658.
Wittgenstein: Tagebücher 1914-1916, a.a.O., 4.11.1916.
296
Ralf Stoecker
umgebracht hat, dann setzt man damit Kain in Beziehung zu Abels Tod. Das
kann allerdings nur ungefähr stimmen, sonst stehen wir wieder vor dem Problem, dass wir der Handlung, die Fenster nicht zu putzen, nicht gerecht werden
können, weil es für sie ja gerade kennzeichnend ist, dass es kein entsprechendes Relatum gibt.
An dieser Stelle wird das zweite Element in dem Zitat aus Wittgensteins
Tagebüchern wichtig. Die Beziehung, die konstitutiv für das Handeln ist, ist
die der Verantwortung. Zu handeln heißt verantwortlich zu sein. Normalerweise wird dieser Satz so verstanden, dass uns unser Handlungsverständnis
darüber aufklären kann, wo die Grenzen unserer Verantwortung liegen. Man
kann ihn aber auch in die Gegenrichtung lesen und versuchen, unser Handlungsvokabular aus unserer Praxis, Menschen verantwortlich zu machen,
herzuleiten. Noch zu Lebzeiten Wittgensteins hat der Rechtsphilosoph
H.L.A. Hart diesen Vorschlag unter der Bezeichnung „Askriptivismus“ in die
Debatte eingeführt.28 Er passt auch ausgezeichnet zu der dritten, schärfsten
Schlussfolgerung aus Wittgensteins These, die Philosophen würden die Vielfalt des menschlichen Sprachgebrauchs übersehen.
Wenn Wittgenstein sagt, wir müssten radikal mit der Idee brechen, die
Sprache funktioniere immer auf eine Weise, diene immer dem gleichen
Zweck, dann gilt dies nicht nur für die Annahme, dass alle assertorischen
Sätze Berichte über Gegenstände sind, sondern auch für die Voraussetzung,
dass es in ihnen überhaupt darum geht, etwas mitzuteilen, auszusagen.
Wenn man nun Wittgenstein im Sinne Harts liest, dann sind Handlungssätzen vielleicht gar keine Sätze über eine Person, sondern Sätze, die sich an
diese Person richten. Tatsächlich schreibt Wittgenstein beispielsweise:
„Aber wie weiß ich, daß diese Bewegung willkürlich war? – Ich weiß es
nicht, ich äußere es.“29
Hart hat seine Position allerdings schon bald wieder revidiert. Zu überzeugend waren die kritischen Einwände, unter anderem auch die Feststellung, dass sich unsere Verwendung des Handlungsvokabulars nicht auf
Kontexte beschränkt, in denen man tatsächlich jemanden verantwortlich
macht. Woran man meines Erachtens aber festhalten kann, ist die Erläuterung des Handelns durch das Verantwortlichsein. Was heißt hier „Verantwortlichsein“? Ursprünglich und wortwörtlich bezeichnet es eine Verpflichtung, Antwort zu geben, Rechenschaft abzulegen. Man könnte auch sagen:
Gründe dafür anzugeben, warum man etwas tut oder getan hat. Setzt man
ein solches Vorverständnis von Verantwortung aber voraus, dann zeigt sich
_____________
28
29
H.L.A. Hart: The Ascription of Responsibility and Rights, in: Proceedings of the Aristotelian Society 44 (1948/49), vgl auch mein Action and Responsibility – a second look at ascriptivism, in: Christoph Lumer / Sandro Nannini (eds.): Intentionality, Deliberation and Autonomy, Aldershot.
Wittgenstein: Zettel, in: ders.: Über Gewißheit, a.a.O., § 600.
„Wir fühlen uns sozusagen für die Bewegung verantwortlich“
297
in Umrissen eine Handlungskonzeption, die noch deutlicher Wittgensteins
Mahnung entspricht, nicht einfach hinter die Sprache treten zu wollen:
Wenn man von jemandem sagt, dass er handelt, dann macht man deutlich,
auf welche Frage man von dem Handelnden eine Rechtfertigung, Begründung erwarten würde. Wer beispielsweise sagt, dass Kain seinen Bruder
getötet hat, beschreibt Kain als jemanden, von dem Gründe zu erwarten
sind, warum Abel tot ist (ungeachtet Kains Versicherung, er sei nicht seines
Bruders Hüter).
Aus Sicht der traditionellen Handlungstheorie sieht es jetzt so aus, als sei
ich auf Umwegen wieder bei einer sehr konventionellen Sichtweise angelangt:
Gründe, könnte man ergänzen, sind genau dann von Kain zu erwarten, wenn
er die entsprechenden psychischen Einstellungen hat, wenn er die Absicht
hatte, seinen Bruder zu töten, wenn er es gewollt hat. Und prompt entstehen
wieder die Probleme, was es heißt, dass Kain diese Einstellungen hat, wie man
sie an ihm verorten muss usw. Aus der Sicht von Wittgensteins Philosophie
sollte man sich diesem argumentativen Rollback aber unbedingt verweigern.
Gesprächspartnern Gründe für dieses oder jenes zu geben und umgekehrt
Gründe auch einzufordern, ist erst einmal ein Teil einer sozialen Praxis. Es ist
eine Praxis, mit der wir ständig rechnen. Wir wissen in der Regel genau, wofür
man gegebenenfalls von uns Rechenschaft haben möchte, also orientieren wir
uns daran. Wir haben es gelernt, diesen Diskurs, wie Schneider es nennt, nicht
nur zu führen, sondern auch in unserem Verhalten zu antizipieren. Deshalb
ist unser Handlungsvokabular explanatorisch so erfolgreich. Wir und die
allermeisten unserer Mitmenschen richten uns in der Regel danach, jederzeit
Rechenschaft für unser Tun abgeben zu können. Also können wir uns wechselseitig auch weitgehend darauf verlassen, dass unser Gegenüber sich so
verhält, wie es in dieser Situation verantwortbar ist. Von inneren Ursachen
und äußeren Wirkungen ist in dieser Skizze des menschlichen Handlungsvermögens nirgends die Rede. Stattdessen wird so etwas vorausgesetzt wie
eine gemeinsame Praxis, sich über Gründe auszutauschen und sie wechselseitig einzufordern, eine soziale Praxis kommunikativer praktischer Vernunft.
Vermutlich wäre es eine Überinterpretation Wittgensteins, ihm diese Position in den Mund zu legen, sie passt aber zumindest gut zu einem Bild, das
er für die Handlungszuschreibung gefunden hat:
Wie könnte man die menschliche Handlungsweise beschreiben? Doch nur, insofern
man die Handlungen der verschiedenen Menschen, wie sie durcheinanderwimmeln,
schilderte. Nicht, was einer jetzt tut, eine einzelne Handlung, sondern das ganze Gewimmel der menschlichen Handlungen, der Hintergrund, worauf wir jede Handlung
sehen, bestimmt unser Urteil, unsere Begriffe und Reaktionen.30
_____________
30
Ebd., § 567.
Ralf Stoecker
298
Nach meinem Handlungsverständnis bilden die Praxis der kommunikativen
praktischen Vernunft und unsere fest verwurzelte Disposition, uns in unserem Verhalten an ihr zu orientieren, das Muster, auf dessen Basis wir Menschen Handlungen zuschreiben als etwas, das Ausdruck dieser Disposition
ist.31
7.
Ich habe zu Beginn dieses Beitrags angekündigt, dass ich, ähnlich wie Hans
Schneider dies in Bezug auf Empfindungen getan hat, versuchen werde, bei
Wittgenstein Anregungen für eine philosophische Antwort auf die Grundfrage der Handlungstheorie zu finden. Auch wenn ich dieses Projekt hier nur
sehr skizzenhaft durchführen konnte, ist hoffentlich deutlich geworden, wie
vielversprechend es ist. Solange man sich nicht von dem Vorurteil ins Bockshorn jagen lässt, dass wir mit Handlungszuschreibungen über Handlungen
reden, die auf besondere Weise von unserem Inneren hervorgerufen werden,
erspart man sich eine ganze Reihe von traditionsreichen philosophischen
Rätseln und ihren vermeintlichen Lösungen.
Zum Abschluss meines Beitrags möchte ich aber gerne noch einmal zum
Anspruch Wittgensteins zurückkehren, dass es Aufgabe seiner neuen Philosophie sei, die herkömmliche Philosophie als Missverständnis und Unsinn zu
entlarven. Die Überlegungen Wittgensteins, die ich bislang in Anspruch genommen habe, lösen diesen Anspruch noch nicht ein. Ich teile zwar Wittgensteins Überzeugung, dass eine Reihe von philosophischen Problemen dadurch
auflösbar sind, dass man geteilte Voraussetzungen der Kontrahenten aufdeckt, das aber war schon immer ein wichtiges Instrument philosophischen
Fortschritts. Auch der kritische Blick auf die eigene Sprache ist Teil des philosophischen Handwerkszeugs. Dasselbe gilt nach meinem Eindruck auch für
Schneiders Rekonstruktion von Wittgenstein. Auch er liest wie ich Wittgenstein als einen hilfreichen und kreativen Philosophen, nicht als denjenigen,
der aller Philosophie ein Ende setzt. Wittgenstein wollte sicher mehr als nur
bessere Antworten auf philosophische Fragen zu geben, ich muss aber gestehen, dass ich noch nicht hinreichend verstehe, worin dieses Mehr besteht.
Vermutlich hat also die Therapie bei mir einfach noch nicht angeschlagen.
Doch zum Glück hat Wittgenstein uns auch dafür einen Trost anzubieten:
_____________
31
Ich habe diese Idee in einer Reihe von Publikationen weiter ausgearbeitet, zum Beispiel: Wie erklären Handlungserklärungen?, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie 1
(2008), Acting for Reasons - a Grass Root Approach, in: C. Sandis (ed.): New Essays on the
Explanation of Action, Macmillan 2009, Why Animals Can´t Act, in: Inquiry 52 (2009).
„Wir fühlen uns sozusagen für die Bewegung verantwortlich“
299
In der Philosophie darf man keine Denkkrankheit abschneiden. Sie muß ihren natürlichen Lauf gehen, und die langsame Heilung ist das Wichtigste.32 33
_____________
32
33
Wittgenstein: Zettel, a.a.O., § 382.
Eine frühere Version dieses Textes habe ich im Sommer 2009 auf der Tagung „Der
Geist im Fliegenglas“ in Potsdam gehalten. Ich danke den Teilnehmerinnen und Teilnehmern dieser Tagung, vor allem aber Hans Schneider, für die kritische Diskussion
Logisches und Psychologisches, Subjektives und
Objektives in Bezug auf das Wesen der Zahl
Zum ersten Grundsatz in den Grundlagen der Arithmetik
Richard Raatzsch
Die Schwierigkeit ...,
die einfachen Grundsätze anzuwenden,
macht einen an diesen Grundsätzen selbst irre.
Wittgenstein
Philosophische Bemerkungen, Nr. 133
1. Zur Größe Gottlob Freges gehört sein Vermögen, eigene Misserfolge zu
erkennen und einzugestehen, und sei es in Bezug auf sein eigentliches Lebenswerk: „Meine Anstrengungen“, heißt es in einer Tagebuchnotiz vom 3.
März 1924, „über das ins Klare zu kommen, was man Zahl nennen will, haben
zu einem Misserfolge geführt.“ Frege verbindet dieses Fazit mit folgender Diagnose: „Man lässt sich gar zu leicht durch die Sprache irreführen und gerade in
diesem Falle ist diese Irreführung ganz besonders schlimm.“1
In einer Hinsicht erstaunt diese Diagnose: im Alltag führt uns die Sprache
selten in die Irre, und wo doch, ist die Rückkehr auf den rechten Pfad meist
leicht. (Wäre es anders, gäbe es weder einen Alltag, noch seine Sprache.) Da
Freges Anstrengungen nun nicht so zu einem Misserfolge geführt haben, wie
es einem misslingen kann, jemandem etwas klar zu machen, was einem selbst
(wie man glaubt) durchaus klar ist, und insofern Frege sich auch nicht erst
von der Sprache irreführen ließ und dann keinen Erfolg hatte, sondern erfolglos war, indem er sich irreführen ließ, legt sich Folgendes als Form seines
Misserfolgs nahe:
Das Problem vorausgesetzt, beginnt man seine Klärungsarbeit mit etwas ganz Unproblematischem, Alltäglichem, nimmt weitere sog. Truismen hinzu … und hat irgendwann den Eindruck, man stecke fest.
Weil es in diesem Fall aber auf den Eindruck in gewisser Hinsicht ge_____________
1
Gottlob Frege: Tagebucheintragungen über den Begriff der Zahl, in: ders.: Nachgelassene Schriften und Wissenschaftlicher Briefwechsel, 1. Band: Nachgelassene Schriften, 2. Aufl., Hamburg
1983, S. 282-283.
Richard Raatzsch
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rade ankommt, steckt man auch tatsächlich fest. (Insoweit gibt es hier
keine Differenz von Schein und Sein.)
Diese Form weist wiederum auf den Ausweg aus der Sackgasse: die Rückkehr
zum Ursprung, in der Hoffnung, das Entstehen der Irreführung schrittweise
nachzeichnen zu können – womit sie natürlich verschwindet.
Nur, wenn wirklich alles offen daliegt, wie soll es Frege dann nicht selbst
(so) gesehen haben? – Erstens, weil, dass alles offen da liegt, nicht bedeutet,
dass es auch überschaut wird. (Man verläuft sich nicht im Wald, weil dort
irgendetwas verborgen wäre.) Zweitens, weil man nicht weit genug zurückgeht: zum Problem selbst. Drittens, weil man nicht schaut2, wie es sich verhält, sondern denkt, dass es so und so zugehen müsse, indem man sich etwa
in seiner Untersuchung nach Grundsätzen richtet. (Wer einfach schaut, muss es
nehmen, wie es kommt.) Nur, warum soll für Grundsätze nicht gelten, was
für das gilt, was sie begründen sollen? – Dieser Frage soll im Folgenden in
Hinsicht auf den ersten Grundsatz von Freges Grundlagen der Arithmetik und
dessen Anwendung in Teilen dieser Schrift, v. a. deren § 26, nachgegangen
werden.
2. Im § 26 geht es darum, dass die „Zahl ... kein Gegenstand der Psychologie
(ist), sondern etwas Objektives“. Das ist u. a. deshalb bemerkenswert, weil wir
Zahlen vor allem vom menschlichen Handeln her kennen, etwa vom Zählen,
Rechnen oder Messen. So wird der erste Grundsatz aus der Einleitung zu den
Grundlagen einschlägig, demzufolge
(G1) „das Psychologische von dem Logischen, das Subjektive von dem
Objektiven scharf zu trennen (ist).“3
Wenn Zahlen objektiv sind, dann sicher nicht so, wie ein Hut schwarz ist. Ein
Hut kann braun sein, aber eine Zahl wäre keine Zahl, und nicht etwa eine
andere (Art von) Zahl, wenn sie, statt objektiv zu sein, subjektiv wäre,
vorausgesetzt, sie ist objektiv. Wenn, so fällt eine Zahl ihrer Natur nach unter
das Objektive. Ihre Objektivität betrifft das, was sie ist, nicht ihr Wie. – Hier
wird nun eine erste Schwierigkeit mit dem Grundsatz transparent. Sie betrifft
seine Natur.
Dass man das Objektive vom Subjektiven scharf zu trennen hat, sagt
noch nicht, was die Zahl ist. Hierzu passt, dass ein Grundsatz, wie man diesen
Ausdruck zunächst erklären dürfte, etwas ist, an dem man die ganze
Untersuchung hindurch festhält, den man zu beachten hat, um mit Frege selbst
_____________
2
3
… um Wittgensteins Wortwahl aus § 66 der Philosophischen Untersuchungen (Kritischgenetische Edition, Frankfurt a. M. 2001) aufzugreifen; vgl. auch mein: Das Wesen der
Welt sichtbar machen, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie (2004), S. 445-465.
Frege: Die Grundlagen der Arithmetik. Eine logisch-mathematische Untersuchung über den Begriff
der Zahl, Stuttgart 1987, S. 23.
Zum ersten Grundsatz in den Grundlagen der Arithmetik
303
zu sprechen. Wie wichtig ein Grundsatz ist, mag erst in seinem Beachten
deutlich werden. Aber kann man ihm auch erst während der Untersuchung
(s)einen Inhalt, oder Sinn, verleihen? Muss nicht die Einteilung in Subjektives
und Objektives feststehen, bevor man die entsprechende Untersuchung zur
Natur der Zahlen anstellt? Woran sollte man sonst festhalten, was anwenden
oder beachten! – Nur, wenn es schon feststeht, was subjektiv resp. objektiv
ist, und man den entsprechenden Grundsatz kennen muss, um ihn beachten
zu können, muss man, soweit der Grundsatz einschlägig ist, auch schon
wissen, was es mit den Zahlen auf sich hat. Es bedarf keiner Untersuchung
mehr, und daher keiner Grundsätze.
Anders gesagt, wenn Zahlen objektiv sind, müssen sie es auch sein. Dann
aber bestimmen sie mit, was objektiv ist. Das Objektive hat dann gewissermaßen keine Chance, die Aufnahme der Zahlen in sein Reich zu verhindern.
Das Objektive ist ebenso wenig vor einer Untersuchung der Natur der Zahlen
gegeben, wie man einfach feststellen könnte, dass Zahlen objektiv sind. Denn
sie sind es nicht einfach, sondern mit Notwendigkeit, wenn sie es überhaupt
sind. Dass sie es sind, wenn sie es sind, kann sich so wenig „herausstellen“,
wie sich herausstellen kann, dass sie es nicht sind, wenn sie es nicht sind. Man
darf sich, mit anderen Worten, hierin nicht irren können.
Genau genommen, kann man nicht einmal glauben, Zahlen seien (nicht)
objektiv. Denn was heißt es, dies zu glauben, wenn es gar nicht wahr (falsch)
sein kann, es aber für eine Überzeugung essentiell ist, dass man mit ihr falsch
oder richtig liegen kann. Genau das aber ist nicht der Fall, wenn etwas nicht
wahr, oder eben nicht falsch, sein kann. Die Ausdrücke „notwendige
Wahrheit“ oder „unmögliche Wahrheit“ sind nicht so zusammengesetzt wie
der Ausdruck „angenehme Wahrheit“. Eine unmögliche Wahrheit ist eher gar
keine Wahrheit, als eine Form der Wahrheit unter vielen. (Das sieht man dem
Ausdruck „unmögliche Wahrheit“ eher an als dem Ausdruck „notwendige
Wahrheit“.)
Mehr noch, man kann nicht einmal sagen, was man hier nicht einmal
glauben kann. Denn angenommen, eine Sache habe eines der Merkmale nicht
(Zahlen seien nicht subjektiv), die zu denen gehören, welche die Sache zu dem
machen, was sie ist. Was hat dann jenes Merkmal nicht? Offensichtlich nicht das,
was jenes Merkmal nicht hat. Denn das gibt es dann ja nicht, oder von ihm ist
jedenfalls nicht die Rede. Aber natürlich auch nicht eine andere Sache. Dann
aber kann man auch nicht sagen, eine Sache habe ein Merkmal, welches zu
denen gehört, die sie zu der Sache machen, die sie ist. Wie will man dann
sagen können, sie müsse dieses Merkmal haben, wenn daraus folgen soll, dass
sie es hat? Denn das kann man eben nicht sagen.
Aber zurück zu den Grundsätzen. Ginge es bei diesen nicht um
Unterscheidungen in Bezug auf das, „was Zahl ist“, lägen die Dinge anders.
Der Satz „Fasse Dich kurz!“ kann befolgt werden, ohne dass damit bereits
Richard Raatzsch
304
entschieden wäre, was man möglichst kurz gefasst äußern wird. Aber ein Satz
dieser Art ist kein Grundsatz im Grundlagen-Sinn. Was wirklich als Grundsatz
in Frage käme, kommt gerade nicht in Frage. Es mag mit Schwierigkeiten
verbunden sein, sich kurz zu fassen; aber die Schwierigkeiten, die damit
einhergehen, Grundlagen-Grundsätze anzuwenden, sind von anderer Art: sie
scheinen diesen Grundsätzen als solchen anzugehören.
Ein Projekt jedenfalls, bei dessen Umsetzung es auf die Beachtung von
Grundlagen-Grundsätzen ankommt, die als solche unabhängig von dem
Projekt und seiner Realisierung sind, kann sich nicht darum drehen, herauszufinden, was etwas ist. Denn von seiner Natur wäre in den Grundsätzen
schon die Rede.
3. Eine Variante dieser Schwierigkeit zeigt sich, wenn Frege von einer
„gründliche(n) Untersuchung des Zahlbegriffs“ als einer Aufgabe spricht, die
„Mathematik und Philosophie gemeinsam (ist)“4, und hinzufügt, die Tatsache,
dass diese Aufgabe bisher nicht gelöst wurde, liege vor allem
an dem Überwiegen psychologischer Betrachtungsweisen in der Philosophie, die
selbst in die Logik eindringen. Mit dieser Richtung hat die Mathematik gar keine
Berührungspunkte … 5
Was hat es hier mit dem Überwiegen psychologischer Betrachtungsweisen auf
sich? Sind diese der Philosophie nicht äußerlich – ist also z. B. die Bedeutung
des Wortes „Philosophie“ mit Hinweis auf tatsächliche, so benannte
Aktivitäten bestimmbar, in denen dann psychologische Betrachtungsweisen
überwiegen – dann kann jene Aufgabe nicht Mathematik und Philosophie
gemeinsam sein und zugleich die Mathematik mit der Psychologie keine
Berührungspunkte haben. Wenn jene Betrachtungsweisen dagegen der
Philosophie selbst äußerlich sind, was wäre dann eine genuin philosophische
Betrachtungsweise? Freges erläuternde Ausführungen legen zwar die zweite
Alternative nahe. Denn es heißt, dass mit einer Betrachtung der „Vorstellungen
und deren Wechsel … beim mathematischen Denken“ gar nichts „zur
Begründung der Arithmetik“ beigetragen wird, dass „diese innern Bilder …
für das Wesen der Sache vollkommen gleichgiltig und zufällig sind, ebenso
zufällig wie eine schwarze Tafel und ein Stück Kreide“6. Aber welche
Bedeutung kann es dann haben, dass auch dem „Mathematiker als
solchem … diese inneren Bilder, ihre Entstehung und Veränderung
gleichgiltig (sind).“7 Wenn es sich in beiden Fällen um dieselbe (Art der)
Gleichgültigkeit handelt, wie unterscheiden sich dann Philosophie und
_____________
4
5
6
7
Vgl. Frege: Die Grundlagen der Arithmetik, a.a.O., S. 18.
Ebd., S. 19.
Ebd.
Ebd.
Zum ersten Grundsatz in den Grundlagen der Arithmetik
305
Mathematik? Ist die eine (Art der) Gleichgültigkeit aber von der andern
verschieden, was sagt es dann, dass jene „innern Bilder“ sowohl für die
Philosophie, als auch für die Mathematik belanglos sind? Warum soll es zwar
die Mathematik nichts angehen, wohl aber die Philosophie? Nicht erst die
Frage, was es denn dann verdiente, sondern schon die Frage, ob es sich um
ein philosophisches oder ein mathematisches Problem handelt, ist zu
beantworten, wenn es heißt, dass jene inneren Bilder „überhaupt nicht
Vorstellungen der Zahl Hundert zu heißen verdienen“8 (ebd.).
4. Eine zweite Schwierigkeit im Zusammenhang mit dem ersten Grundsatz
betrifft das Verhältnis der beiden Alternativen
Psychologisches vs. Logisches
und
Subjektives vs. Objektives
zueinander. Wie steht es, anders gesagt, um die Einheit des ersten Grundsatzes? Wer würde zum Beispiel prima facie sagen wollen, dass alles, was es
geben kann, entweder zum Psychologischen oder zum Logischen gehört?
Frege jedenfalls macht davon Gebrauch, dass es offensichtlich nicht der Fall
ist; etwa wenn er nach der Auflistung der Grundsätze so fortsetzt:
Um das Erste zu befolgen, habe ich das Wort ‚Vorstellung’ immer im psychologischen Sinne gebraucht und die Vorstellung von den Begriffen und den
Gegenständen unterschieden.
Die Frage nach der Einheit des ersten Grundsatzes stellt sich vor allem vor
dem Hintergrund der beiden anderen Grundsätze:
(G2) „Nach der Bedeutung der Wörter muss im Satzzusammenhange, nicht
in ihrer Vereinzelung gefragt werden.“
(G3)
„Der Unterschied zwischen Begriff und Gegenstand ist im Auge zu
behalten.“9
Hier gibt es kein Problem der Einheit. Gegeben die dadurch nahe gelegte
Zählweise, sollte man annehmen, dass Frege an Stelle seines ersten zwei Grundsätze angeführt hätte, wenn er die Frage betreffend die beiden Alternativen, die
im ersten Grundsatz auftauchen, dahingehend hätte beantwortet haben
wollen, dass es sich um zwei substantiell voneinander verschiedene
Alternativen handelt.
Die Lesart, welche die Einheit des ersten Grundsatzes, wie er dasteht, am
stärksten macht, besteht natürlich darin, das Psychologische dem Subjektivem
und das Logische dem Objektiven derart zuzuordnen, dass wir es nur mit einer
Unterscheidung zu tun haben, die sich jedoch terminologisch verschieden fassen
_____________
8
9
Ebd.
Ebd., S. 23.
Richard Raatzsch
306
lässt. Wie man einerseits zwischen Lyrik und Prosa und andererseits zwischen
dichtender und erzählender Literatur unterscheidet, ohne damit unbedingt
einen sachlichen Unterschied zu verbinden, so könnte es sich auch im Fall
von „Logisches – Psychologisches“ und „Subjektives – Objektives“ verhalten:
man benutzt beide Paare als füreinander einsetzbar.
Zu einer Deutung seines ersten Grundsatzes nach diesem Muster passt
es, dass Frege eine zur Formulierung seines ersten Grundsatzes sozusagen quer
stehende Formulierung dessen gibt, worum es in § 26 gehen soll: dass, zur
Erinnerung und entsprechend betont, die Zahl „kein Gegenstand der
Psychologie, sondern etwas Objektives“ ist – ähnlich dem, dass man, statt zu sagen,
ein gewisser Text sei kein Fall von Lyrik, sondern von Prosa, sagt, er sei kein
Beispiel für Lyrik, sondern eines für erzählende Literatur. So verstanden,
reichte es also nicht hin, den Unterschied zwischen dem Psychologischen und
dem Logischen einerseits und dem Subjektiven und dem Objektiven
andererseits als einen zwischen zwei voneinander verschiedenen, aber
miteinander zusammenhängenden Alternativen anzusehen. Wie man auch
sagen könnte, der Unterschied zwischen Lyrik und Prosa hänge zwar
zusammen mit dem zwischen gereimter und freier Sprache, sei aber dennoch
nicht der gleiche Unterschied. Oder so, wie Frege selbst andeutet, dass es
einen Zusammenhang zwischen seinem ersten und seinem zweiten Grundsatz
gibt, wenn er kurz nach der Auflistung seiner Grundsätze im Anschluss an die
oben zitierte kurze Bemerkung zum ersten Grundsatz schreibt, man sei bei
Nichtbeachtung des zweiten Grundsatzes „fast genötigt, als Bedeutung der
Wörter innere Bilder oder Taten der einzelnen Seele zu nehmen und damit
auch gegen den ersten zu verstoßen.“10 Man verstößt also insofern gegen den
ersten Grundsatz, indem man in der angegebenen Weise gegen den zweiten
verstößt, als man so die Bedeutung der Wörter zu etwas Psychologischem
macht, was sie nicht ist.11 Davon, dass man, indem man gegen den zweiten
Grundsatz verstößt, nur gegen einen Teil des ersten zu verstoßen tendiere, ist
dabei keine Rede. Also ist der erste Grundsatz einer; Inhalt und Zählweise
stimmen überein.
Wenn Frege jedoch sagt, man sei durch die Nichtbeachtung des zweiten
Grundsatzes „fast genötigt ...“ (meine Hervorhebung), legt dies auch nahe,
dass es eine andere Auffassung der Bedeutung gibt, die mit der Betrachtung
der Wörter in ihrer Vereinzelung vereinbar ist. – Es liegt auf der Hand, was
hier in Frage kommt: der Gegenstand, für den das Wort steht.
_____________
10
11
Ebd.
Kann man die Bedeutung der Wörter als etwas Psychologisches, Subjektives auffassen, ohne sie damit auch schon in ihrer Vereinzelung, statt im Satzzusammenhang, zu
betrachten? Was ist die Einheit der drei Grundsätze? – Sind sie, im Grunde, ein Satz?
Zum ersten Grundsatz in den Grundlagen der Arithmetik
307
5. Eine mit dieser Idee oft verbundene Überlegung hat Frege bereits vor § 26
der Grundlagen erörtert, nämlich ob die Anzahl „eine Eigenschaft der äußeren
Dinge“ sei. Wenn ja, dann wäre die Arithmetik in dem Maße eine empirische
Wissenschaft, in dem diese durch die Beschäftigung mit derartigen
Eigenschaften charakterisiert ist. Frege kommt zu dem Ergebnis, dass die
Anzahl keine derartige Eigenschaft äußerer Dinge sein kann. Betrachten wir
die Sache aus der Nähe.
Freges Ausgangspunkt ist die Tatsache, dass Zahlen sprachlich
meistens in adjektivischer Form und in attributiver Verbindung ähnlich wie die
Wörter ‚hart’, ‚schwer’, ‚rot’ erscheinen, welche Eigenschaften der äußeren Dinge
bedeuten.12 Es liegt die Frage nahe, ob man die einzelnen Zahlen auch so auffassen
müsse, und ob demgemäß der Begriff der Anzahl etwa mit dem der Farbe
zusammengestellt werden könne.13 (GA 50)
Das klingt unschuldiger als es wirklich ist.
(1) Der Begriff der äußeren Dinge wird vorausgesetzt, und nicht erläutert.
Zwar ließe sich aus den Beispielen, die Frege anschließend diskutiert, eine
Definition der Art „Blätter, Steine, Spielkarten, Flächen (?), Bündel von
Strohhalmen, Strohhalme und Ähnliches sind äußere Dinge“ abziehen.
Aber warum sollte alles, was darunter fällt, in jeder wesentlichen Hinsicht
gleich sein? Das ist gerade der Witz der Klausel „und Ähnliches“.
(2) Im Unterschied wozu erscheinen Zahlen meistens in adjektivischer Form
und attributiver Verbindung? Im Unterschied dazu, dass sie beides nicht
sind? Das sagte noch nichts darüber, wie es sich bei ihnen in Hinsicht auf
die Frage verhält, ob sie Eigenschaften äußerer Dinge sind. Wenn man
nun aber sagt, das Erscheinen der Zahlen in adjektivischer Form und
attributiver Verbindung entspräche insofern nicht ihrem Wesen, als das
Erscheinen von „hart“, „schwer“ und „rot“ in dieser Form dies tut, dann
hat man bereits die Antwort auf die Frage, um die es gehen soll,
vorweggenommen.
(3) Die Frage, ob man einzelne Zahlen auch so auffassen müsse, kommt
dann insofern zu spät, als zunächst zu klären wäre, wie es in dieser
Hinsicht um „hart“ usw. steht. Denn in dem Moment, in dem wir
zwischen adjektivischer Verwendung und attributiver Verbindung
einerseits und Bedeuten einer Eigenschaft eines äußeren Dinges
andererseits unterscheiden, stellt sich die Frage auch schon für alles, was
mit adjektivischer Form und attributiver Verwendung.
_____________
12
13
Die Härte eines Gegenstandes ist eine Eigenschaft anderer Art als seine magnetischen
Eigenschaften, aber dennoch eine empirische Eigenschaft. Siehe unten die Ausführungen zum Äquator und überhaupt Moores Proof of an External World, in: Proceedings
of the British Academy Vol. XXV (1939).
Frege: Die Grundlagen der Arithmetik, a.a.O., S. 50.
Richard Raatzsch
308
(4) Wenn sie sich aber für alle stellt, was soll es dann bedeuten, zu fragen,
„ob man die einzelnen Zahlen auch so auffassen müsse“? Muss man denn
die Härte, Schwere und Farbe so auffassen? Und wenn ja, wieso bedarf
das dann keiner Untersuchung? – Weil man sie nicht anders auffassen
kann? – Selbst wenn, so zeigte dies noch nicht, was es zeigen müsste,
damit Freges Frage nahe läge. Es zeigte nur, dass wir zur Erklärung der
Bedeutung des Ausdrucks „Eigenschaft eines äußeren Gegenstandes“ so
etwas sagen könnten wie: „Die Härte eines Steines, und seine Schwere
und Ähnliches sind solche Eigenschaften.“ Und wir würden die Intensität
eines Gefühls, soweit es eine Eigenschaft ist, eher nicht so nennen (s. u.).
Aber das legt eben nicht „die Frage nahe, ob man die einzelnen Zahlen
auch so auffassen müsse“; und die Frage, „ob dementsprechend der
Begriff der Anzahl etwa mit dem der Farbe zusammengestellt werden
könne“, käme nur insofern auf, als es eine Frage danach ist, wie wir mit
den entsprechenden Ausdrücken de facto umgehen.14
_____________
14
Ein Wort zur Farbe. Bei Goethe heißt es in der Einleitung Zur Farbenlehre (in: ders.:
Werke, Band 13: Naturwissenschaftliche Schriften, München 2002, S. 314-523):
Wär nicht das Auge sonnenhaft,
Wie könnten wir das Licht erblicken? (S. 324)
Wenn das Auge sonnenhaft ist, hat das Licht insofern eine subjektive Eigenschaft, als
es eine Eigenschaft des Subjekts hat. (Eine Eigenschaft des Auges ist insofern eine
des Subjekts, als es nicht um sezierte Augen oder die eines Toten geht. „Subjekt“ bedeutet hier svw. „sehendes (oder sehfähiges) Lebewesen“.) Wenn dies auch in die andere Richtung gilt, geht Goethes Überlegung gegen die Idee, alles sei entweder subjektiv
oder objektiv. (Goethe verweist hier selber auf die alte ionische Schule – Parmenides
und Empedokles – nach der Gleiches nur von Gleichem erkannt wird, und einen „alten Mystiker“, womit Plotin gemeint sein soll; siehe: Plotin: Über das Schöne, in: ders.:
Ausgewählte Schriften, Stuttgart 2001, S. 47-60, = Enneade I.) Auf dieser Voraussetzung
aber beruht Freges erster Grundsatz oder er drückt sie doch aus. Allerdings geht er
auch Schritte in die Richtung, in die auch Goethes Aperçu weist, etwa wenn auch er
auf Farben zu sprechen kommt: „Man denkt gewöhnlich bei ‘weiß’ an eine gewisse
Empfindung, die natürlich ganz subjektiv ist“ – dass sie ganz subjektiv ist, nicht etwa
halb, und damit schon halb objektiv, deutet auf eine Aufweichung der Dichotomie von
Subjektivem und Objektivem. Hier ist die Fortsetzung: „aber schon im gewöhnlichen
Sprachgebrauche, scheint mir, tritt ein objektiver Sinn vielfach hervor. Wenn man den
Schnee weiß nennt, so will man eine objektive Beschaffenheit ausdrücken, die man
beim gewöhnlichen Tageslicht an einer gewissen Empfindung erkennt. Wird er farbig
beleuchtet, so bringt man das bei der Beurteilung in Anschlag. Man sagt vielleicht: er
erscheint jetzt rot, aber er ist weiß. Auch der Farbenblinde kann von rot und grün reden, obwohl er diese Farben in der Empfindung nicht unterscheidet. Er erkennt den
Unterschied daran, dass andere ihn machen, oder vielleicht durch einen physikalischen Versuch. So bezeichnet das Farbenwort oft nicht unsere subjektive Empfindung, von der wir nicht wissen können, dass sie mit der eines andern übereinstimmt –
denn offenbar verbürgt das die gleiche Benennung keineswegs – sondern eine objektive Beschaffenheit.“ (Frege: Grundlagen der Arithmetik, a.a.O., S. 58f.) Goethe verbindet seine Frage betreffend das Auge übrigens sofort mit folgendem Gedanken:
Zum ersten Grundsatz in den Grundlagen der Arithmetik
309
Es gibt also eine Frage, aber in dieser geht es so wenig um die Grundlagen
der Arithmetik in Freges Sinn, wie man die Grundlagen der empirischen
Wissenschaften aufdeckt, wenn man sagt, Härte und Schwere nenne man
auch „Eigenschaften äußerer Dinge“ und damit einen Unterschied etwa zur
Intensität eines Gefühls machen will.
Das wirft ein Licht auf den § 22, nach dem „die äußern Dinge ... keine
strengen Einheiten dar(stellen).“ Als Argument wird Baumanns Ansicht
angeführt, „sie stellen uns abgegrenzte Gruppen oder sinnliche Punkte dar,
aber wir haben die Freiheit, diese selbe wieder als vieles zu betrachten.’“
Frege:
In der Tat, während ich nicht imstande bin, durch bloße Auffassungsweise die Farbe
eines Dinges oder seine Härte im geringsten zu verändern, kann ich die Ilias als Ein
Gedicht, als 24 Gesänge oder als eine große Anzahl von Versen auffassen.15
Was kann ich so auffassen? Wenn man sagt, man fasse etwas so und so auf,
muss jenes Etwas selbst, scheint es, unabhängig davon bestimmt sein. Denn
was könnte es heißen, X als X aufzufassen? die Ilias als Ilias? (Kann die Ilias
uns als Ilias gegeben sein?) Wenn die Ilias Ein Gedicht ist, bestehend aus 24
_____________
15
Lebt nicht in uns des Gottes eigne Kraft,
Wie könnt uns Göttliches entzücken?
Das erinnert an Angelus Silesius, der aus dem Fürwahrhalten von „Gott existiert“ auf
Gottes Existenz schließt, oder an Blake (The Marriage of Heaven and Hell, in: ders.: The
Complete Poetry and Prose, Garden City 1982, S. 33-45), der, S. 38, meint: „Truth can never be told so as to be understood and not be believed“, und dabei natürlich an
Wahrheiten über Gott denkt. Es fällt wiederum schwer, hier keine Verbindung zu
Frege zu sehen, wenn man bei ihm liest: „Weder die Logik noch die Mathematik hat
als Aufgabe, die Seelen und den Bewusstseinsinhalt zu erforschen, dessen Träger der
einzelne Mensch ist. Eher könnte man vielleicht als ihre Aufgabe die Erforschung des
Geistes hinstellen, des Geistes, nicht der Geister.“ (Frege: Der Gedanke. Eine logische
Untersuchung, in: ders.: Logische Untersuchungen, 3. Aufl., Göttingen 1986, S. 30-53, S. 50).
In Logik (Frege: Schriften zur Logik und Sprachphilosophie, Hamburg 1990, S. 35-73) S. 69
schließlich stellt Frege Gedanken Vorstellungen gegenüber und bezeichnet sie als
nicht der einzelnen Seele gehörend, was er in Parenthese so erläutert: „sie sind nicht
subjektiv“. Sie sind, heißt es weiter, nicht Produkt unseres Denkens und stehen jedem
von uns in gleicher Weise gegenüber – also objektiv? Kurz danach heißt es, sie seien
„unräumlich und im wesentlichen unzeitlich“. An der oben zitierten Stelle der Grundlagen setzt Frege nun in folgender Weise fort: „So verstehe ich unter Objektivität eine
Unabhängigkeit von unserm Empfinden, Anschauen und Vorstellen, von dem Entwerfen innerer Bilder aus den Erinnerungen früherer Empfindungen, aber nicht eine
Unabhängigkeit von der Vernunft; denn die Frage beantworten, was die Dinge unabhängig von unserer Vernunft sind, hieße urteilen, ohne zu urteilen, den Pelz waschen,
ohne ihn nass zu machen.“ – Die Vernunft, nicht unsere? (Zu Goethe siehe Vendler:
Philosophieren über die Farben: Goethe und Wittgenstein, in: Raatzsch (ed.): Philosophieren über
Philosophie, Leipzig 1999, S. 221-240, und allgemein: Mark Johnston: Is the External
World Invisible?, in: Philosophical Issues 7(1996), S. 185-198.)
Frege: Grundlagen der Arithmetik, a.a.O., S. 51.
Richard Raatzsch
310
Gesängen mit zahllosen Versen, dann kann man sie nicht so auffassen, wie
Frege meint. Denn das liefe darauf hinaus, zu sagen, man fasse die Ilias als
Ilias auf. Würde man dagegen sagen, die Ilias sei nicht Ein Gedicht, bestehend
aus ...., dann würde der Satz, wonach man die Ilias so und so auffassen könne,
dem Satz gleichen, man könne X, von dem man nicht weiß, was es ist, so und
so auffassen.
Natürlich kann man sagen, man könne die Ilias als Ein Gedicht, als 24
Gesänge oder als eine große Anzahl von Versen auffassen. Nur legt man sich
damit nicht darauf fest, dass es einen Gegenstand gibt, von dem man nichts
weiß, außer, dass man ihn so und so betrachten kann, denn alles, was man
von ihm wissen könnte, wäre nur eine weitere Art, ihn zu betrachten (wie er
uns gegeben ist). Sondern es heißt einfach, dass man sich, wenn man z. B. die
Ilias als Ein Gedicht auffasst, auf eine unter mehreren Verwendungsweisen
des Ausdrucks „Ilias“ festlegt. Wenn man etwa fragt, wann die Ilias entstanden
sei, und zur Antwort erhält: an dem und dem Tag, von 9 bis 11 Uhr, dann am
nächsten Tag von 6 bis 20 Uhr, dann zwei Tage später von ..., darf man
vermuten, dass der Antwortende die Frage so verstanden hat: Wann sind die
zahllosen Verse der Ilias entstanden? Und da es die Ilias nicht zusätzlich und
unabhängig von jenen Versen gibt, kann man jene Frage auch dann so
auffassen, ohne sich mehr als ungewöhnlich zu verhalten, wenn man weiß,
dass „Ilias“ der Name Eines Gedichtes, bestehend aus 24 Gesängen, ist.
Frege meint, dass dann, wenn ich
jemandem einen Stein gebe mit den Worten: bestimme das Gewicht hiervon, so habe
ich ihm damit den ganzen Gegenstand seiner Untersuchung gegeben. Wenn ich ihm
aber ein Pack Spielkarten in die Hand gebe mit den Worten: bestimme die Anzahl
hiervon, so weiß er nicht, ob er die Zahl der Karten oder der vollständigen Spiele oder
etwa der Werteinheiten beim Skatspiele erfahren will. Damit, dass ich ihm den Pack in
die Hand gebe, habe ich ihm den Gegenstand seiner Untersuchung noch nicht
vollständig gegeben; ich muss ein Wort: Karte, Spiel, Werteinheit hinzufügen. Man
kann auch nicht sagen, dass die verschiedenen Zahlen hier so wie verschiedene
Farben neben einander bestehen.16
Aber hier trübt der Wechsel des Beispiels die Sicht. Wenn ich jemandem
einen Stein in die Hand gebe mit der Aufforderung, hiervon die Anzahl zu
bestimmen, wird er sich vermutlich wundern. Aber wird der Grund sein, dass
er nicht weiß, was der Gegenstand seiner Bestimmung sein soll, oder eher der,
dass man hier kaum von einer Aufgabe sprechen kann, die noch zu erfüllen
wäre? Andererseits, wenn wir jemandem ein loses Pack Karten in die Hand
gäben mit der Aufforderung, hiervon das Gewicht zu bestimmen, wären wir
vielleicht nicht überrascht, wenn er fragte: „Wovon, von jeder einzelnen
Karte, dem Pack ...?“ Es ist nicht einfach so, dass wir in dem einen Fall mit
einem Wort wie „hiervon“ auskommen, in dem andern aber nicht, und dass
_____________
16
Ebd.
Zum ersten Grundsatz in den Grundlagen der Arithmetik
311
dies zeigt, dass die Anzahl keine Eigenschaft äußerer Gegenstände ist. Wenn
es um die Anzahl geht, kann ein Wort wie „hiervon“ ebenso ausreichen, wie
es eines weiteren Wortes bedürfen kann, wenn es um das Gewicht geht. Es
kommt auf die Situation an. Es muss keine „an sich ausgezeichnete“ Notation
für die Anzahl geben, die es ggf. noch zu finden gilt, weil sie hinter dem
verborgen ist, wie die Zahl sprachlich erscheint. Die Schwere ist das, als was sie
sprachlich erscheint; ebenso die Anzahl. Das macht sie nur dann gleich, wenn
die Art, auf die etwas sprachlich erscheint, darauf beschränkt ist, ob etwas
adjektivisch verwendet ... wird. Ob sie aber darauf beschränkt sind, hängt von
dem Begriff der Sprache ab, den man hier unterlegt.
Wenn es heißt:
Wenn ich einen Gegenstand mit demselben Rechte grün oder rot nennen kann, so ist
das ein Zeichen, dass dieser einzelne Gegenstand nicht der eigentliche Träger des
Grünen ist. Diesen habe ich erst in einer Fläche, die nur grün ist.17,
dann lässt sich das so „übersetzen“:
- Wenn, sagen wir, ein Blatt, auf der einen Seite grün und auf der andern
rot ist, dann kann man mit dem gleichen Recht sagen, es sei rot und es sei
grün.
- Aber dieses Recht, mit dem man beides sagen kann, ist von anderer Art
als das Recht, mit dem man von etwas sagen kann, es sei ganz und gar
grün, oder es sei ganz und gar rot.
- Von einem Blatt zu sagen, es sei grün und rot, kann eine Feststellung
betreffend das Blatt sein; und insofern wir mit einer solchen Feststellung
einem Gegenstand eine oder mehrere Eigenschaften zuschreiben und ein
Gegenstand, dem Eigenschaften zugeschrieben werden, Träger dieser
Eigenschaften ist, ist das Blatt der Träger des Grünen und des Roten.
- Von einem Blatt zu sagen, es sei ganz und gar grün, kann eine
Feststellung betreffend das Blatt sein; und ... ist das Blatt der Träger des
Grünen.
- Von einer Fläche zu sagen, sie sei grün und rot kann eine Feststellung
betreffend die Fläche sein; und ... ist die Fläche der Träger des Grünen
und des Roten.
- Von einer Fläche zu sagen, sie sei ganz und gar grün, kann eine
Feststellung betreffend die Fläche sein; und ... ist die Fläche der Träger
des Grünen.
- Von einer Fläche, die ganz und gar grün ist, zu sagen, sie sei der eigentliche
Träger des Grünen, heißt nicht, eine Feststellung betreffend die Farbe der
Fläche zu treffen; sondern es heißt, dass wir für einen Ausdruck wie
„Fläche, die ganz und gar rot und grün ist“ keine Verwendung haben –
von einem Träger ist hier keine Rede mehr, und der Ausdruck
_____________
17
Ebd., S. 52.
Richard Raatzsch
312
„eigentlicher Träger“ bezeichnet nicht eine Unterart aus der Menge der
Träger von Eigenschaften.
Dass ein Stapel Karten aus 32 Karten bestehen kann, bedeutet dagegen nicht,
dass ich einem „Gegenstand ... mit demselben Rechte verschiedene Zahlen
zuschreiben kann“ wie einem Blatt verschiedene Farben. Ein Blatt besteht
nicht im gleichen Sinn aus seinen beiden Seiten wie ein Stapel Karten aus 32
Karten. Wenn ich unter „Gegenstand, dem ich eine Zahl zuschreiben kann“,
den Stapel Karten verstehe, dann kann ich ihm nicht mit gleichem Recht
verschiedene Zahlen zuschreiben. Ein Stapel Karten ist – ein Stapel Karten.
Während der „eigentliche Träger“ der Farbe gar kein Träger der Farbe ist,
gibt es im Fall der Anzahl nicht einmal ein Bedürfnis für jene vermeintliche
Rolle eines „eigentlichen Trägers“.
6. Wenn die Anzahl keine objektive Eigenschaft äußerer Dinge18 sein kann,
könnte sie dann vielleicht eine subjektive Eigenschaft äußerer Dinge sein?
Muss, wenn eine Ansicht – oder, wie Frege es nennt: Meinung19 (GA 18,
siehe dazu unten) – falsch ist, nicht eine andere, wenn auch nicht gerade
diese, richtig sein?
Es sieht nun leicht so aus, dass es so scheinen könnte, dass Zahlen
subjektive Eigenschaften äußerer Gegenstände in Abhängigkeit von unserer
Auffassung derselben sind; als wäre es
vielleicht korrekt, so gut wie jede Zahl so gut wie jedem Ding zuzuschreiben, wenn wir
es nur entsprechend auffassen. Immerhin, ein Stiefel kann als bestehend aus zwei
Stiefelhälften, drei Stiefeldritteln usw. betrachtet werden.20
Aber indem man von verschiedenen Arten von Zusammensetzung eines
Gegenstandes spricht, wird es unterbestimmt, zu sagen, man könne (korrekter
Weise) jede beliebige Anzahl jedem beliebigen Gegenstand zuschreiben. (Und wenn
man von Stiefeldritteln spricht, spricht man schon von „zahlengetränkten“
Gegenständen.) Kann es dann aber auch nur beginnen, so zu scheinen, als
könne man jedem Gegenstand jede Zahl zuschreiben? Dazu bedürfte es doch
einer Lizenz zum Übergang vom Begriff des Gegenstandes (oder des Dinges)
zum Begriff des Gegenstandes in dieser oder jenen Weise seines Zusammengesetztseins
(seiner Betrachtung). Wenn es hier einen Schein geben kann, dann den, dass es
sich insofern von selbst versteht, welche Anzahl einem Gegenstand zu_____________
18
19
20
Wie steht es um „innere Gegenstände“? – Die Intensität eines Gefühls etwa ist, häufig
jedenfalls, niemandes Willkür anheim gestellt. (Vgl. auch: Frege: Grundlagen der
Arithmetik, a.a.O., S. 52 und Wittgensteins Philosophische Bemerkungen, in: ders.:
Werkausgabe, Band 2, Frankfurt a. M. 1984, § 65, S. 94.) Sie bedarf jedoch eines
Subjekts, insofern das Gefühl eines Trägers bedarf. Der Mensch aber ist nicht subjektiv;
und jene Intensität nicht meine (oder deine).
Frege: Die Grundlagen der Arithmetik, a.a.O., S. 18.
Joan Weiner: Frege, Oxford 1999, S. 54.
Zum ersten Grundsatz in den Grundlagen der Arithmetik
313
kommt, als man gar nicht auf die Idee verfällt, nach einer besonderen Art von
Zusammengesetztsein des Gegenstandes zu fragen. Das Staunen gälte also
dem Begriff des Gegenstandes resp. dem des Gegenstandes in dieser (statt jener)
Zusammensetzung, und nicht der Natur des Zukommens einer Anzahl zu einem
Gegenstand. Sobald die Art der Gegenständlichkeit klar ist, fällt die Anzahl
sozusagen von allein an ihren Platz, gegeben, wie wir von Anzahlen reden.
Das macht die Frage nach der (richtigen) Anzahl zwar noch nicht zu
einer psychologischen. Es ist aber auch nicht mehr einfach belanglos, wie
man einen „Gegenstand“ auffasst. (Nachdem man einen begrifflichen
Unterschied zwischen Gegenständen und Gegenständen in dieser oder jenen
Weise ihres Zusammengesetztseins eingeführt hat, redet man nicht mehr so
reden wie.) Ein Satz Karten mag aus 52 Karten bestehen, egal, ob man ihn
bestehend aus Sätzen von Spielkarten oder aus Karten ansieht. Aber dass es
52 Karten sind, ist (nur) die richtige Antwort im Vergleich dazu, dass jemand
sagt, es wären 63 Karten. Und die Hinsicht, in der es richtig ist, dass es 52
Karten sind, ist verschieden von der, in welcher es falsch wäre, von zwei Satz
Spielkarten zu reden. Für die Frage, wie viel Kartensätze es sind, ist „Es sind
52 Karten“ weder eine falsche noch eine richtige, sondern eine irrelevante oder
gar keine Antwort. Man könnte hier ebenso gut antworten: „Churchill war
Finanzminister“ oder „52!“ als Antwort auf die Frage nach dem Sinn des
Lebens geben. Das heißt, „52!“ kann nur in dem Sinn die (richtige) Antwort
sein, als erst die Hinsicht, in der nach einer Anzahl gefragt wird, festlegt, was
die (richtige) Antwort sein kann, gegeben, wir von Anzahlen reden. Und nur
wenn die Hinsicht, in der eine Sache betrachtet wird, ebenfalls nicht zu dem
psychologisch Relevanten gehört, kann man sagen, die Psychologie sei
irrelevant für Freges Suche nach richtigen Antworten und deren Begründung.
Wenn die Art der Betrachtung, in Bezug auf welche „52“ die richtige und jede
andere Zahl die falsche Antwort ist, jedoch nichts Psychologisches ist, was
geht uns dann irgendeine solche Art der Betrachtung an? Was könnte sie uns
(als „Geister“) je bedeuten? Die Psychologie hat nichts damit zu tun, wann
welche Antwort betreffend Anzahlen korrekt ist. Aber wenn Hinsichten, in
denen man die Dinge betrachten kann, zu dem gehören, was uns zugänglich
sein muss, erlaubt erst sie, dass irgendeine Antwort betreffend die Anzahlen,
korrekt oder nicht, möglich ist. So erscheint die Psychologie als Grundlage
der Arithmetik! (Es ist also eine wichtige Tatsache, dass hier nicht einfach
jeder „denkt, was er will“.)
7. Wenn wir nun unter dem Objektiven so etwas wie einen Stein und seine
Eigenschaften verstehen, ein Stein geradezu ein Muster eines äußeren
Gegenstandes ist, die Anzahl aber keine Eigenschaft der äußeren Gegenstände, dann kommt man, wie Frege zu Beginn von § 26 schreibt, in der Tat
„leicht dazu“, „die Zahl für etwas Subjektives anzusehen.“ – Eigentlich ist
dies eine Untertreibung. Denn was könnte die Anzahl Anderes sein als etwas
Richard Raatzsch
314
Subjektives, wenn sie keine Eigenschaft der äußeren Gegenstände ist, und
natürlich schon gar nicht selbst ein äußerer Gegenstand, äußere Gegenstände
aber das sind, woran man zuerst denken darf, wenn man das Wort
„Objektives“ zu erklären hätte?
Die Frage stellen, heißt, sie beantworten: die Anzahl kann dann etwas
Objektives sein, wenn das Objektive sich nicht in dem erschöpft, woran man
zuerst denkt, wenn man .... Sie kann insofern objektiv sein, als sie das sein
kann, woran man beim Versuch einer Erklärung in zweiter oder dritter oder
wievielter Linie auch immer denkt – so lange man nur nicht an etwas denkt,
an das man in erster, zweiter ... Linie denken würde beim Erklären der
Bedeutung von „Subjektives“.21
Nur wovon genau sollen wir dann das Subjektive scharf trennen? Von
dem, woran wir in erster Linie denken, wenn wir das Wort „Objektives“
hören? Oder von dem aus der zweiten Linie? Wenn die Anzahl gerade keine
Eigenschaft der äußeren Dinge ist, aber zugleich auch nichts Subjektives,
dann, scheint es, müsste der erste Grundsatz in seinem zweiten Teil eigentlich
lauten:
(G1*b) Es sind ...., das Subjektive und die verschiedenen Arten des
Objektiven scharf voneinander zu trennen.
Dann sollte freilich auch jene quer stehende Formulierung des Argumentationszieles des § 26 – dass die Zahl „kein Gegenstand der Psychologie,
sondern etwas Objektives“ ist – neu formuliert werden. Denn der Ausdruck
„etwas Objektives“ hat jetzt mindestens zwei Bedeutungen in dem Sinne, in
welchem das Objektive mehrere Formen annehmen kann, deren Unterschied
für die Anzahl so bedeutsam ist, dass sie ihrem Wesen nach von einer dieser
Formen so verschieden ist wie von dem Subjektiven: sie fällt nicht unter sie.
Dann aber fehlt auch im ersten Teil des ersten Grundsatzes eine Größe, wenn
es sich bei diesem Grundsatz wirklich um einen Grundsatz handeln soll. Als
dessen vollständige Formulierung bietet sich im Lichte der obigen
Ausführungen natürlich an:
(G1*)
Es sind das Psychologische einerseits und das empirisch Wissenschaftliche sowie das Logische andererseits, das Subjektive auf der
_____________
21
Daraus, dass du in erster Linie an X denkst, folgt nicht unbedingt nichts darüber,
woran ich in erster Linie zu denken hätte, wenn wir beide als normal gelten sollen. In
der Wendung „woran man zuerst ... denkt“ kommt also das Wort „man“ wesentlich vor.
Insofern ist die Art des Denkens sowohl mit dem verwandt, was Frege „Geister“
nennt, wie auch mit dem, was er, als Kontrast dazu, „Geist“ betitelt (vgl.: Frege: Der
Gedanke, a.a.O., S. 50). Schneider spricht von einfachsten Fällen von Gegenstandsnamen auf der einen Seite und einem „Extrem auf der unplausiblen Seite“ und moniert,
dass bestimmte Übertragungen nicht „einleuchten“. vgl. Schneider: Phantasie und Kalkül, Frankfurt a. M. 1999, S. 257.
Zum ersten Grundsatz in den Grundlagen der Arithmetik
315
einen und die verschiedenen Arten des Objektiven auf der andern
Seite scharf voneinander zu trennen.
Diese Ergänzung kommt zwar dem entgegen, dass eine „gewisse Ähnlichkeit
der Anzahl und der Farbe“ herrscht, die aber nicht darin besteht, „dass beide
an äußern Dingen sinnlich wahrnehmbar, sondern darin, dass beide objektiv
sind.“22 ( – und soweit das eine Ähnlichkeit ist! Sind alle Dinge einander darin
ähnlich, Dinge zu sein?) Aber jene Ergänzung kommt dieser Bemerkung nur
in dem Sinne entgegen, dass letztere zugleich wie eine Erläuterung dessen
gelesen werden muss, was „objektiv“ jeweils heißen soll.
8. Die Ergänzung lässt zudem den unmittelbaren Fortgang des § 26 unverständlich werden. Denn wenn Frege an der zuletzt zitierten Stelle fortsetzt,
indem er den Gedanken erwägt, „die Weise, wie die Zahl in uns entsteht,
(könne) über ihr Wesen Aufschluss geben“, so dass es also auf „eine
psychologische Untersuchung ... ankommen“ würde, dann stellt sich die
Frage, was der Ausdruck „psychologische Untersuchung“ hier eigentlich
besagen soll. Wenn ein Psychologe als solcher eine Untersuchung anstellen
kann, wie die Zahl in uns entsteht, dann kann es sich bei dem Entstehen der
Zahlen nicht um einen inneren Vorgang in dem Sinne handeln, in dem ein
Vorgang ein innerer ist, wenn nur der, dessen innerer Vorgang es ist, ihn „in
einer besonderen und ursprünglichen Weise“23 erkennen kann. – Das aber ist
nach Frege ein Merkmal innerer Vorgänge. Wie es etwas weiter hinten im
§ 26 am Beispiel des Raumes als einer Erscheinung heißt, können (wir) nicht
einmal wissen, ob er dem einen Menschen so wie dem andern erscheint; denn
wir können die Raumerscheinung des einen nicht neben die des andern legen,
um sie zu vergleichen. Da dies ebenso für gestrige und heutige Raumerscheinungen gilt, kann man, genau genommen, überhaupt keine Raumerscheinungen miteinander vergleichen, auch nicht die eigenen. Die Aus_____________
22
23
Frege: Die Grundlagen der Arithmetik, a.a.O., S. 57.
... wie es in Der Gedanke (a.a.O., S. 39) heißt. Diese Weise, in der jeder sich gegeben ist,
ist eine andere, als die, in der ein anderer einem gegeben ist. Im letzten Fall muss man
offensichtlich hinzufügen: soweit er einem gegeben ist. (Er ist ja nicht: sein Körper;
denn es müsste ja eben sein Körper sein. Siehe hierzu Kapitel 10 von Kennys Wittgenstein (London 1973) und die Aufsätze von Cook (Wittgenstein on Privacy, in: Philosophical Review 74(1965), S. 281-314 und Philipp (Philosophical Investigations 293: Private vs.
Public Beetles, in: ders.: Logisch-philosophische Untersuchungen, Berlin-New York 1998, S.
393-404).) An anderen Stellen sieht Frege die Gegenposition zu der seinigen zum Solipsismus führen (siehe hierzu den Überblick bei Kusch: Psychologism. A case study in the
sociology of philosophical knowledge, London-New York 1995, S. 30ff.). Nur, wenn der Solipsismus nicht falsch ist, sondern unsinnig, beginnt das wirkliche Problem bereits mit
der Idee einer philosophischen Position. Wenn alles dafür spricht, dass ich den Solipsismus bekämpfe (oder welche Position auch immer), dann sollte ich auch die eigene Position aufgeben (vgl. dagegen Schneider: Phantasie und Kalkül, a.a. O., S. 12).
316
Richard Raatzsch
drücke „seine Raumerscheinung“ und „frühere/spätere Raumerscheinung“
sind widersinnig. Von Raumerscheinungen ist gar keine Rede mehr. Was aber
könnte es dann heißen, eine psychologische Untersuchung, von welchem
inneren Vorgang, Ereignis, Zustand oder Ding auch immer, anzustellen? Die
Anzahl ist, so gesehen, nicht deshalb kein Gegenstand psychologischer
Untersuchungen, weil eine psychologische „Beschreibung der innern
Vorgänge, die der Fällung eines Zahlurteils vorhergehen, ... nie, auch wenn sie
zutreffender ist, eine eigentliche Begriffsbestimmung ersetzen“ kann, weshalb
es nicht erstaunt, dass sie „nie zum Beweise eines arithmetischen Satzes (wird)
herangezogen werden können; wir erfahren durch sie keine Eigenschaft der
Zahlen“ – sondern weil schlicht nichts Gegenstand einer psychologischen
Untersuchung sein kann.
9. Man könnte sich nun bei der Zurückweisung der „Ergänzung“ seines
ersten Grundsatzes insofern auf Frege selbst stützen, als dieser schreibt: „Ich
unterscheide das Objektive von dem Handgreiflichen, Räumlichen,
Wirklichen.“ Die Erläuterung dieser Unterscheidung erfolgt wieder anhand
von Beispielen: „Die Erdachse, der Massenmittelpunkt des Sonnensystems
sind objektiv, aber ich möchte sie nicht wirklich nennen, wie die Erde
selbst.“24 ( – Aber würde man in Bezug auf die Erdachse überhaupt von
wirklich oder unwirklich sprechen? Wann würde man das tun?)
Bevor wir auf die Folgen dieser Bestimmung des Begriffs des Objektiven
eingehen, muss festgehalten werden, dass der entscheidende Punkt erhalten
bleibt: in der Formulierung des Grundsatzes ist von weniger Arten von
Dingen die Rede als später, wenn es um die Einhaltung oder Anwendung
dieses Grundsatzes geht. Hier sind nun die Schwierigkeiten mit Händen zu
greifen. Denn natürlich werden wir, nach dem, was oben als Muster des
Subjektiven fungierte, nicht sagen, das Handgreifliche sei subjektiv. Wie steht
es also in Hinsicht auf die Unterscheidung zwischen dem Subjektiven und
dem Objektiven um das „Handgreifliche, Räumliche, Wirkliche“?
An dieser Stelle der Grundlagen besteht noch kein Grund für irgendeine
andere Auffassung als die, dass das „Handgreifliche, Räumliche, Wirkliche“
etwas Objektives ist.25 Also kann die gerade zitierte spätere Formulierung
auch nur als das verstanden werden, als was sie auch vorgebracht wird: als
eine Festlegung. Dann aber ist auch der Grundsatz entweder nicht mehr
einschlägig oder rückwirkend neu zu lesen. Ist er nicht mehr einschlägig, ist er
schlicht kein Grundsatz dieser Untersuchung mehr; ist er neu zu lesen, wird
es zum Rätsel, wie man ihm in Hinsicht auf die Frage zu folgen hat, ob die
Anzahl eine Eigenschaft äußerer Dinge ist.
_____________
24
25
Frege: Die Grundlagen der Arithmetik, a.a.O., S. 57.
Aber ist das Handgreifliche nicht, prinzipiell, zu greifen? Und zu greifen durch ein
Subjekt?
Zum ersten Grundsatz in den Grundlagen der Arithmetik
317
Man kann den ersten Grundsatz zwar in folgender Weise spezifizieren:
(G1’) Es ist das Psychologische von dem Logischen, das Subjektive von
dem Objektiven in dem Sinne, in dem die Erdachse und der
Massenmittelpunkt des Sonnensystems objektiv sind, scharf zu
trennen.
Aber das ist nur eine scheinbare Änderung gegenüber (G1*), weil der Ausdruck
„in dem Sinne, in dem ...“ schon darauf hinweist, dass (G1’) nur eine
verkürzte Fassung der vollständigen Formulierung des Grundsatzes ist, die
zugleich die Frage beantwortet, welches der Sinn ist, in dem die Erdachse etwas
Objektives ist. Die vollständige Spezifizierung wird also so aussehen müssen:
(G1’’)
Es ist das Psychologische von dem Logischen, das Subjektive von
dem Objektiven in dem Sinne, in dem die Erdachse und der
Massenmittelpunkt des Sonnensystems objektiv, aber nicht
handgreiflich, räumlich, wirklich sind, scharf zu trennen.
Und dies ist in der Tat nur eine spezifischere Formulierung von (G1’). Der
Unterschied besteht lediglich darin, dass die verschiedenen Formen des
Objektiven, von denen in (G1’) die Rede ist, in (G1’’) näher bestimmt sind:
einmal als Handgreifliches usw., und einmal als etwas, dass nicht handgreiflich
ist. Was diesen letzteren Sinn von „objektiv“ angeht, wäre eine noch genauere
Spezifizierung möglich, die aber auch nichts an der logischen Vielfalt des
zweiten Teilsatzes von (G1*) ändert:
(G1’’’) Es ist das Psychologische von dem Logischen, das Subjektive von
dem Objektiven in dem Sinne scharf zu trennen, in dem die
Erdachse und der Massenmittelpunkt des Sonnensystems objektiv,
also nicht erdacht, nicht durch Denken entstanden, kein Ergebnis
eines seelischen Vorgangs, aber auch nicht handgreiflich, räumlich,
wirklich sind.
Wenn es sich bei dem ersten Grundsatz jedoch wirklich um einen Grundsatz,
und nicht um zwei handeln soll, dann muss die begriffliche, logische
Mannigfaltigkeit des ersten Teilsatzes der des zweiten angepasst werden.
Gegeben das, was Freges Ausführungen nahe legen, bringt uns dies wieder zu
(G1*), und damit zurück zu dem Problem, vor dem wir oben schon standen:
dass die Rede von einer psychologischen Untersuchung unverständlich wird
und damit der Gegensatz, der die Natur der Untersuchung in den Grundlagen
erläutern soll.
10. Natürlich – na ja! – ist der Äquator weder etwas Handgreifliches, wie eine
Spielkarte, noch ein seelischer Vorgang, wie die Freude beim Spielen. Wie
immer es also genannt werden mag, ist das einzig Wichtige nicht, dass wir es
mit wirklichen Unterschieden zu tun haben, die zu beachten für das Problem
der Natur der Anzahl von entscheidender Wichtigkeit sein kann? Sind nicht
318
Richard Raatzsch
die Folgen der Unterscheidung bedeutsam, und nicht ihre Benennung. – Ja, und
nein.
Richtig ist, dass der Unterschied zwischen dem Äquator und, sagen wir,
einem auf der Äquatoriallinie liegenden Stein in dem Sinne als Muster eines
Unterschiedes zwischen den Seinsweisen der Dinge dienen kann, als wir viele
verschiedene Dinge dadurch in eine übersichtliche Ordnung bringen können, dass
wir sie entweder dem Äquator oder dem Stein zuordnen. Ist eine Spielkarte
(eher) so etwas wie ein Stein oder wie der Äquator? – Wenn man mit dieser
Frage überhaupt einen Sinn verbindet, dann, scheint es, wohl den Sinn, der
als Antwort nahe legt: eher wie ein Stein. Jedenfalls drückt sich in dieser
Antwort ein großer Teil unseres Umgangs mit Steinen, Spielkarten und dem
Äquator aus. Steine nehmen wir, ebenso wie Spielkarten, in die Hand, wir
betrachten sie, legen sie an einen anderen Ort, drehen sie um, wir werfen sie
auf den Tisch u. v. a. m. Nichts davon findet sich in unserem Umgang mit
dem Äquator. Dieser ähnelt dagegen unserem Umgang mit dem Massenmittelpunkt des Sonnensystems. Es kommt an dieser Stelle nicht darauf an,
ob wir wirklich von unserem Umgang mit dem Äquator reden können. Denn
wenn man bei dem Wort „Umgang“ immer an etwas wie unseren Umgang
mit Steinen oder Spielkarten denkt, ist eben das Bemerkenswerte, dass es
sowohl für den Äquator wie auch für den Massenmittelpunkt keinen Umgang
gibt. Der Kontrast verschwindet nicht, er wird nur anders formuliert. Daher
ist es aufschlussreich, dass sich nicht für alle Dinge sagen lässt, dass sie eher
wie Steine resp. eher wie der Äquator sind. Das heißt, es gibt Dinge, die sich
auf natürliche Weise weder dem einen noch dem andern Vorbild unterordnen
bzw. die eine oder andere Reihe auf natürliche Weise fortsetzen. Gefühle etwa
gehören hierher. Die Frage, ob ein Schmerz eher wie ein Stein oder eher wie
der Äquator ist, hat vorderhand keinen klaren Sinn. Das spricht dafür, dass
wir, um Jargon zu sprechen, neben dem Stein und dem Äquator für eine
Musterkollektion des Seienden mindestens noch ein drittes Ding brauchen,
sagen wir: Vorstellungen. – Ist ein Gefühl eher so etwas wie ein Stein, wie der
Äquator oder wie eine Vorstellung? Wenn überhaupt etwas, dann ist es wohl
so etwas wie eine Vorstellung. Und hier ist es nicht mehr weit zu der Idee
eines Grundsatzes, den es zu beachten gelte.
Aber jetzt wird es nicht nur zu einer ganz erstaunlichen Tatsache, dass es
einer Untersuchung wie derjenigen Freges unter anderem deshalb bedarf, weil
es so verschiedene Vorstellungen von den Grundlagen der Arithmetik gibt,
sondern auch, weshalb man hoffen sollte, diesen Streit je entscheiden zu
können. Wenn Frege sich in der Einleitung zu den Grundlagen das Ziel stellt,
„jenen Wahn zu widerlegen, dass in bezug auf die positiven ganzen Zahlen
eigentlich gar keine Schwierigkeiten obwalten, sondern allgemeine Über-
Zum ersten Grundsatz in den Grundlagen der Arithmetik
319
einstimmung herrsche“26, muss man sich fragen, wieso dann die Mathematiker
- nach Freges eigenen Worten – dahingehend übereinstimmen, dass sie
Fragen wie die, was die Eins sei, schnellstmöglich hinter sich lassen wollen.
Dort, wo es Übereinstimmung gibt, ist sie nicht erwünscht; dort, wo sie
erwünscht ist, gibt es sie nicht. Es geht hier also um Übereinstimmung einer
bestimmten Form oder in Bezug auf etwas Bestimmtes. Darum setzt Frege so
grundsätzlich an, bei etwas, von dem man sagen möchte, das müsse ihm doch
jeder zugeben, der die (deutsche) Sprache beherrscht. Wer würde nicht
zugeben, dass Steine in einer Hinsicht Spielkarten ähnlicher sind als dem
Äquator, aber diese drei sich leicht zu einer Gruppe zusammenschließen
lassen, wenn man Empfindungen hinzuzieht? Nur, wenn der Ausgangspunkt
allgemein geteilt wird, wie kommt es dann zu, zumindest scheinbar, gänzlich
verschiedenen Begründungen der Arithmetik? Wenn es aber dazu kommt, wie
kann dann noch man hoffen, den Streit jemals zu entscheiden? Worauf sonst
könnte man sich denn noch stützen?
11. Frege jedenfalls benutzt seinen Verweis auf den Äquator, die Erdachse
usw. einerseits und seelische Vorgänge andererseits, um einen Unterschied
zwischen etwas Gedachtem und etwas Erdachtem plausibel zu machen:
Man nennt den Äquator oft eine gedachte Linie; aber es wäre falsch, ihn eine erdachte
Linie zu nennen: er ist nicht durch Denken entstanden, das Ergebnis eines seelischen
Vorgangs, sondern nur durch Denken erkannt, ergriffen. Wäre das Erkanntwerden
ein Entstehen, so könnten wir nichts Positives von ihm aussagen in bezug auf eine
Zeit, die diesem vorgeblichen Entstehen vorherginge.27
Ja, man kann nicht über den Äquator stolpern, ihn nicht verstecken, nicht an
eine andere Stelle legen, zerstören usw. Den Äquator sucht man nicht so, wie
man etwa einen bestimmten Stein sucht. Das liegt nicht daran, dass der
Äquator so gut versteckt wäre, wie ein Stein gut versteckt sein kann. Sondern
die Aufforderung „Suche den Äquator; er sieht so aus“, begleitet von einem
Bild, hat vorderhand keinen Sinn. Dass der Äquator eine gedachte Linie ist,
bedeutet jedoch wiederum nicht, dass er etwas Psychologisches wäre in dem
Sinne, in welchem man die Vorstellung einer Linie „etwas Psychologisches“
nennen könnte.
Wie findet man den Äquator? – Zum Beispiel durch Anwendung
allgemein akzeptierter Messverfahren. Nur, in dem Moment, in dem man
_____________
26
27
… weshalb er „einige Meinungen von Philosophen und Mathematikern über die hier
in Betracht kommenden Fragen zu besprechen“ (Frege: Die Grundlagen der Arithmetik,
a.a.O., S. 18) unternimmt. Frege betont, dass für „geradezu entgegengesetzte
Aussprüche“ Gründe vorgebracht werden, „die sich nicht kurzerhand abweisen
lassen.“ (Ebd.) Dass fast die Hälfte der Grundlagen von „Meinungen“ handelt, soll aber
auch den Boden ebnen für die Anerkennung dessen, dass Freges eigene „Meinung
nicht eine von vielen gleichberechtigten ist“ (ebd.).
Frege: Die Grundlagen der Arithmetik, a.a.O., S. 57.
Richard Raatzsch
320
diese hat, kann man auch irgendwo eine Linie ziehen, auf sie zeigen und
(richtig oder falsch) sagen, das sei der Äquator. Wenn in Ekuador ein Strich
auf den Boden gemalt ist und darunter steht „Äquator“, kann man nicht
einfach entgegnen, das sei ein Fehler, da der Äquator nichts Handgreifliches
sei. In einem (neuen) Sinn ist er es dann ja durchaus. Das heißt, wenn bekannt
ist, wie mit etwas umgegangen wird, kann, je nachdem, was es ist, etwas
hinweisend definiert werden, was, getrennt von dieser Verwendung, nicht
sichtbar ist. Der Einwand, dass man den Äquator doch nicht hinweisend
definieren kann, ist unvollständig. Er ist vollständig, und (un)berechtigt, wenn
man „hinweisend definieren“ um bestimmte Vorbilder ergänzt. Da das
Gleiche aber auch von dem gilt, verglichen mit dem es eher als nicht sichtbar
erscheint, besteht der Kontrast an dieser Stelle darin, dass gleiche Elemente in
verschiedenen Kontexten unterschiedliches Gewicht haben. Dass der
Äquator nur eine gedachte, keine wirkliche Linie ist, bedeutet also nicht, dass
dem Äquator eine gewisse fundamentale Eigenschaft – die, wirklich zu sein –
nicht zukäme, weil ihm tatsächlich eine andere grundlegende Eigenschaft
zukommt – die, gedacht zu sein. In diesem Sinne gibt es grundlegende
Eigenschaften wirklich nicht.
Die richtige Reaktion auf die These, der
Objektivität der Nordsee tut es keinen Eintrag, dass es von unserer Willkür abhängt,
welchen Teil der allgemeinen Wasserbedeckung der Erde wir abgrenzen und mit dem
Namen ‘Nordsee’ belegen wollen28,
besteht weder darin, dem zuzustimmen, noch, es zu bestreiten, sondern darin,
zu fragen, wie es dann um die Sache steht, die wir mit dem Namen
„allgemeine Wasserbedeckung der Erde“ belegen wollen, oder um die Sache,
die am Ende der Kette derartiger Erklärungen steht, welche immer es sei.
Denn soweit die Nordsee etwas Objektives ist, ist sie es, soweit es die
allgemeine Wasserbedeckung der Erde ist. Sofern wir „Nordsee“ rein als
Namen betrachten, könnte es auch der von etwas Subjektivem sein. In diesem
Sinne hängt es durchaus von unserer Willkür ab, ob ein Name etwas
Objektives oder etwas Subjektives benennt. Nur insoweit als die Benennung
auf einen Teil der Wasseroberfläche der Erde beschränkt ist, benennt der
Name „Nordsee“ etwas Objektives, vorausgesetzt, der Ausdruck „Teil der
allgemeinen Wasserbedeckung der Erde“ benennt etwas Objektives. Ob
Letzteres aber der Fall ist, hängt wiederum davon ab, in welcher Weise diese
Benennung bestimmt ist.
Wenn die Objektivität der Nordsee, im Unterschied zu unseren
Benennungen, nicht von unserer Willkür abhängt, wir aber von der Nordsee
nur im Zusammenhang mit unserer Benennungen Kenntnis haben, muss am
Ende, scheint es, etwas stehen, bei dem es keine Möglichkeit einer anderen
_____________
28
Ebd., S. 57.
Zum ersten Grundsatz in den Grundlagen der Arithmetik
321
Benennung mehr geben kann. Am Grunde muss etwas liegen, bei dem wir
nicht mehr sagen können, wir hätten den Namen auch einer Sache anderer
Art geben können. Dann aber kann es, wenn „Nordsee“ etwas Objektives
benennt, gar nichts Subjektives geben. Denn die einzige Möglichkeit, auf die in
diesem Fall gesichert ist, dass unsere Willkür beim Benennen in Bezug auf die
Natur des Benannten irrelevant ist, besteht darin, dass, was immer wir mit
einem Namen belegen wollen, es etwas Objektives ist. Da das Gleiche auch für
alles Subjektive gilt, kann es, soweit beides einander ausschließt, entweder
keines von beidem geben oder die Ausdrücke „es gibt Objektives“ und „es
gibt Subjektives“ sind nur oberflächlich betrachtet von gleicher Art. Das erste
Alternativglied bezeichnet keine wirkliche Möglichkeit. Es ist vielmehr
Endzeile eines Argumentes, welches gerade voraussetzt, dass es beides gibt.
Was die zweite Möglichkeit angeht, so liegt sie als Skizze eines ausgearbeiteten Arguments in klassischer Weise in Ludwig Wittgensteins Logischphilosophischer Abhandlung vor. In ihr ist von einem Unterschied zwischen
Subjektivem und Objektivem keine Rede mehr. Dennoch gibt es einen
Unterschied von gleicher logischer Multiplizität: den Unterschied zwischen
dem Subjekt, als Grenze der Welt, und der Welt. Mit dieser Unterscheidung
wird eine Reihe von Problemen umgangen, die mit dem Bild vom Subjektiven
als dem Objektiven gegenüberstehend einhergehen. Aber es reicht nicht, zu
sagen, dass „[a]lle Sätze unserer Umgangssprache … tatsächlich, so wie sie
sind, logisch vollkommen geordnet (sind)“, was dann, da die wirkliche und die
scheinbare logische Form der Sätze nicht übereinstimmen muss, bedeutet,
dass sich dies nicht (in Sätzen der Umgangssprache – aber wie sollten wir
auch andere einführen?) sagen lässt29. Denn soweit man dies sagt, betrachtet
man die logische Ordnung als etwas den Sätzen der Umgangssprache selbst
Vorgeordnetes, woran deren logische Geordnetheit zu messen wäre. Eher ist die
natürliche Sprache selbst das Kriterium der logischen Ordnung – oder es gibt
gar keines, weil Maß und Gemessenes zusammenfallen.
Die Irreführung durch die Sprache beginnt nicht erst bei der Suche nach
einer Lösung, sondern bereits bei der Formulierung der Probleme. Darum
muss, wie es in den Philosophischen Untersuchungen heißt, „die Betrachtung …
gedreht werden, aber um unser eigentliches Bedürfnis als Angelpunkt.“30. Dabei
verweist die Reihe der Beispiele, an denen Wittgenstein diese Bewegung
vorführt, nicht in dem Sinn auf etwas Allgemeines, der Frege bei seinem
Streben, „über das ins Klare zu kommen, was man Zahl nennen will“,
vorschwebte. Aber die neue methodische Bewegung nimmt auch nichts hinweg
von Freges Verdienst, „jenen Wahn“ widerlegt zu haben, „dass in bezug auf
_____________
29
30
Wittgenstein: Logisch-philosophische Abhandlung. Tractatus logico-philosophicus. Kritische
Edition, Frankfurt a. M. 1998, 5.5563, 4.0031, 6.53.
Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, a.a.O., § 108.
Richard Raatzsch
322
die positiven ganzen Zahlen eigentlich gar keine Schwierigkeiten obwalten“.
Im Gegenteil, erst diese neue Gedankenbewegung zeigt, wie fundamental
Freges Untersuchung wirklich ist, wie viel man hinterfragen muss, also wie tief
die Unklarheit reicht! Sie erst rückt Freges Verdienst ins richtige Licht! Aber
dieses Licht geht eben nicht von Grundsätzen oder von einer Theorie aus,
und auch nicht von ein bisschen Theorie.31
_____________
31
Mein Dank gilt Raymond Geuss und Werner Wolff.
C
Religionsphilosophie
Nach dem „Misslingen
aller philosophischen Versuche in der Theodizee“
Holm Tetens
Entweder will Gott die Übel in der Welt abschaffen und kann es nicht, dann ist er
schwach; oder er kann es und will es nicht, dann ist er schlecht; oder er kann es nicht
und will es nicht, dann ist er schwach und schlecht und in jedem Fall kein Gott; oder
er kann es und will es, woher kommen dann die Übel? Und warum beseitigt er sie
nicht?
Selten hat ein Philosoph ein Problem so klar formuliert wie hier Epikur das
Theodizee-Problem. Die Welt ist aus der Sicht der Menschen voller Übel.
Wenn es einen gerechten, allwissenden, allmächtigen und allgütigen Gott gibt,
wie kann er die Übel in der Welt zulassen?
Wie immer in der Philosophie ist auch auf diese Frage viel Scharfsinn
verwendet worden. Wie immer in der Philosophie haben die Philosophen
auch diese Frage bis heute nicht einvernehmlich beantwortet. So spinnt sich
die religionsphilosophische Debatte um die Theodizee immer weiter fort.
Gerade einige analytisch orientierte Religionsphilosophen der Gegenwart
übertrumphen sich wechselseitig mit immer noch raffinierteren Argumenten,
warum die Eigenschaften Gottes nicht den Übeln in der Welt widersprechen.
Ich will mich nicht diesen Argumenten widmen, kann ich doch nicht erkennen, wie sich die Prädikate Gottes mit der Tatsache der Übel in der Welt
vereinbaren ließen. Wie scharfsinnig die Argumente gegen diese Unvereinbarkeitsthese auch immer daherkommen, am Ende scheinen mir alle philosophischen Versuche in der Theodizee misslungen zu sein. Diese Auskunft, von
Kant zur Überschrift eines seiner brillantesten Aufsätze gewählt1, will ich hier
nicht weiter begründen. Sie bildet vielmehr den Ausgangspunkt meiner nachfolgenden Überlegungen.
Manch ein Philosoph ist geneigt, aus einer Endlosdebatte, als die sich die
Theodizeeproblematik in der Philosophiegeschichte hinschleppt, die Konsequenz zu ziehen, es handele sich um ein Scheinproblem, von dem es sich zu
verabschieden gelte. Aber hat derjenige, der glaubt, das Theodizee-Problem
_____________
1
Vgl. I. Kant: Über das Misslingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee, in: ders.:
Werke. Herausgegeben von Wilhelm Weischedel, Frankfurt a. M. 1968, Band XI, S.
105-124.
326
Holm Tetens
nicht mehr ernst nehmen zu können, einfach nur ein Problem weniger? Ist er
vielleicht sogar nur ein Scheinproblem losgeworden und kann sich darüber so
freuen, wie sich einst Carnap darüber freute, dass er die metaphysische Frage
nach der Existenz der Außenwelt als Scheinproblem der Philosophie durchschaut zu haben glaubte, oder wie Gilbert Ryle darüber frohlockte, dass für
ihn das cartesianische Rätsel der psycho-physischen Wechselwirkung in einem
„Tröpfchen Sprachkritik“ (Wittgenstein) zu verdampfen schien? Wenn es
doch nur so einfach wäre!
Die Übel in der Welt sind wir nicht losgeworden. Sie plagen uns weiter.
Sie sind allemal Stachel genug, um weiter über sie nachzudenken. Aber was
bedeutet es, philosophisch über die Übel in der Welt nach dem Misslingen
aller philosophischen Versuche in der Theodizee nachzudenken?
Es bedeutet vor allem, dass das Theodizee-Problem nicht mehr den
Rahmen für ein philosophisches Nachdenken über die Übel in der Welt abgibt, und das wirkt sich in vierfacher Weise aus.
Anders als Hiob ist uns eine Instanz abhanden gekommen, bei der wir
uns über die zum Himmel schreienden Ungeheuerlichkeiten dieser Welt beschweren könnten. Adressat für Klagen und Beschwerden über die Übel sind
entweder wir selber oder sie verhallen im Leeren.
Im begrifflichen Rahmen der Theodizee klagte man Gott nicht nur sein
Leid. Man musste es ihm auch zutrauen, das Leid aufheben zu können. Damit
aber konnte Gott tendenziell immer auch in die Pflicht und Verantwortung
genommen werden. Gott als Verantwortlicher ist die zweite seiner Rollen, die
in dem Gerichtsverfahren, genannt Theodizee, Gegenstand der Anklage ist.
Auch diese Rolle eines transzendenten Verantwortlichen entfällt in der säkularisierten Moderne.
Solange die Theodizee noch als aussichtsreich gelten konnte, winkte drittens die Möglichkeit, den Übeln, dem scheinbar Sinnlosen doch einen, wenn
auch noch so verborgenen Sinn im Heilsplan Gottes zuschreiben zu können.
Ohne den Kontext der Theodizee scheinen wir hingegen endgültig in unüberwindbare Erklärungsnöte zu geraten. Warum all diese Übel in der Welt?
Leider verstärkt sich das Üble an den Übeln noch einmal, können wir sie uns
nicht plausibel erklären. Man lese die Hiobsgeschichte einmal unter diesem
Aspekt der Misslichkeiten einer solchen Erklärungsnot und den verschiedenen Versuchen von Hiob, seinen Freunden, Gott und dem Teufel, ihr abzuhelfen.
Die Übel in der Welt im Kontext des Theodizee-Problems zu thematisieren, schloss viertens die Hoffnung ein, dass die Übel in der Welt trotz allem
nicht das letzte Wort in der Sache sein mögen. Für diese Hoffnung stand der
christliche Gott mit seinem Heilsplan und seiner Heilsgeschichte. Heißt es
nun: Lass’ alle Hoffnung fahren dahin?
Theodizee
327
Nach diesem vierfachen Verlust eines göttlichen Beschwerdeadressaten,
eines göttlichen Verantwortlichen, einer göttlichen Erklärungsinstanz und
eines göttlichen Hoffnungsträgers ist das Nachdenken über die Übel in der
Welt nicht einfacher geworden. Das Scheitern einer Rechtfertigung Gottes
angesichts der Übel in der Welt ist weit davon entfernt, nur ein Scheinproblem leichten Herzens verabschieden zu müssen. Was wir uns nach dem Misslingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee mit Blick auf die Übel
werden eingestehen müssen, dazu möchte ich hier einige grundsätzliche philosophische Überlegungen vortragen.
1. Die Übel und das Gute: ein Gemeinplatz
Die Welt ist voller Übel. Ich werde es mir und dem Leser ersparen, diesen
Satz weiter inhaltlich zu füllen und zu begründen. Begnügen werde ich mich
mit dieser distanziert klingenden, lapidaren Feststellung. Nicht, dass es zu
diesem Satz nicht viel zu sagen gäbe. Doch das Reden über die Übel in der
Welt hält viele Fallen bereit, in die man nur allzu leicht hineintappt. Es ist
durchaus schwer, angemessen über die Übel in der Welt zu reden, auch und
gerade für einen Philosophen. Die Rede über die Übel in der Welt kann misslingen, weil sie wehleidig oder pathetisch oder auf Sensationen versessen oder
zu zynisch oder zu ironisch oder zu kitschig ist.
Bedarf der Satz „Die Welt ist voller Übel“ nicht trotzdem einer Begründung?
Nun, wer ihn bestreitet, dem sei die Lektüre irgendeines Geschichtsbuches
über einen beliebigen längeren Zeitabschnitt der bisherigen Menschheitsgeschichte empfohlen. Historiker, zumal gute Historiker legen es nicht darauf
an, die Welt schlecht zu reden, sie wollen nur beschreiben, wie es „wirklich
gewesen ist“ (Ranke). Dadurch werden sie zu unfreiwilligen und daher zu
besonders zuverlässigen Chronisten des Schreckens in der Welt. Denn wer
ein solches Geschichtswerk liest und sich nur mit minimaler Phantasie für
einen Augenblick in die Lage derer versetzt, über deren Leben und Zusammenleben der Historiker berichtet, der wird schnell eines unfassbaren Ausmaßes an Sinnlosigkeiten, Leiden und Verbrechen ansichtig, die bis heute in
der Geschichte der Menschen ihre ebenso breiten wie tiefen Furchen ziehen.
Und von den Übeln im menschlichen Dasein, die nicht Eingang in die Darstellungen der Historiker finden, wissen die Schriftsteller und Dichter zu
reden, und oftmals „unser kranker Nachbar auch“. Belassen wir es also bei
dem schlichten Satz: Die Welt ist voller Übel.
Ist dieser Satz nicht empörend einseitig, so einseitig, dass er geradezu
falsch ist? Es gibt doch wohl nicht nur die Übel in der Welt. Genauso gibt es
auch das Gute und Schöne. Und gibt es nicht das Gute und Schöne in mindestens ebenso überwältigender Fülle in der Welt wie die Übel?
328
Holm Tetens
Wer sich über die Einseitigkeit des Satzes „Die Welt ist voller Übel“ empört,
empört sich zu Recht. Aber unser Ausgangssatz über die Übel in der Welt
leugnet natürlich nicht das Gute und Schöne in der Welt. Er lautete ja gar
nicht: Die Welt ist ein einziges großes Übel; er lautete nur: Die Welt ist voller
Übel.
Man sollte es mit dem Satz „Die Welt ist voll des Guten und Schönen“ ebenso
halten wie mit dem Satz „Die Welt ist voller Übel“. So wie wir in diesen Überlegungen nicht detailliert im Elend der Welt wühlen werden, genauso wenig
werden wir das Gute und Schöne in der Welt ausschmücken. Auch das kann
aus vielen Gründen so gründlich daneben gehen wie die Rede über die Übel
in der Welt. Lassen wir es bei der schlichten Feststellung „Die Welt ist voll des
Guten und Schönen“.
Aber müssen wir die beiden Sätze nicht in einem Atemzug aussprechen,
damit endlich ein wahrer Satz über die Welt herauskommt? Die Welt ist voller
Übel, aber sie ist ebenso auch voll des Guten und Schönen. Das scheint ein
wahres und gerechtes Urteil über die Welt zu sein. Es steht zu vermuten, dass
die Leser dieses Aufsatzes erst jetzt zum ersten Mal einigermaßen zufrieden
mit dem Gesagten sein dürften. Und zugleich vollkommen unzufrieden.
Denn ist der Satz „Die Welt ist voller Übel, aber sie ist ebenso auch voll des Guten und
Schönen“ nicht trivial, eine ungeheure Plattitüde? Was, so mag manch einer
ungeduldig fragen, soll mit diesem Satz gewonnen sein? Was soll aus diesem
Satz folgen?
Philosophen sind nach David Lewis Experten für Gemeinplätze. Sie stellen Gemeinplätze in Frage. Das sei, so Lewis, ein gefährliches Unterfangen,
bei dem eher die Philosophen als die Gemeinplätze ihr Ansehen verlören.
Aber als Philosoph bin ich bereit mein Ansehen zu riskieren. Ich möchte den
Satz „Die Welt ist voller Übel, aber sie ist auch voll des Guten und Schönen“ hinterfragen, denn dieser Satz ist so, wie er jetzt fahrlässig ungenau formuliert ist,
falsch. Und sollte sich das als richtig erweisen, dann sind die Konsequenzen
nicht trivial, vor allen Dingen für uns in der Moderne, die wir nach dem Misslingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee leben.
2. Die antinomische Stellung des Menschen in der Welt
Die Welt ist voller Übel, aber auch voll des Guten und Schönen. Der Satz ist
die logische Konjunktion der zwei Sätze „Die Welt ist voller Übel“ und „Die Welt
ist voll des Guten und Schönen“. Beiden Sätzen habe ich ausdrücklich zugestimmt.
Wie kann ich daher die Konjunktion der beiden Sätze verwerfen? Das scheint
logisch nicht mit rechten Dingen zuzugehen. Scheitert die Kritik an unserem
Gemeinplatz gleich zu Beginn, weil sie logisch widersprüchlich ist?
Theodizee
329
Nun, mit Widersprüchen hat die Sache zu tun, ohne dass dabei die formale Logik aus den Angeln gehoben werden müsste. Von „Widersprüchen“
reden wir in erster Linie in Bezug auf Aussagen. Widersprüche zwischen Aussagen machen mindestens eine der beteiligten Aussagen falsch, selbst dann,
wenn sich jede der Aussagen scheinbar beweisen lässt. In einem solchen Falle
eines scheinbar beweisbaren Widerspruchs zwischen Aussagen reden die
Logiker von einer Antinomie.
Doch einige Philosophen scheuen sich nicht, den Antinomiebegriff von
Aussagen auf das menschliche Leben zu übertragen. Zu ihnen zählen Sören
Kierkegaard und Karl Jaspers. In seinem immer noch sehr lesenswerten und
zu Unrecht in Vergessenheit geratenen Buch „Psychologie der Weltanschauungen“2 und später noch einmal in seiner dreibändigen „Philosophie“ spricht
Jaspers von der „antinomischen Struktur“ des menschlichen Daseins. Er tut
dies im Zusammenhang mit einem weiteren Begriff, der ebenfalls in Jaspers
„Psychologie der Weltanschauungen“ einen zentralen Platz einnimmt, den
Begriff der Grenzsituationen. Jaspers schreibt:
Situationen wie die, dass ich immer in Situationen bin, dass ich nicht ohne Kampf und
Leid leben kann, dass ich unvermeidlich Schuld auf mich nehme, dass ich sterben
muss, nenne ich Grenzsituationen. Sie wandeln sich nicht, sondern nur in ihrer Erscheinung; sie sind, auf unser Dasein bezogen, endgültig. Sie sind nicht überschaubar;
in unserem Dasein sehen wir hinter ihnen nichts anderes mehr. Sie sind wie eine
Wand, an die wir stoßen, an der wir scheitern. Sie sind durch uns nicht zu verändern,
sondern nur zur Klarheit zu bringen, ohne sie aus einem Anderen erklären und ableiten zu können. Sie sind mit dem Dasein selbst.3
Wegen der Grenzsituationen hat das menschliche Dasein nach Jaspers eine
„antinomische“ Struktur. Er beschreibt sie in den Worten:
In jeder Grenzsituation wird mir gleichsam der Boden unter den Füßen weggezogen.
Ich kann das Sein als Dasein nicht greifen in bestehender Festigkeit. In der Welt ist
keine Vollendung, wenn selbst die liebende Kommunikation als Kampf in Erscheinung treten muss. Welches Dasein auch immer als das eigentliche Sein sich geben
möchte, es versinkt vor der das Absolute suchenden Frage. Die Fragwürdigkeit allen
Daseins bedeutet die Unmöglichkeit, in ihm als solchem Ruhe zu finden. Die Weise,
wie das Dasein überall in den Grenzsituationen als in sich brüchig erscheint, ist seine
antinomische Struktur.4
Warum hat das Dasein eine antinomische Struktur, oder, wie ich im Folgenden lieber sagen möchte, inwiefern ist die Stellung des Menschen in der Welt
antinomisch? Wir müssen in unserem Leben sowohl bestimmten Sachverhalten X, als auch bestimmten Sachverhalten X’ Rechnung tragen, aber Versu_____________
2
3
4
Vgl. Karl Jaspers: Psychologie der Weltanschauungen. Berlin 1919.
Karl Jaspers: Philosophie: Band II: Existenzerhellung, Berlin-Heidelberg-New York, S.
203.
Ebd., S. 249.
330
Holm Tetens
che, dies für die Sachverhalte X zu tun, kann immer wieder be- oder verhindern, den Sachverhalten X’ noch gerecht zu werden. Das Leben der Menschen vollzieht sich unter Bedingungen und in einer Weise, dass Lebensschritte in die eine Richtung unweigerlich uns früher oder später bei Strafe
des Untergangs dazu zwingen, Schritte in die entgegengesetzte Richtung zu
unternehmen, ohne dass dieser ständige Richtungswechsel je zum Stillstand
gebracht werden könnte oder ohne dass sich je die richtige Mitte zwischen
den begrifflichen Extremen ein für alle Mal finden ließe.5 Deshalb kann man
die Stellung des Menschen in der Welt antinomisch oder auch aporetisch
nennen. Wir wollen auch auf eine wohlvertraute Terminologie der Philosophie zurückgreifen: Schließt der angemessene Umgang mit dem Sachverhalt X
erst einmal aus, auch den Sachverhalt X’ angemessen zu berücksichtigen, so
wollen wir sagen, dass in unserem Leben die beiden Sachverhalte dialektisch
aneinander gekoppelt oder gefesselt sind.
Die antinomische Stellung des Menschen in der Welt tritt uns vor allem
in Gegensatzpaaren entgegen. Solche existenziell bedeutsamen Gegensätze
sind, unter vielen anderen, die folgenden:
 Möglichkeiten ausschließen oder offen halten,
 ein Bedürfnis befriedigen oder es frustrieren,
 Lust oder Unlust,
 mit anderen Personen im Konsens oder im Dissens leben,
 „Kampf oder liebende Kommunikation“ (Jaspers),
 Absichten verwirklichen oder Unbeabsichtigtes bewirken.
Betrachten wir einige dieser Gegensatzpaare genauer, dann wird noch klarer,
was mit der antinomischen Stellung des Menschen in der Welt gemeint ist.
Möglichkeiten ausschließen/Möglichkeiten offen halten: Wer lebt,
schließt immer Möglichkeiten aus, bestimmte sogar unwiederbringlich für sein
weiteres Leben. Doch wie ließe sich im Ernst ohne einen Horizont von immer noch neuen und anderen Möglichkeiten leben? Wir drohen in zwei gegensätzliche Extreme abzustürzen. Man tanzt illusionärer Weise auf allen
Hochzeiten und will sich niemals festlegen. Einen solchen Möglichkeitsillusionisten nennt Kierkegaard einen „Phantasten“. Nach Kierkegaard ist Verzweiflung, dass jemand nicht er selbst sein will. Der Phantast will verzweifelt
nicht er selbst sein, er will sich nicht als jemanden akzeptieren, dem nicht
(mehr) alles möglich ist. Doch ebenso droht auch das gegenteilige Extrem.
Hält sich jemand für keine Möglichkeiten mehr bereit, begreift er sich nur
noch als festgelegt und unveränderbar, ist er nach Kierkegaard zum starren, ja
leblosen „Dogmatiker“ oder „Fatalisten“ geworden. Auch der Dogmatiker
_____________
5
Zur philosophischen Analyse der antinomischen Stellung des Menschen in der Welt
vgl. auch Ursula Wolf: Die Philosophie und die Frage nach dem guten Leben, Reinbek bei
Hamburg 1999, besonders Kapitel 4, S. 83-97.
Theodizee
331
und Fatalist verfehlt sein Leben. Auch er will verzweifelt nicht er selbst sein,
der immer noch Möglichkeiten hat, etwas aus sich und seinem Leben zu machen6.
Konsens/Dissens mit anderen: Wir können gar nicht leben, ohne mit
anderen zusammenzuarbeiten und uns mit anderen zu verständigen. Wir
Menschen sind auf Gemeinschaft hin angelegte und angewiesene Lebewesen.
Ständig muss der Mensch das Einverständnis mit anderen suchen und darf es
trotzdem nicht ins Extrem treiben. Denn wer nur tut, denkt, will, was man
tut, denkt, will, hört auf, eine unverwechselbare Person zu sein. Er wird zum
gesichtslosen Rädchen in einer anonymen sozialen Maschinerie, ein totsicherer Weg, das eigene Leben schon vor seinem physischen Ende zu beenden.
Im gegenteiligen Extrem isoliert sich jemand sozial von den anderen, legt es
nur noch darauf an, sich von allen anderen abzugrenzen, ist sich scheinbar
selbst genug. Wenn er am Ende niemanden mehr versteht und von niemandem mehr verstanden wird, ist er zum Idioten geworden, zum Einsamen, so
die Bedeutung des griechischen Ursprungs unseres Wortes „Idiot“. Zwischen
diesen Extremen muss jeder Mensch für sich die richtige Mischung zwischen
Einverständnis mit anderen und Abgrenzung von anderen, zwischen Nähe
und Distanz, zwischen Kooperation und Antagonismus, zwischen Konsens
und Dissens mit anderen ausbalancieren, ein Kunststück, das alle artistischen
Zirkusnummern dieser Welt weit in den Schatten stellt.
Absichten verwirklichen/Unbeabsichtigtes herbeiführen: Menschen
handeln typischerweise unter komplexen Bedingungen, die sich auf nichtlineare Weise verändern. Unter solchen Bedingungen aber hat menschliches
Handeln immer unerwartete Nebeneffekte, wenn vielleicht auch nicht immer
kurzfristig, dann auf jeden Fall mittel- und langfristig. Und viele dieser Nebeneffekte sind mit Sicherheit nicht nur unerwartet, sondern auch unerwünscht, ja können sogar den ursprünglichen Zielen der Handelnden völlig
zuwiderlaufen. So kann die Naturwissenschaft erklären, was vielen Dialektikern schon immer an der Welt aufgefallen ist: In einer nicht-linear sich verändernden Welt ist immer damit zu rechnen, dass sich selbst die edelsten Absichten von Menschen am Ende in ihr Gegenteil verkehren und damit sich
selbst zerstören können. Angesichts der Wetterkatastrophen, die ein Schmetterling mit seinem Flügelschlag auszulösen vermag, agiert selbst dieses winzige und harmlos wirkende Tier in der Welt wie ein Elefant im Porzellanladen.
Wie sollte da dem alles andere als harmlosen Menschen eine solch unrühmliche Rolle in der Welt erspart bleiben!
_____________
6
Kierkegaards Analyse des Phantasten, der sich illusionär alle Möglichkeiten offen hält,
und des Fatalisten, der nur noch Notwendigkeiten sieht, findet sich in: Sören Kierkegaard: Die Krankheit zum Tode. Übersetzt von Hans Rochol, Hamburg 2005, S. 33-40.
332
Holm Tetens
Freilich, ich habe hier sofort die pessimistische Version der Dialektik zur
Sprache gebracht. Viele Apologeten der Moderne erzählen hingegen mit Vorliebe die optimistische Variante der Dialektik. Die Logik gibt ihnen hierin erst
einmal Recht. Wenn edelste Absichten sich zwar nicht notwendigerweise,
aber doch häufig genug in ihr Gegenteil pervertieren, warum sollen sich moralisch unschöne oder gar unmoralische Absichten nicht in moralische Wirkungen verwandeln können? Diese frohe Botschaft vom dialektischen Umschlag üblen Handelns in Segnungen für die Gesellschaft verkündet jedes
Lehrbuch der Ökonomie mit geradezu religiöser Inbrunst. Jeder denkt nur an
sich und sucht seinen Vorteil, notfalls auch auf Kosten anderer, zu vermehren, aber, so die Verkündigung der Ökonomen, die segensreiche Einrichtung
des Marktes sorgt dafür, dass am Ende die Wohlfahrt aller vermehrt wird.
Den Alchemisten ist es nie gelungen, aus Dreck Gold zu machen. Dem Markt
scheint es mühelos zu gelingen, Egoisten in Wohltäter zu verwandeln.
Ich breche an dieser Stelle die Beispiele ab. Es dürfte wohl deutlich geworden sein, inwiefern die Stellung des Menschen in der Welt antinomisch ist.
3. Die Übel und das Gute: Ihre Dialektik
Was haben die Betrachtungen zur antinomischen Stellung des Menschen in
der Welt mit der angekündigten Kritik an dem Gemeinplatz „Die Welt ist voller
Übel, aber auch voll des Guten und Schönen“ zu tun? Viele Leser haben sicher
längst für sich im Stillen die Schlussfolgerung gezogen. Alles Wichtige im
Leben der Menschen ist immer an einen Gegensatz dialektisch gebunden.
Warum sollte der Gegensatz zwischen den Übeln und dem Guten und Schönen davon ausgenommen sein? Der Gemeinplatz „Die Welt ist voller Übel, aber
auch voll des Guten und Schönen“ ist falsch, weil er die Übel und das Gute einfach
so behandelt, als wären sie unabhängig voneinander. So fassen wir fast alle
spontan den Gemeinplatz auf: Ja, es gibt die Übel in der Welt, aber zum
Glück gibt es auch das Gute und Schöne, sie kompensieren die Übel in der
Welt und schaffen den Ausgleich und die Entlastung, ohne die es uns gar
nicht möglich wäre, in dieser Welt zu leben. So aufgefasst eignet sich unser
Gemeinplatz daher vortrefflich, uns über die Übel in der Welt ebenso hinwegzutrösten wie uns zu beschwichtigen.
Der Satz von der dialektischen Koppelung von Übeln und dem Guten
und Schönen hat zwei Leserichtungen. Die erste Leserichtung bereitet uns
wenig Probleme: Keine Übel ohne das Gute und Schöne in der Welt. Diese
Leserichtung ist uns wohlvertraut, sie ist ungemein beliebt und erntet emphatischen Zuspruch. Das Gute, das besagt diese Leserichtung unseres Satzes
unter anderem, kommt in der Welt nicht zuletzt als Kampf gegen die Übel
vor, das Gute und Schöne ist oftmals nichts anderes als die Überwindung von
Theodizee
333
Übeln in der Welt, die Übel rufen oft genug das Gute auf den Plan. Sicher, so
ist es, und es wäre in der Tat schlimm, falls es nicht so wäre. Alle, außer hart
gesottene Pessimisten, sind erleichtert, wenn sie die Leserichtung „Keine Übel
ohne das Gute und Schöne in der Welt“ hören.
Aber unser Satz hat nicht nur die Leserichtung: Keine Übel ohne das Gute und Schöne in der Welt. Die Leserichtung ist auch umzukehren. Diese
Umkehrung wird sehr selten offen ausgesprochen, ist nicht beliebt, sondern
stößt eher auf eisige Ablehnung: Es gibt nichts Gutes und Schönes in der
Welt ohne die Übel. In unserer Welt bleiben das Gute und Schöne dialektisch
an die Übel in der Welt gefesselt.
Unser Gemeinplatz „Die Welt ist voller Übel, aber auch voll des Guten und Schönen“ entpuppt sich damit bestenfalls als die halbe Wahrheit. Er unterschlägt
schlicht den prekären dialektischen Zusammenhang zwischen den Übeln und
dem Guten und Schönen. An seine Stelle muss, so scheint mir, ein anderer
Satz treten: Die Welt ist voller Übel, und das Gute und Schöne, das es auch in
der Welt gibt, bleiben trotzdem untrennbar an die Übel in der Welt dialektisch gefesselt.
Dieser Satz ist weit davon entfernt, ein billiger Gemeinplatz zu sein. Dieser Satz hat es in sich. Aber es hilft nichts, wer sich fragt, wie wir mit den
Übeln in der Welt umgehen sollen, muss auf diesen Satz antworten, und nicht
auf seichte Verharmlosungen wie „Ja, ja, die Welt ist voller Übel, aber zum Glück
gibt es ebenso das Gute und Schöne in der Welt“.
4. Die wissenschaftlich-technische Zivilisation spielt Gott
Ich möchte nun einige Konsequenzen andeuten, welche unser Satz „Die Welt
ist voller Übel, und das Gute und Schöne, das es auch in der Welt gibt, bleiben untrennbar
an die Übel in der Welt dialektisch gefesselt“ angesichts unseres vierfachen Verlustes eines göttlichen Beschwerdeadressaten, eines göttlichen Verantwortlichen,
einer göttlichen Erklärungsinstanz und eines göttlichen Hoffnungsträgers hat.
Oder kürzer gesagt: Ich will auf Konsequenzen unseres Satzes angesichts des
Misslingens aller philosophischen Versuche in der Theodizee aufmerksam
machen.
Alle Konsequenzen haben damit zu tun, dass die Moderne oder besser:
die wissenschaftlich-technische Zivilisation das fundamentale Glücksversprechen in die Welt gesetzt hat, eine immer bessere Welt sei machbar. Indem wir
die Ergebnisse der Wissenschaften technisch anwenden und anschließend im
Rahmen des Industriekapitalismus wirtschaftlich nutzen, ließen sich immer
mehr Übel aus der Welt verbannen.
Wenn man sich einmal die Sicht des Christentums zu Eigen macht, ist
klar, wie dieses Kulturexperiment einer wissenschaftlich-technischen Welt-
334
Holm Tetens
und Selbstbemächtigung des modernen Menschen zu beurteilen ist. Es ist die
Todsünde der Hybris, es ist der Versuch des Menschen, sich an die Stelle
Gottes zu setzen.
Wenn sich die wissenschaftlich-technische Zivilisation anschickt, Gott zu
spielen, muss sie freilich auch die vierfache Rolle Gottes in der TheodizeeDebatte als Beschwerdeadressat, Verantwortlicher, Erklärungsinstanz und
Hoffnungsträger ausfüllen. Selbst wenn man nicht auf dem Boden des christlichen Glaubens steht, kann man sich fragen, ob die wissenschaftlichtechnische Zivilisation den vierfachen Verlust eines göttlichen Beschwerdeadressaten, eines göttlichen Verantwortlichen, einer göttlichen Erklärungsinstanz und eines göttlichen Hoffnungsträgers wettzumachen vermag, indem sie
selber in diese vier Rollen schlüpft. Oder übernimmt sie sich dabei? Überfordert sie sich vielleicht gerade deshalb, weil sie dazu tendiert, die antinomische
Stellung des Menschen in der Welt und die dialektische Koppelung des Guten
und Schönen an die Übel zu ignorieren?
5. Über die Umwandlung physischer in moralische Übel
Die moralischen Übel bringen Menschen in die Welt. Sie haben sie zu verantworten. Und es ist an den Menschen, sie wieder aus der Welt zu schaffen.
Soweit das noch geht. Dass physische Übel in der Welt auftauchen, hat hingegen kein Mensch zu verantworten. So die saubere Definition der Philosophen auf dem Papier. Doch die Wirklichkeit der wissenschaftlich-technischen
Zivilisation lässt diese Unterscheidung zwischen physischen und moralischen
Übeln immer wieder Makulatur werden. Sobald man sich in die Position gebracht hat, etwas wissenschaftlich-technisch gegen physische Übel tun zu
können, hat man sie in moralische Übel verwandelt. Sicher, gegenüber vielen
der physischen Übel in der Welt bleiben wir Menschen machtlos. Vielleicht
sollte man für sie den altehrwürdigen, aber in diesem Zusammenhang terminologisch hintersinnigen Ausdruck „metaphysische Übel“ neu beleben: Es sind
die Übel, die nach der Physik kommen, sprich: die Übel, bei denen selbst
Wissenschaft und Technik mit ihrem Latein am Ende sind.
Freilich ist die Grenze fließend zwischen metaphysischen Übeln und dem
Rest, bei dem wir uns nicht mit unserem Unvermögen und unserer Unzuständigkeit herausreden können. Was heute noch ein metaphysisches Übel ist,
muss es morgen schon nicht mehr sein. Die wissenschaftlich-technische Zivilisation hat sich den Kampf gegen die Übel in der Welt auf ihre Fahnen geschrieben. Und mit ihren Erfolgen, die sie ohne Zweifel zu verbuchen hat,
wächst der Erwartungsdruck, den Kampf gegen jedes Übel, wie aussichtslos
er anfangs auch erscheinen mag, nie endgültig verloren zu geben. Man kann ja
nie wissen, was wir in Zukunft wissen werden, wenn wir uns nur gehörig
Theodizee
335
anstrengen. In ihrer Selbststilisierung ist es für die wissenschaftlich-technische
Zivilisation daher moralische Ehrensache: Gegen jedes Übel in der Welt ist
ohne Ansehen seiner Natur anzugehen, alles andere wäre eine moralische
Bankrotterklärung.
So kumulieren in der Moderne die moralischen Pflichten schneller als das
Können. Dass sich mit der wissenschaftlich-technischen Zivilisation physische Übel beschleunigt in moralische verwandeln und sich damit die Anlässe
zum moralischen Anklagen immer mehr ausweiten, entspricht aufs Genaueste
den vor nichts Halt machenden Anklagen, die in den früheren Zeiten der
Theodizee an Gott adressiert wurden. Die „Hypothese Gott“ glaubt die wissenschaftlich-technische Zivilisation erfolgreich losgeworden zu sein, den
Drang ihrer Mitglieder, sich über die Übel in der Welt zu beschweren, und
einen Verantwortlichen dingfest zu machen, der alles zum Besseren wenden
kann, in früheren Zeiten der Theodizee für Menschen durchaus entlastend
auf Gott abgelenkt, ist sie nicht losgeworden. Die unvorsichtigen Glücksversprechen der wissenschaftlich-technischen Zivilisation verkehren sich in ungezügelte Glücksansprüche, die sie nie wird einlösen können, gegen die sie
sich aber auch nicht gut mehr zu wehren vermag. Daraus erwachsen der wissenschaftlich-technischen Zivilisation Legitimationsprobleme, die keineswegs
harmloser sind als die Probleme, die in Zeiten der Theodizee die Existenz des
christlichen Gottes in Zweifel zogen.
6. Über unsere Unfähigkeit, uns eine bessere Welt
auch nur vorzustellen
Immer haben sich Menschen eine perfekte, eine heile Welt gewünscht. Solche
Erlösungswünsche sind mehr als nur verständlich. Doch was wünschen wir
Menschen eigentlich, wenn wir uns eine perfekte Welt wünschen?
Die Frage klingt merkwürdig. Eine perfekte Welt ist eine Welt ohne Übel.
Was soll an dieser Vorstellung problematisch oder schwierig sein? Man nehme nur alle bekannten Übel in der Welt und denke sie sich weg, das ist dann
die perfekte Welt. In der perfekten Welt gibt es keine Krankheiten, kein materielles Elend, keine Kriege, keine politischen Verbrechen, keine Naturkatastrophen, keine Umweltzerstörungen, keine soziale Isolation, keine nervtötende
Arbeit, keine Meinungszensur, keine Langeweile…. Die Liste lässt sich beliebig verlängern.
Natürlich, die perfekte Welt ist damit nur negativ beschrieben. Lässt sie
sich auch positiv beschreiben? Ist sie nicht einfach die Welt, in der alles, was
Menschen zu Recht schätzen, vorhanden ist? Jeder kennt Breughels Gemälde:
Menschen liegen bequem unter schattigen Bäumen, von denen herab ihnen
alle möglichen Leckerbissen wie reife Früchte in den Mund fallen. Das Ge-
336
Holm Tetens
mälde trägt den Titel „Schlaraffenland“. Auch hat man schon gehört von dem
Versprechen, dass sich die schönsten Jungfrauen liebreizend um die Märtyrer
und Glaubenshelden dieser Welt kümmern werden. So soll es im Paradies
zugehen. Andere Paradiesvorstellungen sind schicklicher: Glückselig bringen
die Heiligen die Ewigkeit mit dem Anblick und der Lobpreisung Gottes zu.
Man kann sich weitere Beispiele ersparen, denn schon bei diesen wenigen
Beispielen weiß man nicht, ob man lachen, weinen, sich gruseln oder auch nur
den Kopf schütteln soll. Wir scheinen offensichtlich nicht besonders begabt
zu sein, uns die perfekte Welt positiv auszumalen. Alle Versuche, es doch zu
tun, enden alsbald im Lächerlichen, Komischen, Halbseidenen, idyllisch Unwahren, Gruseligen oder einfach nur im Langweiligen. Wer bei sich auf ein
gewisses Niveau achtet, belässt es dabei, die perfekte Welt bestenfalls negativ
als eine Welt ohne Übel zu charakterisieren, wenn überhaupt.
Sollten und müssen wir uns nicht sowieso damit bescheiden, uns statt der
perfekten nur eine bessere Welt vorzustellen? Es lohnt sich, dem Misslingen
von Vorstellungen einer perfekten oder auch nur einer besseren Welt ein
wenig genauer nachzugehen.
Am Anfang stehen scheinbare Trivialitäten. Wäre die Welt nicht deutlich
besser, wenn es zumindest keine Krankheiten gäbe? Wäre die Welt nicht
schon spürbar besser, gäbe es wenigstens keine Krankheiten wie Krebs, Aids
oder Alzheimer? Solche Fragen suggerieren ihre emphatische Bejahung. Diesem uns schnell ermüdenden Frage- und Antwortspiel liegt immer dasselbe
Muster eines trivial erscheinenden Arguments zugrunde: X ist ein Übel. Also
wäre eine Welt ohne X eine bessere Welt. Krankheiten sind ein Übel. Also
wäre eine Welt ohne Krankheiten eine bessere Welt.
Dieses Schema ist zu einfach, um wahr zu sein. Es fehlt ein kleiner, aber
entscheidender Zusatz. Vollständig muss das Schema heißen: X ist ein Übel.
Eine Welt ohne X, in der ansonsten nichts schlechter geworden ist, ist besser
als eine Welt mit X. Der kleine Zusatz entlarvt das Schema als ein bloßes
Gedankenspiel. Wahr ist es nur so lange, wie wir uns die Übel in der Welt
wegdenken. Sie wegzudenken ist freilich so, als ob wir sie einfach wegzauberten. In der Realität unserer empirischen Welt müssen wir jedoch die Übel
immer erst mühsam wegarbeiten, so weit das überhaupt geht. Dabei greifen
wir mehr oder weniger gravierend in den Lauf der Dinge ein. Die Welt ändert
sich dadurch. Sie ändert sich aber nie nur zum Besseren. Immer haben unsere
Handlungen unbeabsichtigte Nebenfolgen, auch solche, die für uns negativ
sind. Das ist einer der wichtigsten Gründe, warum man die Stellung von uns
Menschen in der Welt als antinomisch bezeichnen muss.
Der Satz „Eine Welt ohne das Übel X, in der ansonsten nichts schlechter geworden
ist, ist besser als eine Welt mit X“ ist trivialer Weise wahr. Nur redet er nicht über
die Welt, in der wir tatsächlich leben. Von ihr handelt ein ganz anderer Satz:
Die Welt, sobald in ihr das Übel X beseitigt worden ist, ist in dieser Hinsicht
Theodizee
337
erst einmal besser, in anderen Hinsichten jedoch ist die Welt ohne das Übel X
schlechter geworden. Dieser Satz blockiert im Allgemeinen einen Schluss von
„X ist ein Übel“ auf den Satz „Also wäre die Welt ohne X besser“ als Fehlschluss.
Trotzdem phantasieren wir uns ständig eine bessere Welt auf diese kurzschlüssige Weise zusammen. Es ist unerheblich, weil trivial, dass eine Welt
ohne Krankheiten besser ist als eine Welt mit Krankheiten. Erheblich ist
allein, dass der Versuch, Krankheiten in der realen Welt ein für alle Mal auszumerzen, mit Sicherheit früher oder später neue und möglicherweise sogar
schlimmere Übel in die Welt hineinträgt, als wir durch die Beseitigung aller
möglichen Krankheiten werden aufwiegen können.
Wir in der wissenschaftlich-technischen Zivilisation sind vor allem fasziniert von den Fortschritten der Wissenschaft und Technik. Diese Zivilisation
verfolgt das ehrgeizige Ziel, immer mehr Sachverhalte in der Welt wissenschaftlich und technisch beherrschen zu können. Aber die vollständig wissenschaftlich und technisch beherrschte Welt wäre der reinste Horror. Es bedarf
noch nicht einmal viel Phantasie, um das einzusehen. Nun spricht nichts
dafür, dass wir jemals alles in der Welt wissenschaftlich erklären und technisch beherrschen. Im Gegenteil, ein solches Endstadium der wissenschaftlichen Entwicklung lässt sich mit guten Gründen als unerreichbar ausschließen.
Doch der wissenschaftlich-technische Fortschritt erzeugt nicht erst dann
mehr Übel als er beseitigt, wenn wir schon fast alles wissenschaftlich und
technisch in den Griff bekommen haben. Wäre es so, könnten wir Wissenschaft und Technik einfach fortschreiten lassen, bis sie sowieso irgendwann in
ferner Zukunft auf „natürliche“ Grenzen stoßen werden. Doch längst bevor
solche „natürlichen“ Grenzen erreicht werden, entfaltet die dialektische Koppelung von Übelbeseitigung und Übelerzeugung ihre prekäre Wirkung.
Entscheidend ist an dieser Koppelung, dass wir in den allermeisten Fällen
nicht genau oder gar nicht vorauszusehen und abzuschätzen vermögen, welche Übel man sich durch die Beseitigung eines anderen einkauft und ob das
beseitigte Übel tatsächlich schwerer wiegt als die neu hinzukommenden.
Ständig müssen wir uns fragen: Wie weit dürfen wir es treiben mit der Beseitigung bestimmter Übel, sodass das Ganze immer noch ein Weg zum Besseren bleibt? Ehrlicherweise müssen wir uns eingestehen: Wir wissen es in den
allermeisten Fällen schlicht nicht oder jedenfalls nicht genau genug.
7. Das Misslingen aller philosophischen Versuche
in der Theodizee – ein Menetekel?
Die Theodizee misslingt wegen des Widerspruchs zwischen den Gottesprädikaten und den Übeln, ein Widerspruch, der nicht mit noch so viel Scharfsinn
ausgeräumt werden kann. Der Widerspruch spiegelt sich wider in den Span-
338
Holm Tetens
nungen zwischen den vier Rollen, die Gott in der Theodizee-Debatte zugedacht werden. Diese Spannungen verschwinden nicht in dem Augenblick, wo
die wissenschaftlich-technische Zivilisation in die vier Rollen schlüpft. Doch
jetzt spiegelt sich in den Spannungen nicht mehr die Widersprüchlichkeit
zwischen den Gottesprädikaten und den Übeln in der Welt, jetzt spiegelt sich
darin die antinomische Stellung des Menschen in der Welt.
Trotz dieses Unterschieds wiederholen sich strukturelle Aspekte der Theodizee-Debatte. Insofern ist das Misslingen aller philosophischen Versuche in
der Theodizee eine lehrreiche, wenn auch am Ende vermutlich eher bedrückende Analogie für uns, die Kinder der wissenschaftlich-technischen Zivilisation. Vermögen wir sie richtig zu deuten?
Was ist spezifisch religiöse Transzendenz?
Kritische Bemerkungen zu Hans Julius Schneider, Religion
Thomas Rentsch
Im folgenden will ich im Blick auf das Religions- und Transzendenzverständnis einige kritische Fragen an Hans Julius Schneider und sein Buch Religion1
richten. Ich habe das Buch mit großem Interesse und Gewinn gelesen. Da ich
selbst in der Reihe Grundthemen Philosophie das Buch Gott2 vorgelegt habe,
ergeben sich aber systematische Spannungen, die Anlass für Rückfragen sind
und die sich eignen, einen konstruktiven und produktiven Dialog zu eröffnen,
der uns in der Sache weiter bringen und zu Klärungen verhelfen könnte – in
der guten Konstanzer Tradition. Im Interesse der Sache pointiere ich die
kritischen Rückfragen. Ich bin mir bewusst, dass Hans Julius Schneider an
vielen Stellen in seinem Text Anschlussmöglichkeiten eröffnet, um die Fragen
in seinem Ansatz zu klären und zu beantworten.
Welches sind meine zentralen Rückfragen?
1. Wird in Schneiders Ansatz der geschichtliche und kulturelle Entfaltungsund Verstehenskontext von Religionen und ihren Artikulationsformen nicht
unterbestimmt? Insbesondere muss hier an die großen monotheistischen
Buchreligionen: Judentum, Christentum, Islam gedacht werden, in denen die
Sprache und die sprachliche Vermittlung und Gestaltung des Glaubens im
Zentrum steht. Gerade, wenn man mit Wittgenstein denkt (wie Schneider und
auch ich), muss die genuine und authentische sprachliche Form der Religion
als eine (komplexe) Praxisform sui generis begriffen werden. Beten, Liturgie,
Gesang, Rituale, Verkündigung, Verheißung, Vergebung, Zuspruch, Worte
des Heils und der Gnade bilden als spezifische Praxis bereits einen wesentlichen Aspekt von Religion als Lebensform. Sie begleiten und prägen dem
Anspruch nach gerade den Alltag der Glaubenden außerhalb der Synagoge,
der Kirche, der Moschee. In diesen Sprachen – der Bibel, des Alten und Neu_____________
1
2
Hans Julius Schneider: Religion, Berlin-New York 2008.
Thomas Rentsch: Gott, Berlin-New York 2005.
Thomas Rentsch
340
en Testaments, des Korans – sind die genuinen Wahrheits- und Geltungsansprüche des Glaubens enthalten und können immer wieder neu aktualisiert,
belebt, interpretiert und lebenspraktisch ausgelegt werden, und so war und ist
es geschichtlich auch. Gerade mit Wittgenstein müssen die innere Komplexität, der Reichtum und die semantische Irreduzibilität der religiösen Sprachen
begriffen werden. In ihnen sind „Sprachspiel“ und „Lebensform“ aufs Engste
verklammert. Diese Sprachspiele – z. B. die Predigten Jesu – eröffnen eine
eigene Wirklichkeit, die man mit einem „internen Realismus“ rekonstruieren
kann. Ihre „Referenz“ ist die authentische, glaubende Lebensform, in der sich
im lebendigen Gebrauch die Bedeutung religiöser Grundbegriffe und Grundsätze
bildet, zeigt und weiter vermittelt: die Bedeutung der Hoffnung, der Gnade,
der Liebe, der Vergebung, der Ewigkeit – um einige zentrale Beispiele zu
nennen. Die in Kirche und Gemeinde erworbene Sprachpraxis im christlichen
Kontext ist unersetzlich, sie ist Ort der bewussten Artikulation der authentischen Transzendenzdimension. Sie verbindet die jetzt praktizierenden Christinnen und Christen mit der Praxis und den Wahrheits- und Geltungsansprüchen unbedingten Sinns, wie sie seit über zweitausend Jahren in vielen
Ansprüchen und Ausgestaltungen weitergegeben wurden. Letztlich sind die
jetzt Glaubenden über die Sprache und die genuin religiösen Praxisformen
verbunden mit allen Generationen, die die religiösen Wahrheitsansprüche
über die Jahrhunderte weitergegeben haben – bis hin zu den Religionsgründern. Recht verstanden ist die genuine religiöse Praxis der Buchreligionen
insbesondere ein Ort der Freiheit, weil die Wahrheitsansprüche von jeder
Generation und von jedem Einzelnen neu angeeignet werden müssen, sollen
und dürfen. Nur so sind tiefgreifende innovative Transformationen begreifbar wie z. B. die philosophisch-rationale und rational-mystische Interpretation der jüdischen Tradition bei Spinoza, in der Aufklärung und im Kantianismus bei Hermann Cohen, die reformatorische Transformation des
Christentums bei Luther, Calvin und Zwingli, aber auch bereits die philosophisch sehr weitreichende und produktive Reflexion der negativen Theologie
bei Meister Eckhart und die Interpretation des Islam in der Mystik des Sufismus. Diese produktiven Aneignungsprozesse sind immer auch religionskritisch. Religionskritik ist ein zentrales movens und ein Kernbestand der Weltreligionen, die so auch immer wieder von sich aus Anknüpfungsmöglichkeiten
für philosophische Vernunftreflexion eröffneten und weiterhin eröffnen.
2. Die Arbeitsdefinition von Religion3 scheint das bisher von mir Bemerkte
einzuschließen. Aber das liegt nur daran, dass diese Definition sehr unspezifisch ist. Auch in Verbindung mit der von Schneider zentral akzentuierten
„religiösen Erfahrung“ und mit dem ebenso zentralen Aspekt des „Wandels“
_____________
3
Schneider: Religion, a.a.O., S. 13.
Was ist spezifisch religiöse Transzendenz?
341
des Lebensverständnisses wird diese Unspezifiziertheit nicht überwunden.
Auch, wenn ich in der Pubertät erwachsen und verantwortlich werde, ereignet sich mit mir und durch mich ein solcher Wandel, der zu einer „wahrhaftig(en) Einstellung zum Leben im Ganzen“ führen soll, und dies gerade mit
zentralem Bezug auf „Geburt, Liebe, Sexualität, Schuld“ und – mit Blick auf
das neu gewonnene, verantwortliche Erwachsensein – auch auf „Krankheit
und Tod“. Pointiert gesagt: Die Arbeitsdefinition ist nicht im mindesten religionsspezifisch, sondern lässt sich völlig areligiös, säkular, atheistisch verstehen. So könnte ein sich sehr technisch-instrumentell verstehender Mediziner
sich dieses Selbstverständnis als „wahrhaftige Einstellung zum Leben im
Ganzen“ völlig problemlos zuschreiben. – Genau mit dieser aufgeklärtszientifischen Orientierung sieht und behandelt er sich selbst und seine Patienten – ohne jeglichen Religionsbezug. Ebenso könnte eine Psychiaterin
oder Psychotherapeutin sich diese Einstellung problemlos aneignen – ohne
jegliche Religiosität. Aber auch Künstler, Literaten oder Musikerinnen könnten diese wahrhaftige Einstellung durchaus sehr anspruchsvoll für sich reklamieren, gerade im Blick auf die von Schneider angesprochenen existentiellen
Aspekte des Lebens. Sie könnten sie für sich wohlbegründet und reflektiert
reklamieren, und dies ganz bewusst gerade ohne jeglichen Gottes-, Transzendenz- oder Religionsbezug. Und sehr viele Künstler tun ja genau dies in der
säkularen Moderne und Postmoderne. Die Kunst und die ästhetische Erfahrung mit all ihrem Reichtum, ihrer Komplexität und Tiefe tritt an die Stelle
der Religion und religiösen Praxis – ein in den westlichen Kulturen weit verbreiteter und fortschreitender Prozess seit (mindestens) weit über einem Jahrhundert.
Diese Beispiele sollen zeigen, dass Schneiders Definition zu kurz greift
und die spezifische Differenz von Religion nicht zu explizieren vermag. Ein
technisch-pragmatisches, szientifisches Welt- und Selbstverhältnis ist nicht
religiös. Anders, und religionskritisch formuliert: Wer seine Religiosität so
versteht, der versteht sich und die religiöse Dimension falsch, z. B. durch ein
technisches Gebetsverständnis oder ein magisches Wunderverständnis. Auch
ein therapeutisches Verständnis verfehlt die religiöse Dimension. Die Wiederherstellung von Gesundheit und Wohlbefinden ist eine andere Ebene als
diejenige, die den Kernbereich des Religiösen ausmacht. Sie bezieht sich auch
noch auf das Ganze des Lebens, wenn Krankheit, Schuld, Leiden, Sterben
und Tod es unabänderlich prägen. Ebenso ist ästhetische Transzendenz
nicht religiöse Transzendenz. Sicher ist es z. B. heute so, dass viele Menschen
zwar kein explizites Gottesverhältnis haben und leben (können), aber dennoch mit großer Authentizität und Intensität die geistliche Musik, die Messen
und Kantaten z. B. Bachs hören. Sie sagen oft, dass sie hier eine Dimension
ahnen und spüren, die über die Schönheit der Kompositionen hinausgeht –
wenn sie diese Dimension auch nicht erreichen und begreifen können. Religi-
342
Thomas Rentsch
öse Transzendenz, so sehr sie auch im Medium „symbolischer Prägnanzbildung“ (Ernst Cassirer) vermittelt wird, muss in ihrer spezifischen, genuinen
existentiellen Dimension und mit ihren spezifischen, genuinen Wahrheitsund Geltungsansprüchen expliziert und begriffen werden.
In der Religionsdefinition müsste ein Wahrheitsbezug berücksichtigt werden, ferner ein Bezug zur institutionalisierten, intersubjektiven Praxis, ein
Bezug auch auf unhintergehbare, unbedingte praktisch-moralische Ansprüche
und, ganz grundlegend, ein qualifizierter Transzendenzbezug. Ebenso müssten die religionskritischen Implikationen einer reflexiv geklärten Religion und
einer authentischen Glaubensperspektive – gerichtet gegen Illusionen, entfremdete Projektionen, Aberglauben, magisches Denken und funktionalinstrumentelle Orientierungen – expliziert werden. Erst in einem solchen
religiös aufgeklärten Kontext können religiöse Erfahrungen und Erlebnisse,
die bei Schneider ein großes Gewicht haben, sinnvoll verortet werden. Die
gelebten Formen von Transzendenzbezug sind außergewöhnlich reich, komplex und vielschichtig. Sie lassen sich, recht verstanden, nicht von einem einzigen, übergeordneten Standpunkt aus beurteilen und bewerten. Den Reichtum an sich eröffnenden Praxisformen gilt es zu begreifen, und damit auch
die sich eröffnenden Freiheitsperspektiven religiöser Praxis. Sie zeigen sich im
Blick auf die geschichtlich-kulturelle Entfaltung der Weltreligionen, die im
übrigen andauert und in die Gegenwart und Zukunft weist – z. B. im Blick
auf die Ökumene oder auch im Blick auf den christlich-islamischen Dialog.
3. Es bleibt bei Schneider unklar, in welchem Verhältnis die lokal-situativen
Märchen (als Vergegenwärtigungs- und Bewältigungspraxis einer noch kindlich-ungeschiedenen Gefühlswelt) und lokal-situativen Schmerzempfindungen
zu ganzheitlich-religiösen Erfahrungen stehen. Ein solcher Übergang ist in
seiner Reichweite und Analogie meines Erachtens sehr begrenzt, wenn nicht
sogar unmöglich und irreführend. Eine religionsphilosophische Weiterentwicklung von Bettelheims Märchenanalyse mit dem Terminus „Märchen aller
Märchen“ bleibt ungenau, wiederum fehlt die spezifische Differenz: die Geschichte des Volkes Israel im Alten Testament, die Geschichte Jesu im Neuen
Testament, die Geschichte Mohammeds im Koran – diese Geschichten sind
gerade keine Märchen, sondern – trotz archaisch-mythischer Elemente – sie
beziehen sich im Kern auf geschichtliche Wirklichkeit, die zur höchst realen
Gründung der Weltreligionen führt, und diese Gründung reicht wiederum
höchst real und konkret bis in unsere Gegenwart – zu höchst realen und
konkreten Lebens- und Praxisformen von Milliarden Menschen auf der ganzen Welt. So ist zum Beispiel die Bergpredigt Jesu kein Märchen, sondern
eine radikale Botschaft, die Verkündigung von Gnade, Vergebung und Feindesliebe mit unbedingtem praktischem Wahrheits- und Geltungsanspruch
unter Einschluss des Wissens von der bzw. der Einsicht in die Unmöglichkeit,
dieser Botschaft gänzlich zu entsprechen. Der transmoralische Status der
Was ist spezifisch religiöse Transzendenz?
343
Botschaft wird sprachlich ebenso deutlich wie ihre Bezogenheit auf die existentielle Lebenswirklichkeit, die von Feindschaft, Hass und Demütigung geprägt ist. Die Situation der religiösen Sinnvermittlung und Sinnerfahrung ist in
diesem zentralen Beispiel praktisch, begrifflich, existenzbezogen, sie besteht
in unbedingten Wahrheits- und Geltungsansprüchen.
4. Auch in Wohlrapps Rezension4 bleibt die kritische Rückfrage nach der
spezifischen Differenz des genuin Religiösen, nach dem Wesentlichen der
Religion in Schneiders Ansatz. Gute, auch lebenstragende Erfahrungen gibt es
auf vielen Ebenen der Lebenspraxis, in der Freundschaft, Partnerschaft,
Familie, Liebe, in der Kunst, auf Reisen, in der Erinnerung an wertvolle Zeiten und Augenblicke. Aber all dies muss keinerlei religiöse Spezifik haben, all
diese Erfahrungen können völlig profan, säkular verortet sein und gemacht
werden. Deswegen bin ich der religionsphilosophischen Auffassung, dass im
Kern und im Zentrum religiöser Orientierungen jeder Art ein spezifischer
Transzendenzbezug sinnkonstitutiv ist. In seiner Wendung gegen James kritisiert Schneider einen religionsspezifischen Bezug zu „Transzendentem“ bzw.
zu „Übernatürlichem“. Auch in meinen Rekonstruktionen kritisiere ich objektivistische, verdinglichende Transzendenzverständnisse. Ich versuche zu zeigen, dass eine Kritik an solchen verdinglichenden Verständnisse der Transzendenzdimension ein wesentlicher Aspekt der religionsspezifischen,
religionsimmanenten Religionskritik selbst ist, sowohl im Bereich der religiösen Sprache und Verkündigung, als auch ganz explizit im Kontext der theologisch-begrifflichen Selbstreflexion der monotheistischen Weltreligionen
(aber sicher auch in den asiatischen Traditionen). Im jüdischen Bereich steht
im Zentrum das Bilderverbot, begleitet von einer oft radikalen Polemik gegen
Formen des „Götzendienstes“. Im jüdischen, im christlichen und im islamischen Bereich bilden sich komplexe, anspruchsvolle, religionskritische Traditionen der negativen Theologie heraus (oft im Kontext der rationalen Mystik).
Weite Teile der selbstbewussten religiösen Tradition, so lässt sich mit Blick
auf Schneiders Ansatz sagen, bemühen sich um ein verdinglichungskritisches
Verständnis von Transzendenz gerade in ihrer Nicht- bzw. Ungegenständlichkeit. Die von Wittgenstein übernommene Formulierung, bei den Wörtern
für Seelisches gehe es nicht um ein Etwas, aber auch nicht um ein Nichts, die
Schneider zu Recht auf religiöse Rede und insbesondere auf das Wort „Gott“
bezieht, artikuliert nur ganz knapp (und selbst schwer verständlich), was in
den religiösen, kritisch-negativen Selbstreflexionen leitend ist: ein verdinglichungskritisches Transzendenzverständnis, das aber spezifisch religiöse kulturelle Praxisformen der meditativen, kontemplativen, sakramentalen, liturgischen, künstlerischen Vergegenwärtigung von Transzendenz gerade nicht
_____________
4
Harald Wohlrapp: Rezension zu Schneider, Religion, in: Philos. Rundschau 56 (2009), S.
65-70.
Thomas Rentsch
344
ausschließt, sondern, recht verstanden, gerade freisetzt. Auf diese Weise eröffnet sich der hermeneutisch-kritische, rekonstruktive Zugang philosophischer Reflexion zu den kulturellen, sozialen, geschichtlich vielfältig ausgebildeten Praxis-, Sprach- und Lebensformen eigenen Rechts, die die Religionen
auf der ganzen Welt in der Geschichte der Menschheit ausgebildet haben.
Näherhin lässt sich das Spezifische authentischer religiöser Transzendenzbezüge aus philosophischer Perspektive meines Erachtens zunächst so
näher explizieren und rekonstruieren, dass wir die Transzendenzdimensionen
bzw. -aspekte der Welt (des Kosmos, des Seins überhaupt), der Sprache (des
Logos, des Sinns von etwas überhaupt) und unserer selbst (die Transzendenz
der Individualität, die intra- und interexistentielle Transzendenzdimension)
formal-strukturell differenzieren.5 Diese Transzendenzdimensionen lassen
sich vernünftig aufzeigen und aufweisen, ohne selbst auf religiöse Texte, religiöse Erfahrungen oder besondere Offenbarungsansprüche rekurrieren zu
müssen. Dennoch sind sie der Hintergrund bzw. die Basis spezifisch religiöser
Verhältnisse zur Welt, zum Sinn, zu sich selbst und zu den Mitmenschen.
Religionsphilosophisch und vernunftbezogen können wir, anders gesagt, auf
transrationale bzw. arationale Voraussetzungen unserer Welt- und Selbstverhältnisse und -verständnisse hinweisen. Dass es die Welt, dass es überhaupt
etwas gibt, unter Einschluss unserer selbst, dass es Sprache, Sinnerfahrung,
Wahrheits-, Geltungs- und Sinnansprüche überhaupt gibt, dass es uns als einzigartige Individuen gibt, die sich sich selbstbewusst erkennen, entfalten und
in authentischen interpersonalen Verhältnisse der Freundschaft, der Partnerschaft, der gegenseitigen Hilfe und des Vertrauens leben können, – diese
Dimensionen lassen sich als transrationale Transzendenzdimensionen verstehen, die keineswegs irrational sind und zu denen wir dennoch ein genuines
Verhältnis explizit einnehmen können: ein Verhältnis des Staunens, des Wunderns, der Freude, des Glücks, der Dankbarkeit. Ein solches Verhältnis führte (und führt) zu genuinen religiösen Praxisformen. D. h.: Transzendenz kann
und muss als eine Relation unsererseits zu den aufgezeigten Transzendenzdimensionen rekonstruiert und begriffen werden, eine Relation zu den uns
entzogenen und unverfügbaren, dennoch unhintergehbaren und unverzichtbaren Sinnbedingungen unserer selbst und unseres Lebens. Ebenso, wie wir
auf den Ebenen der Vernunft, des Verstandes und der sinnlichen Erfahrung
Kriterien eines angemessenen, sinnvollen Umgangs mit diesen Ebenen herausarbeiten und von unangemessenen, unsinnigen, sinnlosen Formen des
Umgangs unterscheiden können, so ist dies auch angesichts der transrationalen Transzendenzdimensionen möglich, nötig und erforderlich. So können
wir zum Beispiel Formen von Aberglauben, Magie, Spiritismus, Fundamentalismus, Götzen-, Hexen- und Geisterglauben sinnkriterial ausgrenzen. Dem_____________
5
Vgl. Rentsch: Gott, a. a. O., S. 48-78.
Was ist spezifisch religiöse Transzendenz?
345
gegenüber ist es aus philosophischer Perspektive möglich, nötig und erforderlich, die Komplexität, Vielfalt und den Reichtum an genuinen und authentischen Ausdrucksformen hermeneutisch angemessen zu verstehen und zu
interpretieren. An dieser Stelle der Rekonstruktion haben auch vernünftige
Verständnisse der Rede von transrationalen Wundern, Geheimnissen und dem
Heiligen ihren Ort.
Es sei darauf hingewiesen, dass die aufgewiesenen Transzendenzdimensionen ebenso verkannt, übersehen, als banale Faktizität verstanden werden
können, dass sie in der Perspektive von Resignation und Nihilismus, Zweifel
und Verzweiflung wahrgenommen werden können. Gerade solche negativen
Wahrnehmungen aber gehören zum Kern religiöser Tradition und Erfahrung. Ich erinnere mit Blick auf die Bibel nur an Hiob, an das Buch Kohelet
und an Jesu’ Todesschrei der Gottverlassenheit am Kreuz. Das bedeutet:
Auch ein naiv-hermeneutisches Lebensgefühl des Wohlbefindens, wie es uns
viele populäre Glücksratgeber der Gegenwartsliteratur anbieten, erreicht
keineswegs die ernsthafte Sinndimension und das authentische Lebensverständnis von Religionen.
Gerade mit den aufgewiesenen Transzendenzdimensionen lassen sich
Aspekte der Tiefe, der Unendlichkeit und der Ewigkeit verstehen, die im Zentrum von Religion stehen. Ebenso kann die Gleichursprünglichkeit der zentralen Transzendenzdimensionen des Seins der Welt, der Sprache und des Lebens zu einem Verständnis des Monotheismus verhelfen, das sowohl im
wahrheitsorientierten Diskurs zwischen Philosophie und Religionen wie auch
im ebenso wahrheitsbezogenen interreligiösen Diskurs erste Schritte zu einer
gemeinsamen Verständigung ermöglicht.6
Ich fasse meine Rückfragen zusammen.
1. Wird in Schneiders existentiell orientierter Religionsphilosophie der
geschichtliche und kulturelle Entfaltungs- und Verstehenskontext
von Religionen unter Einschluss ihrer spezifischen Sprache und Praxis wie auch ihrer religionskritischen Potentiale nicht unterbestimmt?
2. Ist Schneiders Religionsverständnis nicht zu unspezifisch? Wie steht
es mit dem Wahrheits-, dem Intersubjektivitäts- und Transzendenzbezug der Religionen?
3. Verfehlt die Analogie mit den Märchen nicht das Spezifische von Religion, und dies gerade im Blick auf unbedingte, praktische Geltungsansprüche?
_____________
6
Ebd., S. 78-94.
346
Thomas Rentsch
4. Religionen weisen einen spezifischen Transzendenzbezug auf, der
von ihnen bewusst gestaltet, expliziert und reflektiert wird. Philosophie muss diesen Bezug wahrheitsorientiert aufnehmen und rekonstruieren. Wenn diese These stimmt, dann wird erst so die Ebene
spezifisch religiöser Erfahrung philosophisch sinnkriterial zugänglich.
Ich freue mich, mit Hans Julius Schneider über diese Rückfragen ins Gespräch zu kommen.
Tradition und Reflexion
Hans G. Ulrich
Was Hans Schneider unter der Überschrift „Religion“ philosophisch luzid
reflektiert, sind alltägliche Fragen und Gedanken – ob Religion eine höhere
Art von Glückseligkeit zum Inhalt hat, ob Gott eine Person ist, wie Religion
in Erfahrungen besteht, und viele Unter- und Teilfragen, die alltäglich sind in
dem Sinne, daß sie vielfach dort tatsächlich begegnen, wo von Religion die
Rede ist. Dort hält sich der Philosoph auf, der kundig in den ausgearbeiteten
Diskursen und Denktraditionen der Philosophie und Religionsphilosophie die
Fragen und Problemstellungen dort aufsucht, wo sie sich immer neu beharrlich gestellt haben und stellen, wie bei Gretchen und seiner Frage „Wie hältst
Du’s mit der Religion“? Dennoch ist zu sehen, daß die alltäglich klingenden
Fragen mit bestimmten „traditionellen“ philosophischen Auffassungen verbunden sind, mit denen sich diese philosophische Arbeit kritisch auseinandersetzt. William James erscheint als Beispiel dafür, wie eine „traditionelle“ Auffassung von religiöser Erfahrung1leitend bleibt, nämlich eine solche, die
Erfahrung auf „etwas“ bezieht, das es außerhalb der Sprache „gibt“. Die
Befangenheit in dieser traditionellen Auffassung wird, wie Hans Schneider
anzeigt, durch einen „Befreiungsschlag“ aufgebrochen – durch den Befreiungsschlag Wittgensteins.
Diese Problemdisposition gibt in vielerlei Hinsicht Anlaß, darüber nachzudenken, in welcher Weise unser Reden von Religion und unser Nachdenken darüber tatsächlich von einer traditionellen philosophische Auffassung
von Sprache und Erkenntnis bestimmt ist, daß also die Befreiung von der
traditionellen Auffassung weitgehend nicht stattgefunden hat. Jedenfalls wird
dies schon einmal insofern gelten, als die Fragestellungen, die hier bearbeitet
werden – wie die Frage, ob Religion ein höherer Glückszustand ist, oder, ob
von Gott als Person zu reden ist – sich dort aufhalten, wo es erst noch zur
Befreiung kommen muss.
_____________
1
Schneider: Religion, Berlin 2008, S. 50f.
348
Hans G. Ulrich
Befreite Traditionen – Befreite Sichtweisen
Wenn man weitgreifend, allgemein von den Traditionen christlichen Redens
von Gott, die das biblische Reden in sich aufgenommen haben, spricht, die
hier auch Gegenstand des philosophischen Nachdenkens werden, so stellt
sich sofort die Frage, ob – generell gesagt – diese Traditionen selbst mehr
oder weniger weitgehend von einer solchen traditionellen Auffassung bestimmt sind. Dieser Auffassung zufolge sind „Schöpfung“, „Sünde“, „Gott“
oder was immer „Gegenstände“, auf die sich die Rede bezieht. Die Frage ist,
ob die Traditionen christlichen Redens damit in ihrer eigenen impliziten Disposition eine andere Auffassung in sich tragen, als die, die Wittgenstein befreiend in den Blick gerückt hat. Zu unterscheiden ist also, ob eine bestimmte
Auffassung von diesen Traditionen der Befreiung bedarf – eben jene von Hans
Schneider markierte – traditionelle Auffassung, oder ob diese Traditionen selbst
der Befreiung aus einer ihnen eigenen Befangenheit bedürfen. Im letzteren
Sinn hat man auch das Programm der „Entmythologisierung“ aufgefasst. Es
sollte darum gehen, eine Tradition des Redens von Gott aus ihrer Befangenheit zu befreien, also ihrer Befangenheit im mythischen Reden. Doch das
Programm der Entmythologisierung ist auch anders zu verstehen, nämlich als
die Befreiung von einer Sicht, die die Traditionen einzig als mythologische
wahrnimmt. Bultmanns Programm der Entmythologisierung jedenfalls verfolgt die letztere Aufgabe: es geht darum, die Texte nicht als mythische zu
lesen, sondern auf das hin, was in ihnen (als Bestimmung und Beschreibung
menschlicher Existenz) zu finden ist, weil eben dies in ihnen zur Sprache
kommt und nicht etwas anderes, Mythisches. So betrifft die Entmythologisierung unsere Sicht auf die Texte. Diese Sicht muss entmythologisiert werden.
Die historisch-kritische Methode in der biblischen Exegese richtet hier ihre
Kritik auf die Sichtweisen der biblischen Überlieferung und sucht die der
Überlieferung eigene Artikulation freizulegen. Das bedeutet, daß die zu befreiende Sicht auch in den Texten selbst zu finden ist. Doch diese sind nicht
in toto und nicht primär Gegenstand der Kritik, sondern zugleich Anleitung
dazu.
Also noch einmal gefragt: worauf bezieht sich der Befreiungsschlag oder
(weniger heftig) die sprachphilosophische Wende, die Wittgenstein herbeiführt? Bezieht die Befreiung sich auf die Sichtweise derer, die Religion so oder
so verstehen, oder bezieht sie sich auf die Traditionen „religiöser“ Artikulation, die womöglich von einer ganz anderen Sichtweise bestimmt sind, als die
vielfältig wechselnden Sichtweisen, auch die Sichtweisen einer Geistesgeschichte, die gewiß immer neu der Befreiung bedürfen, wenn wir denn danach
suchen, was schließlich als angemessen für die Wahrnehmung und das Verstehen akzeptiert werden kann. Besondere Bedeutung bekommt diese Fragestellung hier dadurch, als die Veränderung von „Sichtweisen“, sofern sie das
Tradition und Reflexion
349
Ganze des Lebens betreffen, - dem Verständnis des „Religiösen“ bei Hans
Schneider entsprechend - den Zugang zur religiösen Erfahrung kennzeichnet.
So sind wir nahe daran zu sagen, daß die Veränderung der Sichtweise durch
die philosophische Wahrnehmung selbst ein religiöser Vorgang ist. Im Blick
auf die theologische Aufgabe ist – von Paulus – gesagt worden:
Lasst euch eure Lebensform verändern durch die Erneuerung eures Sinnes (tou/
noo,j), damit ihr erkunden könnt, was Gottes Wille ist, nämlich das Gute, das Wohlgefällige und das Vollkommene. (Röm 12,2)
Diese Veränderung der Sichtweise wird bei Paulus ins Passiv gesetzt: sie erscheint als Widerfahrnis, das impliziert, daß Menschen ihr Leben (als Ganzes)
Gott überlassen und damit aufhören sich auf eine „Welt“ in ihren „Schemata“
zu beziehen, die ihr Leben nicht tragen können, die sozusagen „außen“ bleiben. „Und paßt euch nicht den Schemata dieser Welt an“. Dies aber wird
gesagt aufgrund der Erfahrungen des Wirkens Gottes, also innerhalb dessen,
was von Gott zu sagen ist:
Deshalb sage ich euch erinnernd zum Trost, aufgrund der Erfahrungen des Gotteswirkens, paßt euch nicht den Schemata dieser Welt an. (Röm 12,1)
Von der „Welt“ ist hier (im wörtlich genommenen Text) als von einer vergehenden Weltzeit (Äon) die Rede, eine Welt, die mit den Gotteserfahrungen
obsolet wird. So wird hier von einer befreienden Verwandlung der Sichtweise
gesprochen, die mit den Kennzeichen versehen ist, die Hans Schneider beschreibt.
Wittgensteins Philosophie ist nicht zuletzt von Theologen als Befreiungsschlag gegenüber philosophischen und theologischen Auffassungen aufgenommen worden, als Befreiungsschlag, der die Traditionen christlichen Redens
von Gott angemessen zu sehen hilft – das heißt befreit von Anschauungen, die
diesem Reden nicht entsprechen und das Verstehen blockieren. Anders gesagt: die Tradition christlichen Reden von Gott läßt sich mit Wittgenstein so
lesen, dass fragwürdige Problemstellungen und Lösungen wegfallen können.
Die Befreiung von solchen Sichtweisen ist in der theologischen Arbeit vielfältig mitverfolgt worden. Das betrifft nicht nur die Arbeit am Verständnis von
Sprache, sondern auch die theologische Arbeit daran, das christliche Reden
von Gott, ausgehend von seiner biblischen Tradition, in einer Sichtweise
nachzuvollziehen, die nicht von solchen „traditionellen“ Problemdispositionen belastet ist, wie sie sich in der Geistesgeschichte eingestellt haben. Die
theologische Arbeit kann sich von dieser philosophischen in jeder Hinsicht
bestärkt und gewiß auch in der einen oder anderen Hinsicht selbst befreit
erfahren.2 Die Angemessenheit des Redens von Gott zu finden, wird jedenfalls dieser kritischen Arbeit bedürfen. Das heißt, daß die Traditionen christli_____________
2
Siehe Hans Julius Schneider: Religion, Berlin-York 2008, S. 191, zur Aufgabe der Theologie.
Hans G. Ulrich
350
chen Redens von Gott ihrerseits von Sichtweisen bestimmt sein können, die
der kritischen Wahrnehmung bedürfen. Es heißt aber nicht (wie gesagt), daß
nicht in diesen Traditionen Sichtweisen leitend sind, die dem entsprechen,
was die Kritik sucht, also eine entsprechende Auffassung von Sprache. In der
bisherigen theologischen Arbeit ist beides anzutreffen, eine kritikbedürftige
Auffassung ebenso wie gegenläufige Auffassungen, und diese Differenzen
werden innerhalb der Traditionen christlichen Redens selbst auch diskutiert.
Beispielsweise haben die Streitgespräche, wie sie von Jesus überliefert sind
oder die sich in den theologischen Reflexionen eines Paulus abbilden, immer
wieder auch solche Differenzen zum Gegenstand. Das bestimmt die ganze
Tradition des christlichen Redens von Gott, auch in seiner biblischen Gestalt.
So beispielsweise in der Geschichte von einem blind Geborenen, den Jesus
geheilt hat. Jesus wird gefragt: „Meister, wer hat gesündigt, dieser oder seine
Eltern, daß er blind geboren ist?“ „Jesus antwortete: Es hat weder dieser
gesündigt noch seine Eltern, sondern es sollen die Werke Gottes offenbar
werden an ihm.“ Nachdem der Blinde von Jesus geheilt worden ist und nach
einigem Hin und Her sagt schließlich Jesus:
Ich bin zum Gericht in diese Welt gekommen, damit die, die nicht sehen, sehend
werden, und die, die sehen, blind werden. Das hörten einige der Pharisäer, die bei ihm
waren, und fragten ihn: Sind wir denn auch blind? Jesus sprach zu ihnen: Wärt ihr
blind, so hättet ihr keine Sünde; weil ihr aber sagt: Wir sind sehend, bleibt eure Sünde.
(Joh 9)
„Blindheit“ und „Sehend-Werden“ werden zu Metaphern – um zu sagen, was
es heißt, nicht Gott als Bewirker von Blindheit zu verstehen, der damit Sünde
bestraft, sondern von Gott anders, also nicht blind, zu reden, nämlich nicht
zu behaupten, man sei sehend in Bezug auf Gott, man wüßte, in welcher
Logik Gott handelt. Die Geschichte zeigt, wie in den biblischen Texten die
Rede von Gott zum Gegenstand wird, und zwar im Sinne angemessenen
Redens, das im Horizont dessen verbleibt, was Menschen von Gott sagen
können, von wo aus sie von Gott sprechen können. Dazu wird metaphorisches Reden gebraucht. Auch eine bestimmte Rede von einem allmächtigen
Gott, auf deren Schwierigkeit Hans Schneider verweist, ist damit abgewiesen.
Erfahrung als Kontext
Philosophische Arbeit beginnt dort, wo jemand sagt „ich kenne mich nicht
aus“. Ein Philosophisches Problem hat diese Form, wie Wittgenstein bemerkt.3 Hier braucht es Orientierung. Diese wird gewonnen durch Klärung.
Es braucht Beschreibung, die in den Blick kommen läßt, was uns leiten kann,
_____________
3
Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, Frankfurt a. M., §123.
Tradition und Reflexion
351
welche Unterscheidungen uns leiten können. Das ist durchweg eine Aufgabe
der Kritik, die Sackgassen markiert, falsche Unterscheidungen auflöst und an
ihrer Stelle andere zeigt, denen wir entlang gehen können. Klarheit zu gewinnen ist das Ziel, ihr dient die philosophische Kunst (ars), wie sie in dieser
Tradition uns begegnet und einlädt, sich darauf einzulassen, wenn wir denn
Klarheit suchen. Mit dieser Klarheit geht es nicht um eine solche Art von
Aufklärung, die einen Standort außerhalb sucht, von dem aus beobachtet
werden oder Licht auf die Realität geworfen werden kann, in der wir uns
aufhalten. „Realität“, was real ist, wird in dieser Tradition – wie bei Hans
Schneider – nicht auf diese Weise dingfest gemacht, sondern von innen her,
von dort her ausgeleuchtet, wo wir uns befinden. So ist von „Erfahrung“ die
Rede, nicht als etwas, was jemand als Besitz mit sich herumträgt, sondern als
etwas, worin jemand sich aufhält, was ihn ausmacht, zu seinem „Sein“ gehört.
Eine solche Unterscheidung zwischen Klärung und verschiedenen Formen
der Aufklärung gehört mit vielen anderen zu den grundlegenden Klärungen,
die hier nachzuvollziehen sind. Diese sind ihrerseits nicht als Wissensbestand
festzuhalten, sondern dort zu bewähren, wo jene alltäglichen Fragen anstehen,
sie sind in der eigenen Praxis des Reflektierens zu realisieren. Das heißt, sich
in dieser Praxis des Klärens und Klarheit Suchens aufhalten.
„Erfahrung“ ist das Medium, in dem sich auffinden lassen muss, was von
„Gott“ zu sagen ist. Das ist in Übereinstimmung mit jenen biblischen Stimmen, die gleichermaßen an der Klärung des Redens von Gott arbeiten. So
beschreibt der Prediger Salomo die Erfahrung, die einzig den Zusammenhang
bildet, in dem „Gott“ zu verstehen ist. Es ist eine differenzierte Welt von
Erfahrungen, in denen „Gott“ vorkommt. Es ist eine durch Erfahrung erschlossene Welt.4 Die Erfahrungen bilden den Verstehenszusammenhang, in
den „Gott“ gehört, der Gott, der „die Ewigkeit“ den Menschen „ins Herz
gelegt hat“ (Pred 3,11). Welche Erfahrung wird hier angezeigt? Die biblische
Tradition der „Weisheit“5 hat eindrücklich vorgeführt, wie sich Menschen im
Kontext von Erfahrungen zurechtfinden können und wie darin „Gott“ vorkommt, der „Gott“, der mit bestimmten Erfahrungen verbunden ist. Wer sich
wie Hans Schneider (mit Wilhelm James) von der Erfahrung her dem Reden
von Gott nähert, bewegt sich in dieser Tradition. Erfahrung wird immer neu
in den Blick gerückt, als der einzige Ort, an dem von Gott zu sprechen ist.
Gewiß bedarf es hier vieler weiterer Klärungen, aber der Einstieg bleibt so
erst einmal deutlich abgegrenzt gegen alle Versuche, „Gott“ außerhalb
menschlicher Erfahrung zu fassen. Auch Zarathustras Frage „Könntet ihr
einen Gott denken?“ wäre erst einmal, vielleicht für immer, jedenfalls zurück_____________
4
5
Das unterstreicht Friedrich Mildenberger: Biblische Dogmatik: eine biblische Theologie in
dogmatischer Perspektive. Band 2: Ökonomie als Theologie, Stuttgart 1992, S. 86f.
Gerhard von Rad: Weisheit in Israel, Neukirchen-Vluyn 1970.
Hans G. Ulrich
352
gestellt.6 Statt dessen gilt es den Erfahrungen nachzudenken, die im Reden von
Gott artikuliert sind.
Von Gott reden heißt von Gotteserfahrungen reden. Diese gehören zur
Erfahrungswelt und können nicht als Erklärungen dienen, die hinter diese
Erfahrungswelt zu blicken versprechen. Mit „Gott“ kann nicht etwa der Ursprung bestimmter Erfahrungen erklärt werden, statt dessen sind die GottesErfahrungen als das Reale zu nehmen, das in der Sprache präsent ist und das
es zu verstehen gilt. Das stimmt mit jener theologischen Tradition überein,
die die Aufgabe der Theologie darin gesehen hat, der Rede von Gott verstehend (und denkend) nachzugehen, und nicht etwa „Gott“ hinter dieser Rede
zu suchen. Entscheidend ist dabei, daß in dieser Rede enthalten ist, daß Gott
selbst geredet hat Dies ist eine Erfahrung, die zentral bleibt. Diese Gottesrede
erscheint als Gottes Wort, das Menschen „geschenkt“7 worden ist. Gotteserfahrungen werden als vielfältige Erfahrungen von einem redenden Gott ausgesagt, als Erfahrungen des Hörens. Diese Realität zeigt sich im Leben derer,
die von Gott reden. Sie ist an dieser Frucht, dem Hören, abzulesen. Es geht
um den „Gott“, wie in der theologischen Tradition gesagt worden ist, der „die
Herzen regiert“. Wie von dieser Erfahrung zu reden ist, ist eine Frage des
„Ausdrucksmittel“. Dazu gehört, wie Hans Schneider bemerkt, auch die
„Tradition“ in ihrer Differenzierung.
Deshalb läßt sich über den realen oder illusionären Charakter auch einer religiösen Erfahrung nicht allein durch einen ,Blick nach innen’ entscheiden. Er wird sich vielmehr
an der Lebensgeschichte des Betroffenen zeigen. Diese Entscheidung geschieht in einem sozialen Handlungszusammenhang, deren Teilnehmer über die entsprechenden
sprachlichen Mittel verfügen. Solche Ausdrucksmittel wurden normalerweise über
lange Zeiträume historisch entwickelt, und sie sind entsprechend differenziert. Es
können aber auch neue Ausdrucksweisen spontan gefunden werden, die dann aus der
Perspektive einer etablierten Tradition vielleicht unbeholfen oder auch erfrischend
wirken.8
Neue Erfahrung und das eine Medium der Sprache
Heißt dies, daß die Erfahrungen, die mit „Gott“ verbunden sind, anderen,
zumal „religiösen“ Erfahrungen gleichzustellen sind? Sie sind einander gleich,
gewiß, sofern es menschliche Erfahrungen sind und dementsprechend zur Sprache kommen. Aber sind es nicht dennoch „andere“ Erfahrungen, eben Erfah_____________
6
7
8
Zur Frage nach der „Denkbarkeit Gottes“, siehe: Eberhard Jüngel: Gott als Geheimnis
der Welt zur Begründung der Theologie des Gekreuzigten im Streit zwischen Theismus und Atheismus, Tübingen 1977, S. 138-306.
Hans J. Schneider: Religion, a.a.O., S. 181.
Ebd., S. 186.
Tradition und Reflexion
353
rungen „Gottes“, der zwar als „Person“ zur Sprache gebracht wird, aber doch
„Gott“ und nicht Mensch ist, von dem wie von einer Person zu reden ist?
Treten die Erfahrungen mit diesem Gott anderen Erfahrungen, auch Erfahrungen mit Menschen, gegenüber? Und: ist in diesem Sinne von „Widerfahrnis“ zu reden, von Erfahrungen gegen Erfahrungen? Geht es damit also um
„neue Ausdrucksweisen“ von Erfahrungen, die vielleicht generell „religiös“ zu
nennen sind und hier als Gotteserfahrungen artikuliert werden, oder geht es –
in welchem Sinne – um neue Erfahrungen? Oder ist eben diese Unterscheidung einer traditionellen Sichtweise verhaftet, die nicht von einem einzigen
Medium ausgeht – eben dem einen und einzigen Medium sprachlich artikulierter Erfahrungen, so verschieden dann innerhalb des Mediums diese Erfahrungen auch sind?
Hier hat theologisches Nachdenken immer neu eingesetzt, nicht um die
Anschauung von dem einen Medium Sprache zu bezweifeln, sondern um die
Folgerungen für das Reden von Gott daraus zu ziehen. Dies geschieht auch
nicht wegen der Abgrenzung dagegen, „Gott“ nicht aus den Erfahrungen
abzuleiten, weil so ja verloren ginge, was Menschen zukommt, was ihnen „geschenkt“ wird. Vielmehr ist die Nötigung zu solchem Nachdenken damit
gegeben, daß bestimmte Erfahrungen deshalb mit „Gott“ verbunden erscheinen, weil sie anders nicht artikuliert und somit anders auch nicht verstanden
werden können. Von „Gott“ ist dann nicht deshalb die Rede, weil keine andere Zuordnung einer Erfahrung in die Erfahrungswelt möglich ist, wie es etwa
die These von der Religion als Kontingenzbewältigung festhält, sondern von
„Gott“ ist die Rede, weil die Erfahrung, um die es geht, genuin mit „Gott“
verbunden ist. Die Verbindung mit „Gott“ kommt dann nicht hinzu, damit
auch diese Erfahrung irgendwo ihren Ort findet, vielleicht einen besonderen
Ort. Das Neue als das Kontingente mag auf diese Weise seinen Ort finden,
aber der Rede von „Gott“ ist dies nicht angemessen. Gotteserfahrung wird in
ihrem Neusein und Anderssein anders präsent, nicht als ein Kontingentes, das
eingeordnet werden muss. Es braucht Mittel, dieses Präsentwerden in der
Sprache kenntlich zu werden, ohne sie zu verlassen.
Hier kommt die Beschreibung der Sprache hilfreich, befreiend zur Geltung, die diesen Vorgang in der Sprache – im Sinne Wittgensteins - kenntlich
macht:
Ein Symbolsystem aus der Welt der Geister, das konventionell bereits so festgelegt wäre,
dass wir mit seiner Hilfe das aus unserer bisherigen Erfahrung Undenkbare und Unsagbare einfach notieren könnten, haben wir nicht zur Verfügung. Wir sind darauf angewiesen, mach menschlichen Ausdrücken (zu) greifen, d.h. das Neue und Überraschende un-
Hans G. Ulrich
354
ter dem Bilde des Bekannten zu sehen, also mit Analogien und Metaphern zu arbeiten,
was ja im Bereich der natürlichen Sprache alles andere als ungewöhnlich ist. 9
Diese Auffassung ist in der Theologie an der Frage diskutiert worden, wie es
möglich ist von Gott in der Sprache der Menschen zu reden. Leitend war die
Einsicht, daß anders als in der menschlichen Sprache von Gott nicht zu reden
ist10, daß aber zugleich in dieser Sprache Mittel gegeben sind, von Gott in
eigener Weise zu reden, die Gottes-Erfahrungen und andere Erfahrungen in
ihrem Unterschiedensein kenntlich sein läßt. Daraufhin ist das analogische
Reden11, das Reden in Metaphern oder das Reden in Gleichnissen betrachtet
worden, wie es denn ohnehin – was Hans Schneider hervorhebt – zur Sprache gehört und wie es aus dem biblischen Reden bekannt ist. Entscheidend ist
dabei die Frage, wie mit diesen sprachlichen Mitteln „das Neue und Überraschende“ zur Sprache kommen zu lassen. Die Rede von Gott wird so pointiert mit der Rede von einem bestimmten Neuen, einer bestimmten neuen
Erfahrung verbunden. Das ist aus der biblischen Tradition vertraut. Dort ist
vielfach von einem Neuen die Rede, wenn von Gott die Rede ist. Die Differenz einer Gotteserfahrung zu anderen Erfahrungen wird als die Differenz
von neu und alt artikuliert, freilich so, daß diese – immer noch – gleichzeitig
da sind, innerhalb der einen menschlichen Sprache. In der einen menschlichen Sprache wird also gleichwohl von einer Differenz gesprochen, einer
Differenz von „alt“ und „neu“, oder von einer „Weltzeit“ die obsolet wird,
und einer „neuen“ Sicht (Röm 12,1-2), die genuin mit „Gott“ verbunden ist.
Ein neues Lied
Damit kommt zugleich in den Blick, daß dazu ein neues Reden gehört: „Er
hat mir ein neues Lied in meinen Mund gegeben, zu loben unsern Gott. Das
werden viele sehen und sich fürchten und auf den Herrn hoffen.“ (Psalm
40,4). Wie hier im Psalm ist das Neue ein sprachlich zu fassendes Neues, ein
neues Lied, aber doch ein Lied, das wie die alten Lieder zu singen ist. Das Neue
ist nicht so anders, daß es nicht in ein Lied zu fassen wäre, freilich wird es ein
neues Lied, und das gibt die Sprache her, wenn man – wie Hans Schneider
unterstreicht – analogisches Reden, Metaphern und Gleichnisse einbezieht.
Diese Redeweisen sind geeignet, Neues zur Sprache zu bringen, durch sie
_____________
9
10
11
Hans J. Schneider: Das Unmögliche, das Undenkbare, das Unsagbar: Schritte zum Wunderbaren?, in: Dalferth / Stoellger / Hunziker (eds.): Unmöglichkeiten. Zur Phänomenologie
und Hermeneutik eines modalen Grenzbegriffs, Tübingen 2009, S. 215-232, S. 232.
Ein Schlüsseltext ist: Karl Barth: Das Wort Gottes und die Theologie, München 1925.
Siehe dazu insbesondere Eberhard Jüngel: Gott als Geheimnis der Welt, a.a.O., S. 357383.
Tradition und Reflexion
355
wird Neues sprachlich artikulierbar. Oder auch umgekehrt: an solchen Redeweisen wird kenntlich, daß von einem Neuen die Rede ist. So wenn beispielsweise im biblischen Reden von Gott gesagt wird, „Der Herr ist mein Hirte,
mir wird nichts mangeln“ (Psalm 23) Oder: „Gott Deine Güte reicht so weit
der Himmel ist“ (Psalm 36,6). Von Menschen würde man dies nicht sagen.
Von einem Neuen ist zu reden in der Unterscheidung vom „Bekannten“. In
der Sprache aber muss das Bekannte zur Artikulation des Neuen dienen.
Auch wenn Gotteserfahrung als neue Erfahrung erscheint, ist dies nichts
Ungewöhnliches für die Sprache. Oder doch? Sinnvoll zu fragen wäre dies (in
unserem bisherigen Kontext), wenn dieses Neue als ein anderes Neues selbst
als Erfahrung artikuliert werden könnte: als eine eigene Erfahrung des Neuen,
für die die Sprache aber doch keinen eigenen modus loquendi bereithält,
sondern nur die bekannten Formen, wie die des analogischen Redens oder
des Gleichnisses. In diesen Formen erscheint das Reden von Gott auch in
den biblischen Texten. Oder gibt es doch einen eigenen modus loquendi –
einen, der dann aber gleichwohl nicht aus der Sprache herausführt?
Gewiß, wir haben für diese Fragestellung, eine Differenz, ein anderes
Neues unterstellt, wenn von „Gott“ die Rede ist, in dem Sinne, daß eine „Erfahrung mit Gott“ von einer Erfahrung mit Menschen unterschieden ist, auch
wenn von ihr in der Weise gesprochen wird wie von einer Erfahrung mit
Menschen, also von Gott als Person, gleichnishaft, analogisch, oder wie immer diese sprachlichen Spielräume aussehen. Wie aber zeigen sich die Erfahrungen mit Gott und mit Menschen dann als verschieden? Was macht die
Nötigung aus, von einem Gleichnis, einer Analogie zu sprechen – und nicht,
wenn gesagt wird, „Gottes Auge wacht über dich“, mit der Frage nach Gottes
Augenbrauen fortzusetzen, oder wenn gesagt wird „Der Herr ist mein Hirte,
mir wird nichts mangeln“, mit einer Betrachtung darüber fortzusetzen, ob
Gott Weideland hat? Der Psalm setzt fort: „Dein Stecken und Stab trösten
mich“. Doch in jeder Hinsicht muss nicht fortgesetzt werden, die Differenz
bleibt im Gleichnis bewahrt. Worin aber besteht diese Differenz? Wo setzt
das Gleichnis, wo setzt das neue Lied ein?
Ist die Differenz mit dem Unterscheiden von „religiösen“ von „nichtreligiösen“ Erfahrungen zu fassen? Auch wenn von Hans Schneider näher
erläutert wird, daß „religiöse“ Erfahrungen solche sind, die das Ganze des
menschlichen Lebens betreffen, so ist damit die Frage, inwiefern es bei den
Gotteserfahrungen eben um solche geht, die notwendig mit „Gott“ verbunden
sind, noch nicht beantwortet. Die Frage ist nicht nur, ob es möglich und mit
anderem religiösen Reden „verträglich“ ist, von Gott in bestimmter Weise zu
reden, z.B. von Gott als Person. Markiert nicht die Unterscheidung von
„Gott“ und „Mensch“, daß die Rede von „Gott“ dort einsetzt, wo das mit
ihm notwendig verbundene Neue erscheint – ein neues Lied nicht unter anderen vielen neuen Liedern, sondern ein anderes neues Lied.
Hans G. Ulrich
356
Die Nötigung, im Zusammenhang bestimmter Erfahrungen von „Gott“
zu reden, kommt hier in den Blick. Da hilft gewiß, die philosophisch vermittelte Einsicht, daß das Reden von Gott als Person möglich, das heißt verständlich ist. Es hilft auch die Einsicht, daß das Vermeiden der Rede von
Gott als Person, wie Hans Schneider bemerkt, kein „engeres Verhältnis zur
religiösen Erfahrung“ dokumentiert „als der Ausdruck ‚Gott’“12. So würde
aber auch die Kennzeichnung religiöser Erfahrung als auf das „Ganze des
menschlichen Lebens“ bezogen nicht schon der Gottes-Erfahrung in ihrer
Artikulation näher kommen, wenn denn dieses Kennzeichen überhaupt entscheidend ist.
Wir bleiben also noch dabei zu fragen, was uns nötigt von „Gott“ zu reden, wo diese Rede genuin einsetzt und gehen damit über die Frage hinaus,
wie verträglich das uns vertraute Reden von Gott als Person damit ist, daß wir
in menschlicher Sprache von Gott reden. Diese Frage, wie die anderen von
Hans Schneidere behandelten, sollten ja ohnehin als Zugangsfragen verstanden werden. Wie können wir von hier aus weitergehen?
Begründete Hoffnung – Erfahrung einer neuen Hoffnung
Der Einfall oder Einbruch eines Neuen, das genuin mit „Gott“ verbunden ist,
das nicht mit Praktiken der (sprachlichen) Kontingenzbearbeitung zu fassen
ist, hat immer wieder das theologische Nachdenken beschäftigt. Dies geschah
aus einem bestimmten Grund: nicht um grundsätzlich, jenseits von Erfahrung, Gottes Einzigartigkeit gegenüber allen anderen Erfahrungen zu bewahren – keine solche Apologetik – , sondern um der nachvollziehbaren Präsenz
der Erfahrung willen, die unverwechselbar mit „Gott“ geschenkt wird. Hier
ist in den Traditionen christlichen Redens vom Glauben die Rede, und zwar
vom Gottes-Glauben, also nicht allgemein von Glauben, sondern von dem
Glauben, der einzig mit Gott verbunden ist. Im christlichen Reden ist dies ein
Glaube, der von Gott selbst geschenkt wird, also nicht vom Menschen aufgebracht wird. Von diesem Glauben ist damit – im Unterschied zu anderen
Glaubensweisen – gesagt worden, daß er seinen Grund nicht vor sich her
trägt (ein Glaube „an“), daß er nicht auf „etwas“ verweisen kann, auf das er
sich stützt, der aber deshalb nicht ohne Realität ist. Beschreibungen des
Glaubens haben dies freilich oft mißverstanden.
_____________
12
Hans J. Schneider: Religion, a.a.O., S. 183.
Tradition und Reflexion
357
Was Glauben heißt, ist durch die Beschreibung der Erfahrung einer „begründeten Hoffnung“ genauer gesagt worden.13 „Begründete Hoffung“ kennzeichnet die Gotteserfahrung, die das christliche Reden zur Sprache bringt.
Gemeint ist eine Hoffnung, die den Grund, in dem sie verwurzelt ist und aus
dem heraus sie spricht, nicht vorzeigen kann. Es ist die Erfahrung einer
Hoffnung, die sich nicht auf irgend etwas stützt, das sie aufweisen kann, sondern die von dem getragen ist, was mit ihr als ein Neues erscheint und artikuliert wird. „Gott“ wird als Grund dieser Hoffnung genannt und damit wird
die Erfahrung eines „Neuen“ mit Gott verbunden. So ist in der biblischen
Tradition von der Hoffnung die Rede.14 Bekanntes, das, was wir „Hoffnung“
nennen, wird gebraucht, um von dieser bestimmten Hoffnung zu sprechen,
die ihren Grund nicht irgendwo in der Welt und ihren Erfahrungen hat, sondern als „begründete Hoffnung“ zur Sprache kommt, indem sie nicht auf
einen „Grund“ verweist, auch nicht auf eine „innere Überzeugung“ oder
einen Seelenzustand. Es ist die Hoffnung, die davon getragen ist, daß sie
„bestätigt“, bezeugt und gelebt wird. So wird von Abraham erzählt: „Er hat
geglaubt auf Hoffnung, wo nichts zu hoffen war.“ Eine neue Weise der
Hoffnung – eine „Hoffnung wider die Hoffnung“. Das Analogische dieser
Hoffnung – eine Hoffnung unter anderen – läßt diese Hoffnung eingefügt
sein in bekannte Hoffnungserfahrungen. Doch davon gewinnt sie nicht ihre
Bestätigung, nicht davon, daß sie sich auf etwas Bestimmtes richtet, das sie
trägt und das sich irgendwie aufweisen läßt. Vielmehr wird die Hoffung bestätigt dadurch, wie sie im weiteren Leben trägt, gelebt und bestätigt wird. Mit
ihr beginnt eine neue Geschichte. Darin bewährt sich diese Hoffnung.
Mit solcher Bewährung sind wir im Kontext von Geschichten, die uns
begegnen. Wir treffen auf Menschen, die von einer Hoffnung leben, die auf
nichts setzen, was sie als Grund vor sich haben, auf nichts in der Welt, sondern auf eine weitere Bestätigung. Auf sie hin lebt diese Hoffnung. Da es eine
Hoffnung ist, die ihren Grund nicht vorweisen kann, kann sie diesen nur dort
finden, wo ihr dieser Grund entgegengebracht wird, wo ihr dieser Grund
entgegenkommt, wo ihr dieser Grund widerfährt, wenn denn dieser Grund
doch mit der Erfahrung zur Sprache kommen soll, weil sonst diese Erfahrung
unartikuliert bleiben muss.
Hier setzt die aus dem christlichen Reden nicht herauszulösende Geschichte von Jesus ein, der keine Bestätigung gesucht hat, der dementsprechend auch nicht von seiner Hoffnung gelassen hat, weil ihm diese Bestätigung versagt wurde. Nichts hat er unternommen, um seine Hoffnung auf
_____________
13
14
Siehe dazu Gerhard Sauter: Begründete Hoffnung. Erwägungen zum Begriff und Verständnis der Hoffnung heute, in: ders.: Erwartung und Erfahrung: Predigten, Vorträge
und Aufsätze, München 1972, S. 69-107.
Walther Zimmerli: Der Mensch und seine Hoffnung im Alten Testament, Göttingen 1968.
358
Hans G. Ulrich
etwas zu stützen. Er ist in dieser begründeten Hoffnung geblieben, auch dort
noch, wo er – wie erzählt wird – am Kreuz, zu seinem „Gott“ (mit Psalm 22)
gebetet hat: „Warum hast Du mich verlassen?“ (Mat 27,46). Das ist noch ein
Gebet aus diesem Hoffnungsgrund heraus, sonst hätte er zu beten aufgehört.
Jesus erscheint hier nicht als „religiöses Genie“, das feste Gewißheiten hat,
sondern als derjenige, der wie analogisch er auch spricht, aus einem Grund
spricht, der nicht als seine innere Überzeugung erscheint, sondern als der
Grund, aus dem einer so leben und sterben kann, als der Grund, aus dem
einer sich nicht in welcher Not auch immer anders abstützt als das Geschehen
„Gott“ zu überlassen. Dieses „solus Deus“, „Gott allein“, wird hier bezeugt.
Dieses „Gott allein“ erscheint in der Ausschließlichkeit der Hoffnung, die auf
ihn gerichtet ist.
Diese Bekräftigung verbleibt nicht in der Abgrenzung, das heißt, daß von
Gott dann nichts weiteres zu sagen wäre. Im Gegenteil setzt hier die Erzählung von der Erfahrung mit dieser Hoffnung ein. In dieser Erzählung, die den
Fortgang dieser Hoffnung berichtet, erscheint dann die ganze Fülle dessen,
was von Gott zu sagen ist.
Begründung oder Bestätigung
Dies alles betrifft die Einsicht darin, wie das Reden von Gott mit dem Verständnis von Sprache zusammenhängt. Hier wird die Unterscheidung sichtbar
zwischen einem analogischen Reden von Gott (auch einem Reden von Gott
in Metaphern), das erzählt wie Gott im Bekannten erscheint, in dem, was
untrennbar zu Gott gehört, und einem Reden von Gott, das darin eine Begründung sucht, die sie vorweisen kann.
Die Bestätigung begründeter Hoffnung in der erzählten Geschichte ist so
auch unterschieden von der Bestätigung der Gotteserfahrung in den Früchten. Die Bestätigung begründeter Hoffnung in der Erzählung von Jesus
Christus liegt darin, daß sich diese Erzählung um nichts anderes dreht als
eben darum, die einzigartige Beziehung dieses Jesus zu Gott und Gottes zu
Jesus darin präsent werden zu lassen, daß dieser Jesus in dieser begründeten
Hoffnung lebt. Die Evangelien erzählen von einem Jesus, der als einer lebt,
der von Gott getragen ist. Jesus unternimmt nichts, um sich anders zu vergewissern. Er vergewissert sich auch nicht Gottes. Er sucht keine Gottesgewißheit und er benennt das, was ihn trägt, auch nicht so. Er sucht nichts für sich,
sondern läßt Gott freie Hand. Hier beginnt eine neue Rede von Gott, in der
sich zeigt, was die alten Geschichten getragen hat. Es beginnt eine neue Rede
von Gott, denn dieser Gott kann diesem Jesus am Kreuz nichts mehr gewähren, was in diesem Leben zu gewinnen ist, er kann nichts weiter schenken. So
kann diese Geschichte nicht anders fortgeführt werden als in der Auferwe-
Tradition und Reflexion
359
ckung zu einem neuen Leben. Diese Gotteserfahrung, wie sie in den Ostererscheinungen erzählt wird, bestätigt das Leben dessen, der sein Leben nicht hat
sichern, retten oder mit Sinn erfüllen wollen. Das heißt, in begründeter Hoffnung zu leben.
Von dieser Erzählung aus können andere Erzählungen von Gotteserfahrung verstanden werden, wie die Erzählung von Abraham oder die Erzählung
von Hiob. In ihnen kann wiedererkannt werden, was Gotteserfahrung heißt,
und dies gilt auch für eigene Gotteserfahrungen, wenn sie denn dieser
Grammatik begründeter Hoffnung folgen.15
Die Rede von Gott artikuliert sich so in erzählbaren Geschichten. Sie
bleibt innerhalb dessen, was die Sprache sagen läßt. Die Erzählungen werden
so zu Gleichnissen für das Neue, sofern sie sich mit dem Neuen die Sprache
teilen, und doch von einer neuen Wirklichkeit sprechen. Wer sich in dieser
Wirklichkeit bewegt, in seiner Grammatik, der kann dann etwas sagen von
seiner begründeten Hoffnung. Was in den Gleichnissen präsent wird, ist die
Realität einer Gotteserfahrung. Das hat die philosophische Beschreibung
verdeutlicht. Wir können dies wiederum in einer Erzählung bei Franz Kafka
finden – in der Erzählung von den Gleichnissen:
Viele beklagen sich, daß die Worte der Weisen immer wieder nur Gleichnisse seien,
aber unverwendbar im täglichen Leben, und nur dieses allein haben wir. Wenn der
Weise sagt: ‚Gehe hinüber’, so meint er nicht, daß man auf die andere Seite hinübergehen solle, was man immerhin noch leisten könnte, wenn das Ergebnis des Weges
wert wäre, sondern er meint irgendein sagenhaftes Drüben, etwas, das wir nicht kennen, das auch von ihm nicht näher zu bezeichnen ist und das uns also hier gar nichts
helfen kann. Alle diese Gleichnisse wollen eigentlich nur sagen, daß das Unfaßbare
unfaßbar ist, und das haben wir gewußt. Aber das, womit wir uns jeden Tag abmühen,
sind andere Dinge.
Darauf sagte einer: ‚Warum wehrt ihr euch? Würdet ihr den Gleichnissen folgen, dann
wäret ihr selbst Gleichnisse geworden und damit schon der täglichen Mühe frei.’
Ein anderer sagte: ‚Ich wette, daß auch das ein Gleichnis ist.’
Der erste sagte: ‚Du hast gewonnen.’
Der zweite sagte: ‚Aber leider nur im Gleichnis.’
Der erste sagte: ‚Nein, in Wirklichkeit; im Gleichnis hast du verloren.’16
Das „Hinübergehen“, von dem im Gleichnis die Rede ist, begegnet als die
neue Wirklichkeit, die aber nur real ist, wo Menschen in dieser Erfahrung
verbleiben und nicht heraustreten und darauf verweisen als auf ein „Gleichnis“. Im Gleichnis sich aufhalten, selbst ein Gleichnis sein – das kennzeichnet
_____________
15
16
Dietrich Ritschl hat in diesem Sinne vom „Wiedererkennen“ gesprochen: Dietrich
Ritschl: Gotteserkenntnis durch Wiedererkennen, in: ders.: Bildersprache und Argumente. Theologische Aufsätze, Neukirchen-Vluyn 2008, S. 5-15.
Franz Kafka: Von den Gleichnissen (1922), in: ders.: Beim Bau der Chinesischen Mauer.
Ungedruckte Erzählungen und Prosa aus dem Nachlaß, hg. von Max Brod und Hans
Joachim Schoeps, Berlin 1931, S. 36-37.
Hans G. Ulrich
360
das neue Leben. So sind Menschen Gleichnisse geworden. Wo von ihnen
erzählt wird, wird gleichnishaft gesprochen – und diejenigen, die es hören,
sind selbst gefragt, in welcher Weise sie gleichnishaft leben. Der „zweite“
Disputant gehört zu jenen „traditionellen“ Philosophen, die Gleichnis und
Wirklichkeit trennen, der „erste“ behaftet ihn dabei. Es kommt für ihn zu
keiner Befreiung.
Es hat manche intensive theologische Arbeit daran gegeben, die ganze
Fülle dessen, was in der Tradition beginnend von der biblischen von Gott
gesagt worden ist, auf diese Weise im erzählten Kontext begründeter Hoffnung zu fassen.17 Deshalb ist denn auch gesagt worden, die Theologie habe
das Reden von Gott zum Gegenstand, das Reden von Gott, das in sich eine
differenzierte Geschichte enthält, die alle Gotteserfahrungen auf die Bestätigung durch Gott allein hin artikulieren. In ihr findet sich die Geschichte von
Jesus als Schlüsselgeschichte. Von ihr aus läßt sich die überlieferte Geschichte
in allen ihren Geschichten verstehen. Alle weiteren Geschichten, die dieser
Geschichte folgen, handeln dementsprechend von der Gotteserfahrung begründeter Hoffnung, oder sie enden vorher. So die Geschichte vom Reichen
Mann, der Jesus in dieser Hoffnung nicht folgen kann (Mar 10,17-27). In
diesen Geschichten ist gegeben, bezeugt und bestätigt, wie von Gott zu reden
ist. Wie sollte jemand von „Gott“ sprechen, was auch immer seine Erfahrung
ist, wenn nicht in solcher begründeten Hoffnung, die ihr Bestätigung erwartet.
Der Raum der Sprache muss um dieser Bestätigung willen nicht verlassen
werden. Im Gegenteil: die Bestätigung soll ja der eigenen Erfahrung gelten
und diese nicht auf etwas Jenseitiges verweisen, sie auf eine andere Wirklichkeit vertrösten. Und doch erscheint die Bestätigung als ein eigenes, als ein
externes Wort – wie die Aufforderung des Weisen in Kafkas Erzählung –
extern gegenüber dem Leben in begründeter Hoffnung, aber nicht außerhalb
des Erfahrungszusammenhangs. So wird das externe Wort in der Sprache
artikuliert, in der jede Erfahrung artikuliert wird. Hier wird jedoch nicht eine
Differenz zwischen einem „Innen“, vielleicht dem inneren Überzeugungszustand eines Menschen, und einem „außen“ aufgemacht, sondern es wird eine
neue Wirklichkeit in der Sprache gleichnishaft präsent – eine wirkliche Erfahrung, eine artikulierte Erfahrung. So hat die theologische Tradition von einem
„verbum externum“ gesprochen. Dies ist der Schlüssel zu ihrem Sprachverständnis.
_____________
17
Friedrich Mildenberger hat in seiner Biblischen Dogmatik dies durchgängig unternommen und zugleich in seiner theologischen Disposition, das heißt im Blick auf das damit verbundene theologische Verständnis von Sprache reflektiert. Die Biblische Dogmatik von Friedrich Mildenberger ist das bislang am weitesten ausgeführte Beispiel für
diese theologische Aufgabe. Friedrich Mildenberger: Biblische Dogmatik, a.a.O.
Tradition und Reflexion
361
Überlieferung und „religiöse“ Erfahrung
An dieser Stelle schließen sich diese Beschreibungen an das an, was Hans
Schneider nachvollziehbar gezeigt hat. Die Rede von Gott bleibt, so beschrieben, verbunden mit den Gotteserfahrungen, wie sie überliefert sind und
mit der in dieser Überlieferungspraxis weitergegebenen Erfahrung. Sich mit
der Gottesrede in dieser Überlieferung aufzuhalten, in der von ihr erschlossenen Erfahrung, bedeutet, daß keine wie auch immer gültige Erfahrung vorausgesetzt werden muss, die die Gottesrede trägt, sondern daß die Gottesrede
genuin von dieser Erneuerung der Erfahrung spricht, wie sie in den Geschichten von begründeter Hoffnung erscheint. Das ist die bestimmte Erfahrung,
die in dem Namen des Gottes beschlossen ist, der mit der Geschichte Jesu
Christi und Israels verbunden ist.
Ob man die Erfahrung begründeter Hoffnung eine „religiöse“ nennen
will, um sie mit anderen „religiösen“ Erfahrungen zusammenzusehen oder zu
vergleichen, kann insofern offen bleiben, als sich diese Gottes-Erfahrung
nicht dessen vergewissern muss, daß sie alle die Kennzeichen teilt, die „religiösen“ Erfahrungen zukommen. Es ist aber gleichwohl entscheidend, wenn
philosophisch gezeigt werden kann, daß religiöse Erfahrung aufgrund bestimmter Kennzeichen ihrer Artikulation, die auch die christliche teilt, einzig
in der artikulierbaren Erfahrungswelt sinnvoll zur Sprache kommt. Es wird
dann auch möglich, von dieser Gotteserfahrung der begründeten Hoffnung
her auf andere Artikulationen von Erfahrungen oder „religiösen“ Erfahrungen zu blicken, um zu sehen, wie sie sich vergleichsweise anders artikulieren. Die
philosophische Arbeit leistet damit ein gutes Stück Theologie, denn die Theologie kann nicht darauf setzen, daß es zwei Welten oder zwei Sprachen gibt, um
von Gott zu reden.18 Sonst müßte sie davon handeln, auf welche „Welt“ sich
denn der Glaube oder die Hoffnung verlassen soll, statt daß von der Hoffnung
die Rede ist, die in der Welt wirklich geworden ist. Eben dies ist als Erfahrung
in der Geschichte von Jesus enthalten, in der weitergeführt wird, was in den
vorausgehenden Geschichten von Gott artikuliert ist. Die Aufgabe für die Theologie wird deshalb – im 1. Petrusbrief (1 Petr 3,15) – so formuliert:
Seid allezeit bereit vor jedermann Rechenschaft zu geben, der von euch eine sinnvolle
Artikulation (lo,gon) fordert von der die Hoffnung, die bei euch wirklich geworden ist.
Daß bei dieser Aufgabe eine Philosophie wie die von Hans Schneider entscheidend hilft, nicht in fragwürdige Apologetik zu verfallen, ist die Bestäti_____________
18
Siehe dazu den grundlegenden Beitrag von George A. Lindbeck: Christliche Lehre als
Grammatik des Glaubens Religion und Theologie im postliberalen Zeitalter, Gütersloh 1994.
362
Hans G. Ulrich
gung einer befreiende Erfahrung, die in dieser Philosophie zur Sprache
kommt.
‚Many Forms of Nonpublic Reason’?
Religious Diversity in Liberal Democracies
Herta Nagl-Docekal
Current conceptions of the liberal, democratic state commonly refer to the
‘fact of pluralism,’1 claiming that today in practically every country people
hold very different views on the fundamental issues of the human existence.
According to John Rawls, these views are, generally speaking, based upon
“comprehensive doctrines, religious, philosophical, and moral”2. The core
concern in addressing this diversity is its potential for conflict: the continuous
encounter of individuals (or groups of people) maintaining different approaches to fundamental issues, and leading their lives in accordance with
their convictions, has often resulted in tensions. As regards conflicts related
to religious diversity, one familiar tool of prevention is the separation of
religion and state. In fact, this concept of separation may be considered the
very basis of the modern state. According to the liberal understanding, a central task of the democratic state is to provide a public sphere in which all
citizens – regardless of their differences in faith or other basic convictions –
share one secular language that allows them to discuss and determine “questions of fundamental political justice”3 by means of reasonable arguments4.
_____________
1
2
3
4
See, for instance, John Rawls: The Idea of Public Reason Revisited (1997), in: John Rawls:
Collected Papers, Samuel Freeman (ed.), Cambridge, Mass.-London 1999, p. 573; Jürgen
Habermas: Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze, Frankfurt a. M.
2005, p. 143. For an introductory assessment of Rawls’s thesis see: Wilfried Hinsch:
Das Faktum der Pluralität, in his: Einleitung, John Rawls: Die Idee des politischen Liberalismus, Frankfurt a. M. 1992, p. 22-28.
Rawls: Public Reason Revisited, op. cit., p. 573.
Ibid., p. 575. According to Rawls, these questions “are of two kinds, constitutional
essentials and matters of basic justice,” such as “basic economic and social justice and
other things not covered by a constitution” (ibid.).
Habermas points out: “Das Selbstverständnis des demokratischen Verfassungsstaats“
beruht auf einer Denkweise, “die sich allein auf öffentliche, ihrem Anspruch nach allen Personen gleichermaßen zugängliche Argumente beruft“ (Habermas: Zwischen Naturalismus und Religion, op. cit., p. 125). In his view, the basic idea is this: “Die Bürger
sollen ... in Streitfragen eine rationale Verständigung suchen - sie schulden einander
gute Argumente“ (ibid., p. 126).
Herta Nagl-Docekal
364
Specifying this approach, Rawls introduces the conception of ‘public reason’.
His definition of this notion focuses on a mode of reasoning that is based
upon the principles of ‘liberty’ and ‘equality’5 – to which every citizen does
consent under the condition of the “veil of ignorance”6. Other key elements
of the modern state, such as the principles of ‘liberty of conscience’ and ‘liberty of religion,’ are conceived as being grounded in this shared sphere of
‘public reason’7.
Investigating how these basic ideas have been further elaborated in the
recent debate, this paper focuses on the ways in which ‘religion’ has been
portrayed. I shall argue that to describe religious language as being “opaque”8
or based upon a specific logic that makes mutual understanding among the
different religious confessions impossible, seems unwarranted and does entail
a danger: Such an approach may – albeit unintentionally – support views
maintaining the unavoidability of ‘clashes’. In more general terms, my point is
that the liberal concept is in need of further differentiation with regard to
religion. In the given context, however, I cannot do more than propose a line
of reasoning which would, of course, require to be spelled out in detail. One
element of my reflections will be the thesis that a re-reading of Kant’s and
Hegel’s philosophies of religion might prove fruitful for the current debate.
1. Three spheres of reason
Discussing the separation of – and possible relations between - religion and
the liberal democratic state, both Rawls and Habermas operate with a distinction of three spheres of interpersonal communication: First, the sphere of
deliberation among elected members of decision making bodies, judges, and
all the other participants in what Rawls terms the “public political forum”9.
_____________
5
6
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8
9
Rawls provides a differentiated elaboration of his conception of ‘public reason’ in:
Lecture VI. The Idea of Public Reason, in: John Rawls: Political Liberalism, New York 1993,
p. 212-254, and in part 1. The Idea of Public Reason, in: Public Reason Revisited, op. cit., p.
574-581. An in-depth reading of the various definitions of ’public reason’ we find in
Rawls is provided in: Samuel Freeman: Rawls, London-New York 2007, p. 381-415,
and: Charles Larmore: Public Reason, in: Samuel Freeman (ed.): The Cambridge Companion to Rawls, Cambridge 2003, chapter 10.
For an explanation of this term see: John Rawls: A Theory of Justice, Cambridge, Mass.
1971, p. 136-142.
Habermas: Zwischen Naturalismus und Religion, op. cit., p. 125.
Ibid., p. 150.
For a precise listing of the groups of people who belong to this “forum” – and are
strictly required to follow its rules of argumentation - see: Rawls: Public Reason Revisited,
op. cit., p. 575. Rawls clearly distinguishes his notion of “the public political forum”
Religious Diversity in Liberal Democracies
365
Here, any argument put forward, and any reason provided, must be framed in
terms of ‘public reason,’ as defined by Rawls. Secondly, the braoder sphere
of public opinion formation on issues concerning the social order which
Rawls addresses under the heading “the wide view of public political culture,”10 and which Habermas characterizes with the term “informeller
Meinungsstreit”11. Ideally, this political discourse is inclusive in two ways, as
no person and no topic must be treated as a priori excluded. Accordingly, this
sphere needs to be open to different modes of expression12. (The controversy
between Habermas and Rawls on whether political statements formulated in
religious language must be treated in terms of “the proviso” cannot be taken
up here13.) Thirdly, the sphere of communication among the members of
religious communities; this sphere is considered a part of the more comprehensive “background culture”14. The language of any religious community is
described as being shaped in a specific way by references to what may be
called ‘prophetic wisdom,’ ‘revelation,’ ‘holy scriptures,’ etc. Addressing this
plurality of special languages, Rawls first states that the term ‘private language’
would be inadequate here and that, from the perspective of the community
members, their discourse is ‘public’15. His main concern, however, is that
religious doctrines are based upon reasons that have relevance for believers
only. Therefore he subsumes the diversity of religions under the category of
“many forms of nonpublic reason”16. For Rawls, religious teachings are
shaped by their respective logics to such an extent that there exist “deep and
unresolvable differences”17 among the diverse creeds. He emphasizes that
“on such doctrines reasoned and uncoerced agreement is not to be ex_____________
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17
from wider concepts of public political debate that are used frequently, such as “the
public square” (ibid.).
Rawls: Public Reason Revisited, op. cit., p. 591-594.
Habermas: Zwischen Naturalismus und Religion, op. cit., p. 11.
According to Habermas, “kann der liberale Staat nicht [...] von allen Gläubigen erwarten, dass sie ihre politischen Stellungnahmen auch unabhängig von ihren religiösen
[...] Überzeugungen begründen sollen“. (Habermas: Zwischen Naturalismus und Religion,
op. cit., p. 133.)
Rawls maintains that contributions based upon religious teachings “may be introduced in public political discussion at any time, provided that in due course proper
political reasons … are presented” (Rawls: Public Reason Revisited, op. cit., p. 591); for
a critical comment see Habermas: Zwischen Naturalismus und Religion, op. cit., p. 135137.
Rawls: Public Reason Revisited, op. cit., p. 576; see also: Rawls: Political Liberalism, op. cit.,
p. 14.
Rawls: Political Liberalism, op. cit., p. 321.
Rawls: Public Reason Revisited, op. cit., p. 576.
John Rawls: Kantian Constructivism in Moral Theory (1980), in: Rawls: Collected Papers, op.
cit., (p. 303-358), p. 329.
Herta Nagl-Docekal
366
pected,”18 and that their adherents cannot even come near a mutual understanding. Habermas goes even further in stressing the peculiarity of religious
language, as he characterizes it as ‘opaque’ and representing ‘the intransparent other of reason’19.
Current research focuses on the second of the three spheres just listed –
more precisely, on the contributions to public political discourse made by
religious individuals or representatives of churches or other religious communities. The core concern is that such contributions tend to make direct or inexplicit references to basic convictions of faith which are not shared by every
citizen, and that, consequently, the general debate on political issues is marked
by the intersection of ‘nonpublic reason’ and ‘public reason’. The leading
research interest is in how to prevent or overcome conflicts that are likely to
emerge, or have emerged, at this intersection. It is important to note that
there are significant differences in the ways in which Habermas and Rawls
specify this general problem. While Rawls suggests the possibility of (partial)
agreement among different religious doctrines with regard to the basic values
of the liberal state, Habermas frames the issue primarily in terms of the encounter of religious and non-religious citizens. Yet, with regard to both approaches problems arise concerning the way religion is portrayed. Let us first
turn to Habermas’s most recent reflections on these matters.
2. An encounter of two groups of citizens (Jürgen Habermas)
For Habermas, modernity is based upon the ‘secular’ conception of reality
which has been introduced, in the history of philosophy, by the turn towards
a ‘post-metaphysical’20 mode of thinking. In consequence of this turn, he
notes, most people in modern societies have come to perceive their existence,
as well as the world in general, in terms of this secular approach. (Concerning
the term ‘secular,’ two terminological aspects need to be considered: First, as
Rawls underlines, the term ‘secular reason’ must not be confounded with
‘public reason’; it rather has a broad, less precise meaning21. Secondly,
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Ibid.
Habermas uses the expression “das intransparente Andere der Vernunft“ for instance
in: Zwischen Naturalismus und Religion, op. cit., p. 149.
See: Jürgen Habermas: Nachmetaphysisches Denken, Frankfurt a. M. 1988. Habermas
provides a summary of his view in his essay On the Relations Between the Secular Liberal
State and Religion, in: Hent de Vries / Lawrence E. Suillivan (eds.): Political Theologies.
Public Religions in a Postsecular World, New York 2006, p. 251-260, in particular p. 252.
Discussing Robert Audi’s approach, Rawls points out that the term ‚secular reason’
often is used “in the sense of a nonreligious comprehensive doctrine and in the sense
Religious Diversity in Liberal Democracies
367
Habermas uses the term ‘secular’ in two different ways: in some contexts, he
uses it in the wide sense of ‘non-religious,’ but often he employs it with specific reference to an agnostic or atheistic attitude22. Besides, in a number of
text passages he seems to treat these two meanings as being synonymous. The
following reflection is a case in point.) Habermas notes that one significant
element of the secular attitude marking modernity has been – until fairly recently - to regard religious convictions as characteristically pre-modern, and to
expect them to gradually vanish23. Presently, however, this expectation appears to have been misguided: We need to acknowledge, Habermas notes,
“the continued existence of religion in a continuously secularizing environment,”24 and he suggests to adopt the term ‘post-secular society’ in order to
indicate that today, typically, ‘secular citizens’ live along with ‘religious citizens’25.
From this perspective, Habermas discusses in which way the public political debate – i.e., the second sphere distinguished above – ought to be configured today. Is it legitimate for religious citizens to use their special language
as they participate in the general debate on issues concerning the social order?
Habermas answers this question in a nuanced manner: While religious citizens must be granted to articulate their opinion in their own terms, a task of
‘translation’ (“Übersetzung”26) does arise: To make contributions in religious
language accessible to fellow citizens – “to people of other faiths, as well as to
nonbelievers”27 - their content needs to be transferred into the language of
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of a purely political conception without the content of public reason”. Rawls: Public
Reason Revisited, op. cit., p. 587.
Thus he defines the ‘postmetaphysical’ mode of thinking as being based upon ‘agnostic premises’. Habermas: Zwischen Naturalismus und Religion, op. cit., p. 147.
Habermas writes: “Nach säkularistischer Lesart können wir voraussehen, dass sich
religiöse Anschauungen im Lichte der wissenschaftlichen Kritik auflösen werden und
dass die religiösen Gemeinden dem Druck einer fortschreitenden kulturellen und gesellschaftlichen Modernisierung nicht standhalten können.“ Habermas: Zwischen Naturalismus und Religion, op. cit., p. 145.
Habermas: Relations Between the Secular Liberal State and Religion, op. cit., p. 256.
Ibid., p. 258. It would be challenging, but cannot be pursued here, to compare
Habermas’s bipartite construction of the current condition with Taylor’s suggestion to
distinguish three major players, including “the inner counter-enlightenment” (“immanente Gegenaufklärung”). See: Charles Taylor: Die immanente Gegenaufklärung: Christentum und Moral, in: Ludwig Nagl (ed.): Religion nach der Religionskritik, Vienna- Berlin
2003, p. 60-85.
Jürgen Habermas: Die Grenze zwischen Glauben und Wissen. Zur Wirkungsgeschichte und
aktuellen Bedeutung von Kants Religionsphilosophie, in: Herta Nagl-Docekal / Rudolf Langthaler (eds.): Recht – Geschichte – Religion. Die Bedeutung Kants für die Gegenwart, Berlin
2004 (p. 141-160), p. 150.
Habermas: Relations Between the Secular Liberal State and Religion, op. cit., p. 258.
Herta Nagl-Docekal
368
‘secular citizens’28 – a process Habermas describes as “the secularising release
of religiously encapsulated potentials of meaning”29. It is important to note
that he expects the secular language to be capable of mediating by crossing
two types of barriers - the barrier separating different religions as well as that
between a religious and an agnostic conviction. Concerning the second
boundary, Habermas contends that, regardless of their specific faith, all religious citizens are in the same situation of entering the secular context with
‘large metaphysical luggage’ (“mit großem metaphysischen Gepäck”30). He
suggests that the ‘translation’ of statements made in their respective language
should be carried out in a shared effort of believers and agnostic citizens31.
The leading perspective is here that, as the results of public opinion formation
eventually merge into the decision-making process of elected bodies, religious
language definitely has to be left behind: In accordance with Rawls, Habermas
maintains that ‘public reason’ proper – which defines sphere 1 – does require
arguments that are exclusively based upon the logic of justification specified
in contract theory32.
Which concept of ‘religion’ does Habermas’s approach imply? Taking a
closer look, we detect a number of problems. To begin with, it is important to
note that Habermas views the secular language of modernity as being tantamount to ‘natural reason’ (“‘natürliche’ Vernunft”) and ‘common human
reason’ (“gemeinsame Menschenvernunft”33). It is on the basis of this under_____________
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Habermas uses the term “säkulare Bürger”, for example, in: Zwischen Naturalismus und
Religion, op. cit., p. 138 f.
Habermas: Relations Between the Secular Liberal State and Religion, op. cit., p. 258. For
critical assessments of this concept of ‘translation’ see the thirteen essays - based upon
a variety of different approaches in contemporary philosophy and theology – in: Rudolf Langthaler / Herta Nagl-Docekal (eds.): Glauben und Wissen. Ein Symposium mit
Jürgen Habermas, op. cit.. Hans-Julius Schneider was a participant of this symposium.
See his essay: ‚Wertstofftrennung‘? Zu den sprachphilosophischen Voraussetzungen des Religionsverständnisses von Jürgen Habermas, ibid., p. 155-185. See also: Jürgen Habermas’s reply to
these comments: Replik auf Einwände, Reaktion auf Anregungen, ibid., p. 366-414.
Habermas: Zwischen Naturalismus und Religion, op. cit., p. 270.
Habermas notes: “Liberal political culture may even expect its secularized citizens to
participate in efforts to translate relevant contributions from a religious language into
a publicly accessible one”. (Habermas: Relations between the Secular Liberal State and Religion, op. cit., p. 260.) In more general terms, Habermas insists that the difference of the
two types of language does not legitimate a hostile attitude between believers and agnostics. He emphasizes: “Aber es macht einen Unterschied, ob man miteinander
spricht oder nur übereinander” (Jürgen Habermas: Ein Bewußtsein von dem, was fehlt, in:
Michael Reder / Josef Schmidt (eds.): Ein Bewusstsein von dem, was fehlt. Eine Diskussion
mit Jürgen Habermas, Frankfurt a. M. 2008, p. 26-36.
See, for instance, Habermas: Zwischen Naturalismus und Religion, op. cit., p. 11 and p.
137.
Ibid., p. 125.
Religious Diversity in Liberal Democracies
369
standing that religion appears as ‘the in-transparent other of reason’: Where
common reason is identified with secularism, religion presents itself as ‘abysmally obscure’ (“abgründig fremd”34). For Habermas, faith is grounded in ‘the
dogmatic authority of an unimpeachable core of infallible truths of revelation,’35 and therefore the ‘existential certainties’ of religious convictions are
marked by ‘discursive ex-territoriality’36. This view, I think, does not sufficiently acknowledge the hermeneutic character of religion. Significantly, Habermas’s theory is contradictory in this respect, since the suggestion to translate
religious conceptions into secular language does – albeit implicitly – presuppose that religious language is not altogether obscure. The faithful, at least,
are assumed here to understand clearly what they believe. There is plenty of
evidence for this way of seeing them – religious instruction, for example:
Obviously, it would be impossible to introduce young generations to religious
teachings unless this could be done in a language they understand. From this
perspective, Habermas’s way of identifying ‘common human reason’ with
secularism lacks plausibility. Rather, our ordinary language appears to be more
comprehensive than the secular understanding of reality. (I shall take up this
issue again.) Besides, the question arises here whether, given his thesis of
religion’s ‘discursive ex-territoriality,’ it seems to Habermas at all possible for
a ‘secular citizen’ to convert to any form of religious faith. Can he account for
the conversions of intellectuals that have actually happened in our time only
by imputing a sacrificium intellectus?
As Habermas seeks to corroborate his approach by referring to ‘infallible
truths of revelation,’ we need to explore the meaning of the term ‘revelation’.
Immanuel Kant provides a lucid interpretation: We can acknowledge a certain
doctrine, he argues, as having been revealed only under the condition that our
own reason does confirm it. Otherwise, it would be impossible for us to consider that doctrine as true37. “The final touchstone of truth is always reason,”38 Kant argues. Similarly, Hegel contends that in order to accept a given
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38
Ibid., p. 137.
Habermas notes: “Aber religiös verwurzelte existentielle Überzeugungen entziehen
sich durch ihren ... Bezug auf die dogmatische Autorität eines unantastbaren Kerns
von infalliblen Offenbarungswahrheiten einer vorbehaltlosen diskursiven Erörterung“ (ibid., p. 135).
According to Habermas, “diskursive Exterritorialität eines Kerns von existentiellen
Gewissheiten“ is a significant element in “religiösen Überzeugungen“ (ibid., p. 135).
Kant argues: “... weil wir niemanden verstehen, als den, der durch unseren eigenen
Verstand und unsere eigene Vernunft mit uns redet.“ Immanuel Kant: Der Streit der
Fakultäten, in: Immanuel Kant: Werke in sechs Bänden, ed. Wilhelm Weischedel, VI (p.
261-393), p. 315.
Immanuel Kant: What does it mean to orient oneself in thinking?, in: Immanuel Kant: Religion within the Boundaries of Mere Reason and Other Writings, ed. Allen Wood and George di
Giovanni, Cambridge, UK- New York 1998, (p. 1-14), p. 9.
370
Herta Nagl-Docekal
teaching as ‘the truth,’ it needs to be verified through our own thinking39. For
Kant, it is specifically our ‘pure moral reason’ that is capable of incorporating
into our personal conviction conceptions which are perceived as being based
on ‘revelation’40. But - one might wish to argue - does not religion describe
itself as obscure, for instance, in characterizing its very core as a ‘mystery’?
The Christian concept of the ‘Holy Trinity’ might be seen as a case in point.
We need to consider, however, that some kind of explanatory narrative, or
metaphoric imagery, must be attached to a mystery to prevent it from being
devoid of any meaning. To be sure, such narratives do not dissolve the mode
of mysteriousness; but we have to take into account that religious mysteries
are ‘determinate mysteries’41. Kant explains – along his general line of reasoning - that, in order to make sense for us, religious mysteries must correspond
with our moral reason42.
Furthermore, we need to consider that religious truths – as they are expressed in narrative language - are tied to history. From this perspective,
Habermas’s way of referring to ‘dogmatic authority’ seems over-simplified.
What hermeneutic research on ‘tradition’ has found in general does also apply
to religious traditions: They can only persist through centuries if the believers
manage – over and over again - to re-interpret the core convictions of their
faith in a way that renders them accessible, and convincing, in view of their
respective contemporary condition. As Kant emphasizes, the belief in a certain traditional expression is dead in itself (“der Glaube an einen bestimmten
Geschichtssatz ist tot an ihm selber“43). In this context, Kant introduces the
notion of ‚hermeneutica sacra,’ i.e., the ‘art of biblical interpretation’44. Even
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Hegel claims that there exists “die unendliche Forderung, dass der Inhalt der Religion
sich auch dem Denken bewähre ... dies Bedürfnis ist nicht abzuwenden.“, in: Georg
Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Religion II, G.W.F. Hegel:
Werke, Frankfurt a. M. 1971 ff., Bd. 17, p. 333. Maeve Cooke, rejecting Habermas’s
way of separating religious and secular truth, suggests to re-consider that for Hegel
there is only one ‚truth’. Maeve Cooke: Keine Wahrheit außer Wahrheit. Religion und Staat
in Hegels Rechtsphilosophie im Lichte der gegenwärtigen Diskussion, in: Herta Nagl-Docekal /
Wolfgang Kaltenbacher / Ludwig Nagl (eds.): Viele Religionen – eine Vernunft? Ein Disput zu Hegel, Vienna – Berlin 2008, p. 176-192.
Kant contends that “die Göttlichkeit einer an uns ergangenen Lehre also durch nichts
als durch Begriffe unserer Vernunft, sofern sie rein-moralisch und hiermit untrüglich
sind, erkannt werden kann.“ (Kant: Streit der Fakultäten, op. cit., p. 315).
Gehrke points out that the term ‘Geheimnis’ has been used in various ways. He distinguishes “das bestimmte Geheimnis” from two other definitions of this term. Helmut Gehrke: Theologie im Gesamtraum des Wirklichen, Vienna-Munich 1981, p. 230-236.
Immanuel Kant: Religion within the Boundaries of Mere Reason, in: Kant: Religion within the
Boundaries of Mere Reason And Other Writings, op. cit., p. 140. For Kant’s interpretation –
by means of moral philosophy – of “the Holy Trinity” see: ibid., p. 141-144.
Kant: Streit der Fakultäten, op. cit., p. 337.
Ibid., 336 and 302.
Religious Diversity in Liberal Democracies
371
‘original texts’ – like so-called ‘holy scriptures’ – are marked by this hermeneutic character as they usually involve a double temporality: someone reports, and explains, to his fellow humans what has earlier happened, or been
conveyed to him or her45. Similarly, dogmatic sentences claiming to establish
certain teachings in a trans-historical manner can, in fact, never fully achieve
this goal, as they also call for interpretation – and have, indeed, often found a
variety of readings. - In short, the thesis stating the ‘discursive ex-territoriality’
of religion seems to lack validity.
3. Ordinary versus “secular” language
For Kant and Hegel ‘common human reason’ is not identical with the ‘secular’ mode of thinking. This view also informs Hegel’s reflections on the roots
of ‘our time,’ as he points out that secularism has not been the only feature of
the emerging modernity. Martin Luther, he argues, has made it clear - for
Christianity - that traditional religious conceptions are in need of, and open
to, being re-appropriated by means of our reason46. Yet this option of a reasonable re-reading has, Hegel further shows, been marginalized: In view of
modern science, a naturalistic ideology has evolved which does not leave
room for any ‘knowledge of God’47. Rather, this empiricist approach has
resulted in a sweeping rejection of religion as ‘superstition’48. - From this
angle, we detect a tension in Habermas: While he has been an articulate critic
of the empiricist reductionism himself (as, for instance, in his recent book
Zwischen Naturalismus und Religion), his ‘secular’ perspective on religion seems
to be based on just that approach. In Hegelian terms, Habermas’s portrayal of
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Kant points out that, for instance, the Apostles had to choose a method of teaching
(“Lehrmethode”) which was “kat’ anthropon”, i.e., appropriate to the mode of thinking of their time (Streit der Fakultäten, op. cit., p. 302). For a lucid explanation of ‚the
dialectis of interpretation’ see Wilhelm Lütterfelds: Zur Dialektik von schriftlichem Original und verstehender Auslegung, in: Klaus Dethloff / Rudolf Langthaler / Herta NaglDocekal / Friedrich Wolfram (eds.): Orte der Religion im philosophischen Diskurs der Gegenwart, Berlin 2004, p. 29-42.
Hegel explains his view of Martin Luther - with specific reference to the ‘sola fide’
principle - in: Religion II, op. cit., p. 327-333.
Hegel observes that – as a result of the empiricist attitude – god “ist ein Jenseits für
das Erkennen”, in: Hegel: Religion II, op. cit., p. 334. With regard to “our time” he notes: “Jetzt ist das Höchste, nichts von Gott zu wissen.” (G.W.F. Hegel: Vorlesungen
über die Philosophie der Religion I, in: Werke, op. cit., Bd. 16, p. 335)
See the chapter “The struggle of enlightenment with superstition” in: G.W.F. Hegel:
The Phenomenology of Mind, translated by J.B. Baille, New York 1967, p. 561-589.
Herta Nagl-Docekal
372
religion as ‘obscure’ is informed by the ‘rationalist enlightenment’ (“verständige Aufklärung”49).
This dilemma can be avoided, I think, by taking a closer look at ordinary
language. Using our common mode of expression, we are capable of articulating experiences which transcend the empirically given. A case in point is the
sphere of aesthetics. As Michael Theunissen maintains, our aesthetic experiences show that we are able to simultaneously exist, while remaining within
the world, also beyond the world. Referring to Goethe, he emphasizes that we
are able to accomplish this kind of duality ‘in our ordinary real life’50. Kant
explores this human capacity primarily with regard to morality. As he notes,
the moral principle is to be understood as “an obscurely thought metaphysics
that is inherent in every man because of his rational disposition”51. Taking up
this view, Otfried Höffe rejects Rawls’s as well as Habermas’s program of a
“post-metaphysical philosophy,” arguing that our morality per se has a metaphysical character52. In the present context two elements of our capacity to
transcend the empirical sphere, as analysed by Kant, are of particular relevance: Firstly, as moral subjects we rely upon the assumption that human
beings are free to act according to the moral law, although no empirical proof
_____________
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51
52
Hegel: Religion II, op. cit., p. 338. Further evidence of this problem lies in the fact that
Habermas emphasizes his agreement with Detel’s suggestion to reduce the possible
plausibility of religion to cultural practices coping with human suffering. Habermas
(Zwischen Naturalismus und Religion, op. cit., p. 152) refers here to Detel’s reflection:
“Ob es einen göttlichen Geist ohne physische Grundlage geben kann, der Sprachen
(Gebete) verstehen und als Richter fungieren kann, sind Vorstellungen, die heute einfach nicht mehr Sache des Glaubens, sondern des Wissens sind ... Die Antwort auf
diese Fragen ist eindeutig negativ .... Das bedeutet keineswegs, dass z.B. Rituale zur
Bewältigung der Todesangst, die heute in verschiedenen Kirchen gepflegt werden, an
Bedeutung verlieren.“, in: Wolfgang Detel: Forschungen über Hirn und Geist, in: Deutsche
Zeitschrift für Philosophie 52 (2004), p. 918.
Michael Theunissen: Religiöse Philosophie, in: Klaus Dethloff / Rudolf Langthaler /
Herta Nagl-Docekal / Friedrich Wolfram (eds.): Orte der Religion im philosophischen Diskurs der Gegenwart Orte der Religion in der Philosophie der Gegenwart, op. cit., (p. 101-120), p.
106. Theunissen refers here to Goethe’s comment on Johann Christian Guenther:
“... er besaß alles, was dazu gehört, im Leben ein zweites Leben durch Poesie hervorzubringen, und zwar in dem gemeinen wirklichen Leben.“ Johann Wolfgang von
Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit (1811-13), in: Goethes sämtliche Werke,
Stuttgart 1893-96, 20, p. 289.
Immanuel Kant: The Metaphysics of Morals, translated by Mary Gregor, Cambridge, UKNew York 1991, p. 182.
Höffe notes: “Metaphysisch ist nicht die Philosophie der Moral, sondern die Moral
selbst.“, in: Otfried Höffe: Kategorische Rechtsprinzipien. Ein Kontrapunkt der Moderne,
Frankfurt a. M. 1995, p. 9.) Discussing Rawls, Jean Hampton reaches a similar conclusion, in: Jean Hampton: Should political philosophy be done without metaphysics?, in:
Chandran Kukathas (ed.): John Rawls. Critical assessments of leading political philosophers,
London-New York 2003, vol. IV 432-455.
Religious Diversity in Liberal Democracies
373
for human freedom can be provided. Secondly, as we are confronted with the
un-surmountable finiteness of our existence – which we experience in our
inability to reconcile our moral efforts with our longing for happiness – our
(pure moral) reason firmly assumes that, against all odds, our moral struggle
will, in the end, make sense and we will find happiness. Otherwise, Kant argues, to be a finite moral subject would mean to be captivated in a contradictory, absurd position. In this context, as is well known, Kant elaborates his
conception of the “postulates of pure practical reason,”53 claiming that any
given religion is rooted in these postulates. One achievement of this theory is
to provide us with an explanation for the fact that any culture examined by
historical and anthropological research has been shaped by some form of
religious cult.
As he explains how religion is grounded in practical reason, Kant maintains that the core elements of religious faith are embedded in every human
being, including those who regard themselves as ‘agnostics’ or ‘atheists’54.
From this perspective, the barrier Habermas assumes to exist between religious and non-religious citizens may turn out to be less strict than he supposes it to be. As it seems, those who do not see themselves as believers do,
nevertheless, have a basic understanding of what religion is all about55. However, to follow Kant’s conception of the postulates in this manner does not
imply that there be no difference between religious and non-religious languages - which, as Habermas correctly points out, do encounter each other in
the sphere of public political debate. Rather, what I am suggesting is to assess
this difference in an other manner – which will be explained shortly.
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53
54
55
Immanuel Kant: Critique of Practical Reason, translated by Lewis White Beck, Indianapolis 1956, p. 114-146 (Book II, Chapter II). A lucid explanation of Kant’s concept of
the postulates is provided in: Peter Byrne: Kant on God, Aldershot, UK-Burlington, VT
2007, p. 84-93.
Kant explains that, while we may decide to be atheists in terms of theoretical “speculation,” cherishing such an attitude in “praxi” would prove impossible. Immanuel
Kant: Vorlesung zur Moralphilosophie, ed. Werner Stark, Berlin 2004, p. 125.
Strikingly, Habermas at one point notes that nonbelievers, in listening to what believers have to say, may recognize some of their own, sometimes buried intuitions (“[sie
können] eigene, manchmal verschüttete Intuitionen wiedererkennen”. Habermas:
Zwischen Naturalismus und Religion, op. cit., p. 137). But he fails to examine how these
shared intuitions may be accounted for.
Herta Nagl-Docekal
374
4. A philosophical perspective on the diversity of religions
Kant’s conception of the postulates also sheds doubts on the common thesis
that there exist ‘unresovable differences’ among the various given religious
doctrines. Kant suggests to view the plurality of confessions – that have each
emerged from specific cultural and historical conditions – as different articulations of one and the same core conviction rooted in human reason56. Hegel
reaches, albeit from a different systematic background, a similar conclusion.
Based upon his conception of ‘spirit,’ he explains the diversity of religions in
terms of his philosophy of world history, maintaining that all religions are
intertwined as each has participated in mankind’s continued search for, and
elaboration of, final truth57. As is well known, Hegel, in this context, presents
the diversity of world religions in a hierarchical order which, today, certainly
must be called into question. However, this problem notwithstanding, we find
in Hegel as well as in Kant the well-founded thesis that the given religious
teachings allow for an interpretation that brings to light their shared concern
– which is not only a matter of doctrine but also of existential, i.e., of moral
consequence. Furthermore, we may learn from both authors that modern
conditions make it a pressing task for believers to engage in such rereadings58. As Kant and Hegel teach us, the enlightenment – which has
shaped the modern conditions prevailing in most parts of the globe today has brought about an irreversible turn, confronting everyone with the task to
use their ‘own understanding’ in the different spheres of life, including that of
religion.59
In view of what has been said above on the hermeneutic character of religion, we may apply to any religious tradition existing today what Hegel describes as Luther’s call for a ‘thinking appropriation’ of the content of faith.
Of course, Kant and Hegel draw a clear dividing line between religious doctrines, as such, and institutions like churches. Both authors address the problem that new readings of ‘canonical’ texts typically are - at first - met with
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59
Kant maintains that, “long before” popular faith in its diversity has originated, “the
predisposition to moral religion lay hidden in human reason”. Immanuel Kant: Religion
within the Boundaries, op. cit., p. 119.
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Religion II, op. cit.
See: Herta Nagl-Docekal: Eine ‘entgleisende Modernisierung’. Aufklärung und Religion bei
Habermas und Hegel, in: Herta Nagl-Docekal / Wolfgang Kaltenbacher / Ludwig Nagl
(eds.): Viele Religionen – eine Vernunft?, op. cit., p. 155-176.
This task is explained most poignantly in: Immanuel Kant: An Answer to the Question:
What is Enlightenment?” (1784), in: Immanuel Kant: Perpetual Peace and Other Essays on
Politics, History and Morals, translated by Ted Humphrey, Indianapolis 1983, p. 41-48.
Religious Diversity in Liberal Democracies
375
fierce resistance from representatives of encrusted institutions60. Yet, we also
need to consider that this form of resistance has, in the long run, not prevented any religious tradition from renewing itself. Today we may witness
such innovative readings being suggested within various religious communities, for instance, as the ‘holy scriptures’ of different confessions are being reinterpreted with regard to their approach to gender relations.
5. John Rawls’s conception of religious citizens
John Rawls describes the political discourse of the general public (i.e. the
second sphere distinguished above) in a way that differs significantly from
Habermas’s assessment. In his view, non-religious persons as well as citizens
of faith typically are oriented on ‘comprehensive doctrines’. Commenting on
Habermas, he emphasizes that everyone carries ‘large luggage’ into the public
discourse. Thus, for Rawls, the issue is not the encounter of two groups of
citizens (religious versus ‘secular’ citizens); rather, he focuses on the individuals facing different claims. Is it possible, he asks, “for citizens of faith to be
wholehearted members of a democratic society”61 without having to struggle
with an inner conflict? Rawls approaches this question in the following manner: While insisting that arguments concerning questions of fundamental
political justice must be formulated in terms of ‘public reason,’ he states that
this demand is not (necessarily) at odds with claims of faith. Religious people
may, as their political statements refer to the principles of ‘liberty’ and ‘equality,’ regard these principles, at the same time, as God-given commandments62.
Rawls describes this possible congruence primarily with reference to JewishChristian conceptions but, in fact, includes other religions as well63 and suggests that, generally speaking, the manifold religious doctrines do agree on
these two principles of justice. As is well known, he expresses the hope that
there exists an “overlapping consensus”64 among teachings that otherwise
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See, for instance, Hegel’s description of how churches tend to consider modern
philosophy as their enemy: Hegel: Religion II, op. cit., p. 340; and Kant’s critical remarks on the “spiritual power” which can prohibit “even to think otherwise than it
prescribes” (Kant: Religion within the Boundaries, op. cit., p. 136.). The way Kant presents
this tension in The Conflict of the Faculties is analysed in: Reinhardt Brandt: Universität
zwischen Selbst- und Fremdbestimmung. Kants ‘Streit der Fakultäten’, Berlin 2003, p. 109-118.
Rawls: Public Reason Revisited, op. cit., p. 588.
Ibid., p. 590.
In a footnote (ibid., p. 590), Rawls refers to Abdullahi Ahmed An.Na’im: Toward an
Islamic Reformation: Civil Liberties, Human Rights, and International Law (Syracuse 1990) as
a case in point.
For a definition of this term see: John Rawls: Justice as Fairness: Political not Metaphysical,
in: Rawls: Collected Papers, op. cit., (p. 388-414), p. 390.
Herta Nagl-Docekal
376
may be incongruous with one another. Significantly, Rawls stresses that this
consensus must not be understood as a compromise (for which all parties
involved have abandoned some elements of their conviction), but rather as
being based upon shared convictions65.
Unfortunately, we do not find in Rawls a consistent theoretical basis for
these views. First of all we are confronted with a contradiction: As mentioned
before, Rawls characterizes religion as being shaped by a specific mode of
reason, suggesting that, consequently, different religious convictions are
bound to be incapable of mutual understanding. This point of view is, I think,
hardly compatible with the assumption of an ‘overlapping consensus’. But let
us set aside this contradiction for a moment. We still face an open question:
How could the assumed overlapping be accounted for? It seems unlikely that
the consensus may be attributed to sheer chance – specifically, since Rawls
maintains that the diverse religions do not vary in their overlapping with others, but do all agree on one and the same conception of ‘liberty and equality’.
Obviously, Rawls draws upon an understanding of religion which implies that
different doctrines share basic convictions. He fails, however, to explicitly
spell out this conception.
At this point, I think, the relevance for the current debate of Kant’s and
Hegel’s reflections on religion becomes fully evident. Both authors explain
why the diverse religious traditions do agree on basic moral conceptions.
Also, as has been shown above, they both highlight the compatibility of religious doctrine with the modern state. It is important to note, however, that
the focus here is on the idea of the modern state, and not on how to reconcile
religious traditions with the states as they have been shaped in ‘our time’.
Quite to the contrary, both Kant and Hegel expect the ‘thinking appropriation’ of religious doctrines which they are pleading for to open up a critical
perspective on current conditions. For instance, with regard to the fact addressed by Hegel as well as by Habermas that a reductivist naturalistic view
does, to a large extent, shape contemporary ways of life, the conception of
human dignity which is anchored in religion does provide a viable basis for an
alternative approach to the pressing issues of our lives. In more general terms,
I think that the way in which Kant constructs the encounter between the
‘ethical commonwealth’ and the given states66 would deserve to be reexamined with great care today. In this context, it would also be important to
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65
66
“Each comprehensive doctrine,” he explains, “from within its own point of view, is
led to accept the public reasons of justice specified by justice as fairness”. (Rawls: Justice as Fairness, op. cit., p. 411)
Kant: Religion within the Boundaries, op. cit., p. 106-110. For a brief exposé of this issue
see: Herta Nagl-Docekal: Eine rettende Übersetzung? Jürgen Habermas interpretiert Kants Religionsphilosophie, in: Rudolf Langthaler / Herta Nagl-Docekal (eds.): Glauben und Wissen,
op. cit., p. 93-119.
Religious Diversity in Liberal Democracies
377
critically discuss Rawls’s reading of Kant’s conception of the ‘highest good,’67
as he tends to interpret this conception predominantly in terms of a political
perspective on the future.68
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68
John Rawls: Lectures on the History of Moral Philosophy, Cambridge, Mass.- London 2000,
chapter X Kant.
An earlier version of this paper was read at the XXII. World Congress of Philosophy,
Seoul 2008, and was published in the proceedings: Hans Lenk (ed.): Comparative and Intercultural Studies. Proceedings of the IIP Conference (Entretiens) Seoul 2008, Berlin 2009, p.
79-92.
Eine pragmatische Definition der Religion
Harald Wohlrapp
Einleitung
Religion hat gleichsam eine praktische und eine theoretische Seite. Auf der
praktischen haben wir die jeweiligen Kulthandlungen, Beten, Feiern, Opfern,
auf der theoretischen die Texte über das Heilige, die Götter, Gott. Wird allgemein gefragt, was Religion ist, dann setzt das Nachdenken gewöhnlich an
der theoretischen Seite an: Dort haben wir mit Aussagen zu tun, die den sog.
gesunden Menschenverstand überschreiten und deshalb einen „Glauben“
erfordern sollen. Eine (begriffliche oder philosophische) Bestimmung der
Religion besteht dann oft darin, das Spezifische eines solchen Glaubens zu
erfassen, etwa indem er ins Verhältnis zur alltäglichen Erfahrung, zum wissenschaftlichen Wissen und zur philosophischen Überlegung gesetzt wird.
Werden jedoch die Inhalte des religiösen Glaubens in näheren Augenschein genommen, dann zeigt sich sogleich, dass „die Religion“ in verschiedenen Gestalten auftritt. Die Verschiedenheiten sind groß, so groß, dass es
fraglich ist, ob sich überhaupt ein einheitlicher Begriff von Religion bilden
lässt. Die Schwierigkeit ist ja nicht einfach die einer Abstraktion auf einen
Oberbegriff, wie wenn man etwa zu klären hätte, in welchem Sinne der holsteinische Kohl und die japanischen Bambussprossen als „Gemüse“ anzusehen wären, sondern bei den Religionen reklamiert jede einzelne Spezies, dass
sie den Begriff darstellt. Es ist als wenn ein Holsteiner Bauernkind den Weißkohl als „das Gemüse“ ansehen würde und z.B. Bambus und Fenchel nur mit
einiger Skepsis als entfernte Verwandte dieses Gemüses zu akzeptieren bereit
wäre. Verschärft wird das Problem dadurch, dass die verschiedenen Arten
von Religion gar nicht nebeneinander, sondern über- und gegeneinander
stehen, also sich in ihren Geltungsansprüchen nicht etwa ergänzen, sondern
voneinander abgrenzen und widersprechen. Ich werde darauf im Text eingehen, aber erst relativ spät, wo es um den „Interreligiösen Dialog“ geht. Dort
wird auch überlegt, weshalb die Religionen Gefahr laufen, zu dogmatischen
Systemen zu erstarren – und wie dem evtl. abzuhelfen wäre.
Um aber solche Probleme überhaupt richtig anzugehen, dazu müsste
m.E. ganz anders angesetzt werden, nämlich nicht kognitivistisch, sondern
Harald Wohlrapp
380
pragmatisch. Pragmatisches Denken wird gemeinhin als nutzenbezogenes
oder machbarkeitsorientiertes Denken verstanden, doch das ist nur eine
Schwundstufe des philosophischen Pragmatismus, wie er z.B. im Deutschen
Idealismus (Kant, Hegel) vorgeprägt und von Marx, Nietzsche, Peirce,
Dingler und anderen weiterentwickelt worden ist1. Für eine erste Annäherung
mag vielleicht die Charakterisierung als „handlungsbezogenes Denken“ genügen. Wenn nun in dieser Weise die Religion bzw. die Religionen thematisiert
werden, dann bedeutet das aber nicht, dass bei den speziellen Kulten und Riten angesetzt würde. Diese sind sekundär, sie setzen bloß die (kognitiven)
Glaubensinhalte ins Handeln und Fühlen um. Vielmehr bedeutet ein pragmatisches Denken hier, die Religion als einen Bereich in den Blick zu nehmen,
der im allgemeinen menschlichen Handeln, also der Bewältigung des Lebens
in der Welt (auf der Erde) mit einer gewissen Notwendigkeit auftritt bzw. von
Wichtigkeit ist.
Ich möchte vorweg kurz skizzieren, was Sie erwartet. Der Aufsatz hat
drei Teile. Im ersten Teil wird das „Grundvertrauen“ als pragmatische Grundlage des Selbstbewusstseins definiert. Dieses ist die Substanz sowohl des religiösen Glaubens als auch des säkularen Selbstvertrauens, welches die Religion
seit der Aufklärung ersetzt haben soll. Diese Basis ist und bleibt fragil. Deshalb bedarf sie der Stabilisierung und Kultivierung, die heute auf zwei großen
Wegen betrieben wird. Zum einen säkular (Wissenschaften, Vergrößerung der
Handlungskompetenz), zum anderen religiös. In der religiösen Kultivierungsbahn lassen sich zwei Spuren ausmachen. Die eine ist die „Intensivierung“,
das wird traditionell „Mystik“ genannt. Die andere ist die „Institutionalisierung“, ihr Ergebnis sind die verfassten Religionsgemeinschaften
(„Kirchen“). Diese beiden Spuren, ihr Glanz und ihr Elend sind die Gegenstände des zweiten und dritten Teils meines Aufsatzes. Am Ende gibt es als
„Ausblick“ einen kleinen Hinweis unter dem Titel „Distanzierung“ – und der
_____________
1
„Pragmatismus“ ist z. Zt. keine wirklich aussagekräftige Bezeichnung in der Philosophie. Es steht uns noch bevor, eine Denkweise zu entwickeln, die sich nicht äußerlich
und instrumentalistisch, sondern reflexiv auf das menschliche Handeln bezieht – und
zwar auf das Handeln als ganzes, nicht bloß als sprachliches. Was heute in der nordamerikanischen Philosophie „pragmatisch“ heißt (z.B. Davidson, Putnam, Quine,
Rorty), das bleibt meistens noch hinter dem Denken des Protagonisten Peirce zurück,
dessen Pragmatismus selber vieldeutig war und getrübt von ontologischen Vorurteilen. Für Ansätze zu einem umfassenden, wissenschaftlich und philosophisch einschlägigen Pragmatismus vgl. Janich: Kultur und Methode, Frankfurt a. M. 2004, StekelerWeithofer: Wer ist Herr, wer ist Knecht? Der Kampf zwischen Denken und Handeln als Grundform des Selbstbewusstseins, in: Vieweg / Welsch (eds.): Hegels Phänomenologie des Geistes.
Ein kooperativer Kommentar zu einem Schlüsselwrk der Moderne, Frankfurt a. M.
2008, und Wohlrapp: Der Begriff des Arguments. Über die Beziehungen zwischen Wissen, Forschen, Glauben, Subjektivität und Vernunft, 2. Aufl., Würzburg 2009, dort Kap. 1.1. bis
1.3.
Eine pragmatische Definition der Religion
381
enthält die eigentliche, bzw. m.E. unbedingt vertretbare Aussage zu dem, was
das Wesen der Religion ausmacht.
Teil 1: Grundvertrauen als pragmatische Basis
des Selbstbewusstseins
Die These des ersten Teils besagt, dass sich, was Religion ist, bestimmen lässt,
wenn über die Grundlagen der Subjektivität nachgedacht wird, genauer: wenn
geklärt wird, wie das Selbstbewusstsein bzw. das „Selbstverhältnis“ zustande
kommt und wie es stabilisiert werden kann.
1.1. Drei Stufen des Gelingens im Handeln: Zweck, Wert, Sinn
Wie gesagt soll die Bestimmung der Religion beim Handeln im Sinne der
allgemeinen Weltbewältigung ansetzen. Ohne mich nun in die weitläufigen
Diskussionen über den Handlungsbegriff zu werfen, möchte ich darauf hinweisen, dass „Handeln“ zur Grundbedingung des Menschen gehört2. Handeln
unterscheidet sich von bloßem Verhalten dadurch, dass es eine Ausrichtung
aufs Gelingen hat. Wenn wir also (in dieser verschärften Bedeutung) „handeln“, dann tun wir nicht nur irgendetwas, sondern wir bemühen uns darum,
es „richtig“ zu tun. Solches Bemühen ist nicht etwa nur ausnahmsweise erfolgreich, sondern dass wir Menschen etwas können (Flugzeuge fliegen wirklich, Meldeämter stellen wirklich Pässe aus, Computer können wirklich Daten
verarbeiten), das zeigt, dass Handeln nicht ewiges Ausprobieren von Hypothesen ist, die evtl. an der nächsten Ecke falsifiziert werden. Im Nachdenken
darüber, worin die Richtigkeit des Handelns bestehen kann, lassen sich drei
Stufen unterscheiden: Zweck, Wert, Sinn3.
(a) Erstens besteht Richtigkeit darin, dass ein anvisierter Zweck erreicht
wird. Das ist klar und wichtig, aber es genügt nicht. Das Handeln selber ist
hier ja leer, es ist bloßes Mittel zu etwas anderem, jenseits der Handlung Liegenden, eben dem Zweck. Wer nur Zwecke verfolgt, lebt eigentlich gar nicht.
Zweckrationalität ist höchstens der Anfang der Vernunft.
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2
3
Vgl. Arnold Gehlen: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Berlin 1940.
Wir können Gehlen mit seiner Grundauffassung vom „handelnden“ Menschen Recht
geben, ohne seine Voraussetzung zu teilen, dieses Handeln sei dadurch provoziert,
dass der Mensch „Mängelwesen“ ist.
Diese Unterscheidungen sind im freien Anschluss an Max Weber konzipiert, vgl.
Weber: Soziologische Kategorienlehre, in: ders.: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, Neu Isenburg 2005, Kap I, II, §2.
382
Harald Wohlrapp
(b) Zweitens besteht die Richtigkeit des Handelns darin, dass es uns erfüllt und befriedigt (das muss nicht „Spaß“ sein, kann aber). Dies möchte ich
den „Wert“ des Handelns nennen. Bei interaktiven Praxen gehört dazu, dass
die Gruppe, Gemeinschaft, Gesellschaft durch „wertvolles“ Handeln halbwegs gedeihlich zusammenlebt. Ist also das Handeln nicht vereinzeltes, isoliertes Tun, dann betrifft die Stufe des Wertes alles, was sonst als Moral und
Ethik diskutiert wird.
(c) In der ersten Stufe gelingt also das Handeln im Hinblick auf die äußere, beeinflussbare Welt, in der zweiten im Hinblick auf den Innenraum der
psychischen und sozialen Verhältnisse. Es ist noch eine dritte Stufe anzusetzen. Hier geht es um das Gelingen „im Ganzen“. Der Ausdruck „das Ganze“
ist nur ein Behelf, um anzudeuten, dass das Handeln gewöhnlich in den
Grenzen einer bestimmten Situation beurteilt wird. Wird nach dem „Sinn“
eines Handelns gefragt, dann können wir das so verstehen, dass diese situativen Grenzen überschritten werden sollen.
Betrachten wir ein ganz schlichtes Beispiel, das Überqueren einer Straße.
Zweck ist, auf die andere Seite zu kommen, vielleicht habe ich dort gerade
jemanden gesehen, den ich begrüßen will. Die Wertseite würde mich auf die
Handlung selber fokussieren. Es würde darum gehen, nicht blind loszurennen, sondern schön aufzupassen, auch die STVO zu beachten usw. Die Sinnebene käme in den Blick durch eine Frage der Art: Was tue ich hier „eigentlich“ – ich als endliches Wesen? Würde ich das auch tun, wenn ich es vom
Ende meines Lebens her betrachte? Dabei wäre also „das Ganze“ als das
Ganze meines Lebens angesetzt und ich als Urteilsinstanz. Das könnte aber
auch noch erweitert werden: ich könnte mein Leben als Teil des Lebens meines Volkes oder der Menschheit ansehen, als Teil des Laufs der Welt. Und ich
könnte erweiterte Urteilsinstanzen ansetzen: unsere Nachkommen, die Geschichte.
Offenbar gibt es aber in diesem Augenblick (wo die Frage da ist) keine
regelrechten Beurteilungen zu dieser „letzten“ Richtigkeit. Und das ist eben
Eigenart der Sinnfrage: Wir haben ein Bedürfnis nach Sinn, d.h. nach einer
höheren oder weitergehenden Richtigkeit dessen, was wir treiben und ausrichten, obwohl zugleich klar ist, dass wir eine solche nicht besorgen können.
Genau genommen können wir nicht einmal sagen, was „Richtigkeit“ im Hinblick auf „das Ganze“ bedeutet. Wir haben nur gleichsam begriffliche Anfänge dazu: Wahrheit, Schönheit, Geordnetheit, Geborgenheit, Liebe, und wir
können versuchen, diese ein bisschen weiterzudenken – über das hinaus, was
wir bislang davon verstehen.
Eine pragmatische Definition der Religion
383
1.2. Das Grundvertrauen
Das angesprochene Bedürfnis wird virulent, wenn der Sinn fehlt. Das Fehlen
kann ins Bewusstsein treten, wenn das Handeln in den ersten beiden Ebenen
dramatisch scheitert, also etwa grundlegende Ziele verfehlt werden, eigentliche Befriedigung ausbleibt, Moral hohl wird. Derartiges Scheitern kann durch
äußere Widerfahrnisse ausgelöst sein, aber u.U. auch in einem äußerlich glanzvollen und erfolgreichen Leben empfunden werden. Wenn jedoch der Sinn
nicht fehlt, dann haben wir, was ich das „Grundvertrauen“ nenne. Es ist eine
tiefe Zuversicht, dass das, was geschieht und auch das, was ich selber darin
anrichte, „in Ordnung“ ist – wenn auch, wie gesagt, in einer Ordnung, die
meinen aktuellen Überblick übersteigt.
Das Grundvertrauen hat eine emotionale und eine kognitive Komponente. Emotional ist es eine Gefühlsbasis mit Qualitäten wie Ruhe, Sicherheit,
Offenheit, Heiterkeit. Kognitiv ist es das Herstellen eines Bezugs zum „Ganzen“, bzw. eines Bereichs jenseits der Grenzen der jeweiligen Situation mit
ihren Zielen und Kontrollmöglichkeiten.
Wie können Menschen ein solches Grundvertrauen haben und bewahren? In der Regel dadurch, dass in der kognitiven Schicht irgendwelche Kräfte
oder Mächte anvisiert werden, deren Potenz für jene weitergehende Richtigkeit bürgt: Der Clan, der König, die Volksgemeinschaft, ein hohes, göttliches
Lebewesen (Krokodil, Affe, Elefant), die Gemeinschaft der Heiligen, die
Heerscharen der Boddhisattvas, der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs.
Wenn sich das Grundvertrauen beim Handeln und Leben auf eine solche
Weise konkretisiert hat (d.h. wenn die kognitive Schicht mit irgendeiner Instanz ausgefüllt ist, die Sicherheit bietet), dann nenne ich es einen „Glauben“.
Dieser pragmatische Begriff des Glaubens bezeichnet also primär nicht ein
Fürwahrhalten, sondern primär geht es um eine Zuversicht im Handeln, die
erst sekundär mit doxastischen oder fiduzialen Inhalten überhöht ist.
Das Grundvertrauen ist die Basis des Selbstbewusstseins. Es ist das, was
uns trägt, wenn die Handlungen in der Zweck- und/ oder Wertebene danebengehen, wenn wir von Unglück, Krankheit, Todesfurcht gebeutelt werden
oder von Taten erfahren, die zum Himmel schreien. Zugleich ist klar, dass das
Grundvertrauen durch eben solche 
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